Das ErwachEn DEr Kultur Vor über 5000 Jahren erblühte im heutigen Irak die Zivilisation. Erste Städte entstanden, Schrift und Streitwagen wurden erfunden – und der Krieg. Warum gerade dort? Am Anfang war das Brot Bei Sanliurfa im Südosten der Türkei, nicht weit entfernt vom Oberlauf des Euphrat, befindet sich das kreisförmige Heiligtum von Göbekli Tepe. Es ist die älteste Tempelstätte der Welt. 14 spiEgEl gEschichtE 2 | 2016 Von MATTHIAS SCHULZ er heute eine Semmel isst, dazu in eine deftige Wurst beißt und das Ganze mit einem Krug Bier herunterspült, mag sich fühlen wie ein typischer Bayer. In Wahrheit stammen die Lebensmittel alle aus dem Alten Orient. Schon im 3. Jahrtausend v. Chr. schenkten die Menschen, die zwischen Euphrat und Tigris wohnten, in ihren Kneipen über 20 Sorten Gerstensaft aus. Auch die Wurst ersannen Köche in Babylonien. Und das Wort Semmel ist vom assyrischen Ausdruck samidu (weißes Mehl) abgeleitet. Eine erstaunliche Fülle von Neuheiten brachte das Zweistromland hervor. Das Deodorant und das Abführmittel kommen ebenso von dort wie das erste Epos, die älteste Weltkarte und der früheste Stadtplan. Ki-en-gi, „Land, das über das Schilf herrscht“, so nannten die Sumerer ihre morastige Heimat im Süden Mesopotamiens. Nach Norden und Osten hin stieß die Flussebene an zerklüftete Berge, im Westen an lebensfeindliche Wüste. Es ist diese sumpfige Zone am Unterlauf der Ströme nahe dem Persischen Golf, wo die Menschheit vor über 5000 Jahren Abschied von der Steinzeit nahm. W ALAMY / MAURITIUS IMAGES Als alle Welt noch im prähistori- spiEgEl gEschichtE 2 | 2016 schen Dämmer lag, fanden sich die Sumerer dicht gedrängt hinter Stadtmauern zusammen. In Uruk lebten im 4. vorchristlichen Jahrtausend bis zu 50 000 Menschen – eine Megacity der frühen Zivilisation mit kastenartigen Häusern und engen Gassen, in denen Glücksspieler und Prostituierte herumlungerten. In Schulen büffelten Kinder, bewacht vom „Aufsichtführenden mit der Peitsche“. Ohne Vorbild, fast nur aus eigener Kraft, schufen die Völker zwischen Euphrat und Tigris eine Sakralarchitektur aus Stufentürmen („Zikkurats“). Sie kodifizierten das Recht, ersannen die Sieben-Tage-Woche, das Horoskop und den genormten Ziegelstein. Und doch stand diese Wiege der Kultur stets im Schatten des alten pharaonischen Ägypten. Millionen Touristen pilgern heute zu den Grabgebirgen der Nilkönige. Die Sumerer dagegen zweifelten eher an der Idee des ewigen Lebens. Sie dachten meistens praktisch und diesseits gewandt – und leisteten dabei fast noch Grandioseres. Für die Bepflanzung der herrlichen Gärten Ninives zum Beispiel ließ der assyrische König Sanherib Wasser aus 50 Kilometer Entfernung herleiten. Bei Jerwan überspannte er ein Tal mit einem 290 Meter langen Aquädukt, errichtet aus zwei Millionen Steinquadern. Es ist die älteste Brücke, deren Ruine noch erhalten ist. Die Edeldamen Mesopotamiens trugen Perücken und schmückten sich mit Lapislazuli. Mit Löffelchen kratzten sie sich das Schmalz aus den Ohren. In Orten wie Nimrud oder Ninive arbeitete einst das antike Finanzkapital, aber auch die wissenschaftliche Elite. Die Mathematiker rechneten mit der Kreiszahl Pi. Von Observatorien aus beobachteten Astronomen Sternschnuppen. Voller Ehrfurcht blickten die Völker des Altertums auf solche Leistungen. Die