BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks Sendung vom 05.08.2009, 20.15 Uhr Dr. Jörn Müller Astrophysiker im Gespräch mit Dr. Ellen Norten Norten: Herzlich willkommen beim alpha-Forum. Unser Studiogast ist heute Dr. Jörn Müller. Er ist an der Universitätssternwarte in München tätig und ist Sternenforscher und Astrophysiker. Herzlich willkommen, Herr Müller. Haben Sie eigentlich einen Lieblingsstern? Müller: Guten Tag, Frau Dr. Norten. Wenn man sich die Fülle der Sterne, die es alleine in unserer Milchstraße gibt, mal vor Augen führt, dann wird es schon schwierig, sich da einen Lieblingsstern auszusuchen. Aber wenn Sie mich jetzt so direkt fragen, dann möchte ich meinen, dass zwei Sterne doch sehr auffällig sind und mir unheimlich gut gefallen. Sie sind beide in einem Sternbild zu finden, nämlich im Orion: Der eine ist ein roter Riese, ein unglaublich großer Stern, nämlich der Beteigeuze. Am anderen Ende dieses Sternbilds gibt es einen blauen Riesen. Der eine leuchtet also rot, während der andere fast bläulich leuchtet. Beide sind unglaublich leuchtkräftig. Ja, ich würde sagen, diese beiden Sterne finde ich schon ganz toll. Norten: Dieses Sternenbild kann man ja relativ gut und auch sehr oft sehen am Himmel, und das selbst dann, wenn die Beobachtungsmöglichkeiten nicht ganz optimal sind. Diesen Farbunterschied kann man, wenn man es weiß – der eine, der Rötliche links oben und der Bläuliche rechts unten –, sogar erkennen. Woher kommt denn dieser Farbunterschied? Müller: Der Farbunterschied resultiert vor allem aus der Oberflächentemperatur. Je heißer ein Stern ist, je höher seine Oberflächentemperatur ist, umso rötlicher leuchtet er. Der Beteigeuze, den ich gerade als Beispiel genannt habe, hat ja "nur" eine Temperatur von circa 4000 Grad an seiner Oberfläche. Für unsere irdischen Verhältnisse ist das natürlich schon ziemlich warm. Diese 4000 Grad Celsius bewirken, dass in erster Linie rötliches Licht ausgesandt wird – also sichtbares Licht im rötlichen Bereich des elektromagnetischen Spektrums. Wohingegen dieser Stern namens Rigel, dieser blaue Riese, eine Temperatur von ungefähr 40000, 50000, 60000 Grad Celsius an seiner Oberfläche hat. Infolgedessen emittiert er wahnsinnig viel ultraviolettes Licht. Das können wir natürlich nicht sehen, aber das Spektrum geht dabei sehr stark ins Bläuliche. Darum leuchtet dieser Stern weißlich-bläulich. Norten: Welcher von den beiden ist denn weiter weg von uns? Müller: Es ist ja so, dass bei einem Sternbild die Sterne immer zusammengefasst werden zu einem Bild. Aber die befinden sich ja meistens nicht alle in einer Ebene. Ich bin ehrlich gesagt überfragt, wer von den beiden weiter von uns entfernt ist: Ich weiß es nicht. Norten: Auf jeden Fall sind sie ordentlich weit weg. Müller: Ja, das auf alle Fälle. Norten: Man kann diese beiden Sterne und auch das ganze Sternbild des Orion gut sehen. Man sieht dabei natürlich noch eine ganze Menge anderer Sterne. Wenn man bei uns in der Stadt bei klarem Wetter in der Nacht in den Himmel guckt: Wie viele Sterne kann man da ungefähr mit bloßem Auge sehen? Müller: Selbst bei klarem Wetter sieht man in der Stadt nicht allzu viele, da muss ich Sie enttäuschen. Da sind es gerade mal ein paar Hundert, und wenn es ganz hoch kommt, vielleicht 1000 Sterne, was aber schon sehr hoch gegriffen ist. Denn in der Stadt ist es einfach zu hell, d. h. es gibt in den Städten diese immer wieder angesprochene Lichtverschmutzung. Aus diesem Grund versuchen die Astronomen immer dahin zu gehen, wo die Lichtverschmutzung nicht so groß ist. Diese Lichtverschmutzung in der Stadt bewirkt jedenfalls, dass man da fast überhaupt nichts sieht, weil es da einfach zu hell ist. Norten: Wie sieht es aus, wenn man in den Bergen ist? Müller: In den Bergen sieht das schon ganz anders aus. In einer Nacht, in der kein Mond scheint, kann man u. U., und je nachdem, wie gut die Augen des Betrachters sind, 4000, 5000 oder vielleicht sogar 6000 Sterne erkennen. Und das ist natürlich schon fantastisch, wenn man da hinaufschaut. Norten: Das fasziniert wahrscheinlich so ziemlich jeden. Sie haben ja mehrere Bücher zu diesem Thema geschrieben, Ihr letztes Buch haben Sie zusammen mit Harald Lesch geschrieben. Es trägt den Titel: "Weiß du, wie viel Sterne stehen?" Darin werden all diese Fragen noch ein wenig genauer beantwortet. Sie selbst können sich das ja mit Teleskopen noch viel genauer anschauen. Kann man schätzen, wie viele Objekte es da überhaupt gibt? Müller: Nun, man kann zunächst einmal anfangen zu zählen. Auf diese Weise kommt man dann auf so eine Zahl wie diese 4000, 5000 oder 6000 Sterne, die man von den Bergen aus sehen kann: Diese Sterne wurden einfach mal von Leuten abgezählt. Aber das ist natürlich keine Methode, um die Anzahl der Sterne in einer Galaxie zu bestimmen. Stattdessen sucht man sich da mit der Hilfe eines Teleskops einen Ausschnitt raus und versucht dann, in diesem Ausschnitt alle Sterne zu zählen. Weil das Universum ja einigermaßen homogen aufgebaut ist, schaut man anschließend in den nächsten Bereich, in dem man ebenfalls eine bestimmte Anzahl von Sternen findet – genauso viele wie in einem weiteren Bereich, den man sich daraufhin anschaut. Man merkt dann, dass in einem gewissen Winkelbereich in etwa immer gleich viele Sterne vorkommen. Wenn man auf diese Weise alle Sterne zusammenzählt, kommt man darauf, dass sich in unserer Milchstraße ungefähr – hier eine genaue Zahl anzugeben, ist völlig illusorisch – 100 bis 200 Milliarden