Nackte Singles sind leider nicht sehr stabil

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70 WISSENSCHAFT
FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG , 5. MAI 2013, NR. 18
Zacken in der Raumzeit sind eine Vorhersage der Gravitationstheorie. Eigentlich sollten sie von der umgebenden Raumkrümmung immer und überall verhüllt werden. Fällt nun dieses Tabu?
Illustration F.A.S.
Nackte Singles sind leider nicht sehr stabil
Schwarze Löcher?
Kinderkram! Einsteins
Gravitationstheorie
kennt noch viel
Schärferes. Die Frage
ist allerdings, ob die
Natur diesen Exzess
auch mitmacht.
VO N U L F V O N R AU C H H A U P T
Wenn eine Theorie sich
dermaßen unmöglich
macht, muss die
Zensur einschreiten.
Sie hatten nicht nur angenommen,
dass der kollabierende Stern weder
rotiert noch geladen ist, sondern
auch, dass er aus einem Gas von
Atomen besteht, die keine zufälligen Eigenbewegungen ausführen
(und damit, wären sie in einem Behälter, auf dessen Wandungen keinen Druck ausüben würden). Und
sie hatten sich das Sternvolumen zu
Beginn des Kollapses gleichmäßig
mit einem solchen drucklosen Gas
ausgefüllt gedacht. In diesem Fall
(linke Grafik) bildet sich der Ereignishorizont tatsächlich immer vor
der Singularität, die damit dem
Blick von außen verborgen bleibt.
Wie Joshi und seine Mitarbeiter
zeigen konnten, sieht die Sache anders aus, wenn die Dichte im Inneren des Sterns zum Zentrum hin
ausreichend rasch zunimmt (rechte
Grafik). Dann kann sich die Singularität zeitlich vor dem Ereignishorizont bilden und ist dann vorübergehend sichtbar. „Und erlaubt man
nun noch Drücke ungleich null,
dann lassen sich Modelle finden, in
denen sich Nackte Singularitäten
in einem Kollaps bilden und nicht
wieder verschwinden“, sagt der indische Theoretiker.
„Joshis Resultate sind nicht unplausibel“, sagt Claus Kiefer von
der Universität Köln, der ebenfalls
gut ohne kosmische Zensur leben
könnte. An der hänge man einerseits, weil der berühmte Penrose
diese Hypothese formuliert habe.
„Andererseits können bei der Exis-
Quantengravitation
ist wie Sozialismus:
Wenn sie erst einmal
da ist, wird alles gut.
tenz von Nackten Singularitäten
Dinge ,aus dem Nichts‘ entstehen,
was sich nicht beschreiben lässt
und Unbehagen erzeugt. Meiner
Meinung nach müsste eine Theorie der Quantengravitation sagen
können, ob es Nackte Singularitäten gibt und was sie für Eigenschaften haben.“
Tatsächlich glaubt selbst Roger
Penrose nicht, dass eine Gravitations-Singularität wirklich eine Singularität im mathematischen Sinne
Schwarzes Loch
ist, bei der irgendwelche physikalischen Größen wie die Raumzeitkrümmung unendlich werden,
auch wenn dies aus Einsteins Theorie folgt. Vielmehr sollten hier Bedingungen herrschen, für die eine
neue, noch unbekannte Theorie
gilt, die neben der Gravitation
auch die Quantennatur der Welt
berücksichtigt. Dafür gibt es heute
etliche Ansätze, unter denen die sogenannte Stringtheorie und die
Schleifen-Quantengravitation die
bekanntesten sind.
Wenn es Nackte Singularitäten
gibt und man im Universum welche fände, würde das den Theoretikern sehr helfen. Denn Nackte Singularitäten müssten aufgrund der
enormen Raumkrümmung in ihrer
unmittelbaren Umgebung intensiv
leuchten. „Und die Details des
Spektrums dieses Lichts wären
stark davon abhängig, welche
Quantengravitationstheorie gilt“,
sagt Pankaj Joshi. String- und
Schleifentheorie etwa würden jeweils zu erkennbar unterschiedlichen Spektren führen, wenn sich
die denn beobachten ließen. „Das
wäre tatsächlich äußerst lohnend“,
findet auch Claus Kiefer.