Mauern von Babylon und die Hängenden Gärten der Semiramis zählten zu den sieben Weltwundern der Antike. Die Bibel erwähnt sogar, dass Euphrat und Tigris das Paradies umflossen (1. Mose 2). Zugleich aber fühlten die Nachbarn Angst und Abscheu vor dem gewaltigen und gewalttätigen Morgenland und dessen Armeen. Schon der Held Gilgamesch zog der Sage nach alle jungen Männer zum Wehrdienst ein. Das erste stehende Heer der Geschichte leistete sich um 2330 Sargon von Akkad: „5400 Krieger essen täglich vor ihm ihre Speise“, heißt es in einer Inschrift. Schrecken und Unterdrückung brachten die orientalischen Feldherrn. Rammen und Sturmböcke boten sie auf, Kamelreiter und Bogenschützen, die in schweren Lederkaftanen steckten. Im 1. vorchristlichen Jahrtausend waren ihre Heere so überlegen, dass sie bis in den Jemen und an den Nil vordrangen. Jerusalem wurde zerstört. Im Alten Testament genießen die Tyrannen aus dem Morgenland denn auch einen düsteren Ruhm. Ninive wird dort „Blutstadt“ genannt, „ganz gefüllt mit Lüge“. Den Turm zu Babel ließen die Autoren der Bibel glatt in Chaos und Sprachverwirrung enden. In Wahrheit wurde der Stufenbau fertiggestellt und erreichte eine Höhe von 91 Metern. Aber auch die Griechen verbreiteten rufschädigende Legenden. Als Vorreiter der Demokratie wurden sie nicht müde, den vermeintlich despotenseligen Untertanengeist der Menschen aus dem 15 US NAVY Das ErwachEn DEr Kultur In der von Palmen bewachsenen Flussebene am Euphrat stehen die rekonstruierten Mauern des antiken Babylon. Zweistromland zu geißeln. So wuchs ein tenfalls konnte es gelingen, die GeschiZerrbild, das die Wahrnehmung bis heu- cke zu mildern durch Frömmigkeit und Fleiß. te belastet. Doch auch das war schwer. Jenseits Was aber passierte wirklich? Wa- der grünen Uferzonen von Euphrat und rum liegen die Wurzeln der Zivilisation Tigris erstreckte sich plattes Land. Es ausgerechnet in einem von Mücken ver- gab kaum Bäume. Außer Dattelpalmen seuchten Sumpfgebiet nahe Uruk? Von und weichholzigen Pappeln hatte die NaSamarra aus zieht sich die Schwemm- tur wenig zu bieten. Auch Bodenschätze landebene zwischen Euphrat und Tigris waren im Süden rar, es mangelte sogar mit einem Gefälle von 45 Metern bis an Kalkstein. Sumer war aus Ziegeln gebaut. Ob zum Persischen Golf hinab. Je weiter man nach Süden kommt, desto flacher Klohaus oder Kornkammer – die Architektur des Landes bestand nahezu nur und öder wird es. Locker und unbeschwert konnte man aus luftgetrocknetem Lehm. Die Monoam Ufer dieser Flüsse nie leben. Der tonie des Materials verstanden die EinEuphrat führt zur Erntezeit im Frühling wohner jedoch geschickt zu kaschieren. reißende Fluten. In historischer Zeit Einige Batzen überzogen sie mit bunter verlagerte er mehrfach sein Bett. Auch Glasur und härteten sie im Feuer. Auch der Tigris veränderte immer wieder den wurden die Fassaden mit Tonstiften in Lauf. Wer hier sein Haus baute, lebte in Grün, Rot und Gelb verziert. Als Mitte des 19. Jahrhunderts Arständiger Gefahr vor verheerenden chäologen aus Europa anrückten, war Hochwasser. Es ist diese Not, die den Charakter von der Pracht allerdings kaum etwas der Sumerer prägte. Schicksalergeben, übrig. Wind und Wetter hatten die mofast fatalistisch, begriffen sie das Dasein numentalen Paläste von Khorsabad und als Fluch und Beschwernis. Die Unter- Assur geschleift. Über 30 Zikkurats hawelt, Kurnugia, galt ihnen als ein „Land ben die Forscher bislang im Zweistromohne Wiederkehr“, wo die Verstorbenen land verortet. Sie sind alle zu Schutthalin staubiger Finsternis Lehm aßen. Bes- den verkommen. 