Umwelt-Zahnmedizin in der Praxis

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Umwelt-ZahnMedizin
in der Praxis
Hiltrud Boeger, Lutz Höhne, Kurt E. Müller
Chronisch entzündliche Erkrankungen sind nahezu immer multikausal bedingt. Auf der Grundlage
einer individuellen Genetik und spezifischer Vorbelastungen und Vorerkrankungen entwickeln
sich Störungen im Regulationssystem des Organismus durch den Einfluss von Triggerfaktoren.
Die Entwicklung einer chronischen Entzündungserkrankung ist demnach immer ein mehrstufiger Prozess. Bei der Diagnostik kommt es darauf an, wichtige Triggerfaktoren für den dauerhaften Entzündungsprozess zu finden und zu eliminieren. Zahnersatzmaterialien und dentale
Herdgeschehen stellen dabei einen wichtigen Fokus dar, da sie dauerhaft auf den Organismus
einwirken. Die nachfolgenden Falldarstellungen machen die Komplexität der Diagnostik und der
Therapie deutlich.
Schlüsselwörter: chronische Entzündung, Allergie, Candida, Metallbelastung
——— Systemische Entzündungserkrankungen
durch eine Typ IV-Sensibilisierung
auf Gold
Vorgeschichte
Die 55-jährige Patientin (Beruf MTA) stellte sich erstmalig im Mai
2009 bei mir vor, weil sie seit 2-3 Jahren erhöhte Entzündungs­
werte bei Vorliegen einer rheumatischen Erkrankung ohne
erkennbare Ursache hatte. Frau H. kam auf eigenen Wunsch mit
der Bitte um Fokussuche.
Die Anamnese ergab, dass sie ca. Mitte der 1990er Jahre umfangreich prothetisch versorgt wurde.
1998 traten erstmalig chronischer Husten, Bluthochdruck und
eine knötchenartige Entzündung beim Tragen von Goldketten auf.
Die damalige rein symptomatische Therapie bestand in Codein
und Asthmaspray gegen den Husten und Betablocker / ACEHemmer gegen die Hypertonie. Der „Knoten“ wurde chirurgisch
entfernt.
2005 stellten sich diverse Pollenallergien ein, die Patientin unterzog sich - erfolglos - einer mehrjährigen Hyposensibilisierung.
Anfang 2007 entwickelte sie eine rheumatische Erkrankung (Poly­
myalgie) mit heftigen Symptomen. CRP und BSG waren stark
erhöht.
Seitdem befand sie sich in einer Kortison-Dauertherapie: beginnend mit 100 mg/Tag folgten 2 Jahre bei 50 mg/Tag. Es folgte ein
längerer Kuraufenthalt in einer Rheumaklinik.
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Zum Zeitpunkt der Erstkonsultation in meiner Praxis, also im Mai
2009, war sie bei 20mg/Tag angelangt. Die Patientin berichtete,
dass jedweder Ortswechsel keinerlei Linderung brachte und sie
ohne Kortison und die Antihypertensiva „nicht leben könne“.
Im März 2009 suchte Frau H. schließlich eine Heilpraktikerin auf,
die erstmalig den Zahn-Kieferbereich als potentiellen Auslöser
ihrer Beschwerden erwähnte.
Befunde
Die zahnärztliche klinische und röntgenologische Untersuchung
ergab außer einer Parodontitis marginalis vier mehrflächige
Amalgamfüllungen, insgesamt zehn Goldkronen- und Brücken­
glieder, wovon drei Kronen undicht waren, ferner drei periapikal
veränderte Zähne mit insuffizienten Wurzelfüllungen sowie eine
Kombinationsprothese im Unterkiefer mit insgesamt drei sichtbaren Lotstellen.
Daraufhin ließ ich im Institut für Medizinische Diagnostik Berlin
die folgenden Untersuchungen während eines Korticoid-freien
Intervalls vornehmen (die Ergebnisse sind jeweils in Klammern
dargestellt):
• IL1/TNF-α Zytokinpolymorphismus (Grad 2)
• LTT-Dentalcheck (Typ IV-Sensiblisierung auf Gold)
• BDT Kunststoffe (o.B.)
• Merc./Thioäther (IFN-γ o.B., IL10 grenzwertig)
• LTT-Wurzelfüllmaterial (Sensibilisierung auf Guttapercha)
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Die Sensibilisierung auf Guttapercha wurde durch die Effektor­
zelltypisierung bestätigt (IFNgamma leicht, IL10 deutlich erhöht).
Auf Gold wurde keine Effektorzelltypisierung durchgeführt, da Fr.
