Am Anfang war das Brot

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Das ErwachEn DEr Kultur
Vor über 5000 Jahren erblühte im heutigen Irak die Zivilisation.
Erste Städte entstanden, Schrift und Streitwagen wurden erfunden –
und der Krieg. Warum gerade dort?
Am Anfang war das Brot
Bei Sanliurfa im Südosten der Türkei, nicht
weit entfernt vom Oberlauf des Euphrat,
befindet sich das kreisförmige Heiligtum
von Göbekli Tepe. Es ist die älteste
Tempelstätte der Welt.
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Von MATTHIAS SCHULZ
er heute eine Semmel isst, dazu in eine
deftige Wurst beißt
und das Ganze mit
einem Krug Bier herunterspült, mag sich fühlen wie ein typischer Bayer.
In Wahrheit stammen die Lebensmittel alle aus dem Alten Orient. Schon
im 3. Jahrtausend v. Chr. schenkten die
Menschen, die zwischen Euphrat und
Tigris wohnten, in ihren Kneipen über
20 Sorten Gerstensaft aus. Auch die
Wurst ersannen Köche in Babylonien.
Und das Wort Semmel ist vom assyrischen Ausdruck samidu (weißes Mehl)
abgeleitet.
Eine erstaunliche Fülle von Neuheiten brachte das Zweistromland hervor.
Das Deodorant und das Abführmittel
kommen ebenso von dort wie das erste
Epos, die älteste Weltkarte und der früheste Stadtplan.
Ki-en-gi, „Land, das über das Schilf
herrscht“, so nannten die Sumerer ihre
morastige Heimat im Süden Mesopotamiens. Nach Norden und Osten hin stieß
die Flussebene an zerklüftete Berge, im
Westen an lebensfeindliche Wüste. Es
ist diese sumpfige Zone am Unterlauf
der Ströme nahe dem Persischen Golf,
wo die Menschheit vor über 5000 Jahren Abschied von der Steinzeit nahm.
W
ALAMY / MAURITIUS IMAGES
Als alle Welt noch im prähistori-
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schen Dämmer lag, fanden sich die Sumerer dicht gedrängt hinter Stadtmauern zusammen. In Uruk lebten im 4. vorchristlichen Jahrtausend bis zu 50 000
Menschen – eine Megacity der frühen
Zivilisation mit kastenartigen Häusern
und engen Gassen, in denen Glücksspieler und Prostituierte herumlungerten. In Schulen büffelten Kinder, bewacht vom „Aufsichtführenden mit der
Peitsche“.
Ohne Vorbild, fast nur aus eigener
Kraft, schufen die Völker zwischen Euphrat und Tigris eine Sakralarchitektur
aus Stufentürmen („Zikkurats“). Sie kodifizierten das Recht, ersannen die Sieben-Tage-Woche, das Horoskop und den
genormten Ziegelstein.
Und doch stand diese Wiege der Kultur stets im Schatten des alten pharaonischen Ägypten. Millionen Touristen
pilgern heute zu den Grabgebirgen der
Nilkönige. Die Sumerer dagegen zweifelten eher an der Idee des ewigen Lebens. Sie dachten meistens praktisch
und diesseits gewandt – und leisteten
dabei fast noch Grandioseres.
Für die Bepflanzung der herrlichen
Gärten Ninives zum Beispiel ließ der
assyrische König Sanherib Wasser aus
50 Kilometer Entfernung herleiten. Bei
Jerwan überspannte er ein Tal mit einem 290 Meter langen Aquädukt, errichtet aus zwei Millionen Steinquadern. Es
ist die älteste Brücke, deren Ruine noch
erhalten ist.
Die Edeldamen Mesopotamiens trugen Perücken und schmückten sich mit
Lapislazuli. Mit Löffelchen kratzten sie
sich das Schmalz aus den Ohren. In Orten wie Nimrud oder Ninive arbeitete
einst das antike Finanzkapital, aber auch
die wissenschaftliche Elite. Die Mathematiker rechneten mit der Kreiszahl Pi.
Von Observatorien aus beobachteten Astronomen Sternschnuppen.
