1 Sektion I: Neuroanatomie Wirbelsäule und Rückenmark Kapitel 1 Knöcherne Wirbelsäule – 3 Martin Wiesmann, Omid Nikoubashman Kapitel 2 Bandscheiben – 29 Martin Wiesmann Kapitel 3 MRT-Signalcharakteristika der Wirbelkörper und Bandscheiben – 31 Martin Wiesmann, Omid Nikoubashman Kapitel 4 Bandstrukturen der Wirbelsäule – 35 Martin Wiesmann, Omid Nikoubashman Kapitel 5 Normvarianten und Fehlbildungen der knöchernen Wirbelsäule – 37 Martin Wiesmann Kapitel 6 Rückenmarkshäute und intraspinale Kompartimente Martin Wiesmann Kapitel 7 Spinale Liquorzirkulation Martin Wiesmann Kapitel 8 Rückenmark und Spinalnerven Martin Wiesmann Kapitel 9 Gefäßversorgung von Wirbelsäule und Rückenmark Martin Wiesmann Kapitel 10 Paraspinale Weichteile – 63 Martin Wiesmann, Omid Nikoubashman Kapitel 11 Dermatome und Kennmuskeln – 69 Martin Wiesmann, Omid Nikoubashman – 39 – 43 – 45 – 55 3 Knöcherne Wirbelsäule Martin Wiesmann, Omid Nikoubashman 1.1 Überblick –4 1.2 Aufbau der Wirbel 1.3 Säulenmodell der Wirbelsäule 1.4 Kraniozervikaler Übergang 1.5 Halswirbelsäule 1.6 Brustwirbelsäule 1.7 Lendenwirbelsäule 1.8 Sakrum und Steißbein –5 –6 –7 – 14 – 20 – 23 – 26 M. Wiesmann et al. (Hrsg), Atlas Klinische Neuroradiologie, DOI 10.1007/978-3-642-38109-6_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 1 4 1 Kapitel 1 · Knöcherne Wirbelsäule Die Wirbelsäule besteht aus den Wirbeln, den dazwischen liegenden Bandscheiben und den sie stabilisierenden Bändern. Die Wirbelsäule umhüllt den Spinalkanal, in dem der Duralsack liegt. Zwischen knöcherner Wirbelsäule und Duralsack befindet sich der Epiduralraum. Im Duralsack liegen die Spinalnerven und das Rückenmark, das nach kranial in den Hirnstamm übergeht. Die Arachnoidea ist mit der Innenseite des Duralsacks verwachsen. Auf dem Rückenmark liegt die Pia mater. Zwischen Pia mater und Arachnoidea befindet sich der liquorgefüllte spinale Subarachnoidalraum (. Abb. 1.1). 1.1 Überblick Die Wirbelsäule besteht normalerweise aus 33 Wirbeln: 7 Halswirbeln (HWK 1–7), 12 Brustwirbeln (BWK 1–12), 5 Lendenwirbeln (LWK 1–5), dem aus 5 Wirbeln (SWK 1–5) verschmolzenen Kreuzbein (Os sacrum) und dem Steißbein (Os coccygis), das aus 4 zusammengewachsenen Knochenstücken besteht (. Abb. 1.2). Der HWK 1 wird als Atlas bezeichnet, der HWK 2 als Axis. Die Halswirbelsäule (HWS) artikuliert mit dem Schädel am kraniozervikalen Übergang, mit der Brustwirbelsäule (BWS) am zervikothorakalen Übergang. Die Brustwirbel artikulieren mit den Rippenköpfchen in den costovertebralen Gelenken, dazu an den Querfortsätzen der Wirbel mit den Rippen in den Costotransversalgelenken. BWS und Lendenwirbelsäule (LWS) sind am thorakolumbalen Übergang verbunden. Das Sakrum artikuliert mit der LWS am lumbosakralen Übergang, mit den Os iliae in den Iliosakralgelenken und mit dem Steißbein im Sakrokokzygealgelenk. Etwa 80 % der Länge der Wirbelsäule ist durch die Wirbelkörper bedingt, etwa 20 % durch die Bandscheiben. Durch tageszeitabhängige Veränderungen des Flüssigkeitsgehaltes der Bandscheiben schwankt die Länge der Wirbelsäule um durchschnittlich 16 mm. Die Längenabnahme erfolgt zum größten Teil in den ersten 3 Stunden des Tages und ist bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen am ausgeprägtesten. HWS und LWS zeigen eine physiologische Lordose, die BWS eine Kyphose. Sakrum und Os coccygis weisen zusammen wieder eine Kyphose auf. . Abb. 1.1 zeigt diese auch als »Doppel-SForm« bezeichnete reguläre Konfiguration der Wirbelsäule. a . Abb. 1.1 Wirbelsäule im frühen Kindesalter. Sagittale Aufnahme der Wirbelsäule eines 3-jährigen Kindes in T2-Wichtung. A = HWS; B = BWS; C = LWS; D = Sakrum/Os coccygeum. 