H. ohnehin darauf bestand, alle Metalle entfernt zu bekommen.
Beurteilung, Therapie und Verlauf
Die zahnärztliche Therapie dauerte insgesamt 9 Monate an und
umfasste:
• Amalgamsanierung
• Interimsversorgung mit Glasionomerzement
• Parodontalbehandlung
• Entfernung der Goldrestaurationen
Während der 1. Sitzung kam es zu einem spontanen Asthma­
anfall, ich brach die Behandlung sofort ab und gab der Patientin
50 mg Prednisolon. Die übrigen Kronen wurden zu einem späteren Zeitpunkt unter Kortisonschutz entfernt.
• Entfernung der drei devitalen Zähne
Auch wenn nur eine TH2-dominante Reaktion vorhanden war,
wollte Fr. H. keinerlei zukünftige Risiken eingehen und auf diese
Zähne in Zukunft verzichten.
• Prothetische Versorgung
Es waren Teleskopprothesen in Ober- und Unterkiefer geplant,
also testeten wir als zukünftiges Material im LTT Combibond
und Combilium als goldfreie Legierungen aus. Die Patientin
zeigte keinerlei Sensibilisierung, so dass die Prothesen aus
diesem Material in Lot- und Schweißfreier Verbindung mittels
Funkenerosion angefertigt und im März 2010 eingegliedert
wurden.
Die Patientin hat heute keinerlei allergische Symptome mehr,
der Blutdruck hat sich normalisiert, ihr Asthma und die rheumatischen Beschwerden sind vollständig verschwunden. Die
Gingiva ist reizlos. Frau H. braucht keinerlei Medikamente mehr.
Sie kommt derzeit noch alle drei Monate zum Recall und zur
Prophylaxe. Wir werden diese Abstände ab diesem Jahr auf sechs
Monate erweitern.
Dr. med. dent. Hiltrud Boeger
———————————— Candidabesiedlung nach
Sensibilisierung auf Silber
Vorgeschichte
Der 60-jährige Patient war immer gesund, Raucher, lebenslustig,
wissbegierig, ein Allrounder! Er kannte keine Allergien, isst gerne
und viel Süßes! Er kommt erstmals im September 2009 in meine
Praxis. Hintergrund ist nicht eine zahnärztliche Behandlung - die
Zähne des Patienten sind mit Zahnersatz funktionell einwandfrei
versorgt. Seine Lebensgefährtin hat ihn zu uns geschickt, da er
seit 6 Monaten von Sodbrennen geplagt wird. Im Rahmen einer
Gastroskopie war eine entzündete Magenschleimhaut festge­stellt
worden. Der Hausarzt verordnete mangels anderer Befunde einen
Protonenpumpenhemmer, der auch durchaus half. Damit war die
Diagnostik aber auch abgeschlossen, denn Beschwerden hatte
der Patient ja so nicht mehr.
Befunde
Die Anamnese konnte keine wesentlichen neuen Erkenntnisse liefern. Insgesamt hinterließ er einen ungewohnt müden Eindruck.
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Abb. 1: Die Multielementanalyse des Speichels zeigte z. T. deutlich erhöhte Werte für
einige Metalle
Es lag nahe, aufgrund der Ernährungsgewohnheiten eine
Untersuchung auf Candida in Auftrag zu geben. Der Abstrich der
Mundschleimhaut bestätigte die Vermutung in vollem Umfang.
Angesichts eines nachgewiesenen MBL-Mangels (≤ 50ng/ml)
war die Entwicklung einer Candida-Belastung durchaus logisch
und man hätte hier ein Nystatinpräparat verabreichen können.
Man wäre allerdings gescheitert, denn auch Candida benötigt
vorgeschädigte Mukosen, um so zu überwuchern. Ein CandidaNachweis ist häufig wegweisend, zeigt uns aber selten die eigentliche Ursache.
Da sich umfangreicher Zahnersatz aus unterschiedlichen Zeiten
in Ober- und Unterkiefer befanden, wurde eine quantitative
Untersuchung des Speichels auf Metalle in Auftrag gegeben
(Abb. 1). Die gefunden Werte sollten bei ordentlich gearbeitetem
Zahnersatz nicht in dieser Höhe zu finden sein. Bei permanenter
Aufnahme solcher Mengen besteht durchaus die Gefahr einer
Speicherung und / oder Sensibilisierung.
Ein LTT Metallprofil ergab dann auch eine unerwartete Sensi­bi­
lisierung auf Silber, das in den Legierungen verarbeitet war und
im Speichel schon erhöht nachgewiesen werden konnte (Abb. 2).
