Vom Diskriminierungsverbot zu »effektiver« Gleich

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Joseph Marko
Vom Diskriminierungsverbot zu »effektiver« Gleichheit? Zur Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung
von JuristInnen und SoziologInnen
Joseph Marko
Abstract
Using the social science terms of structural discrimination and institutional
racism this article analyses whether social inequalities are recognised by
anti-discrimination law, by looking into international case law. The author
analyses the development of the equality principles of the European Union
and of the ECHR and the ECtHR and critically discusses the Courts’ individualistic approach to anti-discrimination. The author asks, whether affirmative action for disadvantaged groups are suited for removing structural social inequality.
1. Einleitung: »Institutioneller Rassismus« und »strukturelle« Diskriminierung: Die Ergebnisse soziologischer Forschung
Wie eine Reihe von Studien zu Antidiskriminierung in den Ländern Nordamerikas und Europas zeigt, treten in allen untersuchten Ländern zwei
Phänomene auf, die in der sozialwissenschaftlichen Literatur mit den Begriffen »institutioneller Rassismus« und »strukturelle Diskriminierung«
bezeichnet werden.
Als besonders drastisches Beispiel für die Mechanismen und Wirkungsweise von institutionellem Rassismus kann der Fall Appiah und
Webwire in Großbritannien im Jahre 2002 dienen, um zu demonstrieren,
wie dieser auf der Grundlage von möglicherweise sogar unbewussten
Vorurteilen und darauf aufbauenden Stigmatisierungen funktioniert.1 Bei-
1
Ich folge dabei der Darstellung und Analyse von SOLANKE, Iyiola (2009):
Stigma. A Limiting Principle Allowing Multiple-consciousness in Anti-discrimination Law?, in: SCHIEK, Dagmar / CHEGE, Victoria (Hg.): European Union
1
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
de »Schwarzen Teenager« waren als Schüler der sechsten Klasse in eine
Rauferei verwickelt und wurden aufgrund der Untersuchung des Vorfalls
durch den Schuldirektor der Schule verwiesen. Ihre Klagen wurden auch
vom Berufungsgericht abgewiesen, obwohl sie die Rauferei nachweislich
nicht begonnen hatten und der Einzelrichter, trotz ihrer Beschwerden, davon ausging, dass: »Lehrer keine rassistische Absicht haben« können.
Demgegenüber wurde der überproportional hohe Ausschluss von schwarzen SchülerInnen schließlich in einem Bericht der »Department for Education and Skills High Level Group on Race Equality« 2006 untersucht.
Zentraler Faktor für »verdeckten« institutionellen Rassismus ist nach diesem Bericht die langjährige soziale Konditionierung, die insbesondere
schwarze Männer als bedrohlich stereotypisiert. Dieses Stereotyp wird vor
allem auch durch Medienberichte über eine »schwarze Straßenkultur« von
jugendlichen Banden verfestigt und führt dazu, dass LehrerInnen und Management von Schulen annehmen, dass schwarze SchülerInnen eine größere Bedrohung und Herausforderung darstellen. Der Bericht verglich dies
auch mit der weißen Jugendkultur, etwa den sogenannten »Goths«, die
zwar ebenfalls als befremdlich wahrgenommen werden, aber nicht auf
dieselbe Abwehr bei LehrerInnen und auf größere Toleranz stoßen.
Im Ergebnis kommt der Bericht zu dem Schluss, der signifikante Unterschied zwischen schwarzen und weißen Schülern bei Schulausschlüssen
»[...] is caused by systematic racial discrimination in the application of disciplinary and exclusion policies. The stereotype of black boys being aggressive and
unruly is unconsciously communicated in the interaction between black students
and school teachers«.2
Institutioneller Rassismus als Ideologie, aufbauend auf generalisierten
Vorurteilen und damit der Stigmatisierung von Gruppen oder Kategorien
wie »Rasse« und Geschlecht, ist Folge der ethnischen Stratifikation von
2
2
Non-Discrimination Law. Comparative Perspectives on Multidimensional
Equality Law, Routledge, London-New York, 123 ff.
Zitiert nach VIETEN, Ulrike M. (2009): Intersectionality Scope and Multidimensional Equality within the European Union: Traversing National Boundaries of
Inequality, in: SCHIEK, Dagmar / CHEGE, Victoria (Hg.): European Union
Non-Discrimination Law. Comparative Perspectives on Multidimensional
Equality Law, Routledge, London-New York, 128 ff.