Sterne aufhalten. Das ist aber nur eine einzige Galaxie, nämlich unsere Milchstraße. Aber es gibt ja auch noch andere Galaxien und Milchstraßen: Es gibt außer unserer Galaxie noch weitere 100 Milliarden Milchstraßen oder Galaxien. Wenn man alle diese Sterne dann zusammennimmt, kommt man auf eine Zahl von ungefähr 1022, das heißt, das ist eine 1 mit 22 Nullen dahinter. In unserem Buch habe ich mal versucht, ein bisschen plausibel zu machen, wie viel das eigentlich ist und ob man sich darunter überhaupt etwas vorstellen kann. Ich habe mir gedacht, man könnte Folgendes machen. Man könnte z. B. nur in Gedanken alle diese Sterne aufteilen an alle Bundesbürger in unserer Bundesrepublik. Es bekäme dann jeder Bürger eine bestimmte Anzahl von Sternen. Man könnte dann die Aufgabe stellen, dass jeder Bürger nun anfangen müsste, seine Haufen an Sternen zu zählen. Wenn er in der Sekunde einen Stern nummerieren würde, wie lange bräuchte er wohl, bis er alle seine Sterne gezählt hätte? Er würde 28 Millionen Jahre brauchen, bis er die Sterne nur von seinem eigenen Haufen gezählt hätte! Das ist schon enorm viel. Norten: Eine Frage, die sich natürlich immer wieder stellt, ist die, ob wir wirklich die einzigen Lebewesen im Universum sind. Wenn man mit solchen Zahlen operiert, dann kann man sich im Grunde genommen gar nicht vorstellen, dass man überhaupt in alle Winkel des Universums schauen kann, dass man das überhaupt beurteilen kann. Denken Sie, dass irgendwo in irgendeiner Milchstraße, in einer fernen Galaxie, Leben herrscht? Müller: Ich bin fast davon überzeugt. Wenn man sich alleine die Anzahl der Sterne in unserer Milchstraße ansieht, das sind 100 bis 200 Milliarden, dann ist es ja nicht unwahrscheinlich, dann ist es sogar sicher, dass ein Großteil dieser Sterne auch Planeten hervorgebracht haben. Das Leben ist aber ein Phänomen, das ganz gewisse Voraussetzungen und Bedingungen von dem Ort verlangt, an dem es sich entwickeln kann. Die erste Bedingung ist der Stern, um den sich ein Planet bewegt, auf dem sich meinetwegen Leben entwickeln kann. Norten: Bei uns ist dieser Stern die Sonne. Müller: Die Sonne ist ein Stern: Das ist sozusagen "unser" Stern, das ist der Stern, der uns die Energie verleiht, die das Leben braucht, um sich überhaupt entwickeln zu können, um seine Strukturen aufbauen zu können. Auf diesen Stern bzw. auf den Typus dieses Sterns kommt es an, damit sich Leben entwickelt, und zwar so, wie wir es kennen. Und wir können ja eigentlich nur von dem Leben sprechen, das wir kennen, denn eine andere Art von Leben kennen wir ja gar nicht. Es wäre also illusorisch zu sagen, man konstruiert sich hier irgendeine andere Form von Leben, das womöglich sogar gegen die uns bekannten Naturgesetze verstößt, und sucht dann nach diesem Leben – und das, obwohl man gar nicht weiß, ob es so eine Art Leben gibt oder wie es genau aussieht. Hierzu gibt es übrigens einen netten Witz, den ich vielleicht an dieser Stelle erzählen darf. Ein Betrunkener sucht nachts unter einer Laterne nach seinem Schlüssel. Es kommt jemand hinzu, der sehr hilfsbereit ist und ihm bei der Suche nach seinem Schlüssel hilft. Nach einer gewissen Zeit wird es aber diesem Passanten zu blöd, denn sie finden den Schlüssel einfach nicht. Also sagt der Passant zu dem Betrunkenen: "Sagen Sie mal, haben Sie den Schlüssel überhaupt hier verloren?" Der Betrunkene sagt daraufhin: "Nein, nein, verloren habe ich ihn da drüben, aber da ist es ja finster, da sehe ich nichts." Und genau so ist es mit dem Leben. Wir können also nur von dem ausgehen, was wir kennen. Und da bin ich eigentlich schon überzeugt, dass es eine Menge von Sternen gibt, die wiederum Planeten um sich herum haben entstehen lassen, auf denen es dann zumindest Bedingungen gibt, die so ähnlich sind wie die Bedingungen hier auf der Erde. Wobei man aber sagen muss, dass diese Bedingungen unglaublich vielfältig sind. Aber einige Planeten, für die das gilt, gibt es sicher. Ob diese Planeten dann aber auch Leben hervorgebracht haben, ist wiederum eine andere Frage. Zumindest die Möglichkeit dafür wäre jedoch vorhanden. Ich glaube es schon, dass es in den Weiten des Universums irgend woanders um einen fernen Stern noch Leben gibt. Norten: Ein Kandidat, der immer gehandelt wurde, wenn es um die Frage von Leben auf anderen Planeten ging, war der Mars. Diesen Mars haben sie uns hier als Globus mitgebracht. Müller: Das ist natürlich nur ein Modell des Mars, also ein Mars-Globus. So wie der Mars hier mit seinen Strukturen aussieht, basiert das auf Erkenntnissen, die von Satellitenbildern stammen. Einer der ersten Satelliten, der den Mars besucht hat, waren die Viking-Sonden: Sie haben eine Unmenge von Bildern zu uns auf die Erde gefunkt. Gemäß diesen Bildern ist dieser MarsGlobus hier entstanden. Norten: Fest steht: Die grünen Männchen auf dem Mars gibt es nicht. Müller: Die gibt es mit Sicherheit nicht. Norten: Aber das Thema "Wasser" wird im Zusammenhang mit dem Mars immer wieder angebracht. Denn Wasser ist ein wichtiges Indiz für mögliches Leben. Müller: Das ist ja auch der Grund, warum sich die NASA momentan so stark darum bemüht, auf dem Mars Wasser zu finden, weil Wasser eben die Grundvoraussetzung für das Leben ist: Ohne Wasser geht überhaupt nichts, denn Wasser ist das Lösungsmittel für die Strukturen, für die Bausteine des Lebens. Wo kein Wasser ist, funktioniert kein Leben. Infolgedessen suchen die NASA und mittlerweile auch die ESO krampfhaft nach Wasser auf dem Mars. Und mittlerweile