Voller Ehrfurcht blickten die Völker
des Altertums auf solche Leistungen. Die
Mauern von Babylon und die Hängenden
Gärten der Semiramis zählten zu den sieben Weltwundern der Antike. Die Bibel
erwähnt sogar, dass Euphrat und Tigris
das Paradies umflossen (1. Mose 2).
Zugleich aber fühlten die Nachbarn
Angst und Abscheu vor dem gewaltigen
und gewalttätigen Morgenland und
dessen Armeen. Schon der Held Gilgamesch zog der Sage nach alle jungen
Männer zum Wehrdienst ein. Das erste
stehende Heer der Geschichte leistete
sich um 2330 Sargon von Akkad: „5400
Krieger essen täglich vor ihm ihre Speise“, heißt es in einer Inschrift.
Schrecken und Unterdrückung brachten die orientalischen Feldherrn. Rammen und Sturmböcke boten sie auf,
Kamelreiter und Bogenschützen, die in
schweren Lederkaftanen steckten. Im
1. vorchristlichen Jahrtausend waren
ihre Heere so überlegen, dass sie bis in
den Jemen und an den Nil vordrangen.
Jerusalem wurde zerstört.
Im Alten Testament genießen die Tyrannen aus dem Morgenland denn auch
einen düsteren Ruhm. Ninive wird dort
„Blutstadt“ genannt, „ganz gefüllt mit
Lüge“. Den Turm zu Babel ließen die
Autoren der Bibel glatt in Chaos und
Sprachverwirrung enden. In Wahrheit
wurde der Stufenbau fertiggestellt und
erreichte eine Höhe von 91 Metern.
Aber auch die Griechen verbreiteten
rufschädigende Legenden. Als Vorreiter
der Demokratie wurden sie nicht müde,
den vermeintlich despotenseligen Untertanengeist der Menschen aus dem
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US NAVY
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In der von Palmen bewachsenen Flussebene am Euphrat stehen die rekonstruierten Mauern des antiken Babylon.
Zweistromland zu geißeln. So wuchs ein tenfalls konnte es gelingen, die GeschiZerrbild, das die Wahrnehmung bis heu- cke zu mildern durch Frömmigkeit und
Fleiß.
te belastet.
Doch auch das war schwer. Jenseits
Was aber passierte wirklich? Wa- der grünen Uferzonen von Euphrat und
rum liegen die Wurzeln der Zivilisation Tigris erstreckte sich plattes Land. Es
ausgerechnet in einem von Mücken ver- gab kaum Bäume. Außer Dattelpalmen
seuchten Sumpfgebiet nahe Uruk? Von und weichholzigen Pappeln hatte die NaSamarra aus zieht sich die Schwemm- tur wenig zu bieten. Auch Bodenschätze
landebene zwischen Euphrat und Tigris waren im Süden rar, es mangelte sogar
mit einem Gefälle von 45 Metern bis an Kalkstein.
Sumer war aus Ziegeln gebaut. Ob
zum Persischen Golf hinab. Je weiter
man nach Süden kommt, desto flacher Klohaus oder Kornkammer – die Architektur des Landes bestand nahezu nur
und öder wird es.
Locker und unbeschwert konnte man aus luftgetrocknetem Lehm. Die Monoam Ufer dieser Flüsse nie leben. Der tonie des Materials verstanden die EinEuphrat führt zur Erntezeit im Frühling wohner jedoch geschickt zu kaschieren.
reißende Fluten. In historischer Zeit Einige Batzen überzogen sie mit bunter
verlagerte er mehrfach sein Bett. Auch Glasur und härteten sie im Feuer. Auch
der Tigris veränderte immer wieder den wurden die Fassaden mit Tonstiften in
Lauf. Wer hier sein Haus baute, lebte in Grün, Rot und Gelb verziert.
Als Mitte des 19. Jahrhunderts Arständiger Gefahr vor verheerenden
chäologen aus Europa anrückten, war
Hochwasser.
Es ist diese Not, die den Charakter von der Pracht allerdings kaum etwas
der Sumerer prägte. Schicksalergeben, übrig. Wind und Wetter hatten die mofast fatalistisch, begriffen sie das Dasein numentalen Paläste von Khorsabad und
als Fluch und Beschwernis. Die Unter- Assur geschleift. Über 30 Zikkurats hawelt, Kurnugia, galt ihnen als ein „Land ben die Forscher bislang im Zweistromohne Wiederkehr“, wo die Verstorbenen land verortet. Sie sind alle zu Schutthalin staubiger Finsternis Lehm aßen. Bes- den verkommen.