Schon allein mit diesen Befunden ist die Entwicklung der Candida
und auch der Magenbeschwerden erklärbar. Die Immunreaktionen
auf Metalle, gegenüber denen man sensibilisiert ist, finden ja in
allen Schleimhäuten statt, wo der Kontakt stattfindet, so auch in
der Magenschleimhaut. Dieses wird verstärkt durch eine erhöhte
Entzündungsneigung (TNF und IL1-Genpolymorphismus Grad 3).
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Silber wirkt bakterizid und verändert zwangsläufig die Zusam­
mensetzung der oralen Bakterienflora. Der genetisch bedingte
MBL-Mangel mit reduzierter Immunabwehr erklären die Ent­glei­
sung der Schleimhautflora.
Ein zusätzlich angefertigtes CT zeigte Metallreste in regio 22, 15
und apikale Osteolysen an unteren und oberen Frontzähnen.
Mercaptan / Thioäther als Eiweißzerfallsprodukte aus devitalen
Zähnen stellten sich zusätzlich als heftige entzündliche Reize
für das Immunsystem dar, so dass mit dem Patienten eine
Gesamtsanierung vereinbart wurde.
Beurteilung, Therapie und Verlauf
Als Patient mit Entzündungspolymorphismus Grad 3 und MBLMangel (zusätzlich noch Raucher) scheiden Implantate von
vornherein als verlässliche Therapieoption aus. Wir vereinbarten
die Extraktion aller devitalen Zähne, die operative Entfernung
der Metallreste und eine Neuversorgung mit teleskopierenden
Kronen und Modellguß aus einer Co/Cr Legierung.
Die Metallreste im Kiefer stellten sich als Amalgamreste dar, der
umgebende Kiefer war entzündlich verändert in Form einer chronischen Osteomyelitis.
Bereits nach Entfernung aller vorhandenen Metalle bemerkte der
Patient eine Besserung seiner Magenprobleme. Ebenfalls stellte er
fest, dass sich sein unbemerkt reduziertes Riechvermögen wieder
verbesserte. Bis heute musste er nicht ein einziges Mal wieder zu
Protonenpumpenhemmern greifen.
Es handelt sich hier glücklicherweise um ein - noch - monokausales Geschehen, das durch eine rechtzeitige zahnärztliche
Sanierung allein gelöst werden konnte. Dies ist bei den meisten
chronifizierten Multisystemerkrankungen nicht der Fall.
Wahrscheinlich hätte dieser Patient ohne Expositionsstopp mit
dieser Medikation eine chronisch entzündliche Darmproblematik
entwickelt mit den bekannten Folgen, angefangen von Nahrungs­
mittelunverträglichkeiten, Mineralstoffmangel etc. Das sind typi-
sche Karrieren der Patienten mit entzündlichen Beschwerden, die
trotz potenter Medikationen nicht zur Ruhe kommen.
In der Praxis wird leider zu oft vergessen, dass der Verdauungstrakt
nicht erst am Magen beginnt. Eine orale Inspektion und das Konzil
mit einem geübten, medizinisch denkenden Zahnarzt sollte
bei allen entzündlichen Erkrankungen - nicht nur des Magen
Darm Traktes - zum minimalen Standard einer interdisziplinären
Abklärung gehören.
Lutz Höhne
——————— Hypertonie und Hirnblutung bei
Typ IV-Sensibilisierung gegen Molybdän
Vorgeschichte
Ein 51jähriger Patient hatte eine schwere, therapieresistente
Hypertonie entwickelt, die anfangs nur am Arbeitsplatz auftrat.
Er war im Büro eines Betriebs der Metallbranche beschäftigt.
Die Büroräume schlossen sich den Produktionshallen an. Die
Blutdruckwerte stiegen im Verlauf des Arbeitstags von normalen
Werten morgens auf bis zu 250/120 mmHg am Feierabend. An
Wochenenden normalisierte sich der Blutdruck über lange Zeit,
im späteren Verlauf allerdings nicht mehr völlig. Die Hypertonie
wurde von dem Betriebsarzt auf die Stressbelastung am Arbeits­
platz zurückgeführt. 2002 kam es zu einer Gehirnblutung. Nach
der erfolgreichen Behandlung und Rehabilitation blieb eine atak­
tische Gangstörung zurück. Die psychometrische Untersuchung
zeigte Einbußen in den Bereichen Rechenfähigkeit, verbales
Gedächtnis und komplexe Anforderungen an die Aufmerksamkeit.