hat sich herausgestellt, dass es auf dem Mars wirklich Wasser gibt, und zwar in erster Linie auf seinen Polkappen. Das ist vor allem Kohlendioxideis, aber auch Wassereis. Und dann gibt es eine Unmenge Wasser in Form von Permafrost im Boden des Mars. Norten: Welche Temperaturen herrschen denn auf dem Mars? Müller: Der Mars ist ja weiter von der Sonne weg als die Erde und bekommt infolgedessen ein bisschen weniger von der Sonnenstrahlung ab. Deswegen ist es auf dem Mars nicht so warm wie auf der Erde. Es gibt auf dem Mars auch keinen großen Treibhauseffekt, weil es dort eben viel zu wenig Kohlendioxid gibt: Der Mars hat eine Atmosphäre, die nur ungefähr ein Hundertstel so dicht ist wie die auf der Erde. Die mittlere Temperatur auf dem Mars liegt daher bei ungefähr -50 Grad Celsius. Der Mars hat aber genauso wie die Erde auch Jahreszeiten, denn seine Achse ist in fast genau dem gleichen Winkel geneigt wie bei uns. Im Winter geht dann die Temperatur durchaus runter auf ungefähr -150 Grad. Das wäre also recht ungemütlich für uns Menschen. Im Sommer gibt es aber durchaus Orte auf dem Mars, an denen die Temperatur auf +25 Grad Celsius ansteigt. Das wäre also u. U. doch erträglich für uns. Norten: Es gibt ja diesen Begriff des Terraformings: Könnte man sich vorstellen, dass wir Menschen eines Tages auf den Mars umsiedeln, weil es auf der Erde für uns zu eng wird oder weil meinetwegen die Verstrahlung aufgrund von Radioaktivität zu hoch geworden ist? Müller: Vorstellbar ist es schon. Es gibt ja mittlerweile auch Ideen, wie man so ein Terraforming vornehmen müsste. Man müsste zuerst einmal versuchen, den Mars aufzuwärmen, also aufzuheizen. Die Idee besteht darin, dass man per Raumschiffe eine Unmenge von Treibhausgasen auf den Mars bringt: Methan, Kohlendioxid usw. Auf der Venus gibt es ja diesen Effekt, der auch bei uns auf der Erde vorhanden ist, allerdings nicht so stark. Der Mars würde sich dann aufgrund dieser Treibhausgase immer stärker erwärmen. Dadurch könnte das Wasser, das momentan noch in Form von Eis im Boden eingeschlossen ist, anfangen, flüssig zu werden und vielleicht an die Oberfläche zu quellen. Das ist der eine Punkt. Dann hat man aber immer noch keine Atmosphäre auf dem Mars. Als Nächstes müsste man daher versuchen, Mikroorganismen anzusiedeln, die über Fotosynthese Sauerstoff produzieren. Dieser Sauerstoff würde sich dann in der Atmosphäre anreichern, was dazu führen würde, dass man eines sehr, sehr fernen Tages auf dem Mars Atemluft hätte. Aber ich nehme an, dass so ein Prozess doch ein paar Millionen Jahre brauchen würde, bis man es geschafft hätte, den Mars so hinzutrimmen, dass man sich auf ihm niederlassen könnte. Norten: Einen Reiseführer für den Mars müssen wir uns also noch nicht kaufen. Müller: Man muss sich ja nur einmal überlegen, wie lange es dauert, bis man alleine zum Mars hinkommt. Er ist ja "nur" eineinhalb Mal so weit entfernt von der Sonne wie die Erde, aber alleine um mit einem – nach heutiger Technologie gebauten – Raumschiff zu ihm zu fliegen, bräuchte man ungefähr 260 Tage, um auf dem Mars anzukommen. Und dann müsste man auf dem Mars noch einmal 465 Tage warten, bis die Konstellation zwischen Mars und Erde wieder so ist, dass man zurückfliegen kann. Und dann wäre man eben erneut 265 Tage unterwegs. Eine Reise zum Mars und zurück nimmt also fast 1000 Tage in Anspruch. Natürlich schreitet die Technologie voran, die Raumschiffe werden schneller, d. h. es wird auch schneller gehen eines Tages. Aber momentan ist das eigentlich illusorisch. Die NASA möchte den Mars natürlich schon gerne besuchen: So ungefähr im Jahr 2011 wollen sie eine neue Sonde zum Mars schicken. Aber ein bemannter Raumflug zum Mars kommt für die NASA erst so ungefähr im Jahr 2030 in Frage. Norten: Ein Problem sind ja diese wahnsinnigen Entfernungen im Weltraum. Es gibt ja jede Menge Science-Fiction-Literatur, die sich damit auseinandersetzt. Die Fernsehserie "Star Trek" bzw. "Raumschiff Enterprise" ist wohl die berühmteste in diesem Genre. Dort haben die Raumschiffe ganz andere Energieantriebe als die heutigen, realen Raumschiffe: Das Raumschiff Enterprise überbrückt diese gewaltigen Distanzen ruckzuck. Ist es realistisch, dass man das irgendwann einmal schaffen könnte? Müller: Sie sprechen jetzt wohl von diesen sogenannten Warp-Antrieben. "Warp" ist ja das englische Wort für "falten", "zusammenknüllen" usw. Es gibt in der Tat Untersuchungen, ob man so etwas machen könnte. Eine Überlegung ist z. B., ein Raumschiff in eine Raumblase hineinzustellen. Diese Raumblase müsste man aber zuerst einmal erzeugen, indem man die Raumzeit faltet: Energie und Masse krümmen die Raumzeit. Es wäre also theoretisch möglich. Aber die Rechnungen besagen, dass man dafür eine Energie bräuchte, die im gesamten Universum nicht vorhanden ist. Die Energie des gesamten Universums würde also u. U. nicht ausreichen, um so eine Blase zu basteln, mit der man dann mithilfe eines Raumschiffes wohin fliegen könnte. Aber "warp" heißt ja nichts anderes als die RaumzeitKrümmung. Es gibt dafür ein nettes und anschauliches Beispiel. Stellen wir uns einen Käfer vor, der auf einem Blatt Papier von einem Eck diagonal ins andere Eck kriechen möchte. So ein Käfer ist dafür eine ganze Weile unterwegs. Aber man könnte diesem Käfer ja auch behilflich sein: Man könnte nämlich seine Raumzeit krümmen, indem man dieses Blatt Papier an den beiden Enden nimmt und diese beiden Enden zusammenführt. In diesem Fall bräuchte der Käfer dann sozusagen nur