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Unterirdisch aber, in den Gräbern
und Gewölben, blinkte reichlich Beute.
Die deutschen Archäologen gruben in
Babylon, wo sie das blaue Ischtar-Tor
freilegten. Kaiser Wilhelm II. unterstützte die Forscher mit Geld aus seiner Privatschatulle. Noch im Jahr 1917, als in
Europa der Kanonendonner des Ersten
Weltkriegs immer heftiger tönte, waren
sie vor Ort.
Neben der zauberischen Pracht und
Schönheit kam aber auch Verstörendes
zutage: An Nasenseilen, so zeigen es
Felsbilder, schleiften die Sumerer Sklaven durch die Gassen. Ihre Richter ließen Straftätern Nase und Ohren abschneiden.
Ein berühmtes Alabasterrelief zeigt
König Assurbanipal (668 bis 631) mit seiner Ehefrau beim Siegesmahl im Garten.
Der Herrscher liegt bequem auf einem
Sofa und labt sich an einem Erfrischungsgetränk aus der Schale. Die Gattin prostet ihm zu. Nur ein Baum stört
das Idyll: In den Zweigen hängt der abgeschnittene Kopf des Königs von Elam.
Kaum weniger befremdlich wirken die Funde, die ein britisches Grabungsteam zwischen 1922 und 1934 auf
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BERTHOLD STEINHILBER / LAIF
Eine Raubtier-Skulptur
schmückt den Tempelpfeiler
Nummer 27 in Göbekli Tepe.
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Aus den Bergen ins Tal
Das Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds von der Sesshaftwerdung
bis zur ersten Hochkultur in Sumer
Am Ende der Eiszeit wurde der Vordere Orient zum Schauplatz wichtiger Entwicklungen. Die Menschen erfanden
Ackerbau und Viehzucht, auch die Töpferei. Erstmals entstanden große Siedlungen. Archäobotaniker kennen mittlerweile
fünf Hotspots, in denen die Bewohner vor etwa 12 000 Jahren anfingen, Wildgetreide zu züchten und Brot zu backen.
Wenig später begann im Taurus und dem Zagrosgebirge die Tierhaltung. Zuerst wurden Schaf und Ziege gezähmt,
dann Schwein und Rind. Die neu erschlossenen Nahrungsquellen führten zu einer Zunahme der Bevölkerung. Um 6000
v. Chr. wagten sich die Siedler dann in die Ebene an Euphrat und Tigris hinab, wo kaum Regen fiel.
Mithilfe künstlicher Bewässerung erzielte man auch dort bald Rekordernten.
Auf dieser Basis schufen die „Schwarzköpfigen“, wie die
Sumerer sich selbst nannten, die erste
Hochkultur der Erde.
S c h w a r z e s
M e e r
T
a
u r
u s
8500 v. Chr.
9000 v. Chr.
Göbekli Tepe
Harran
8000 v. Chr.
K a u
SÜDOSTTÜRKEI
9000 v. Chr.
Tell Halaf
Z
NORDIRAK
W
E
NORDSYRIEN
9500 v. Chr.
Mari
Euphrat
Mittelmeer
Damaskus
Ursprungsgebiete der Tierhaltung
Urspungsgebiete des Getreideanbaus
Die Jahreszahl gibt den vermuteten
Beginn der Domestizierung an.
Die Jahreszahl gibt den frühesten Zeitpunkt
des Anbaus von Wildgetreide an.
Schaf
SÜDLEVANTE
9500 v. Chr.
wichtige archäologische Stätte
Rind
Schwein
Ziege
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I
AL A MY / M AU R IT IU S IM AGE S
Skulptur eines Wildschweins
aus Göbekli Tepe,
um 8500 v. Chr.
Weibliche Figur,
Halaf-Kultur
6000 bis 5100 v. Chr.
PH OTO JOSSE / L EE M AGE
k a s u s
Vansee
9000 v. Chr.