1 = Sella turcica; 2 = Clivus; 3 = Atlas; 4 = Axis. Der Knochenkern des Dens (oben) ist noch nicht mit der Basis (unten) fusioniert; 5 = Vorderes Längsband; 6 = HWK 7; 7 = Nucleus pulposus der Bandscheibe BWK 2/3; 8 = Myelon; 9 = Hinteres Längsband; 10 = Conus medullaris; 11 = Subarachnoidalraum; 12 = Epiduralraum; 13 = Proc. spinosus des LWK 2; 14 = SWK 1 b . Abb. 1.2a, b CT der gesamten Wirbelsäule. 31. SSW. Im Sagittalschnitt (a) und der 3D-Rekonstruktion (b) ist die noch fehlende Fusion der einzelnen Sakralwirbel zu erkennen. Darüber hinaus sind auch die Knochenkerne des Dens axis und des Corpus axis einzeln voneinander abgrenzbar 5 1.2 · Aufbau der Wirbel Durch muskuläre Ungleichgewichte weisen Rechtshänder häufig eine leichte Vorwölbung der oberen BWS nach rechts lateral, Linkshänder eine Vorwölbung nach links lateral auf. 1.2 Aufbau der Wirbel Von HWK 3 bis LWK 5 besteht jedes Segment aus einem Wirbelkörper und einem daraus nach dorsal entspringenden Wirbelbogen, die zusammen den Spinalkanal umschließen (. Abb. 1.3 und . Abb. 1.4). Die Wirbelkörper ähneln einem kurzen Zylinder, dessen Endflächen als Deckplatte (kranial) und Grundplatte (kaudal), oder zusammen als Endplatten bezeichnet werden. Die Seitenwände dieser Zylinder sind leicht konkav. Am äußeren Rand besitzen die Endplatten der Wirbelkörper eine ringförmige, nach oben bzw. unten gerichtete Verdickung (Wirbelkörperapophyse oder Ringapophyse), mit der die Bandscheiben besonders intensiv verbunden sind. Der Wirbelbögen setzt sich zusammen aus den auch Bogenwurzeln genannten Pedikeln (Pediculus arcus vertebrae), den Massae laterales mit den oberen und unteren Gelenkfortsätzen (Proc. articularis superior et inferior), den HWS Querfortsätzen (Proc. transversus), den als Laminae arcus vertebrae bezeichneten hinteren Anteilen des Wirbelbogens und den Dornfortsätzen (Proc. spinosus). Die Bogenwurzeln entspringen am posterolateralen Oberrand der Wirbelkörper. In koronarer Ansicht ist der Querschnitt der Bogenwurzeln rundlich, in lateraler Ansicht weisen Oberrand und Unterrand der Bogenwurzeln flache Einbuchtungen auf. Die Laminae sind schräg zur Mittellinie orientiert und fusionieren miteinander, um den Dornfortsatz zu bilden. Der Abschnitt der Massae laterales, der zwischen oberem und unterem Gelenkfortsatz liegt, wird als Pars interarticularis oder Isthmus bezeichnet. Die Wirbelbögen mit ihren Fortsätzen werden auch als (posteriore) Wirbelanhangsgebilde bezeichnet. Die innere Form des knöchernen Spinalkanals ist in HWS und LWS dreiseitig, in der BWS rund. Der Innendurchmesser des knöchernen Spinalkanals nimmt von kranial nach kaudal ab. Der normale sagittale Durchmesser beträgt beim Erwachsenen in Höhe HWK 1/2 etwa 15–16 mm und in der LWS etwa 12 mm. Aus den Massae laterales entspringen die Querfortsätze nach lateral, die oberen Gelenkfortsätze nach oben und leicht nach vorne, und die unteren Gelenkfortsätze nach unten und leicht BWS Wirbelkörper Querfortsatz Pedikel Massa lateralis mit Gelenkfortsätzen LWS Lamina mit Dornfortsatz . Abb. 1.3 Aufbau der Wirbelkörper. Gliederung der Wirbelbögen in Pedikel, Querfortsatz, Massa lateralis und Lamina an Hals-, Brust- und Lendenwirbeln a b c . Abb. 1.4a–c Aufbau der Wirbelkörper. Axiale CT-Reformationen durch den HWK 4 (20 Jahre, weiblich) (a), den BWK 5 (17 Jahre, männlich) (b) und den LWK 5 (22 Jahre, männlich) (c) analog zu . Abb. 1.3 1 Kapitel 1 · Knöcherne Wirbelsäule 6 vorderes Längsband 1 hinteres Längsband Ligamentum flavum Ligamentum supraspinosum Anulus fibrosus a Ligamentum interspinosum b . Abb. 1.5a, b Foramina intervertebralia. Sagittale CT-Reformationen (a) und T1w-MRT-Aufnahmen (b) durch