Joseph Marko
Gesellschaften. Damit wird den Mitgliedern von Gruppen oder einer Kategorie Zugerechneten qua »Mitgliedschaft« bzw. Zurechnung ein unterschiedlicher sozialer Status zugeschrieben, der in einer Über- oder Unterordnung, d.h. Statushierarchie, zum Ausdruck kommt. Theoretisch müsste
dies allerdings nicht so sein. Sozialer Status kann als relative, gegenseitige
Akzeptanz sozialer Akteure aufgrund kultureller Werturteile über die
Gruppe/Kategorie definiert werden. Dementsprechend bauen »Statusgruppen« idealerweise auf gegenseitigen Beziehungen der Wertschätzung, des
Respekts und der gegenseitigen Anerkennung als Gleiche auf. Demgegenüber stellen Statusüber- oder -unterordnung eine auf negativen kulturellen
Werturteilen aufbauende hierarchische Stratifikation der Gesellschaft dar,3
insofern manche Gruppen als »höherwertig« oder »minderwertig« angesehen werden. Aufgrund ihrer »Stigmatisierung« werden ihnen Misstrauen,
Hass und damit Ablehnung entgegengebracht, die von der Aufforderung,
ihr »Anderssein« aufzugeben und sich zu assimilieren, bis hin zu offener
Gewaltanwendung gegen Mitglieder dieser Gruppen reichen kann. »Dominanz« und »Unterordnung« wegen eines vorgeblich höher- bzw. minderwertigen Status bedingen sich daher gegenseitig und werden durch
Normen und Institutionen reproduziert, die nicht nur den/die EinzelneN
diskriminieren, sondern seinen/ihren sozialen Status als Mitglied einer
Gruppe in der dieser »zugeschriebenen« Position der Über- oder Unterordnung fixieren und somit strukturell »bevorzugen« oder »benachteiligen«.4 Institutioneller Rassismus in Folge einer solchen ethnischen Stratifikation von Gesellschaften hat daher nichts mit Talent oder Leistung von
Individuen, aber theoretisch auch nichts mit der sozio-ökonomischen Stratifikation der Gesellschaft in Arm und Reich zu tun.
Empirisch scheint dies jedoch anders zu sein. Bei einem Vergleich von
Länderstudien in Nordamerika und Europa zeigt sich deutlich ein signifikanter Zusammenhang von Ethnizität und sozio-ökonomischer Stratifika-
3
4
Vgl. dazu HECKMANN, Friedrich (1992): Ethnische Minderheiten, Volk und
Nation. Soziologie inter-ethnischer Beziehungen, Enke Verlag, Stuttgart, 117 ff.
und YANG, Philip Q (2000): Ethnic Studies. Issues and Approaches, State University of New York Press, New York, 61 ff. und 95 ff.
Was schließlich zu offener individueller und gruppenförmiger Rebellion oder
Apathie führen kann.
3
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
tion der Gesellschaft oder – ideologisch formuliert – zwischen »Rasse«
und »Klasse«.
Eine Untersuchung der Berufskarrieren von 80.000 UndergraduateStudentInnen in den USA, die in den Jahren 1951, 1976 und 1989 ihr Studium abgeschlossen hatten, brachte zu Tage, dass trotz einer »enormen
Zunahme von schwarzen Studenten mit Studienabschlüssen« der soziale
und ökonomische Aufstieg nur sehr langsam vor sich ging und die bestehenden Unterschiede nach wie vor sehr groß sind, »reflecting deeply rooted differences between blacks and whites in resources, environments, and
inherited intellectual capital (the educational attainment of parents and
grandparents)«.5
Auch die »US Federal Glass Ceiling Commission« fand in ihrem ersten,
1995 publizierten Bericht, dass:
»[...] white males, while constituting slightly less than 44 percent of the US workforce in 1990 held 95 percent of all senior-level management positions. White
men with no college education drew down salaries that surpassed blacks and white
women with college diplomas«.6
Auch Thomas Weisskopf findet in seiner jüngst erschienen Studie über die
Vor- und Nachteile von affirmative action in den USA, dass die empirisch
festgestellte höhere drop-out-Rate von afroamerikanischen StudentInnen
in Eliteuniversitäten nicht ausschließlich auf ihre mangelnde Begabung
zurückzuführen ist, sondern auf den Studienerfolg:
»[...] depends significantly on the cultural capital one gains from one’s own family
and its social circle [...] and the quality of one’s primary and secondary schooling,
as well as one’s access to tutoring, or test coaching classes, depends greatly on
family income and wealth«.7
5
6
7
4
Zitiert nach ROBINSON, Jo Ann Oiman (2006): Affirmative Action in the United States, in: KENNEDY-DUBOURDIEU, Elaine (Hg): Race and Inequality.
World Perspectives on Affirmative Action, Ashgate, Aldershot, 41.
Zitiert nach Robinson (2006), 40 f.
Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen WEISSKOPF, Thomas (2012):
Rethinking Affirmative Action in Admissions to Higher Educational Institutions,
in ZOYAN, Hasa / NUSSBAUM, Martha C. (Hg.): Equalizing Access. Affirmative Action in Higher Education in India, United States, and South Africa, Oxford
University Press, Oxford, 51 ff.
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Aufgrund dieses »situational disadvantage« sind afroamerikanische StudentInnen daher anfälliger für offene oder versteckte Diskriminierung
durch MitstudentInnen oder Fakultätsmitglieder.