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Khorsabad
Ninive
Mossul
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Nimrud
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Jarmo
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Assur
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Samarra
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M e e r
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K a s p i s c h e s
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Bagdad
M
Babylon
L
Kisch
A
Nippur
Isin
Tigris
N
Susa
D
Schuruppak
Eup
hra
Uruk
ZAGROS
9300 v. Chr.
Larsa Lagasch
t
Ur
Eridu
PH OTO JO S S E / LEE MAGE
Basra
Ausdehnung des Persischen Golfs
um 5000 v. Chr.
Figur eines Priesterkönigs,
Uruk-Kultur
um 3300 v. Chr.
Satellitenbild: Google Earth, Quelle: PNAS; Science
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NIK WHEELER / CORBIS
Nach uralten handwerklichen Traditionen flechten die
„Marscharaber“ im
Mündungsgebiet des
Euphrat ihre Häuser
aus Schilf (1974).
dem berühmten Königsfriedhof von Ur
machte. Bei den Bestattungen dort musste oft der Hofstaat dem Herrscher ins
Grab folgen. In einer Gruft lagen bis zu
80 Personen, vom Stallknecht bis zur
Prinzessin – alle vergiftet.
Im Abendland lösten die Rituale der
Mesopotamier wohligen Grusel aus.
Künstler der Belle Époque malten
schwülstige Bilder von entblößten Haremsdamen, nackt hingegossen im
Mondlicht, denen schwarze Diener mit
Reiherfedern Luft zuwedeln. Die Paläste
des Alten Orients galten bald als Orte
der Tücke, bewohnt von verzärtelten
und mordlustigen Regenten.
Was tatsächlich geschah, kam erst
schrittweise ans Licht. Aufschluss gaben
vor allem die Keilschriften. Als kulturelles Gedächtnis des Zweistromlandes
sind sie von unschätzbarem Wert.
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Unter den Briten und Franzosen hob
nach den ersten großen Ausgrabungen
ein Wettlauf um den Ankauf der brüchigen Schrifttafeln aus Ton an. Bald mischten auch die Deutschen und die Amerikaner mit. Jeder wollte dem anderen
zuvorkommen. Denn die seit Anfang des
19. Jahrhunderts gelungene Entzifferung
brachte einen enormen Wissenzuwachs.
Sie öffnete die Tür in eine faszinierende
Vergangenheit.
Hunderte Lugals („großer Menschen“), so konnte man den Texten entnehmen, hatten mit wechselndem Geschick die Throne Mesopotamiens bestiegen. Die Herrscher trugen gestriegelte Vollbärte und Kronen aus Rinderhörnern. Begonnen hatte es im 3. Jahrtausend mit einem Gewimmel sumerischer
Stadtstaaten. Dann folgten die frühen
Flächenreiche der Akkader und Babylonier, bis schließlich die Assyrer mit blutiger Gewalt das „erste wirkliche Imperium der Weltgeschichte“ schufen (so
der Historiker Eckart Frahm).
Neben den dynastischen Wechseln
hielten die Sumerer auch viele ganz alltägliche Dinge fest. Ihre Schreiber ritzten Dattelsteuerrechnungen und mathematische Lehrübungen in den feuchten
Ton. Sie erwähnten die Sintflut und das
Land Meluhha (im Industal), von wo die
Kaufleute mit Eselskarawanen den kostbaren Karneol holten, einen tiefroten
Schmuckstein.
Zugleich öffnete sich ein Tor in die
Geisteswelt der Sumerer. Einmal im Jahr
vollzogen die Könige im Tempel der
Ischtar eine Art Fruchtbarkeitsfest der
Fleischeslust, die „heilige Hochzeit“. Der
Ritus ist bis heute nicht enträtselt. Das
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„assyrische Traumbuch“ aus dem 7.
Jahrhundert wiederum zählt Fäkalienund Urinträume auf,
auch kannibalische
Erscheinungen. Eine
Traumdeutung besagt: „Wenn jemand
Menschenfleisch isst,
wird er große Reichtümer bekommen.“
Über 400 000 keilschriftliche Dokumente wurden während der vergangenen 150 Jahre aus
den Ruinen geborgen.
Und immer noch werden neue entdeckt.