einen einzigen Schritt tun, um von einem Eck zum anderen zu kommen. Norten: Das Problem ist, dass wir von irgendwoher diese ungeheure Energie bräuchten, um das "Blatt zu krümmen". Müller: Genau, wir bräuchten genau diese Energie. Hinzu kommt aber noch, dass unsere Raumzeit noch ein bisschen anders aussieht: Sie ist nämlich dreidimensional, hat also die drei Koordinaten Länge, Breite und Höhe, und hat auch noch eine vierte Dimension, nämlich die Zeit. Norten: Da sieht man, dass Sie Astrophysiker sind und diese komplizierten physikalischen Zusammenhänge auch erklären können. Wir waren bei den Planeten, bei den Sternen: Ein großer Unterschied ist, dass nur die Planeten als mögliche Kandidaten für ein Leben im Weltall in Frage kämen. Die Sonnen, die Sterne auf keinen Fall, denn sie sind viel zu heiß. Woher bekommen die eigentlich ihre Energie? Müller: Die Sterne? Norten: Ja. Müller: Das ist ein ganz komplizierter Prozess und erst durch ein langes Studium der Sonne ist man darauf gekommen, wie das überhaupt funktionieren könnte. Vorher hatte man ja diesbezüglich wirklich ganz irrwitzige Ideen. Eine dieser Ideen war: "Da brennt ein Feuer!" Die Griechen waren der Meinung, dass das glühende Steine sind, die die Sonne und die Sterne leuchten lassen. Später hat man gesagt: "Na ja, vielleicht gibt es auf der Sonne Wasserstoff und Sauerstoff und die verbrennen miteinander und das macht diese Hitze." Aber Eddington hat sich dann in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts überlegt, dass das doch u. U. auch durch eine Fusion von kleinen Teilchen zu großen Teilchen passieren könnte. Bei dieser Kernfusion wird nämlich Energie frei. Diese Energie wird dann in Form von Licht frei und durchdringt den Stern und kommt heraus. Es sind also in erster Linie Kernfusionsprozesse, die da ablaufen: Wasserstoff wird zu Helium verbrannt, wobei Bindungsenergie frei wird. Diese Bindungsenergie wird in Form von Photonen, also Lichtquanten frei. Sie erscheinen dann letztlich an der Oberfläche der Sonne und lassen sie so heiß leuchten. Das ist die Energie, von der die Sterne leben. Norten: Diesen Prozess der Kernfusion möchte man natürlich auch gerne auf der Erde zustande bringen, um damit vielleicht unser Energieproblem lösen zu können. Müller: Natürlich, das Sternenfeuer auf die Erde zu holen, ist der Traum aller Physiker, denn dann wären wir jenseits von allen Energieproblemen: Da bräuchten wir dann kein Uran mehr usw. Aber das ist mittlerweile gar kein Hirngespinst mehr, denn es gibt ja inzwischen in den Max-Planck-Instituten solche Apparate, solche Reaktoren – Tokamak oder Stellarator heißen diese beispielsweise –, bei denen es bereits gelingt, solche Fusionsprozesse durchzuführen. Das gelingt allerdings immer nur für extrem kurze Zeit. Und man muss immer noch mehr Energie aufwenden, um diesen Prozess in Gang setzen zu können, als dann letztlich an Energie frei wird. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass es in absehbarer Zeit, also in 50 oder spätestens in 100 Jahren so weit ist, dass wir unsere Energie aus Kernfusionsprozessen beziehen, ist groß. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das gelingen wird. Norten: Die Sonne schafft das bereits heute, denn sie speist uns mit Energie. Alle Energie, die in unserem Planetensystem vorhanden ist, stammt von der Sonne. Es gibt aber auch Sonnenflecken, denn es tut sich auch sonst etwas auf der Sonne bzw. die Sonne ist nicht immer ganz gleich. Wie kommt das? Müller: Die Sonne ist ein ganz turbulentes Gebilde: Sie ist ein glühend heißer Gasball mit einer Oberflächentemperatur von ungefähr 5500 Grad. Je weiter man nach innen in die Sonne kommt, umso heißer wird es. Im Mittel gibt es im Inneren der Sonne eine Temperatur von ungefähr 15 Millionen Grad Celsius. Nur weil es so heiß ist, stoßen diese Teilchen, stoßen diese Protonen so heftig miteinander zusammen, dass sie sich zu Helium verbinden können. In der Sonne gärt es also sozusagen: Da gibt es regelrechte Turbulenzen. Das ist so ähnlich wie in einem Wassertopf, der auf einer Herdplatte steht und in dem Wasser kocht. Wenn das Wasser kocht, dann wallen da so Blasen nach oben, die dann platzen und wieder nach unten sinken. Genauso ist es auf der Sonne auch. Das kann man sogar beobachten: Das sind sogenannte Granulen. Wenn man mit dem Teleskop hinschaut, sieht man wirklich, wie aus der Oberfläche der Sonne Blasen aufsteigen. Diese Blasen verteilen sich dann und sinken an den Rändern wieder ab. Die Sonne hat ja auch ein Magnetfeld, weil sie sich dreht. Dieses Magnetfeld wird durch diese Granulen, durch diese Bewegung, durch diese Konvektion von unten nach oben gespült: Da kommt es dann zu Verbindungen der einzelnen Magnetfeldlinien und es kommt zu Energieausbrüchen. Das macht sich dann bemerkbar in diesen Sonnenflecken oder in Eruptionen. Auch der Sonnenwind ist so eine Eigenschaft der Sonne – aber nicht nur der Sonne, sondern von jedem Energie abstrahlenden Stern, der die Energie in diesem Fall aber nicht in Form von Licht, sondern von Teilchen abstrahlt. Der Sonnenwind ist, wenn er sehr stark ist, hier bei uns auf der Erde in Form von Nordlichtern zu beobachten. Das ist schon eine ganz tolle Geschichte. Norten: Wenn von Sternen oder Sonnen die Rede ist, dann heißt es immer, dass sie – fast wie ein lebendiges Gebilde – sterben und neu entstehen können. Warum ist das so? Müller: Sterne werden geboren, d. h. es gibt sie nicht schon immer. Nachdem sie geboren wurden, fangen sie an zu leben und