16 Unterirdisch aber, in den Gräbern und Gewölben, blinkte reichlich Beute. Die deutschen Archäologen gruben in Babylon, wo sie das blaue Ischtar-Tor freilegten. Kaiser Wilhelm II. unterstützte die Forscher mit Geld aus seiner Privatschatulle. Noch im Jahr 1917, als in Europa der Kanonendonner des Ersten Weltkriegs immer heftiger tönte, waren sie vor Ort. Neben der zauberischen Pracht und Schönheit kam aber auch Verstörendes zutage: An Nasenseilen, so zeigen es Felsbilder, schleiften die Sumerer Sklaven durch die Gassen. Ihre Richter ließen Straftätern Nase und Ohren abschneiden. Ein berühmtes Alabasterrelief zeigt König Assurbanipal (668 bis 631) mit seiner Ehefrau beim Siegesmahl im Garten. Der Herrscher liegt bequem auf einem Sofa und labt sich an einem Erfrischungsgetränk aus der Schale. Die Gattin prostet ihm zu. Nur ein Baum stört das Idyll: In den Zweigen hängt der abgeschnittene Kopf des Königs von Elam. Kaum weniger befremdlich wirken die Funde, die ein britisches Grabungsteam zwischen 1922 und 1934 auf spiEgEl gEschichtE 2 | 2016 BERTHOLD STEINHILBER / LAIF Eine Raubtier-Skulptur schmückt den Tempelpfeiler Nummer 27 in Göbekli Tepe. spiEgEl gEschichtE 2 | 2016 17 Das ErwachEn DEr Kultur Aus den Bergen ins Tal Das Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds von der Sesshaftwerdung bis zur ersten Hochkultur in Sumer Am Ende der Eiszeit wurde der Vordere Orient zum Schauplatz wichtiger Entwicklungen. Die Menschen erfanden Ackerbau und Viehzucht, auch die Töpferei. Erstmals entstanden große Siedlungen. Archäobotaniker kennen mittlerweile fünf Hotspots, in denen die Bewohner vor etwa 12 000 Jahren anfingen, Wildgetreide zu züchten und Brot zu backen. Wenig später begann im Taurus und dem Zagrosgebirge die Tierhaltung. Zuerst wurden Schaf und Ziege gezähmt, dann Schwein und Rind. Die neu erschlossenen Nahrungsquellen führten zu einer Zunahme der Bevölkerung. Um 6000 v. Chr. wagten sich die Siedler dann in die Ebene an Euphrat und Tigris hinab, wo kaum Regen fiel. Mithilfe künstlicher Bewässerung erzielte man auch dort bald Rekordernten. Auf dieser Basis schufen die „Schwarzköpfigen“, wie die Sumerer sich selbst nannten, die erste Hochkultur der Erde. S c h w a r z e s M e e r T a u r u s 8500 v. Chr. 9000 v. Chr. Göbekli Tepe Harran 8000 v. Chr. K a u SÜDOSTTÜRKEI 9000 v. Chr. Tell Halaf Z NORDIRAK W E NORDSYRIEN 9500 v. Chr. Mari Euphrat Mittelmeer Damaskus Ursprungsgebiete der Tierhaltung Urspungsgebiete des Getreideanbaus Die Jahreszahl gibt den vermuteten Beginn der Domestizierung an. Die Jahreszahl gibt den frühesten Zeitpunkt des Anbaus von Wildgetreide an. Schaf SÜDLEVANTE 9500 v. Chr. wichtige archäologische Stätte Rind Schwein Ziege 18 spiEgEl gEschichtE 2 | 2016 I AL A MY / M AU R IT IU S IM AGE S Skulptur eines Wildschweins aus Göbekli Tepe, um 8500 v. Chr. Weibliche Figur, Halaf-Kultur 6000 bis 5100 v. Chr. PH OTO JOSSE / L EE M AGE k a s u s Vansee 9000 v. Chr. Z Khorsabad Ninive Mossul a g r Nimrud o Jarmo s g Assur e T i O r g Samarra R M e e r b