Allein im Irak erheben sich unberührte
Ruinenhügel in großer Zahl. Es gebe
Tausende davon, sagt
Margarete van Ess
vom Deutschen Archäologischen Institut in Berlin. „Erforscht ist gerade mal
ein Prozent.“
Es ist diese ungeheure Menge an Städten und Siedlungen,
die Ballung von Menschen, die das Land
Sumer kennzeichnete. Nirgendwo sonst
auf der Erde hockten
im 4. Jahrtausend so
viele Personen auf einem Fleck wie an
Euphrat und Tigris.
Aus der Verdichtung zog das Land
seine Dynamik. Denn das Leben in der
Enge der Gassen und Lehmhütten brachte viele Ärgernisse und Probleme mit
sich. Das zwang zu kreativen, fortschrittlichen Lösungen.
Müllentsorgung, Warenverteilung,
medizinische Versorgung – überall taten
sich Missstände auf. Wie und wo sollten
sich die Bürger von Uruk waschen? Wie
ließen sich die Mäuse bekämpfen? Zaunstreitigkeiten vermeiden? Straßen sauber halten? Der Verfall der Sitten stoppen?
Zehntausende von Jahren war der
Homo sapiens als Jäger durch die Natur
gestreift. Nun lebte er ganz anders, umgeben von Gestank, schnarchenden
Nachbarn und Steuereintreibern. Die
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Folge: Das menschliche Zusammenleben musste neu geregelt werden.
Möglich war der Übergang zu einer
urbanen Lebensform aber nur, weil die
Sumerer Meister des Ackerbaus und ausgezeichnete Müller und Bäcker waren.
Und weil sie riesige Mengen an Getreide
ernteten, gelang es ihnen, die vielen
hungrigen Mäuler hinter den Stadtmauern auch satt zu bekommen.
Vom Soziologen Karl August Wittfogel stammt die Theorie, dass die frühen Hochkulturen, ob am Gelben Fluss,
am Indus oder Nil, „hydraulische Gesellschaften“ waren. Die Menschen dort betrieben künstliche Bewässerung und
bauten Korn an. Am Anfang war das
Brot. So geschah es auch an Euphrat und
Tigris: Die Anwohner schaufelten Stichkanäle und leiteten das Flusswasser auf
weit entfernte Felder. Dadurch verwandelten sie ihre Heimat in ein Netz aus
Gräben, Wehren und Staudämmen.
Als Lohn für ihre Mühen fuhren sie
Rekordernten ein. „Kein Land der Erde,
das wir kennen, eignet sich so gut zum
Getreideanbau wie Babylonien“, lobte
im 5. vorchristlichen Jahrhundert der
Geschichtsschreiber Herodot. Das Getreide gedieh so vorzüglich, dass es 20fache Frucht trug. In Herodots Heimat
Griechenland belief sich das Verhältnis
von ausgebrachter Saat zu Ernte lediglich auf etwa 1 zu 6.
Für Bau und Wartung der Bewässerungsanlagen mussten allerdings Tausende Hände ineinandergreifen. Das gelang lediglich durch zentrale Lenkung.
Eine Tontafel erwähnt, dass die Bauern
von Lagasch um 2000 etwa 12 600 Tonnen Gerste ernteten. 7500 Tonnen bekam der Fürst. Mit diesem Kornberg
konnte er 25 000 Männer ein Jahr lang
versorgen, die in der Verwaltung, beim
Dammbau oder als Krieger zur Verfügung standen.
Die Tempelwirtschaft, auch theokratischer Sozialismus genannt, hat den Alten Orient geprägt. In Uruk fanden die
Archäologen Millionen zerbrochene
„Glockentöpfe“. Der Name steht für normiertes Einweggeschirr, in das 0,8 Liter
Getreide passten. Es waren die Messbecher für die täglich verteilten Essensrationen an die Untertanen.