Nackte Singularität
Zeit
Nein, sagten J. Robert Oppenheimer und Hartland Snyder, die
beiden Physiker, die 1939 als Erste
die Bildung einer Singularität
beim Gravitationskollaps einer ausreichend großen Materiemenge im
Detail berechneten. Dazu bedarf
es gar keiner Millionen Sonnenmassen, zehn reichen schon, und
in der Tat hat man bereits etliche
schwarze Löcher dieses Kalibers
nachgewiesen. Sie entstanden aus
sehr schweren Sternen, deren Energievorrat verbraucht war. Eine solche Implosion eines Sterns ist so
heftig, dass äußere Materieschichten in einer sogenannten Supernova abgesprengt werden und die inneren kollabieren. Nach Oppenheimer und Snyder entsteht dabei
aber immer ein schwarzes Loch,
nie eine Nackte Singularität. Dieses Ergebnis wurde Ende der
1960er Jahre wichtig, als die beiden
britischen Theoretiker Stephen
Hawking und Roger Penrose mathematisch bewiesen, dass die Bildung von Singularitäten kein Artefakt der Rechenmethode ist, sondern eine mathematische Eigenschaft von Einsteins Gleichungen.
Unverhüllt beobachtbar wären solche Singularitäten aber etwas
mehr als Unanständiges, denn sie
würden Einsteins Theorie inkonsistent machen. Deren Gleichungen
sind schließlich streng deterministisch: Es kann nichts beobachtet
werden, was nicht notwendig mathematisch aus etwas anderem
folgt. Doch aus einer Singularität
kann mathematisch Beliebiges folgen. Und das ist nur dann kein Widerspruch, wenn die Singularität
unbeobachtbar von einem Horizont verhüllt ist. Roger Penrose
stellte daher 1969 die Hypothese
auf, dass die Natur die Bildung von
Nackten Singularitäten nicht zulässt, als gebe es einen kosmischen
Zensor, der solchen gravitationstheoretischen Schweinkram unterbindet. Allerdings ist es seither weder Penrose noch sonst jemandem
gelungen, die Zensurhypothese
aus den bekannten Naturgesetzen
abzuleiten.
Was vielleicht daran liegt, dass
sie nicht stimmt. Davon jedenfalls
ist Pankaj Joshi überzeugt, Professor für Physik am Tata Institute
im indischen Bombay. Joshi weist
darauf hin, dass etwa die Heftigkeit der Rotation eines Objekts,
die Einsteins Gleichungen für die
Existenz einer Nackten Singularität fordern, keineswegs unrealistisch hoch ist. „Bei dem Objekt im
Zentrum der Milchstraße wurde
eine schnelle Umdrehung festgestellt, sehr nah an dem kritischen
Wert“, sagt Joshi. Viel wichtiger
aber sei etwas anderes: „Das Fehlen hoher Drehmomente oder
elektrischer Ladungen rettet die
Zensur-Hypothese nicht.“ Es
gebe nämlich noch andere physikalisch wichtige Größen, die bereits
bei der Entstehung einer KollapsSingularität verhindern könnten,
dass diese sich verhüllt.
Oppenheimer und Snyder hatten nämlich bei ihrer Rechnung
ein paar Vereinfachungen gemacht:
Zeit
Bisher müssen wir uns irgendwie
vorstellen, dass es sie gibt, die
schwarzen Löcher. Schon bald aber
wird es auch von diesen wohl bizarrsten aller Naturdinge Bilder geben. Eine neue Generation von Teleskopen, darunter das Atacama
Large Millimeter Array (Alma) in
Chile, wird durch weltweite Kombination ihrer Daten in der Lage
sein, das schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße sichtbar zu
machen: als Schatten vor der leuchtenden Materie, die es umgibt.
Viel näher werden astrophysikalische Paparazzi ihnen aber nie
kommen, selbst wenn sie hinfliegen könnten zu der 26 000 Lichtjahre entfernten Gravitationskraftquelle, bei der vier Millionen Sonnenmassen so eng zusammengeballt sind, dass die Raumzeit sozusagen einen Knick bekommen hat.
Nach den bekannten Naturgesetzen gibt es nichts, was die Atome
eines solchen Brummers daran hindern könnte, allesamt auf denselben mathematischen Punkt im
Zentrum zu fallen. Nach Einsteins
Gravitationstheorie wird dort die
Raumzeitkrümmung unendlich –
oder „singulär“, wie transzendenzscheue Physiker lieber sagen.