In ihrem Bericht zu Kanada stellt Colleen Sheppard einen engen Zusammenhang zwischen »Rasse« und »Klasse« als Mehrdimensionalität der
systemischen Diskriminierung fest. So haben die Effekte der ökonomischen Restrukturierung, Privatisierung und Globalisierung besonders
starke Auswirkung auf die »workers at the bottom of the economic hierarchy or at the margins of the labor force, where individuals from racialized
communities are over-represented«. Und es sind gerade die »immigrant
women, the racialized minority youth«, die auch aus dem Schutzbereich
des Arbeitsrechts hinausfallen.8 Und Kennedy-Dubourdieu berichtet
schließlich, dass in Großbritannien 77 % der Minderheitsangehörigen in
88 % der sozio-ökonomisch am benachteiligsten Gemeinden leben.9
Deutlich wie bei keiner anderen Minderheitengruppe in Europa kommt
der strukturelle Zusammenhang von Ethnizität und Armut bei den Roma
zum Ausdruck. In ihrem Fall lässt sich empirisch eindeutig eine negative
Spirale feststellen, die Armut intergenerationell perpetuiert und so »strukturell« verfestigt:
Dies beginnt schon im Schuleintrittsalter, insofern als Romakinder
überhaupt nicht eingeschult werden, oder – wie spätestens 2007 der Fall
D.H. v. Czech Republic vor dem EGMR als Spitze des Eisbergs gezeigt
hat – in Sonderschulen untergebracht werden und so von vorneherein in
ihren Bildungschancen diskriminiert werden. Die höheren drop-out-Raten
im Primar- und Sekundarschulwesen sind dann Hinweis auf die fortgesetzte Benachteiligung bei den Bildungschancen, mit dem Ergebnis, dass sie
anschließend auch vom formalen Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben
oder – wegen des Mangels an formaler Bildung – die schlecht bezahltesten
8
9
Siehe SHEPPARD, Colleen (2006): Challenging Systemic Racism in Canada, in:
KENNEDY-DUBOURDIEU, Elaine (Hg): Race and Inequality. World Perspectives on Affirmative Action, Ashgate, Aldershot, 56.
Siehe KENNEDY-DUBOURDIEU, Elaine (2006): From Periphery to Mainstream: Affirmative Action in Britain, in: KENNEDY-DUBOURDIEU, Elaine
(Hg): Race and Inequality. World Perspectives on Affirmative Action, Ashgate,
Aldershot, 85.
5
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
Arbeiten am unteren Ende der Hierarchie annehmen müssen. Ohne entsprechendes finanzielles Einkommen können sie schließlich auch ihre
Wohnsituation und die Bildungschancen ihrer Kinder nicht verbessern,
womit sich der »Teufelskreis« schließt.10
Goodwin kommt daher zu dem Schluss »Discrimination and socioeconomic injustice have a systemic relationship, in that each reflects and
perpetuates past and present patterns of the other.« Diskriminierung
aufgrund von Ethnizität ist daher »both the cause and effect of socioeconomic exclusion.« (Hervorh. JM).11
Aufbauend auf diesen empirischen Befunden und Erklärungen für deren
Ursachen lassen sich die beiden Phänomene der »strukturellen« Diskriminierung bzw. Ungleichheit sowie des »institutionellen« Rassismus daher
auch wie folgt definieren:
• Der »Teufelskreis« von Armut der Familie und daraus folgendem
mangelnden Human- und Sozialkapital (bildungsfernes Elternhaus, keine
Sozialkontakte über die eigene soziale Schicht hinaus) führt zu schlechteren Chancen beim Zugang zum und im formalen Bildungsprozess. Darauf
aufbauend bestehen auch schlechtere oder gar keine Chancen am formalen
Arbeitsmarkt, mit dem Ergebnis von schlechterem Einkommen oder überhaupt Arbeitslosigkeit. Dies führt schließlich zur Perpetuierung und damit
»Verfestigung« der Armut der Familienmitglieder über mehrere Generationen. »Strukturelle soziale Ungleichheit« ist daher gegeben, wenn die Benachteiligung bei oder das Fehlen von Chancengleichheit für sozialen
Aufstieg nicht nur auf individuelle, persönliche Merkmale rückführbar ist,
sondern durch Gruppenzugehörigkeit oder Kategorienzuschreibung
(mit)bedingt ist, was in der sozialen Realität durch Gruppenbildung immer
der Fall sein wird.12 »Strukturelle soziale Diskriminierung« liegt dann vor,
10
11
12
6
Vgl. dazu insbesondere GOODWIN, Morag (2009): Multidimensional Exclusion:
Viewing Romani Marginalisation Through the Nexus of Race and Poverty, in:
SCHIEK, Dagmar / CHEGE, Victoria (Hg.): European Union Non-Discrimination Law. Comparative Perspectives on Multidimensional Equality Law,
Routledge, London-New York, 137 ff.
Goodwin (2009), 146.
Insofern ist BRUBAKER, Rogers (2006): Ethnicity without Groups, Harvard
University Press, Harvard ein ideologisch determinierter Ansatz.
Joseph Marko
wenn diese Situation der »strukturellen sozialen Ungleichheit« durch
Maßnahmen von Privaten verstärkt wird, ohne dass eine Diskriminierung
durch einzelne Verursacher nachweisbar ist.