Neben dieser kommunistischen Form
des Wirtschaftens entwickelte sich im
Zweistromland (anders als in Ägypten)
aber auch ein reger Privathandel, der
sich in einem ausgefeilten Vertragsrecht
niederschlug. Rollsiegel kamen auf, No-
NAMEN UND WÖRTER
UND WIE MAN SIE SCHREIBT
Gnade für
Nebukadnezar
wer die Frühgeschichte Vorderasiens erforschen will, darf vor
fremden sprachen keine scheu haben. allein um fachlich den Überblick zu behalten, sollte ein assyriologe neben Englisch, Französisch und Deutsch möglichst auch
etwas russisch, arabisch, türkisch
oder persisch lesen können; altgriechisch und latein sind sowieso
unentbehrlich.
Eine echte herausforderung ist es
aber auch, wörter und namen der
frühen sprachen Mesopotamiens,
die trotz ihrer Verschiedenheit
überwiegend in ähnlich aussehender Keilschrift überliefert sind, mit
dem heutigen alphabet wiederzugeben. soll man eher „sch“ oder
„š“, „tsch“ oder „č“, „h“ oder „ch“
˘
schreiben? Dürfen herrscher
wie
sargon, tiglatpileser und nebukadnezar weiter ihre seit biblischen
Zeiten aramäisch und griechisch
abgeschliffenen namen tragen,
oder muss man solche respektspersonen unbedingt schreiben, wie
sie selbst und ihre umgebung
gesprochen haben könnten: Šarruukēn, tukultī-apil-Ešarra und nabûkudurrī-ușur?
seit dem 19. Jahrhundert haben
wissenschaftler für ihre jeweilige
landessprache Vereinheitlichungen angestrebt; in lexika findet
sich dennoch verwirrende Vielfalt.
Experten nutzen seit Jahrzehnten
eine von rykle Borger, Miguel civil
und Friedrich Ellermeier entwickelte umsetzung für alle Keilschriftzeichen von sumerisch bis hethitisch, das sogenannte BcE-system
mit indexzahlen und vielen Bindestrichen.
wir gehen in diesem heft möglichst pragmatisch und eher großzügig vor: ist eine gestalt legendär
wie sargon, bleibt es in der regel
bei der verbreiteten namensform;
für die übrigen schreibungen liefern anerkannte Fachbücher die
standards.
Johannes Saltzwedel
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AFP / GETTY IMAGES
Das ErwachEn DEr Kultur
tare beurkundeten Kaufgeschäfte. In der
Bibel steht, dass Ninive mehr Krämer
hatte als Sterne am Himmel.
Der erstaunliche Kultursprung
im Zweistromland hatte eine ebenso
bemerkenswerte Vorgeschichte. Die
Schöpfer der ältesten Hochkultur der
Geschichte waren nur deshalb so groß,
weil sie auf den Schultern von Riesen
standen.
Klimaforscher sind sicher, dass die
ersten Weichen bereits am Ende der
Eiszeit vor etwa 12 000 Jahren gestellt
wurden. Tauwetter setzte damals ein,
die Gletscher zogen sich zurück. Die
Durchschnittstemperaturen stiegen um
bis zu acht Grad Celsius. Die Niederschläge nahmen zu. Die Folge: Mesopotamien ergrünte.
Bis dahin waren Gazellen über lange
Zeit die wichtigste Nahrungsquelle gewesen. Herden von einer Million und
mehr Tieren zogen damals über die sanften Hügelketten Nordmesopotamiens.
Um an diese Fleischmassen zu gelangen, errichteten die Menschen im
Kulturraum des sogenannten Natufien
(13 000 bis 9500) kilometerlange V-förmige Anlagen aus aufgetürmten Steinen.
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In diese „Wüstendrachen“ lotsten sie die
Gazellen hinein und schlachteten sie ab.
Die ausgefeilte Jagd ließ sich jedoch nur
im Zusammenspiel vieler Clans meistern. Nirgendwo sonst wurde zu der Zeit
so großräumig kooperiert. Es entstanden
persönliche Verbindungen über weite
Distanzen hinweg.
Das schlug sich auch in der Religion
nieder. Die Urväter im Norden des
Zweistromlandes bauten in einer Art
überregionaler Zusammenarbeit die
ersten Tempel der Welt.
Es war eine Sensation, als der deutsche Archäologe Klaus Schmidt im Jahr
1994 am Göbekli Tepe (siehe Karte Seite
18) in Obermesopotamien auf eine gewaltige Kultstätte stieß. Steinzeitleute
in Fellkleidung hatten auf einem Hügel
20 Tempel errichtet. Klotzige Pfeiler aus
Kalkstein ragten empor, verziert mit
Skorpionen, Raubkatzen und Schlangen.