is gr Ti S K a s p i s c h e s e Bagdad M Babylon L Kisch A Nippur Isin Tigris N Susa D Schuruppak Eup hra Uruk ZAGROS 9300 v. Chr. Larsa Lagasch t Ur Eridu PH OTO JO S S E / LEE MAGE Basra Ausdehnung des Persischen Golfs um 5000 v. Chr. Figur eines Priesterkönigs, Uruk-Kultur um 3300 v. Chr. Satellitenbild: Google Earth, Quelle: PNAS; Science Das ErwachEn DEr Kultur NIK WHEELER / CORBIS Nach uralten handwerklichen Traditionen flechten die „Marscharaber“ im Mündungsgebiet des Euphrat ihre Häuser aus Schilf (1974). dem berühmten Königsfriedhof von Ur machte. Bei den Bestattungen dort musste oft der Hofstaat dem Herrscher ins Grab folgen. In einer Gruft lagen bis zu 80 Personen, vom Stallknecht bis zur Prinzessin – alle vergiftet. Im Abendland lösten die Rituale der Mesopotamier wohligen Grusel aus. Künstler der Belle Époque malten schwülstige Bilder von entblößten Haremsdamen, nackt hingegossen im Mondlicht, denen schwarze Diener mit Reiherfedern Luft zuwedeln. Die Paläste des Alten Orients galten bald als Orte der Tücke, bewohnt von verzärtelten und mordlustigen Regenten. Was tatsächlich geschah, kam erst schrittweise ans Licht. Aufschluss gaben vor allem die Keilschriften. Als kulturelles Gedächtnis des Zweistromlandes sind sie von unschätzbarem Wert. 20 Unter den Briten und Franzosen hob nach den ersten großen Ausgrabungen ein Wettlauf um den Ankauf der brüchigen Schrifttafeln aus Ton an. Bald mischten auch die Deutschen und die Amerikaner mit. Jeder wollte dem anderen zuvorkommen. Denn die seit Anfang des 19. Jahrhunderts gelungene Entzifferung brachte einen enormen Wissenzuwachs. Sie öffnete die Tür in eine faszinierende Vergangenheit. Hunderte Lugals („großer Menschen“), so konnte man den Texten entnehmen, hatten mit wechselndem Geschick die Throne Mesopotamiens bestiegen. Die Herrscher trugen gestriegelte Vollbärte und Kronen aus Rinderhörnern. Begonnen hatte es im 3. Jahrtausend mit einem Gewimmel sumerischer Stadtstaaten. Dann folgten die frühen Flächenreiche der Akkader und Babylonier, bis schließlich die Assyrer mit blutiger Gewalt das „erste wirkliche Imperium der Weltgeschichte“ schufen (so der Historiker Eckart Frahm). Neben den dynastischen Wechseln hielten die Sumerer auch viele ganz alltägliche Dinge fest. Ihre Schreiber ritzten Dattelsteuerrechnungen und mathematische Lehrübungen in den feuchten Ton. Sie erwähnten die Sintflut und das Land Meluhha (im Industal), von wo die Kaufleute mit Eselskarawanen den kostbaren Karneol holten, einen tiefroten Schmuckstein. Zugleich öffnete sich ein Tor in die Geisteswelt der Sumerer. Einmal im Jahr vollzogen die Könige im Tempel der Ischtar eine Art Fruchtbarkeitsfest der Fleischeslust, die „heilige Hochzeit“. Der Ritus ist bis heute nicht enträtselt. Das spiEgEl gEschichtE 2 | 2016 „assyrische Traumbuch“ aus dem 7. Jahrhundert wiederum zählt Fäkalienund Urinträume auf, auch kannibalische Erscheinungen. Eine Traumdeutung besagt: „Wenn jemand Menschenfleisch isst, wird er große Reichtümer bekommen.“ Über 400 000 keilschriftliche Dokumente wurden während der vergangenen 150 Jahre aus den Ruinen geborgen. Und immer noch werden neue entdeckt. Allein im Irak erheben sich unberührte Ruinenhügel in großer Zahl. Es gebe Tausende davon, sagt Margarete van Ess vom Deutschen Archäologischen Institut in Berlin. „Erforscht ist gerade mal ein Prozent.