• Spiegelbildlich lässt sich dies auch für den Umgang mit »kultureller
Vielfalt« feststellen. Kulturelle »Verschiedenheit« führt durch Gruppenund Institutionenbildung zu kulturellen Abgrenzungen, die sich auch im
dementsprechend auf gegenseitig perzipierten Gruppenzugehörigkeiten
aufbauendem Sozialverhalten als »strukturelle« kulturelle Verschiedenheiten ausdrücken, wenn »ethnische Unternehmen« gegründet werden oder
ethnisch segregierte Wohnviertel entstehen. »Strukturelle ethnische Diskriminierung« liegt dann vor, wenn diese Situationen weiter durch ethnische Inferiorisierung und damit dem Ausschluss aus gemeinsamen Institutionen oder Märkten verstärkt werden.
• Die gegenseitige Verschränkung und Verstärkung von sozio-ökonomischer und ethnischer, struktureller Diskriminierung führt schließlich
zum schwierigsten Fall der »Mehrdimensionalität« struktureller Diskriminierung. Die Interdependenz von und gegenseitige Verstärkung ethnischer
Diskriminierung und sozialer Exklusion baut auf sozialer Hierarchisierung
und ethnischer Inferiorisierung auf: Ethnische Vorurteile sind daher
gleichzeitig (!) Ursache und Ergebnis von sozialen, politischen und kulturellen Prozessen. Kulturelle Stigmatisierung in der schärfsten Form als
ethnische Inferiorisierung, d.h. Rassismus, von Seiten der sozial und politisch dominierenden Mehrheitsbevölkerung schließt von sozialem Aufstieg und politischer Partizipation und damit von Einflussnahme auf Entscheidungen aus, was kulturell als »nicht normal« gilt bzw. politisch durch
Rechtsetzung und Rechtsprechung zur »Norm« erklärt wird, wie dies
Martha Minow mit dem Begriff des »Dilemmas der Differenz« auf den
Punkt gebracht hat.13 »Institutioneller Rassismus« besteht daher darin,
dass somit die »kulturelle« Stratifikation durch Hierarchisierung und Inferiorisierung wiederum sozial sowie politisch-institutionell verfestigt und
perpetuiert wird.
13
Vgl. MINOW, Martha (1991): Making All the Difference: Inclusion, Exclusion,
and American Law, Cornell University Press, Ithaca-New York.
7
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
2. Die Bekämpfung von Diskriminierung durch Europarecht, die EMRK
und die Europäischen Gerichtshöfe
Vor dem Hintergrund dieses empirischen Befundes stellt sich nun die Frage, ob und gegebenenfalls wie strukturelle Diskriminierung und institutioneller Rassismus sich mit Diskriminierungsverboten auch effektiv bekämpfen lassen.
Ohne hier auf die rechtshistorische Entwicklung des »Gleichbehandlungsgebots« von Männern und Frauen bei gleichwertiger Arbeit und des
Verbots der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit näher eingehen
zu können,14 ist festzuhalten, dass mit dem Amsterdamer Vertrag 1997 in
der Fassung des heute geltenden Artikel 19 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ein »allgemeines« europarechtliches Diskriminierungsverbot geschaffen wurde, das die Organe der EU
ermächtigte: »Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse,
der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.« Konsequenterweise wurden daher im Jahre 2000 auch zwei Richtlinien als
rechtliche Vorgaben für die Mitgliedsstaaten erlassen, die sogenannte
»Antirassismusrichtlinie« und die sogenannte »Rahmenrichtlinie« für die
Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf.15
Mit den Artikeln 21, 22 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union16, die mit dem Vertrag von Nizza 2000 angenommen, aber
14
15
16
8
Zum historischen Kontext vergleiche ausführlich PIRSTNER, Renate (2003): Europarechtliche Dimensionen, in: NEUHOLD, Brita / PIRSTNER, Renate /
ULRICH, Silvia (Hg.), Menschenrechte – Frauenrechte. Internationale, europarechtliche und innerstaatliche Dimensionen, Studienverlag, Innsbruck, 167-224,
und REBHAHN, Robert (2012): Artikel 157 [Gleichstellung von Mann und Frau
im Erwerbsleben], in SCHWARZE, Jürgen (Hg.): EU-Kommentar, 3. A., Nomos
Verlag, Baden-Baden, Rn 1.
Siehe Richtlinie 2000/43/EG des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des
Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen
Herkunft, ABl. L 180/22, 19.7.2000 und Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom
27. November 2000 zur Festlegung des allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl L 303/16,
2.12.2000.
S. Amtsblatt Nr. C 2010, 83, 389 vom 30.03.2010.
Joseph Marko
erst mit dem Lissabon-Vertrag 2007 als Primärrechtsquelle rechtsverbindlich geworden ist und daher jedwedes damit in Konflikt stehendes nationales Recht verdrängt, sind der Gleichheitssatz und das Diskriminierungsverbot auch zu »subjektiven« Rechten geworden, die der/die Einzelne im
Falle der Verletzung bei den staatlichen Organen als europäischen Rechtsanwendungsorganen einklagen kann, sodass in letzter Konsequenz gegebenenfalls der EuGH mittels Vorabentscheidungsverfahren angerufen
werden muss. Außerordentlich bedeutsam ist aber auch, dass Artikel 21
der Charta die Diskriminierungstatbestände des Artikel 19 AEUV expressis verbis erheblich erweitert, und zwar um die Gründe »soziale Herkunft,
genetische Merkmale, politische und sonstige Anschauung, Zugehörigkeit
zu einer nationalen Minderheit, Vermögen und Geburt.« Damit kann wohl
von einem »allgemeinen« Diskriminierungsverbot gesprochen werden, da
selbst diese umfassende Aufzählung aller Diskriminierungstatbestände nur
eine demonstrative ist, wie sich aus dem terminus technicus »insbesondere« am Beginn der Liste der aufgezählten Tatbestände ergibt.
