Jeder Patient ein Spender

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12. Mai 2013
Mensch&Medizin
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GETTY IMAGES
NZZ am Sonntag
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Diagnose
Andrea Six
E
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Die Entnahme von Gewebeproben zu Forschungszwecken ist in der Schweiz laut Experten nicht einheitlich geregelt.
Jeder Patient ein Spender
Am Universitätsspital Lausanne stellen Patienten bei Spitaleintritt der Forschung
freiwillig Blut- und Gewebeproben zur Verfügung. Als Gegenleistung
erhalten sie Auskunft über ihre Erbinformationen. Von Annegret Czernotta
W
er im Unispital Lausanne
(CHUV) als
Patient aufgenommen
wird, erhält
Besuch vom
Pflegefachpersonal. Dieses bittet den
Patienten um Blut und Gewebe. Seit
dem 7. Januar sammelt das Spital in der
eigens geschaffenen Lausanne Institutional Biobank Patientenproben. Bis
Anfang Mai stellten bereits 2200 Patienten 10 Milliliter ihres Blutes und
überflüssiges Gewebe für Forschungszwecke zur Verfügung. In zwei Jahren
sollen es 30 000 Proben sein. Hinter
dem Mammutprojekt steckt Vincent
Mooser. Der Internist und Genetiker
leitet das Zentrallabor am CHUV.
«Wir erhalten durch die Patientenproben Aufschluss über Erbkrankheiten oder die Wirksamkeit von Therapien», sagt Mooser. Auch Ansätze für
neue Medikamente sollen erforscht
werden. Etwa 3 Prozent aller Parkinsonpatienten haben einen Defekt im
LRRK2-Gen. Diese Variante ist laut
Mooser bei einem von 1300 Lausannern präsent. Mitmilfe der Datenbank
will man nun Patienten am CHUV mit
dieser Genmutation direkt für Medikamentenstudien anfragen. Ähnlich
könnten die Proben Aufschluss geben
über die Veranlagung zu Diabetes, Alzheimer oder Übergewicht.
Europapremiere
Das Material wird dafür in anonymisierter Form den Spenderdaten – etwa
der persönlichen Krankengeschichte,
dem Alter, dem Geschlecht oder den
Lebensumständen – zugeordnet. Die
Spender profitieren, indem sie bei Interesse kostenlos Angaben über ihre
Erbinformationen erhalten.
Das Universitätsspital Lausanne beschreitet damit einen neuen Weg in der
Medizin. In Grossbritannien und Südkorea gibt es zwar Biobanken mit
Proben von rund 500 000 Spendern;
diese stammen jedoch von gesunden
Spendern ausserhalb des Spitals. Dass
Patienten in einem Spital direkt bei
Eintritt in ein Forschungsprojekt einbezogen werden, gibt es ausser in Lausanne nur noch in Philadelphia (USA).
Gefährliches
Getränk
Was so fortgeschritten aussieht, ist
aber noch nicht bis ins Detail umgesetzt. Bisher wurden die Proben nur
gesammelt und bei minus 80 Grad gelagert, analysiert werden sie vorerst
nicht.
«Die
Sequenzierung
des
menschlichen Genoms ist derzeit zu
kostspielig», sagt Mooser. «In drei bis
fünf Jahren wird die Analyse viel günstiger sein, dann möchten wir parat
sein.» Kostete die erste vollständige
Entschlüsselung eines Genoms im Jahr
2002 noch stolze 2,7 Milliarden USDollar, sind heute Analysen für weniger als 2000 US-Dollar möglich.
Andere Experten stehen dem Projekt jedoch eher kritisch gegenüber.
Dass der Betrieb einer Biobank mit
Blutproben so einfach sein wird, bezweifelt zum Beispiel Holger Moch,
Direktor der klinischen Pathologie am
Universitätsspital Zürich. Er gibt zu
bedenken, dass Biobanken kostenintensiv sind. «Im Umgang mit grossen
Mengen von flüssigen Substanzen bedarf es der Unterstützung durch Roboter», so Moch. Der Pathologe sieht den
Bedarf an Proben für Biobanken daher
eher in klar definierten Projekten und
mit konkreten Fragestellungen.
Die Zürcher Pathologie untersucht
beispielsweise routinemässig Genveränderungen in Gewebeproben, um die
Wirksamkeit von Krebstherapien besser vorhersagen zu können. «Bei Kosten von mehr als 100 000 Franken pro
Jahr für ein Medikament», so Moch,
«ist es sinnvoll, Therapien zu verabreichen, die zum persönlichen Genprofil
passen.» Ein Erfolgsbeispiel ist Herceptin zur Behandlung von HER2positivem Brustkrebs. Und noch eines
gibt der Spezialist zu bedenken: «Ohne
Standardisierung der Untersuchungsmethoden und Verarbeitungsprozesse
lassen sich die Ergebnisse nur schlecht
miteinander vergleichen.»
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«Wir erhalten durch
die Proben Aufschluss
über Erbkrankheiten
oder die Wirksamkeit
von Therapien.»
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Diese Meinung vertritt auch Aurel
Perren, Direktor der Pathologie am
Inselspital Bern: «Die Entnahme von
krankhaft veränderten Gewebeproben
für Forschungszwecke ist nicht einheitlich geregelt.» Perren kämpft aber
nicht nur für qualitativ gleichwertige
Forschungsmethoden. Als Präsident
der Stiftung biobank-suisse setzt er
sich auch für eine virtuelle Vernetzung
von Biobanken ein. Die Vernetzung
soll Forschern schnellen Zugang zu unterschiedlichsten Proben ermöglichen.
Ethische Bedenken
Was ist eine Biobank?