die linken Neuroforamina der unteren BWS eines 17 Jahre jungen Mannes (a) und einer 27 Jahre jungen Frau (b). Die anteriore Begrenzung der Neuroforamina (Stern) wird von den angrenzenden Wirbelkörpern und der entsprechenden Bandscheibe gebildet (a und b dünner Pfeil). Die dorsale Begrenzung besteht aus den Facettengelenken, der Pars interarticularis der entsprechenden Wirbel sowie dem Lig. Flavum (a und b Pfeilspitze). Die kraniale und kaudale Begrenzung der Neuroforamina wird von den Incisurae vertebralis inferior (a und b großer Pfeil) und superior (a und b kleiner Pfeil) der entsprechenden Pediculi arcus vertebrae gebildet nach hinten. Die Facettengelenke werden aus den oberen und unteren Gelenkfortsätze benachbarter Wirbel gebildet. Die Stellung der Gelenkfacetten ist in HWS, BWS und LWS unterschiedlich (s. u.). Durch die Orientierung der oberen und unteren Gelenkfortsätze ist es aber in jedem Facettengelenk so, dass auf einer transversalen Schicht die Gelenkfacette des unteren beteiligten Wirbels vor der des oberen Wirbels liegt. Die Facettengelenke gehören zu den »Schiebegelenken«, d. h. die Bewegung in den Gelenken erfolgt nur durch Verschiebung entlang der Gelenkflächen. Das Ausmaß der Beweglichkeit wird durch Bandscheiben und Bänder begrenzt. Durch die Bogenwurzeln zweier übereinanderliegender Wirbel ergibt sich auf beiden Seiten dorsolateral des Wirbelkörpers eine Öffnung (Foramen intervertebrale, Neuroforamen), durch die die Spinalnerven den Spinalkanal verlassen (. Abb. 1.5). Die For. intervertebralia werden oben und unten durch die konkaven Ränder der Bogenwurzeln begrenzt. Der Vorderrand des Neuroforamens besteht, von oben nach unten, aus der Rückwand des oberen beteiligten Wirbelkörpers, aus der Rückwand der Bandscheibe und aus der Rückwand der Deckplatte des unteren beteiligten Wirbelkörpers. Der hintere Rand des Neuroforamens wird gebildet aus dem Periost der Pars interarticularis der beiden Wirbel, der synovialen Kapsel des Facettengelenks und teilweise auch vom Lig. flavum (s. u). Bandscheibe vordere Säule mittlere Säule hintere Säule . Abb. 1.6 Drei-Säulen-Modell 1.3 Säulenmodell der Wirbelsäule 4 Anatomische Unterscheidung zwischen anterioren Elementen (Wirbelkörper) und dorsalen Elementen (Wirbelbögen) 4 Drei-Säulen-Modell (v. a. zur Frakturbeurteilung angewandt, . Abb. 1.6): 5 vordere Säule (anteriore Hälfte von Wirbelkörpern und Bandscheiben, vorderes Längsband) 5 mittlere Säule (posteriore Hälfte von Wirbelkörpern und Bandscheiben, hinteres Längsband) 5 hintere Säule (Wirbelbögen, Facettengelenke, verbindende Ligamente wie z. B. Lig. interspinosum, Lig. supraspinosum, Lig. infraspinosum, manche Autoren bezeichnen die hintere Säule auch als »hinteren Bänderkomplex«) 4 In der Regel sind 1-Säulen-Frakturen stabil, 3-Säulen-Frakturen immer instabil. 2-Säulen-Frakturen können je nach Ausmaß der Verletzungen stabil sein, meist sind sie jedoch instabil. 1 7 1.4 · Kraniozervikaler Übergang Ansicht von vorn Ansicht von seitlich 1 Ansicht von oben 1 11 2 2 11 4 7 9 8 10 5 1 2 4 3 8 7 5 10 6 Alantoaxialgelenk Atlas-Dens-Abstand 1 2 3 4 Dens (Proc. odontoideus des Axis) Massa lateralis des Atlas Körper des Axis obere Gelenkfacette 9 5 6 7 8 Processus costotransversarius untere Gelenkfacette Bogenwurzel Lamina 12 9 10 11 12 Dornfortsatz Foramen transversarium vorderer Atlasbogen hinterer Atlasbogen . Abb. 1.7 Anatomie von HWK 1 (Atlas) und HWK 2 (Axis) 1.4 Kraniozervikaler Übergang 4 Der kraniozervikale Übergang besteht aus den beiden Okzipitalkondylen, Atlas, Axis, ihren Gelenken und Ligamenten 4 Der Aufbau der HWK 1 und 2 weicht von der übrigen Wirbelsäule ab (. Abb. 1.7) 4 Der HWK 1 (Atlas) besteht im wesentlichen aus einem ringförmigen Wirbelbogen, ein Wirbelkörper im eigentlichen Sinne fehlt. Die verstärkten Seiten dieses Bogens (Massa lateralis) tragen den Schädel und bilden zwischen ihren oberen Gelenkfacetten und den Kondylen des Os occipitale das Atlantooccipitalgelenk. Seine unteren Gelenkfortsätze bilden mit dem Atlas das Atlantoaxialgelenk. 