“ Es ist diese ungeheure Menge an Städten und Siedlungen, die Ballung von Menschen, die das Land Sumer kennzeichnete. Nirgendwo sonst auf der Erde hockten im 4. Jahrtausend so viele Personen auf einem Fleck wie an Euphrat und Tigris. Aus der Verdichtung zog das Land seine Dynamik. Denn das Leben in der Enge der Gassen und Lehmhütten brachte viele Ärgernisse und Probleme mit sich. Das zwang zu kreativen, fortschrittlichen Lösungen. Müllentsorgung, Warenverteilung, medizinische Versorgung – überall taten sich Missstände auf. Wie und wo sollten sich die Bürger von Uruk waschen? Wie ließen sich die Mäuse bekämpfen? Zaunstreitigkeiten vermeiden? Straßen sauber halten? Der Verfall der Sitten stoppen? Zehntausende von Jahren war der Homo sapiens als Jäger durch die Natur gestreift. Nun lebte er ganz anders, umgeben von Gestank, schnarchenden Nachbarn und Steuereintreibern. Die spiEgEl gEschichtE 2 | 2016 Folge: Das menschliche Zusammenleben musste neu geregelt werden. Möglich war der Übergang zu einer urbanen Lebensform aber nur, weil die Sumerer Meister des Ackerbaus und ausgezeichnete Müller und Bäcker waren. Und weil sie riesige Mengen an Getreide ernteten, gelang es ihnen, die vielen hungrigen Mäuler hinter den Stadtmauern auch satt zu bekommen. Vom Soziologen Karl August Wittfogel stammt die Theorie, dass die frühen Hochkulturen, ob am Gelben Fluss, am Indus oder Nil, „hydraulische Gesellschaften“ waren. Die Menschen dort betrieben künstliche Bewässerung und bauten Korn an. Am Anfang war das Brot. So geschah es auch an Euphrat und Tigris: Die Anwohner schaufelten Stichkanäle und leiteten das Flusswasser auf weit entfernte Felder. Dadurch verwandelten sie ihre Heimat in ein Netz aus Gräben, Wehren und Staudämmen. Als Lohn für ihre Mühen fuhren sie Rekordernten ein. „Kein Land der Erde, das wir kennen, eignet sich so gut zum Getreideanbau wie Babylonien“, lobte im 5. vorchristlichen Jahrhundert der Geschichtsschreiber Herodot. Das Getreide gedieh so vorzüglich, dass es 20fache Frucht trug. In Herodots Heimat Griechenland belief sich das Verhältnis von ausgebrachter Saat zu Ernte lediglich auf etwa 1 zu 6. Für Bau und Wartung der Bewässerungsanlagen mussten allerdings Tausende Hände ineinandergreifen. Das gelang lediglich durch zentrale Lenkung. Eine Tontafel erwähnt, dass die Bauern von Lagasch um 2000 etwa 12 600 Tonnen Gerste ernteten. 7500 Tonnen bekam der Fürst. Mit diesem Kornberg konnte er 25 000 Männer ein Jahr lang versorgen, die in der Verwaltung, beim Dammbau oder als Krieger zur Verfügung standen. Die Tempelwirtschaft, auch theokratischer Sozialismus genannt, hat den Alten Orient geprägt. In Uruk fanden die Archäologen Millionen zerbrochene „Glockentöpfe“. Der Name steht für normiertes Einweggeschirr, in das 0,8 Liter Getreide passten. Es waren die Messbecher für die täglich verteilten Essensrationen an die Untertanen. Neben dieser kommunistischen Form des Wirtschaftens entwickelte sich im Zweistromland (anders als in Ägypten) aber auch ein reger Privathandel, der sich in einem ausgefeilten Vertragsrecht niederschlug. Rollsiegel kamen auf, No- NAMEN UND WÖRTER UND WIE MAN SIE SCHREIBT Gnade für Nebukadnezar wer die Frühgeschichte Vorderasiens erforschen will, darf vor fremden sprachen keine scheu