Was bedeuten nun aber »allgemeiner Gleichheitssatz« und »Diskriminierungsverbot« im Hinblick auf »strukturelle« Diskriminierung?
Schon mit der Richtlinie 76/207/EWG wurde in Artikel 2 Abs. 4 eine
Bestimmung aufgenommen, die über den rein »formalen« Gleichheitssatz
als Abwehrrecht gegen staatliche Diskriminierung hinausgeht und die
Mitgliedsstaaten ermächtigte, »Maßnahmen zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, die die Frauen […] beeinträchtigen«
zu ergreifen, wobei diese Bestimmung im systematischen Zusammenhang
dieses Artikels als Ausnahme vom grundsätzlich geltenden Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts konstruiert war. Diese Maßnahmen
zur Förderung der Chancengleichheit werden dann in der Entschließung
des Rates vom 12.7.1982 zur Förderung der Chancengleichheit der Frauen17 als positive Maßnahmen bezeichnet und auch beispielhaft näher aufgezählt. Die darauf folgende Empfehlung des Rates vom 13.12.1984 zur
Förderung positiver Maßnahmen für Frauen (84/635/EWG)18 wird hier
17
18
Amtsblatt Nr. C 186 vom 21.07.1982, 3-4.
Amtsblatt Nr. L 331 vom 19.12.1984, 34 f.
9
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
ausführlicher zitiert, da darin schon alle rechtsdogmatischen Probleme,
wie soziologischen Fragestellungen, klar angesprochen werden:
»[…] 3. Erwägungsgrund: Die geltenden Rechtsvorschriften über die Gleichbehandlung, die zur Stärkung der Rechte des Einzelnen erlassen wurden, reichen
nicht aus, um alle faktischen Ungleichheiten zu beseitigen, wenn nicht die Regierungen, die Sozialpartner und sonstige beteiligte Stellen gleichzeitig tätig werden,
um gegen Benachteiligungen der Frauen in der Arbeitswelt vorzugehen, die durch
Einstellungen, Verhaltensmuster und Strukturen in der Gesellschaft verursacht
werden. […] [empfiehlt den Mitgliedstaaten]: 1. eine Politik positiver Maßnahmen
anzunehmen, um die faktischen Ungleichheiten, […] zu beseitigen, sowie die
Aufhebung der Geschlechtertrennung am Arbeitsmarkt zu fördern; diese Politik
umfasst … allgemeine und spezifische Maßnahmen, deren Ziel es ist,
der Benachteiligung der […] Frauen, aufgrund der vorhandenen Einstellungen,
Verhaltensmuster und Strukturen, die auf einer herkömmlichen Rollenverteilung
in der Gesellschaft zwischen Männern und Frauen basieren, entgegenzuwirken
oder sie auszugleichen;
die Beteiligung der Frauen in den verschiedenen Berufen und Bereichen des Arbeitslebens, in denen sie gegenwärtig unterrepräsentiert sind, […] zu fördern […]
2. im öffentlichen Sektor und in der Privatwirtschaft positive Maßnahmen zu treffen, fortzusetzen und zu fördern; 3. dafür Sorge zu tragen, dass die positiven
Maßnahmen […] folgende Aspekte einschließen:
Informationen und Aufklärung der breiten Öffentlichkeit […] über die Notwendigkeit, die Chancengleichheit von Frauen […] zu fördern;
[…];
in Bereichen […] wo Frauen unterrepräsentiert sind, Förderung der Bewerbung,
der Einstellung und des Aufstiegs von Frauen, insbesondere in verantwortlichen
Stellungen;
Anpassung der Arbeitsbedingungen, Neugestaltung der Arbeit und der Arbeitszeit;
Förderung flankierender Maßnahmen, die beispielsweise auf eine bessere Rollenverteilung in Beruf und Gesellschaft hinwirken;
aktive Teilnahme von Frauen in Entscheidungsgremien […].« (Hervorhebungen
JM)
Aus dem Text dieser Empfehlung wird klar, dass schon 1984 auf europäischer Ebene die Anwendung des formalen Gleichheitssatzes, d.h. das Gebot an Staatsorgane, auf der Grundlage gesetzlich verankerter Diskriminierungsverbote, Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts zu unterlassen, wie dies noch Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 76/207/EWG vorgesehen hatte, in Bezug auf Geschlechtergleichheit als nicht ausreichend angesehen wurde, um faktische Ungleichheiten zu beseitigen. Gleichzeitig
10
Joseph Marko
werden »faktische Ungleichheiten« aber nicht nur ursächlich auf diskriminierendes Verhalten in der Vergangenheit zurückgeführt, sondern es wird
klar angesprochen, dass diese als »Benachteiligungen der Frauen in der
Arbeitswelt« durch »Einstellungen, Verhaltensmuster und Strukturen in
der Gesellschaft« verursacht werden.