haben dann einen gewissen Ablauf in ihrem Leben. Sie entwickeln sich und am Schluss werden sie alt: Sie werden insofern alt, als sie dann ihren Wasserstoffvorrat verbrannt haben. Das bedeutet, dass das nukleare Feuer ausgeht und sie sterben. Sterne entstehen in erster Linie aufgrund der Gravitation, also aufgrund der Eigenschaft, dass sich Masse gegenseitig anzieht. Es gibt nämlich unglaubliche Mengen an interstellarer Materie: Das ist nichts anderes als in erster Linie Wasserstoff und Helium, verteilt auf enorme Räume. Aber in diesen Wasserstoff- und Heliumwolken gibt es immer wieder kleine Verdichtungen und diese Verdichtungen ziehen aufgrund der Gravitation dann Material aus den benachbarten Räumen an. Allmählich wird dieses Gebilde dann immer dichter und größer und innerhalb dieses Gebildes wird es immer heißer. Irgendwann wird es in der Mitte dieses Gebildes, dieser Wolke, dieses Konglomerats so heiß, dass sich Kernfusionsprozesse bilden können. Norten: Ist das die Geburt eines Sterns? Müller: Ja, das ist die Geburt eines Sterns: In dem Augenblick, in dem der Stern in seinem Zentrum anfängt, Wasserstoff zu Helium zu verbrennen, ist er sozusagen angekommen und wird langsam erwachsen. Von da an geht es eigentlich erst los. Und dann geht das immer weiter und weiter, bis irgendwann dieser Wasserstoff zu Ende geht. Je nachdem, wie groß der Stern war, wie massereich er war, geht das umso schneller oder langsamer. Kleine Sterne, also Sterne, die wenig Masse haben, die z. B. nur ein Zehntel der Sonnenmasse haben, bringen es auf ein Alter von bis zu 40 Milliarden Jahre. Das ist um ein Vielfaches länger, als unser Universum alt ist. Massereiche Sterne, Sterne, die bis zum Hundertfachen an Masse der Sonne haben, leben überhaupt nicht lange: Sie schaffen es vielleicht ein paar Millionen Jahre und dann sind sie bereits ausgebrannt. Norten: Das ist aber auch schon ganz schön lange. Müller: Natürlich, für unsere menschlichen Verhältnisse ist das alles unvorstellbar alt. Norten: Woher wissen Sie das denn? 40 Milliarden Jahre sind ja ein Zeitraum, den wir uns nicht einmal vorstellen können. Wie berechnen Sie so etwas? Wie kommen Sie auf solche Zahlen? Müller: Das ist sozusagen reine Berechnung, denn wirklich beobachten kann man das ja nicht. Das Leben eines Astronomen reicht nicht hin, um einen Stern über diese lange Zeit beobachten zu können. Aber es gibt eben so viele Sterne und diese Sterne befinden sich eben in ganz unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Der eine Stern ist jung, der andere alt und der nächste meinetwegen genau in der Mitte seines Lebens. Und alle diese Sterne kann man beobachten. Aber das eigentliche Modell, wie ein Stern funktioniert, hat man aus der Sonne gewonnen, aus der intensiven Beobachtung der Sonne. Dabei hatte man ja inzwischen genügend Zeit und hierbei hat man sich eben auch aufgrund von Berechnungen klar machen können, wie lange es dauert, bis ein gewisser Wasserstoffvorrat verbrannt ist und welche Temperaturen im Inneren der Sonne herrschen. Norten: Wie alt ist denn unsere Sonne? Müller: Unsere ist jetzt ungefähr 4,5 Milliarden Jahre alt. Norten: Sie hat aber noch ein bisschen Lebenszeit? Müller: Sie hat ungefähr noch einmal so viel Zeit, um den Wasserstoff in ihrem Zentrum zu verbrennen. Sie verbrennt ja nur den Wasserstoff in ihrem Zentrum, alles Äußere bleibt zunächst so, wie es ist, weil es dort einfach zu "kalt" ist, also keine Kernfusionsprozesse stattfinden können. Diese finden nur im Zentrum statt, weil es dort heiß genug ist. Diese 4,5 Milliarden Jahre haben wir also noch vor uns. Norten: Gott sei Dank. Müller: Dann allerdings geht es den Bach runter. Vielleicht sollten wir jetzt schon diesen Termin im Kalender vermerken, damit wir ihn nicht versäumen. Norten: Aber das würde doch den Tod unseres Planetensystems bedeuten? Müller: Ja, mit Sicherheit, und dieser Tod würde wahrscheinlich schon früher beginnen. Unsere Sonne wird ja im Laufe ihrer Entwicklung immer leuchtkräftiger und immer größer. Innerhalb dieser ungefähr zehn Milliarden Jahre, die sich die Sonne entwickelt, wird ihre Leuchtkraft ungefähr um den Faktor 3 zunehmen. Norten: Können wir so etwas merken? Müller: Ja, wir merken das, allerdings nur auf die lange Zeit hin. Kurzfristig merkt man davon selbstverständlich nichts. Norten: Ich persönlich werde das also nicht merken. Müller: Ja, wir beide werden das nicht merken. Norten: Aber vielleicht die Kindeskinder unserer Kindeskinder? Müller: Ja, vielleicht. Eher merkt man jedoch Veränderungen an der Sonne im Hinblick auf Sonnenflecken. Denn diese machen sich durchaus auf der Erde bemerkbar: Die Intensität, die Leuchtkraft der Sonne, die Energieabgabe der Sonne hängt durchaus mit der Sonnenfleckenhäufigkeit zusammen. Norten: Gibt es da auch einen Zusammenhang mit dem Klimawandel, wenn sich die Sonne derart verändert? Denn sie ist nun einmal unsere Energiequelle: Das müsste doch auch Auswirkungen auf unser Klima haben. Müller: Das ist mit Sicherheit so. Es gibt da ganz typische Epochen in unserer Erdgeschichte, bei denen die Sonne eine ganz entscheidende Rolle gespielt hat. In der Zeit zwischen 1650 und 1750 gab es mal eine Periode, in der die Sonne praktisch überhaupt keine Sonnenflecken hatte. Der Energieausstoß war daher deutlich niedriger. Aus diesem Grund gab es dann auf der Erde so etwas wie eine kleine Eiszeit, wie man sagen könnte. Es war damals über viele Jahre hinweg so kalt, dass z. B. die Themse zugefroren ist und die Leute in