haben. allein um fachlich den Überblick zu behalten, sollte ein assyriologe neben Englisch, Französisch und Deutsch möglichst auch etwas russisch, arabisch, türkisch oder persisch lesen können; altgriechisch und latein sind sowieso unentbehrlich. Eine echte herausforderung ist es aber auch, wörter und namen der frühen sprachen Mesopotamiens, die trotz ihrer Verschiedenheit überwiegend in ähnlich aussehender Keilschrift überliefert sind, mit dem heutigen alphabet wiederzugeben. soll man eher „sch“ oder „š“, „tsch“ oder „č“, „h“ oder „ch“ ˘ schreiben? Dürfen herrscher wie sargon, tiglatpileser und nebukadnezar weiter ihre seit biblischen Zeiten aramäisch und griechisch abgeschliffenen namen tragen, oder muss man solche respektspersonen unbedingt schreiben, wie sie selbst und ihre umgebung gesprochen haben könnten: Šarruukēn, tukultī-apil-Ešarra und nabûkudurrī-ușur? seit dem 19. Jahrhundert haben wissenschaftler für ihre jeweilige landessprache Vereinheitlichungen angestrebt; in lexika findet sich dennoch verwirrende Vielfalt. Experten nutzen seit Jahrzehnten eine von rykle Borger, Miguel civil und Friedrich Ellermeier entwickelte umsetzung für alle Keilschriftzeichen von sumerisch bis hethitisch, das sogenannte BcE-system mit indexzahlen und vielen Bindestrichen. wir gehen in diesem heft möglichst pragmatisch und eher großzügig vor: ist eine gestalt legendär wie sargon, bleibt es in der regel bei der verbreiteten namensform; für die übrigen schreibungen liefern anerkannte Fachbücher die standards. Johannes Saltzwedel 21 AFP / GETTY IMAGES Das ErwachEn DEr Kultur tare beurkundeten Kaufgeschäfte. In der Bibel steht, dass Ninive mehr Krämer hatte als Sterne am Himmel. Der erstaunliche Kultursprung im Zweistromland hatte eine ebenso bemerkenswerte Vorgeschichte. Die Schöpfer der ältesten Hochkultur der Geschichte waren nur deshalb so groß, weil sie auf den Schultern von Riesen standen. Klimaforscher sind sicher, dass die ersten Weichen bereits am Ende der Eiszeit vor etwa 12 000 Jahren gestellt wurden. Tauwetter setzte damals ein, die Gletscher zogen sich zurück. Die Durchschnittstemperaturen stiegen um bis zu acht Grad Celsius. Die Niederschläge nahmen zu. Die Folge: Mesopotamien ergrünte. Bis dahin waren Gazellen über lange Zeit die wichtigste Nahrungsquelle gewesen. Herden von einer Million und mehr Tieren zogen damals über die sanften Hügelketten Nordmesopotamiens. Um an diese Fleischmassen zu gelangen, errichteten die Menschen im Kulturraum des sogenannten Natufien (13 000 bis 9500) kilometerlange V-förmige Anlagen aus aufgetürmten Steinen. 22 In diese „Wüstendrachen“ lotsten sie die Gazellen hinein und schlachteten sie ab. Die ausgefeilte Jagd ließ sich jedoch nur im Zusammenspiel vieler Clans meistern. Nirgendwo sonst wurde zu der Zeit so großräumig kooperiert. Es entstanden persönliche Verbindungen über weite Distanzen hinweg. Das schlug sich auch in der Religion nieder. Die Urväter im Norden des Zweistromlandes bauten in einer Art überregionaler Zusammenarbeit die ersten Tempel der Welt. Es war eine Sensation, als der deutsche Archäologe Klaus Schmidt im Jahr 1994 am Göbekli Tepe (siehe Karte Seite 18) in Obermesopotamien auf eine gewaltige Kultstätte stieß. Steinzeitleute in Fellkleidung hatten auf einem Hügel 20 Tempel errichtet. Klotzige