Eine axonale Polyneuropathie wurde außerdem nachgewiesen.
Nach der Rückkehr an den gleichen Arbeitsplatz manifestierte
sich die Hypertonie in gleicher Weise. Zu dieser Zeit wurde der
Patient erstmals in der Sprechstunde vorstellig.
Befunde
Bei der Untersuchung des Bürostaubs wurden 101.500 µg/kg
Chrom (Cr), 804.000 µg/kg Nickel (Ni), 104.000µg/kg Molybdän
(Mo) sowie in geringeren Mengen Cobalt (Co) und Vanadium
(V) gefunden. Ni, Cr und Co waren im Epikutantest (ET) unauffällig1. Für Mo und V standen keine validierten Testsubstanzen
zur Verfügung. Im Lymphozytentransformationstest (LTT) war
der SI auf Ni, Cr und Co ohne pathologischen Befund. Bei Mo
betrug der SI 10,8 (Norm < 2 suspekt 2-3, pathologisch > 3). In
der humangenetischen Untersuchung wurde eine homozygot
geminderte Enzymaktivität der Glutathion-S-Transferase M1 (GST
M1), eine heterozygote Minderung von GST P1 sowie eine normale Funktion von GST T1 gefunden.
Beurteilung, Therapie und Verlauf
Bei dem Patienten waren bereits vor der akuten Hirnblutung
die konventionellen Möglichkeiten antihypertensiver Therapie
erfolglos ausgeschöpft worden. Die Induktion inflammatorischer
Prozesse an Endothelien bei chronischer resorptiver Belastung
mit verschiedenen nicht physiologischen Metallen ist wissenschaftlich ebenso gesichert (1) wie die Rolle der Inflammation für
Abb. 2: LTT Metalle ergab eine deutliche Sensibilisierung gegenüber Silber
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————————————————
1) Auf die Möglichkeiten und Grenzen des Epikutantests bei umweltmedizinischen
Frage­stellungen wird in einem weiteren Beitrag des Autors (in diesem Heft ab S. 115 ff.)
ausführlich eingegangen.
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die Entwicklung der Atherosklerose (2). Diese Prozesse kommen
für die Auslösung von Hypertonien grundsätzlich in Betracht.
Auf Grund der hohen Exposition und der nachgewiesenen systemischen Sensibilisierung auf Molybdän wurde der Arbeitsplatz
des Patienten in einen Raum verlegt, der frei von Metallstäuben
gehalten werden konnte. Es wurde über einen Zeitraum von
zwei Jahren eine Therapie mit Sodio Calcio Edetato Monico®
(Fa. Monico SPA, Italien) durchgeführt. Der Blutdruck sank kontinuierlich und hatte nach 2 Jahren normale Werte von 125/85
mmHg erreicht. Im LTT normalisierte sich der SI von Mo auf 1,1.
Die Polymorphismen von GST M1 und GST P1 erhöhen zwar die
individuelle Suszeptibilität, da die Ausscheidung der Metalle
verlangsamt erfolgt, sie sind allerdings keine Voraussetzung der
Sensibilisierung von T-Lymphozyten. Ein erhöhtes Risiko für das
ansonsten unvermeidbare Rezidiv der Hirnblutung besteht seit
der Behandlung nicht mehr. Anamnestische Daten, diagnostische
Kriterien, die gewählte therapeutische Strategie und das erreichte
Behandlungsziel korrelieren klar. In der Nachbeobachtungszeit
von inzwischen 7 Jahren ist der Patient ohne Rezidiv der Hyper­
tonie bzw. des Risikos einer ansonsten unvermeidbaren weiteren
Hirnblutung.
Dr. med. Kurt E. Müller
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Kontakt:
Dr. med. dent. Hiltrud Boeger
Praxis für ganzheitliche Zahnmedizin
Carlsplatz 18
40213 Düsseldorf
www.drboeger.de
Lutz Höhne
Zahnarzt - Umwelt- ZahnMedizin
1.Vorsitzender der DGUZ
Bahnhofstr.24
67246 Dirmstein
[email protected]
Dr. med. Kurt E. Müller
Mozartstraße 16
87435 Kempten
Tel.: 0831/ 5126729
Fax: 0831 5409294
Nachweise
(1) KLEIN, C.L. et al. (1994): The role of metal corrosin in inflammatory processes:
induction of adhesion molecules by heavy metal ions, J Mat Sci 5: 798-807.
(2) KOENIG, W. et al. (2003): Atherosklerose als inflammatorischer Prozess,
Deutsches Ärzteblatt 100(3): A117-A126.
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