4 Der HWK 2 (Axis) besitzt im Gegensatz zu den anderen Wirbeln einen großen, nach kranial gerichteten Fortsatz, den Dens axis (. Abb. 1.9 und . Abb. 1.10). Der Dens geht aus dem vorderen Anteil des Wirbelkörpers hervor und reicht mit seiner Spitze bis knapp unter das Foramen magnum. Der vordere Anteil der Densspitze artikuliert mit dem vorderen Ring des Axis (vorderes Atlantodentalgelenk). Die Kontaktfläche zwischen dem hinteren Anteil der Densspitze und dem Lig. transversum wird als hinteres Atlantodentalgelenk bezeichnet. 4 Ligamenta (von anterior nach posterior) (. Abb. 1.8, . Abb. 1.11 und . Abb. 1.12): 5 Membrana atlanto-occipitalis anterior: zwischen vorderem Atlasbogen und vorderem Rand des For. magnum 5 Lig. apicis dentis: dünnes Band zwischen der Spitze des Dens und dem vorderen Rand des For. magnum 5 Ligg. alaria: kräftige Bänder von den lateralen oberen Rändern des Dens zu den seitlichen Rändern des For. magnum 5 Lig. transversum atlantis: verbindet die beiden Massae laterales des Atlas und verläuft hinter dem Dens 5 Lig. cruciatum: kraniokaudale Faserzüge laufen vom Vorderrand des For. magnum über den hinteren Rand des Lig. transversum zum Hinterrand des Axis. Zusammen mit dem Lig. transversum bezeichnet man diese Faserzüge als Lig. cruciatum 5 Membrana tectoria: Fortsetzung des hinteren Längsbandes (Lig. longitudinale posterius) über den Vorderrand des For. magnum zum Clivus 5 Membrana atlanto-occipitalis posterior: zwischen hinterem Atlasbogen und hinterem Rand des For. magnum 8 Kapitel 1 · Knöcherne Wirbelsäule Clivus 1 Basion Crus superius ligamenti cruciformis Membrana tectoria Membrana atlantooccipitalis anterior Ligamentum apicis dentis Opisthion Membrana atlantooccipitalis posterior Atlas Dens axis Ligamentum transversum Ligamentum longitudinale anterius Axis Ligamentum longitudinale posterius Ligamentum nuchae a Clivus ossis occipitalis Ligamenta alaria Ligamentum apicis dentis Dens axis Axis b Clivus ossis occipitalis Ligamenta alaria Crus superius ligamenti cruciformis Ligamentum transversum Crus inferius ligamenti cruciformis Atlas Axis c . Abb. 1.8a–f Kraniozervikaler Übergang. Sagittaler Mittellinienschnitt (a). Koronare Ansichten von dorsal auf die Innenseite des Wirbelkanals (von ventral nach dorsal: b bis d) und die Dorsalfläche der Wirbelsäule (e) sowie koronare Ansicht auf die Vorderfläche der Wirbelkörper von ventral (f) 9 1.4 · Kraniozervikaler Übergang Clivus ossis occipitalis Atlas Membrana tectoria Axis d Os occipitale Membrana atlantooccipitalis posterior Ligamentum flavum Atlas e Axis Clivus Membrana atlantooccipitalis anterior Atlas Ligamentum longitudinale anterius f . Abb. 1.8a–f (Fortsetzung) 1 10 Kapitel 1 · Knöcherne Wirbelsäule 1 . Abb. 1.9 Atlas und Dens. Konventionelle Röntgen-Dens-Zielaufnahme. Typische Dens-Zielaufnahme mit Darstellung des Atlas und des Axis a b c d e f . Abb. 1.10a–f Kraniozervikaler Übergang. 20-jährige Frau. Axiale CT-Reformationen mit Darstellung von Atlas und Axis von kranial nach kaudal (a–d) sowie sagittale und koronare CT-Reformationen des kraniozervikalen Übergangs. Dargestellt sind der Dens axis (a und d Pfeilspitze) und der Atlas (a und b Pfeil), in c und d ist lediglich die Basis des Axis zu erkennen http://www.springer.com/978-3-642-38108-9