Pfeiler aus Kalkstein ragten empor, verziert mit Skorpionen, Raubkatzen und Schlangen. Schmidt nannte die Anlage in der heutigen Türkei das „mesopotamische Stonehenge“. Um sie zu errichten, waren Hunderte von Steinmetzen nötig. Wenn die Priester des Heiligtums zu Versammlungen riefen, strömten Besucher aus einem Umkreis von 200 Kilo- metern herbei. Verpflegt wurden sie mit Gazellenfleisch. Im Schutt der Anlage fanden die Forscher aber auch Reibschalen aus Basalt. Die Verwalter der Kultanlage experimentierten offenbar bereits mit Wildgetreide, das sie zermörserten. Damit hatten die Priester einen wichtigen Schritt hin zur „neolithischen Revolution“ gemacht. Der Göbekli Tepe war eine Ursprungszone des Ackerbaus im sogenannten Fruchtbaren Halbmond. Ganz freiwillig geschah das KörnerExperiment am Tempelberg allerdings nicht. Archäozoologische Daten bezeugen, dass am Ende der Eiszeit die Wildbestände einbrachen. Die Gazellenherden schrumpften dramatisch, man hatte den Bestand überjagt. Die Folge: Hunger. Aus dieser Knappheit heraus begann der Mensch mit Säen und Ernten. Etwa um 9500, das zeigen die neuesten botanischen Analysen, legten die Jäger an den Hängen des Taurus und des Zagrosgebirges gleich an mehreren Stellen ihre Waffen beiseite. Stattdessen griffen sie zum Spaten und pflanzten wilden Emmer und Einkorn. Geerntet wurde mit Sicheln aus Feuerstein. Bald experimentierten die Farmer auch mit Kichererbsen, Leinsamen und spiEgEl gEschichtE 2 | 2016 US-Soldaten auf der restaurierten Zikkurat von Ur. Das rund 4100 Jahre alte Heiligtum besaß ursprünglich drei Stufen und war dem Mondgott Nanna geweiht. und stellten Käse und Joghurt her. Um 6000 brannten sie die ersten Krüge und Becher aus Ton. Die Vertreter der Hassuna-Kultur (ab 5800) im regenreichen Bergland von Nordmesopotamien hatten bereits eine Schwäche für den rechten Winkel; sie wohnten in viereckigen Hütten mit Böden aus Stampflehm. Auch der Krieg kam nun in die Welt, wie der Bau der ersten Befestigungsmauern beweist. Zäune wurden gezogen, Parzellen abgeteilt, und die Idee des Eigentums und des privaten Landbesitzes wurde entwickelt. Das förderte den Zwist. Die sumpfigen Ufer an Euphrat und Tigris mieden die Leute noch. Sie betrieben ihren Feldbau an den Ausläufern des Taurus und Zagrosgebirges. Dort regnete es genug, im Flachland dagegen fiel kaum ein Tropfen. Im Sommer surrten in der schwülen Hitze Wolken von Insekten. Erst etwa um 5500 zogen die Vertreter der Samarra-Kultur in großem Stil in diese Schilfsümpfe hinab. Sie lebten in Häusern aus geflochtenen Schilfrohrbündeln und verstanden es bereits, Kanäle von erheblicher Länge zu graben und intakt zu halten. „Ehe du deine Äcker bestellst, öffne die Bewässerungsgräben, aber ertränke die Felder nicht!“, heißt es in einem Linsen. Etwa zeitgleich gelang ein wei- 3500 Jahre alten Ratgeber aus Nippur. terer Coup: Die Urbauern sperrten wilde „Ehe du mit dem Pflügen beginnst, lass Tiere in Pferche. Die Ziege wurde im den Boden zweimal mit der Breithaue Zagrosgebiet domestiziert, Schwein und und einmal mit der Spitzhacke aufbreRind in Obermesopotamien, das Schaf chen. Notfalls nimm einen Hammer zu Hilfe, um spröde Brocken zu zerkleiin der heutigen Südosttürkei. Was für ein Umschwung: Der Nah- nern.