Schmidt nannte die Anlage in der heutigen Türkei das „mesopotamische Stonehenge“. Um sie zu errichten, waren Hunderte von Steinmetzen nötig.
Wenn die Priester des Heiligtums zu
Versammlungen riefen, strömten Besucher aus einem Umkreis von 200 Kilo-
metern herbei. Verpflegt wurden sie mit
Gazellenfleisch. Im Schutt der Anlage
fanden die Forscher aber auch Reibschalen aus Basalt. Die Verwalter der Kultanlage experimentierten offenbar bereits
mit Wildgetreide, das sie zermörserten.
Damit hatten die Priester einen wichtigen Schritt hin zur „neolithischen Revolution“ gemacht. Der Göbekli Tepe
war eine Ursprungszone des Ackerbaus
im sogenannten Fruchtbaren Halbmond.
Ganz freiwillig geschah das KörnerExperiment am Tempelberg allerdings
nicht. Archäozoologische Daten bezeugen, dass am Ende der Eiszeit die Wildbestände einbrachen. Die Gazellenherden schrumpften dramatisch, man hatte
den Bestand überjagt. Die Folge: Hunger.
Aus dieser Knappheit heraus begann
der Mensch mit Säen und Ernten. Etwa
um 9500, das zeigen die neuesten botanischen Analysen, legten die Jäger an
den Hängen des Taurus und des Zagrosgebirges gleich an mehreren Stellen ihre
Waffen beiseite. Stattdessen griffen sie
zum Spaten und pflanzten wilden Emmer und Einkorn. Geerntet wurde mit
Sicheln aus Feuerstein.
Bald experimentierten die Farmer
auch mit Kichererbsen, Leinsamen und
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US-Soldaten auf der restaurierten Zikkurat von Ur. Das
rund 4100 Jahre alte Heiligtum besaß ursprünglich drei
Stufen und war dem Mondgott Nanna geweiht.
und stellten Käse und Joghurt her. Um
6000 brannten sie die ersten Krüge und
Becher aus Ton. Die Vertreter der Hassuna-Kultur (ab 5800) im regenreichen
Bergland von Nordmesopotamien hatten bereits eine Schwäche für den rechten Winkel; sie wohnten in viereckigen
Hütten mit Böden aus Stampflehm.
Auch der Krieg kam nun in die Welt,
wie der Bau der ersten Befestigungsmauern beweist. Zäune wurden gezogen, Parzellen abgeteilt, und die Idee
des Eigentums und des privaten Landbesitzes wurde entwickelt. Das förderte
den Zwist.
Die sumpfigen Ufer an Euphrat und
Tigris mieden die Leute noch. Sie betrieben ihren Feldbau an den Ausläufern des
Taurus und Zagrosgebirges. Dort regnete es genug, im Flachland dagegen fiel
kaum ein Tropfen. Im Sommer surrten
in der schwülen Hitze Wolken von Insekten. Erst etwa um 5500 zogen die Vertreter der Samarra-Kultur in großem Stil
in diese Schilfsümpfe hinab. Sie lebten
in Häusern aus geflochtenen Schilfrohrbündeln und verstanden es bereits, Kanäle von erheblicher Länge zu graben
und intakt zu halten.
„Ehe du deine Äcker bestellst, öffne
die Bewässerungsgräben, aber ertränke
die Felder nicht!“, heißt es in einem
Linsen. Etwa zeitgleich gelang ein wei- 3500 Jahre alten Ratgeber aus Nippur.
terer Coup: Die Urbauern sperrten wilde „Ehe du mit dem Pflügen beginnst, lass
Tiere in Pferche. Die Ziege wurde im den Boden zweimal mit der Breithaue
Zagrosgebiet domestiziert, Schwein und und einmal mit der Spitzhacke aufbreRind in Obermesopotamien, das Schaf chen. Notfalls nimm einen Hammer zu
Hilfe, um spröde Brocken zu zerkleiin der heutigen Südosttürkei.