Seit dem Vertrag von Lissabon 2007 kann nun von einer in den begrifflichen Grundlagen auch im Sekundärrecht gefestigten Rechtssetzung ausgegangen werden, die folgende für die weitere rechtsdogmatische Frage
der Zulässigkeit von positiven Maßnahmen grundlegenden Unterscheidungen trifft:
• Dem Grundrecht auf individuelle »Gleichbehandlung« vor dem Gesetz wird die »volle Gleichstellung« in der Praxis als Wert und im Sinne
des Proportionalitätsmaßstabs bei nachprüfender gerichtlicher Kontrolle
als »legitimes« Ziel positiver Maßnahmen gegenübergestellt und
• »Direkte« wird von »indirekter« Diskriminierung unterschieden, wobei aber nur für letztere Form der Diskriminierung eine Rechtfertigungsmöglichkeit vorgesehen ist, die mit der Ziel-Mittel-Relation und der Bedingung des Erfordernisses und der Angemessenheit der Mittel den Proportionalitätsmaßstab der EuGH-Judikatur übernimmt.19
• Durch den ausdrücklichen Verweis auf Art. 157 Abs. 4 AEUV in Art.
3 der Gleichbehandlungs- und Chancengleichheitsrichtlinie neu (2006)
20
ist jedenfalls klargestellt, dass positive Maßnahmen zur Gleichstellung
von Männern und Frauen im Arbeitsleben der Regel-Ausnahmestruktur
folgen, wie sie primärrechtlich in Art. 157 vorgegeben ist. Auch wenn eine solche Regel-Ausnahmestruktur hinsichtlich der anderen Diskriminierungsgründe primärrechtlich nicht vorgegeben ist, ergibt sich diese Struktur ebenfalls aufgrund der systematischen Interpretation von Art. 2 Abs. 1
iVm Art. 5 der Antirassismusrichtlinie;
• Festzuhalten ist an dieser Stelle aber auch, dass die in der Empfehlung
des Rates (84/635/EWG) angelegte Konzeption der »strukturellen« fakti-
19
20
Vgl. auch Rebhahn (2012), RNr. 22 und 29.
Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli
2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung).
11
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
schen Ungleichheit, die weder auf direkte noch indirekte Diskriminierung
zurückzuführen ist, expressis verbis bisher weder in Primär- noch Sekundärrecht der EU übernommen wurde, sondern nur implizit in den Begriffen »Gleichstellung« und »Chancengleichheit« und darauf beruhenden positiven Maßnahmen angelegt sein könnte und damit der »autoritativen« Interpretation durch ein zuständiges Gericht bedarf. Dies führt daher zum
nächsten notwendigen Schritt der Darstellung und Analyse der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH, die dieser insbesondere anhand der ihm
vorgelegten Frage, ob und welche Arten von Quotenregelungen zur Frauenförderung europarechtlich zulässig sind, seit 1995 entwickelt hat.
Wegweisend für diese rechtsdogmatische Entscheidung waren insbesondere die beiden Urteile des EuGH, Kalanke, C-450/93, 1995 und Marschall, C-409/95, 1997. In Kalanke übernehmen die Richter des EuGH die
von Generalanwalt Tesauro getroffene kategorische Unterscheidung von
»Chancengleichheit« und »Ergebnisgleichheit« und kamen dann zu der
Schlussfolgerung, dass
»[…] eine nationale Regelung, die den Frauen [...] absolut und unbedingt den
Vorrang einräumt, [...] über die Förderung der Chancengleichheit hinaus[geht]
und [...] damit die Grenze der [...] Ausnahme [überschreitet]« (§§ 20-22)
und erklärten daher die »starre Quote«, die das Bremer Landesgesetz vorgesehen hatte, für europarechtswidrig. Demgegenüber befanden sie das
Beamtengesetz des Landes Nordrhein-Westfalen in Marschall für europarechtskonform, weil es eine »Öffnungsklausel« enthielt, die garantiere,
dass
»[...] in jedem Einzelfall [...] die Bewerbungen Gegenstand einer objektiven Beurteilung sind, bei der alle die Person der Bewerber betreffende Kriterien berücksichtigt werden und der den weiblichen Bewerbern eingeräumte Vorrang entfällt,
wenn eines oder mehrere dieser Kriterien zugunsten des männlichen Bewerbers
überwiegen, und solche Kriterien [...] gegenüber den weiblichen Bewerbern keine
diskriminierende Wirkung [haben].«
Argumentativ stützten sich die Richter dabei, im Gegensatz zu Kalanke,
aber auch auf das Konzept der »strukturellen« faktischen Ungleichheit,
indem sie auch festhielten:
»[...] allein die Tatsache, dass zwei Bewerber unterschiedlichen Geschlechts
gleich qualifiziert sind, [bedeutet] nicht, dass sie gleiche Chancen haben [...].