London mit Schlittschuhen auf der Themse spazieren fahren konnten. Diese Sonne hat also über längere Perioden einen gewaltigen Einfluss auf unser Klima. Norten: Sie sagten soeben, dass Sie auch andere Sterne beobachten und daraus dann Ihre Schlüsse ziehen. Wenn ein Stern sehr bald verschwindet, dann braucht ja sein Licht, um zu uns zu gelangen, eine enorme Zeitspanne. Kann es daher sein, dass wir Sterne sehen können, die es eigentlich gar nicht mehr gibt, die inzwischen schon gestorben sind? Müller: Ja, natürlich kann das sein. Um das noch einmal ein bisschen zu verdeutlichen: Wenn wir einen Gegenstand betrachten, dann sehen wir ihn ja nie so, wie er in dem Augenblick ist, in dem wir ihn betrachten. Auch wenn ich Sie jetzt z. B. anschaue, dann sehe ich Sie nicht so, wie Sie in dem Augenblick sind, denn das Licht von Ihnen zu mir braucht eine gewisse Zeit. Norten: Aber das ist eine winzig kleine Zeit. Müller: Ja, das ist selbstverständlich winzig klein und deswegen bemerken wir das auch nicht, weil sich das Licht ja mit einer Geschwindigkeit von 300000 Kilometern pro Sekunde ausbreitet. Aber wenn man in den Weltraum schaut und dort z. B. einen Stern anschaut, der 10000 Lichtjahre entfernt ist, dann ist damit gemeint, dass er so weit entfernt ist, wie das Licht in 10000 Jahren an Entfernung zurücklegt. Wir sehen daher heute diesen Stern so, wie er vor 10000 Jahren gewesen ist, weil das Licht nun einmal 10000 Jahre braucht, um von dort zu uns zu kommen. Wenn dort auf diesem Stern also heute jemand sitzen und eine sehr, sehr große Taschenlampe einschalten würde, dann würden wir hier auf der Erde das Licht dieser Taschenlampe erst in 10000 Jahren sehen. Es kann also durchaus sein, dass wir Sterne sehen, die sich mittlerweile bereits verabschiedet haben, die in einer Supernova explodiert sind. Von dieser Supernova haben wir aber überhaupt noch nichts mitbekommen. Norten: Das heißt, wenn wir uns heute den Sternenhimmel anschauen und untersuchen, dann unternehmen wir einen Blick in die Vergangenheit? Müller: Ja, wir sind praktisch Archäologen, astronomische Archäologen. Wir betreiben in der Tat eigentlich nur Vergangenheitsstudien. Norten: Es gibt ja Spekulationen über den Urknall, also darüber, wie alles irgendwann einmal begonnen hat. Kann man diesen Urknall im Endeffekt eines Tages sehen, insofern es ihn denn irgendwann einmal gegeben hat? Müller: Bis zum Urknall vordringen zu können, ist wahrscheinlich nicht möglich. Was wir günstigstenfalls schaffen könnten, ist, beobachtenderweise in eine Zeit ungefähr 380000 Jahre nach dem Urknall vorzudringen. Vorher war nämlich das Universum sozusagen undurchsichtig, weil das ganze Licht an den vielen freien Elektronen, die es da gab, so gestreut wurde, dass man überhaupt nichts beobachten hätte können. Diese 380000 Jahre nach dem Urknall sind sozusagen die "optische Schallmauer", hinter die man überhaupt nicht dringen kann. Erst danach wurde dann das Universum durchsichtig. Bis dahin aber schauen wir ja jetzt noch nicht. Vor Kurzem hat man eine Sternexplosion beobachtet, die sich ungefähr 600 Millionen Jahre nach dem Urknall ereignet haben soll. Das ist natürlich schon ein ganz schön weiter Blick in die Vergangenheit. Aber zwischen diesen 600 Millionen Jahren und den 380000 Jahren ist natürlich noch eine enorme Kluft. Aber direkt an den Urknall heranzukommen, ist ziemlich aussichtslos. Norten: Sie haben zusammen mit Harald Lesch auch das Buch "Kosmologie für Fußgänger" geschrieben. Dort kann man all diese Dinge über den Urknall usw. nachlesen. Es ist sehr, sehr spannend, sich auf diese Weise in die Vergangenheit zu begeben. Es gibt aber auch Dinge, die man nicht beobachten kann, nämlich die Schwarze Energie, die Schwarze Materie. Ich habe gehört, dass es viel mehr Dinge gibt, die man sehen kann, als Dinge, die man sieht. Das glaubt man ja zunächst einmal gar nicht. Müller: Ja, das ist ein ganz eigenartiges Phänomen. Wenn man diesen Aussagen Glauben schenken kann – und mittlerweile muss man das eigentlich, denn die Grundlagen sind so stringent, dass man das nicht mehr übergehen kann –, dann besteht unser Universum nur zu 0,4 Prozent aus Materie, die wir sehen können. Alles, was man also in Form von Sternen, in Form von Galaxien, in Form von leuchtendem Gas usw. sehen kann, macht demnach nur 0,4 Prozent des gesamten Energieinhalts des Universums aus. 23 Prozent des gesamten Energieinhalts sind Dunkle Materie. Das ist eine Art von Materie, die mit der Materie, wie wir sie kennen, gar nichts zu tun hat. Norten: Wenn man sie nicht sieht, wie kann man sie denn dann überhaupt belegen? Müller: Das ist eine gute Frage, aber die Antwort darauf ist ganz "einfach": Diese Materie wirkt aufgrund ihrer Gravitation, aufgrund ihrer Anziehungskraft auf die andere Materie. Schwarze Löcher sind also in erster Linie unsichtbar: Deswegen heißen sie ja auch Schwarze Löcher. Aber sie vereinigen doch ein gewisses Maß an Materie in sich. Sie sind zwar nicht sichtbar, aber aufgrund ihrer Anziehungskraft auf benachbarte Sterne, die sich um dieses Gravitationszentrum herum bewegen, kann man schließen: Da muss etwas sein, das Materie ist: weil das nämlich eine Anziehungskraft ausübt auf die für uns sichtbare Materie. Und dann gibt es noch etwas ganz anderes, etwas zunächst völlig Abstruses, von dem noch niemand weiß, um was es sich dabei genau handelt: Das ist die dunkle Energie. 