Was für ein Umschwung: Der Nah- nern.“
rungserwerb war plötzlich planbar geworden – allerdings auch mühsam. Als Zum wichtigsten Ort im schlammiJäger ging der Mensch rund drei Stun- gen Sumer der Anfangszeit wuchs Eridu
den auf die Pirsch, um seine Familie satt heran. Die Siedlung, Heimat des Schöpzu machen. Als Bauer schuftete er nun fergotts Enki, lag in einer Lagune an der
den ganzen Tag.
Küste des Persischen Golfs. Mit Bitumen
In der Bibel hallen die Plagen der bestrichene Rundboote schaukelten im
Sesshaftwerdung deutlich nach. Nach Hafen. Bereits um 4500 erhob sich dort
der Vertreibung aus dem Paradies wird ein Heiligtum, das flutsicher auf einer
Adams Acker von Gott verflucht: „Dor- Ziegelrampe stand – der Prototyp des
nen und Disteln soll er dir tragen.“ Auch Stufentempels.
in der sumerischen Mythologie finden
Andere Gemeinden eiferten dieser
sich Spuren. Dort ist vom heiligen Berg Ur-Metropole nach. Auch in Schurup„Du-ku“ die Rede, an dessen Hängen pak, Uruk oder Kisch nahm der Kultureinst Feldbau und Weberei erfunden prozess Tempo auf. Um den Handel mit
wurden. Vielleicht ist in der Sage eine Indien oder den Häfen am Mittelmeer
dunkle Erinnerung an den Göbekli Tepe zu bewältigen, gebrauchten die Kaufgespeichert.
leute bald Rollsiegel und Zählsteine. Die
Mit ihren bahnbrechenden Errun- Töpferscheibe kam auf und das Wagengenschaften hatten die Völker des Zwei- rad. Auf den Äckern zogen Ochsen einen
stromlandes eine neue Menschheitsepo- neuartigen Pflug, der den Boden aufriss
che begründet. Dörfer entstanden. Bald und gleichzeitig durch einen Trichter
vergoren die Bauern Maische zu Bier Saatkörner auswarf.
spiEgEl gEschichtE
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EINE SONNENFINSTERNIS
HILFT BEIM DATIEREN
Zeitrechnung auf
Mesopotamisch
weshalb kann man regierungswechsel und Kriegszüge, die vor
mehreren tausend Jahren stattgefunden haben, überhaupt datieren?
Zum glück waren die Mesopotamier schon früh akkurate Buchführer des weltgeschehens. Jedes
Jahr – das in Babylonien mit dem
Frühling im März/april anfing – erhielt zunächst nach einem wichtigen Ereignis seinen offiziellen namen, seit etwa 1500 v. chr. dann
nach sogenannten Jahresbeamten;
in Königslisten hielt man penibel
die regierungsjahre der herrscher
fest.
Viele urkunden oder inschriften
sind ebenso gründlich datiert. Eine
sonnenfinsternis, die am 15. Juni
763 v. chr. stattfand, verankert diese Zeitangaben. Da jedoch für die
Jahre vor 1374 mehrere astronomische Zuordnungen möglich sind,
muss man sich entscheiden: Je
nachdem, wo die Dynastie des
großen gesetzgebers hammurapi
zeitlich angesiedelt wird, kann man
mit einer „langen“, „mittleren“,
„kurzen“ oder sogar „ultrakurzen“
chronologie operieren, die bis zu
150 Jahre voneinander abweichen.
Momentan gilt aufgrund der stimmigkeit mit anderen politischen
Ereignissen im Vorderen Orient die
mittlere rechnung (hammurapi:
1792 bis 1750 v. chr.) als plausibelste. Diesen angaben folgt auch das
vorliegende heft.
Johannes Saltzwedel
Mit der Entstehung der Schrift etwa
um 3300 war der Weg Richtung Hochkultur dann endgültig frei.
Geschätzt eine Million Menschen hatten sich zu der Zeit in den quirligen Stadtstaaten Südmesopotamiens versammelt:
Tagelöhner und Sklaven, Händler, Handwerker und Beamte. Sie bildeten gleichsam die kritische Masse für den nun folgenden Aufstieg Mesopotamiens zum
glänzenden Pionierland der Zivilisation.
Sumer war erwacht.
[email protected]
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