In einer Biobank wird organisches Material wie Blut, Gewebe oder Stammzellen mit den medizinischen Daten des
Spenders in Beziehung gesetzt. Unterschieden werden populationsbasierte
und krankheitsspezifische Biobanken.
Die Ersteren enthalten in der Regel Material von Gesunden, die Letzteren von
Patienten. Aus den Informationen in den
Biobanken erhoffen sich Forscher neue
Erkenntnisse über Ursachen, Behandlung und Prävention von Krankheiten.
Der Umgang mit den in den Biobanken befindlichen Proben ist in der
Schweiz nicht einheitlich geregelt.
Mit dem Inkrafttreten des Humanforschungsgesetzes (HFG) – laut Bundesamt für Gesundheit ab dem 1. 1. 2014 –
soll es erstmals eine gesamtschweizerische Regelung geben. In der Schweiz
existieren schätzungsweise mehrere
hundert Biobanken, die untereinander
aber kaum vernetzt sind. Eine Registrierungspflicht fehlt. A. Czernotta
Das Projekt in Lausanne weckt aber
auch ethische Bedenken. Was passiert,
wenn bei Spendern heikle Informationen im Genom entdeckt werden? Wer
will die betroffene Person darüber aufklären? Vincent Mooser anerkennt diese Einwände: «Wir haben die ethischen Fragen mit der kantonalen Ethikkommission und mit der Abteilung für
klinische Ethik am CHUV besprochen
und sie abklären lassen.»
Bisher wurde primär Pflegepersonal
geschult, welches die Patienten beim
Spitaleintritt aufklärt. In Zukunft,
wenn Sequenzierungen vorgenommen
werden, sollen entsprechend geschulte
Ärzte über heikle Resultate informieren. Und wollen Patienten aussteigen,
haben sie durch die sogenannte «escape clause» die Möglichkeit dazu; zudem haben Spender ein Recht auf
Nichtwissen. Die Informationen scheinen den Patienten vorerst zu genügen.
Die Zustimmung liegt im CHUV derzeit bei 75 Prozent, das heisst, drei von
vier Spitalpatienten spenden freiwillig.
Forscher klagen immer wieder darüber, dass die Schweiz für grosse Studien zu klein und zu reguliert sei und
die Hürden durch die Swissmedic zu
hoch. Hier könnte sich die Biobank in
Lausanne zu einem Forschungs-Eldorado entwickeln. «Wir hätten ein riesiges Reservoir für klinische Studien»,
so Vincent Mooser. Langfristig denkt
er sogar an eine Ausweitung des Lausanner Projekts auf andere Universitätsspitäler. «Wir wissen, dass im Bereich der genetischen Forschung ein
Tsunami auf uns zurollen wird», sagt
Mooser. «Diese Forschung ist die Zukunft, dafür wollen wir parat sein.»
iskalt sollte die Erfrischung sein. Mit einem
gewaltigen Schluck
stürzt der 15-Jährige das
Süssgetränk die Kehle
hinunter. In demselben
Augenblick setzt ein
heftiger Schmerz in der Mitte der
Brust ein, dem Teenager wird angst
und bange. Hin- und Hergerissen
wartet er mehrere Stunden, bevor
er sich für zwei Dinge entscheidet:
Erstens gönnt er sich vier Hotdogs,
und zweitens geht er in die Notfallaufnahme eines Spitals.
Die Ärzte betrachten den jungen
Mann, der über Schmerzen oberhalb
der Magengegend klagt, sonst aber
völlig gesund wirkt. Ein Röntgenbild
soll zeigen, was sich in der Brust des
15-Jährigen abspielt. Zu sehen ist etwas Luft, die sich im Hals und in der
Herzgegend angesammelt hat. Als der
Patient von seinem kalten Getränk
und dem Schmerz erzählt, ist den
Medizinern bereits klar, was passiert
ist: Der Temperaturschock und die
Kohlensäure aus der Flüssigkeit haben
die Speiseröhre platzen lassen.
Ein derartiger Riss tritt meist nach
einem Schlag oder Aufprall oder nach
starkem Erbrechen auf. Aber auch der
plötzlich auftretende Gasdruck aus
dem Getränk kann das Gewebe beanspruchen, das sich reflexartig zusammenzieht. Gleichzeitig versucht der
Körper, die kalte Flüssigkeit schnellstens zu erwärmen, was zur Ausdehnung innerhalb der Speiseröhre führt.
Im ungünstigen, seltenen Fall ist das
Gewebe von diesen beiden zeitgleichen Vorgängen überlastet und reisst.
Die Mediziner entschliessen sich,
den 15-Jährigen nicht zu operieren.
Bei jungen Patienten, so wissen die
Ärzte, sind die Chancen einer Selbstheilung höher als die Risiken einer
Operation. Der Teenager darf zunächst keine Nahrung schlucken und
bekommt Flüssigkeit, Nährstoffe und
Antibiotika über einen Tropf. Tritt
dennoch etwas durch den Riss aus der
Speiseröhre in den Brustkorb, wird es
durch eine kleinen Schnitt in der Haut
nach aussen abgeleitet.
Nach zwei Tagen riskieren die Ärzte es, den jungen Mann ein Kontrastmittel schlucken zu lassen. Im Röntgenbild sehen sie, dass der Riss in der
Speiseröhre noch nicht zugewachsen
ist und Kontrastmittel nach aussen
sickert. Nach drei weiteren Tagen ist
die Wunde schliesslich verheilt, und
der Patient darf ganz langsam wieder
mit dem Essen fester Nahrung beginnen. Am nächsten Tag kann er
das Spital verlassen.
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Quelle: «Jama», Bd. 309, S. 823.
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