73 Prozent des gesamten Energieinhalts sind nämlich dunkle Energie, sind dafür verantwortlich, dass sich unser Universum schneller ausbreitet, sogar beschleunigt ausbreitet, als es das bisher getan hat: Bis vor ungefähr 5 Milliarden Jahren hat sich unser Universum nämlich sozusagen gebremst ausgedehnt, d. h. es hat sich zwar ausgedehnt, aber diese Ausdehnung wurde immer langsamer und langsamer. Seit ungefähr 5 Milliarden Jahren dehnt es sich jedoch viel schneller aus: Die Ausdehnung geschieht immer schneller, d. h. das Universum wächst schneller. Man kann natürlich fragen, woher man das weiß, denn wie sollte man das erkunden? Das geht aber tatsächlich, denn es gibt da sogenannte Standardkerzen: Das sind extrem leuchtkräftige Objekte wie beispielsweise ein ganz bestimmter Typ der Supernovae. Sie haben eine so enorme Leuchtkraft, dass man sie über ganz, ganz große Entfernungen immer noch beobachten kann. Es gibt nun wiederum Rechnungen, die auf folgende Frage abzielen: Mit welcher Geschwindigkeit müsste sich denn so ein Objekt von uns entfernen und wie hell müsste dieses Objekt sein, wenn sich das Universum gebremst ausdehnt? Man hat das dann untersucht und festgestellt, dass diese Objekte gar nicht so hell sind, wie angenommen, sondern viel dunkler. Wenn Sie dunkler sind, bleibt eigentlich nur noch der Schluss übrig, dass sie weiter weg sind und sich infolgedessen viel schneller von uns wegbewegen, was wiederum bedeutet, dass sich das Universum schneller ausbreitet, als wir das zunächst einmal vermutet hatten. Norten: Das heißt, es gibt eigentlich Dinge, die sind unerklärlich: Sie sind für uns nicht wahrnehmbar, aber für Sie rechnerisch belegbar bzw. nachvollziehbar. Wenn wir hier einmal an das spirituelle Element, an Gott, an den Himmel denken: Können sich hier die Naturwissenschaft und der Glaube irgendwie begegnen? Müller: Ich persönlich glaube das schon, aber die Naturwissenschaften sind ja nicht angetreten, um irgendwelche christlichen oder religiösen Weltbilder zu erklären oder zu dementieren oder sie zu beweisen oder ihre Falschheit zu beweisen. Das kann nämlich die Naturwissenschaft gar nicht, d. h. diese Fragen muss man wirklich den Geisteswissenschaften überlassen. Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften müssen also diesbezüglich getrennt bleiben. Denn die Naturwissenschaften können die Welt ja nur erkennen, wie sie sich uns darstellt. Ob das nun aber die Wahrheit ist, merken wir gar nicht. Infolgedessen spiegeln die Theorien, die die Naturwissenschaften und auch die Astronomie aufstellen, nicht die absolute Wirklichkeit wider, sondern sie sagen uns nur etwas über das, was nicht falsch ist. Und das ist ja das Schöne an den Naturwissenschaften: Es gibt in den Naturwissenschaften keine Dogmen, sondern es sind empirische Erfahrungen, die man macht. Man beobachtet entweder oder man rechnet. Aufgrund dieser Erfahrungen können dann Modelle konstruiert werden. So ein Modell gibt jedoch nicht die Wahrheit wieder, sondern sagt lediglich, dass dieses Modell sehr gut die Wirklichkeit wiedergibt, die wir kennen: Es passt mit dem, was wir um uns herum beobachten, zusammen. Die Naturwissenschaften sind jedoch bereit, und das ist das Schöne an ihnen, ihre Theorien zu verbessern, und zwar immer dann, wenn die Vorhersage, die die Theorie macht, mit dem, was wir um uns herum finden, nicht mehr harmoniert: Dann muss man eben die Theorie ändern. Das heißt, man muss dann zugeben, dass in der Theorie etwas nicht stimmt und dass man eine neue Theorie aufstellen muss. Eine Theorie ist also immer falsifizierbar. In den Geisteswissenschaften gibt es das meines Wissens nicht. In den Theologien gibt es stattdessen Dogmen: Da gibt es einen Gott, und an den muss man glauben. Das heißt, man muss im Stande der Gnade sein, an diesen Gott glauben zu können. Naturwissenschaft und Theologie müssen diesbezüglich also meiner Meinung nach getrennt bleiben. Die eine Disziplin darf sich nicht in die andere einmischen. Norten: Kommen wir noch einmal zu den Schwarzen Löchern: Diese gibt es ja, zumindest gemäß dem heutigen Weltbild, gemäß Ihren Untersuchungen und denen Ihrer Kollegen. Es gibt ja am CERN diesen großen Teilchenbeschleuniger, der … Müller: … im Moment gerade nichts beschleunigt. Norten: Er beschleunigt im Moment noch nichts, aber er soll eines Tages in Betrieb genommen werden. Manche Menschen haben die Angst, dass dadurch ein Schwarzes Loch erzeugt wird und wir da hineinfallen. Müller: Diese Sorge ist nicht ganz unbegründet. Norten: Oh! Müller: Ja, aber Sie werden gleich sehen, dass wir dennoch keine Angst haben müssen; diese Angst kann man sofort jedem nehmen. Es könnte durchaus sein, dass bei diesem Large Hadron Collider Schwarze Löcher entstehen. Es müssen allerdings gewisse Voraussetzungen erfüllt sein, damit das überhaupt passiert. Es müsste erstens eine andere Raumzeit geben als diejenige, die wir kennen. Wir bräuchten dafür eine Raumzeit mit ungefähr neun Raumdimensionen, damit so etwas überhaupt möglich ist. Norten: Was ist mit "Raumzeit" gemeint? Was muss ich mir darunter vorstellen? Müller: Man kann sich das gar nicht konkret vorstellen. Wenn ich von Raumzeit spreche, dann sind wir Menschen es gewohnt, dass wir in Koordinaten denken: Länge, Breite, Höhe. Dazu kommt dann noch die Zeit. Dieses Gemenge: die Zeit vergeht, dadurch verändert sich der Raum, man bewegt sich z. B. in diesem Raum innerhalb einer gewissen Zeit von hier nach dort – ist für uns Menschen sozusagen die Raumzeit. Das sind diese drei Koordinaten "Länge, Breite, Höhe". Es gibt andere Theorien wie z. B. die Stringtheorie, die