Folglich kann eine solche Regelung [...] dazu beitragen, ein Gegengewicht zu den
nachteiligen Auswirkungen zu schaffen, die sich für weibliche Bewerber aus den
12
Joseph Marko
[...] Einstellungen und Verhaltensmustern ergeben, und damit in der sozialen
Wirklichkeit bestehende faktische Ungleichheiten zu verringern.« (§§29 – 31).
Mit diesem Urteil ist daher im Sinne einer Präzedenzwirkung erstens
rechtsverbindlich klargestellt, dass fehlende Chancengleichheit nicht auf
vergangene unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung rückführbar sein
muss, sondern dass Maßnahmen zur Förderung von Chancengleichheit
auch auf bestehende »strukturelle Ungleichheit« gestützt werden könnten.
Zweitens wird mit diesem Urteil entgegen dem liberal-individualistischen,
meritokratischen ideologischem Paradigma auch angedeutet, dass es beim
Begriff der Chancengleichheit nicht nur um die Herstellung gleicher
Chancen als Ausgangsbedingung für den Wettbewerb gehen kann, wenn –
wie gesagt – trotz gleicher Qualifikation nicht gleiche Chancen bestehen,
sondern spezifische Begünstigungen erforderlich sein können, um die
Chancengleichheit im Ergebnis eines Verteilungsprozesses – konkret bei
Anstellungen oder Beförderungen im öffentlichen Dienst – auch »effektiv« gewährleisten zu können, wie dies mit dem rechtlichen Tatbestand der
»Unterrepräsentation« ja auch zum Ausdruck gebracht wird.
Dies wird im Folgenden, vom EuGH entschiedenen Fall Badeck, C158/97, 2000, noch deutlicher zum Ausdruck gebracht. Wiederum waren
im Hessischen Gleichberechtigungsgesetz eine 50 % Quote und eine Öffnungsklausel vorgesehen, sodass die Richter zum Ergebnis kamen, dass es
sich dabei zwar um eine »Ergebnisquote« (JM) handle, diese aber flexibel
und nicht starr sei. Mit dem Hinweis auf die »qualifikatorische Pattsituation« und der Verwendung des Begriffs »flexible Ergebnisquote« wird eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass es nicht nur um die Herstellung von
Chancengleichheit durch spezifische Ausbildungs- und Fördermaßnahmen
zur Herstellung gleicher Qualifikation geht, sondern um die Chancengleichheit im Ergebnis von Verteilungsprozessen.
Alle nachfolgenden Urteile gehen über diese Entwicklungen in der
Rechtsprechung nicht hinaus, sodass sich zusammenfassend als europarechtliche Maßstäbe festhalten lassen:
• Verboten sind direkte wie indirekte Diskriminierung durch staatliche
Institutionen, aber auch durch Private, wie eindeutig aus dem Wortlaut der
Richtlinien hevorgeht; daher ist jedenfalls auch die »strukturelle« soziale
wie ethnische Diskriminierung im oben beschriebenen Sinne verboten.
• Den Mitgliedsstaaten ist es nach der EuGH-Judikatur eindeutig erlaubt, gegen »strukturelle soziale Ungleichheit« wie »strukturelle kulturelle Verschiedenheit« im oben beschriebenen Sinne auch mit Hilfe von
13
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
Quotenregelungen vorzugehen, wobei ausschließlich die Anwendung »absolut starrer« Quoten, die zu einer automatischen und unbedingten Bevorzugung führen, europarechtswidrig sind.
• Es gibt allerdings keine europarechtlichen Verpflichtungen im Sinne
von »positiven Leistungspflichten«, mittels positiver Maßnahmen, insbesondere Quotenregelungen, gegen »strukturelle« soziale Ungleichheit oder
kulturelle Verschiedenheit vorzugehen, insbesondere wenn es zu einer
wechselseitigen Verschränkung und Verstärkung kommt, wie dies etwa
bei ethnisch segregierten Wohnvierteln der Fall ist.
Dies könnte sich nun jedoch mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR), Oršuš g. Kroatien, 2010, grundlegend
geändert haben, obwohl auch die Rechtssetzung im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) bis in die jüngste Zeit
auf dem individualistisch-liberalen Verständnis von Antidiskriminierung
aufgebaut waren.
Da ursprünglich bei der Ausarbeitung der EMRK eine »spezielle«, eigene Bestimmung zum Schutz der nationalen Minderheiten vorgeschlagen
war, 1950 bei der Beschlussfassung aber nicht angenommen wurde, blieb
der Artikel 14 EMRK mit seinem Diskriminierungsverbot, das als verbotenen Grund auch die Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit aufzählte, bis heute das »Substitut« für einen eigenen gruppenbezogenen
Minderheitenschutz. Darüberhinaus wurde Artikel 14 vom EGMR aber
auch nur als »akzessorisches«, individuelles Recht bei der Gewährleistung
der in der EMRK enthaltenen Menschenrechte und Grundfreiheiten gesehen. Sehr oft wurde daher, wenn der EGMR bereits die Verletzung eines
der »substantiellen« Menschenrechte und Grundfreiheiten festgestellt hatte, nicht weiter auf die ebenfalls gerügte Verletzung von Artikel 14
EMRK eingegangen.