Wer gerne wüsste, wie so etwas
aussieht, wird enttäuscht. Um die
Singularität im Zentrum der
Milchstraße – und jedes anderen
schwarzen Lochs, von dem man
weiß – liegt eine Zone, begrenzt
durch den sogenannten Ereignishorizont, aus der die enorme Schwerkraft selbst Licht nicht mehr entweichen und das Loch eben
schwarz sein lässt. Damit macht
dieser Horizont auch die Singularität, von außen betrachtet, unsicht-
bar, verhüllt sie. Und auch der
Schatten, den die Astronomen mit
Alma & Co. im Zentrum der
Milchstraße demnächst zu beobachten hoffen, ist eben nur der jenes Horizontes.
Die Frage ist nun: Hat jede Singularität der Gravitationstheorie
notwendig einen Horizont um
sich herum? Oder kann es auch
welche geben, die keinen haben,
also sozusagen nackt sind?
Ja, behauptet die von Einstein
postulierte Gravitationstheorie.
Deren Gleichungen erlauben die
Existenz solcher Nackten Singularitäten. Die kollabierte Materie
muss dazu lediglich ausreichend
schnell rotieren oder elektrisch
aufgeladen sein. Doch nicht alles,
was eine gültige Theorie erlaubt,
gibt es auch. Also muss man eher
fragen: Erlauben Einsteins Gleichungen, dass sich eine Nackte
Singularität bildet?
Ereignishorizont
Singularität
bzw. Region
der Quantengravitation
Zeitspanne,
in der die
Singularität
von außen
sichtbar ist
kollabierender
Stern
Raum
Raum
F.A.Z.-Grafik Piron
Denkt man sich eine Raumdimension weg, kann man sich einen Stern als Scheibe (grau) vorstellen – und wie er zu einer
Region kollabiert (rote Pfeile), in der die Quantengravitation gilt (gelb). Diese heißt „Singularität“, auch wenn es mathematisch gesehen keine ist. War die Materie ausreichend inhomogen (rechts), könnte sich eine „Nackte Singularität“ bilden.
Andere Forscher allerdings halten die Hoffnung für unbegründet,
sehen sie doch zahlreiche Hinweise
darauf, dass da tatsächlich eine kosmische Zensur den Physikern den
Blick auf die erregenden Singularitäten verwehrt. Bernard Schutz
etwa, Direktor am Max-PlanckInstitut für Gravitationsphysik in
Golm, leugnet keineswegs, dass es
Rechenmodelle gibt, die zu Nackten Singularitäten führen. „Doch
die sind sehr speziell. Ändert man
den Prozess, in dem sie sich formen, ein klein wenig, bekommt
man keine Nackte Singularität
mehr. Das sind sicher gültige Lösungen der Gleichungen, doch sie
sind nicht stabil genug, um in der
realen Welt zu existieren“, sagt
Schutz und gibt ein Beispiel: „Die
meisten Sterne, die zu schwarzen
Löchern kollabieren, würden Nackte Singularitäten ergeben, wenn sie
dabei ihren Drehmoment behielten. Wir glauben aber nicht, dass
das passiert. In allen Simulationen,
die bisher gerechnet wurden, lassen
sie sehr viel Drehmoment in einer
Materiescheibe zurück. Der Prozess, in dem sich ein schwarzes
Loch bildet, scheint die Bildung einer Nackten Singularität einfach
nicht zu mögen.“
Doch auch für Schutz ist die
Debatte damit nicht beendet.
Mögliche Fortschritte könnten Beobachtungen von Gravitationswellen bringen, Erschütterungen der
Raumzeit, die nach Einsteins
Theorie unter anderem durch Kollision und Verschmelzung zweier
schwarzer Löcher verursacht werden und sich mit Lichtgeschwindigkeit durch das All ausbreiten.
Mit einem geplanten weltraumgestützten Detektor würden sie messbar. „Wir wissen, was für Gravitationswellen zu erwarten sind, wenn
die Verschmelzung zweier Schwarzer Löcher so abläuft wie in unseren Simulationen“, sagt Schutz.
„Wenn wir was anderes sehen,
könnte das ein Hinweis auf eine
Nackte Singularität sein.“ Das
Gravitationswellen-Signal eines,
wenn auch nur kurzlebigen, quantengravitativen Nackedeis wäre
dann eines der heißesten Cover,
das Nature oder Science je hatte.
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