aber, um überhaupt funktionieren zu können, sechs weitere Raumdimensionen braucht. Diese können wir uns aber nicht vorstellen und wir sehen sie auch gar nicht. Die Stringtheoretiker haben sich auf ein relativ schwaches Podest zurückgezogen und sagen: "Diese sechs weiteren Raumdimensionen gibt es, aber sie sind so klein, dass sie eingerollt sind. Man kann sie gar nicht wahrnehmen." Das ist ungefähr so, wie wenn man sich einen Strohhalm aus der Nähe ansieht: Man sieht, dass er eine gewisse Länge hat und auch eine rohrförmige Struktur, d. h. er hat auch eine Ausdehnung in Tiefe und Höhe. Aber wenn man einen solchen Strohhalm aus großer Entfernung ansieht, dann sieht man eigentlich nur noch, dass dieser Strohhalm lang ist, von seiner röhrenförmigen Struktur bekommt man nichts mehr mit. Die Frage war nun, ob so ein Schwarzes Loch, wie es im CERN entstehen könnte, alles um sich herum auffrisst und die Erde verschlingt. Zunächst einmal muss man sagen, dass die Schwarzen Löcher, die dabei entstehen könnten, extrem winzig sind: Sie sind ja nur eine Zusammenfügung aus zwei, drei Protonen, mehr nicht. Die Masse, die da zusammenkommt, ist so gering, dass auch die Gravitationskraft, die so ein Schwarzes Loch auf die sie umgebende Masse ausüben könnte, so winzig wäre, dass da praktisch nichts passieren kann. Es gibt wiederum Berechnungen, die besagen: Wenn ein solches Schwarzes Loch wirklich entstehen und nicht sofort wieder zerfallen würde, dann hieße das, dass so ein Schwarzes Loch in etlichen Milliarden Jahren nur so viel Masse verschlingen können würde, wie in einem Elektron vorhanden ist. Das ist so eine geringe Masse, dass man das absolut vergessen kann. Eine andere Theorie besagt, dass sich diese Schwarzen Löcher sofort auflösen, dass sie zerstrahlen. Das ist die sogenannte Hawking-Strahlung: So ein Schwarzes Loch würde nach dieser Theorie bereits in 10-27Sekunden wieder verschwinden: Es würde also zerstrahlen und wäre gar nicht mehr da. Norten: Wir würden das dann sowieso nicht wahrnehmen. Müller: Wir würden das nicht wahrnehmen. Norten: Man muss also keine Angst haben vor dem, was im CERN passiert. Müller: Niemand muss fürchten, dass da irgendetwas passiert, dass er da irgendwann einmal verschlungen wird, wenn dieser Large Hadron Collider in absehbarer Zeit hoffentlich mal wieder funktioniert und wenn dabei tatsächlich solche Schwarzen Löcher entstehen sollten. Man muss da keine Sorge haben, wir werden das sicherlich überstehen. Norten: Ganz zum Schluss würde ich gerne noch zu unserem guten alten Mond kommen, der für uns ganz gut beobachtbar ist, auf dem es inzwischen auch schon etliche bemannte Landungen gegeben hat. Gibt es eigentlich Sachen, die wir über den Mond noch nicht wissen? Müller: Man sucht bis heute nach Wasser auf dem Mond. Und man glaubt auch hier schon ein bisschen was entdeckt zu haben, nämlich in den Kratersenken in der Nähe der Mondpole: Dort könnte es Wasser geben. Es gibt jedenfalls Hinweise darauf, dass es dort vielleicht gefrorenes Wasser geben könnte. Der Mond soll ja irgendwann einmal als Basis für weitere Weltraumerkundigungen genutzt werden. Man möchte dort eine Station aufbauen und will vor allem vom Mond aus Beobachtungen anstellen: Man will z. B. auf der von uns abgewandten Seite des Mondes Teleskope aufstellen. Denn dadurch wäre man ganz abgekoppelt von den Beeinträchtigungen, die die Erde in Form von elektromagnetischer Strahlung, von Licht usw. abgibt. Auf dieser von uns abgewandten Seite des Mondes würde man dabei nicht gestört werden. Aber auf die Frage, ob es auf dem Mond irgendwelche absolut unbekannten Phänomene gibt, fällt mir jetzt gar nichts ein. Auf dem Mond schlagen natürlich fortwährend kleine Meteoriten ein, es gibt Mondbeben, die man studieren kann. Gut, man könnte vielleicht das Alter des Mondes noch genauer bestimmen. Norten: Wieso ist der Mond denn überhaupt entstanden? Müller: Der Mond ist entstanden aufgrund dessen, dass die Erde in ihrer Frühzeit mit einem Körper zusammengestoßen ist, der ungefähr die doppelte Masse hatte wie der Mars. Das war allerdings kein Frontalzusammenprall, sondern das war eher eine seitliche Kollision. Dabei ist eine große Menge an Material von der Erdoberfläche abgeschabt worden. Diese Masse ist dann raus ins Universum geflogen, ein anderer Teil ist wieder zurückgeflogen auf die Erde. Ein dritter Teil ist in eine Umlaufbahn um die Erde eingeschwenkt. Dieses Material, das in der Umlaufbahn verblieben ist, hat sich dann so allmählich zusammengeklumpt: Daraus ist der Mond entstanden. Aber es gibt auch noch weitere, ganz irre Theorien, wie der Mond entstanden ist. Eine dieser anderen Theorien ist u. a. vom Sohn von Charles Darwin entwickelt worden. Er hat damals gesagt, der Mond sei deswegen entstanden, weil sich die Erde in ihrer frühen Zeit so schnell gedreht hat, dass aufgrund der dabei entstandenen Zentrifugalkraft ein riesengroßes Stück aus der Erde herausgerissen worden ist. Dieses Stück ist weggeflogen und wurde zum Mond. Das dabei entstandene Loch auf der Erde ist der Atlantik, der sich dann mit Wasser gefüllt hat. Solche Theorien gibt es also auch. Norten: Ich glaube, wir könnten über dieses Thema noch stundenlang sprechen und Sie werden ja auch noch weitere Bücher schreiben, die das illustrieren werden. Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer: Unser Studiogast im heutigen alphaForum war Dr. Jörn Müller, Astrophysiker und Sternenforscher hier in München an der Universitätssternwarte. © Bayerischer Rundfunk