“ rungserwerb war plötzlich planbar geworden – allerdings auch mühsam. Als Zum wichtigsten Ort im schlammiJäger ging der Mensch rund drei Stun- gen Sumer der Anfangszeit wuchs Eridu den auf die Pirsch, um seine Familie satt heran. Die Siedlung, Heimat des Schöpzu machen. Als Bauer schuftete er nun fergotts Enki, lag in einer Lagune an der den ganzen Tag. Küste des Persischen Golfs. Mit Bitumen In der Bibel hallen die Plagen der bestrichene Rundboote schaukelten im Sesshaftwerdung deutlich nach. Nach Hafen. Bereits um 4500 erhob sich dort der Vertreibung aus dem Paradies wird ein Heiligtum, das flutsicher auf einer Adams Acker von Gott verflucht: „Dor- Ziegelrampe stand – der Prototyp des nen und Disteln soll er dir tragen.“ Auch Stufentempels. in der sumerischen Mythologie finden Andere Gemeinden eiferten dieser sich Spuren. Dort ist vom heiligen Berg Ur-Metropole nach. Auch in Schurup„Du-ku“ die Rede, an dessen Hängen pak, Uruk oder Kisch nahm der Kultureinst Feldbau und Weberei erfunden prozess Tempo auf. Um den Handel mit wurden. Vielleicht ist in der Sage eine Indien oder den Häfen am Mittelmeer dunkle Erinnerung an den Göbekli Tepe zu bewältigen, gebrauchten die Kaufgespeichert. leute bald Rollsiegel und Zählsteine. Die Mit ihren bahnbrechenden Errun- Töpferscheibe kam auf und das Wagengenschaften hatten die Völker des Zwei- rad. Auf den Äckern zogen Ochsen einen stromlandes eine neue Menschheitsepo- neuartigen Pflug, der den Boden aufriss che begründet. Dörfer entstanden. Bald und gleichzeitig durch einen Trichter vergoren die Bauern Maische zu Bier Saatkörner auswarf. spiEgEl gEschichtE 2 | 2016 EINE SONNENFINSTERNIS HILFT BEIM DATIEREN Zeitrechnung auf Mesopotamisch weshalb kann man regierungswechsel und Kriegszüge, die vor mehreren tausend Jahren stattgefunden haben, überhaupt datieren? Zum glück waren die Mesopotamier schon früh akkurate Buchführer des weltgeschehens. Jedes Jahr – das in Babylonien mit dem Frühling im März/april anfing – erhielt zunächst nach einem wichtigen Ereignis seinen offiziellen namen, seit etwa 1500 v. chr. dann nach sogenannten Jahresbeamten; in Königslisten hielt man penibel die regierungsjahre der herrscher fest. Viele urkunden oder inschriften sind ebenso gründlich datiert. Eine sonnenfinsternis, die am 15. Juni 763 v. chr. stattfand, verankert diese Zeitangaben. Da jedoch für die Jahre vor 1374 mehrere astronomische Zuordnungen möglich sind, muss man sich entscheiden: Je nachdem, wo die Dynastie des großen gesetzgebers hammurapi zeitlich angesiedelt wird, kann man mit einer „langen“, „mittleren“, „kurzen“ oder sogar „ultrakurzen“ chronologie operieren, die bis zu 150 Jahre voneinander abweichen. Momentan gilt aufgrund der stimmigkeit mit anderen politischen Ereignissen im Vorderen Orient die mittlere rechnung (hammurapi: 1792 bis 1750 v. chr.) als plausibelste. Diesen angaben folgt auch das vorliegende heft. Johannes Saltzwedel Mit der Entstehung der Schrift etwa um 3300 war der Weg Richtung Hochkultur dann endgültig frei. Geschätzt eine Million Menschen hatten sich zu der Zeit in den quirligen Stadtstaaten Südmesopotamiens versammelt: Tagelöhner und Sklaven, Händler, Handwerker und Beamte. Sie bildeten gleichsam die kritische Masse für den nun folgenden Aufstieg Mesopotamiens zum glänzenden Pionierland der Zivilisation. Sumer war erwacht. [email protected] 23