Erst 1968 kam es daher mit dem sogenannten »Belgischen Sprachenfall«21 zu einem richtungsweisendem Erkenntnis, um den normativen Gehalt des Artikel 14 auszuloten. Wie der EGMR festhielt, beinhaltet Art. 14
EMRK kein Verbot, bei staatlichen Handlungen jede »Differenzierung«
21
14
EGMR, Belgian Linguistics Case, Appl.Nr. 1474/62, 23.08.1968.
Joseph Marko
nach den angeführten Gründen des Alters, der »Rasse«, ethnischen Herkunft etc. zu unterlassen, sondern muss nach dem englischen Text als
Verbot der »Diskriminierung« gelesen werden, da dies sonst zu dem »absurden Ergebnis« führen würde, dass jede staatliche Handlung konventionswidrig wäre, sofern sie nicht allen »vollständige Gleichbehandlung«
garantiert. Vielmehr sei es notwendig – so die rechtliche »Regel«, die der
EGMR daher aufstellt –: »[…] dass staatliche Behörden aufgrund unterschiedlicher Situationen und Probleme auch unterschiedliche rechtliche
Lösungen finden [...]« Und der Gerichtshof ergänzt in für das Jahr 1968
bemerkenswerter Weise: »Vielmehr korrigieren gewisse rechtliche Ungleichheiten ja nur faktische Ungleichheiten [...]« (I.B.10) und deutet damit an, dass Artikel 14 nicht auf ein rein »formales« Verständnis der
Gleichheit vor dem Gesetz zu beschränken ist.
Das in diesem Urteil schon enthaltene rechtliche »Differenzierungsgebot« für alle Staatsorgane inklusive der Gesetzgebung, wird jedoch erst
Ende der 1980er Jahre im Minderheitenkontext wiederaufgenommen und
sukzessive zu einer spezifischen »Schutzpflicht« für Minderheiten als
Gruppen weiterentwickelt. So entschied der EGMR im Fall Sidiropoulos
gegen Griechenland, 1999,22 dass Griechenland Artikel 11 EMRK, die
Vereinigungsfreiheit, i.V.m. Artikel 14 verletzt hatte, weil sich die griechischen Gerichte als zuständige Behörden geweigert hatten, einen Verein
mit dem Namen »Home of Macedonian Civilisation« zu registrieren. Dies
wurde damit begründet, dass ein solcher Verein – angeblich mangels
»Existenz« einer makedonischen Minderheit in Griechenland – die »griechische nationale Einheit« und nationale Sicherheit bedrohe. Dem traten
die RichterInnen mit der kontext- und gruppenbezogenen Argumentation
entgegen:
»44. [...] the aims of the association [...] were exclusively to preserve and develop
the traditions and folk culture of the Florina region [...] Such aims appear to the
Court to be perfectly clear and legitimate; the inhabitants of a region in a country
are entitled to form associations in order to promote the region´s special characteristics, for historical as well as economic reasons. Even supposing that the founders
of an association like the one in the instant case assert a minority consciousness
22
EGMR, Sidiropoulos v. Greece, Appl.Nr. 26695/95, 10.07.1998.
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Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
[...] allow them to form associations to protect their cultural and spiritual heritage.
[...]«
Und in Chapman gegen UK, 2001,23 entwickelte der EGMR dann auch die
Doktrin einer spezifischen »Schutzpflicht« gegenüber Minderheiten, um
ihre »Identität« und ihrem »Lebensstil« bewahren zu können:
»[…] the vulnerable position of Gypsies as a minority means that some special
consideration should be given to their needs and their different lifestyles both in
the regulatory planning framework and in reaching decisions in particular cases
[…] To this extent there is thus a positive obligation imposed on Contracting
States by virtue of Article 8 to facilitate the Gypsy way of life […]« (§ 96, Hervorhebung JM).
Wie sich aus dem Kontext des Falles ergibt, kann diese »Schutzpflicht«
aber noch nicht als »positive Maßnahme« im engeren Sinne bezeichnet
werden, weil es in diesem Fall nur um die Pflicht der staatlichen Behörden
ging, kontextorientiert, d.h. mit Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse
von Minderheiten, bei Gesetzgebung und Planungsmaßnahmen zu differenzieren. Erst mit den Fällen Hugh Jordan gegen UK, 2001, und Nachova
gegen Bulgarien, 2004,24 übernimmt der EGRM dann auch die begrifflichen Elemente der »indirekten Diskriminierung« wie sie in den beiden
EG-Richtlinien 2000 ausformuliert waren, nämlich den »überproportionalen Effekt« einer bestimmten Maßnahme, auch wenn sie »neutral« formuliert ist, auf eine »bestimmte Gruppe« und zweitens, dass statistische Angaben zu diesem Effekt als »prima-facie« Beweis reichen und damit eine
Beweislastumkehr auslösen, sodass die betroffene Regierung beweisen
muss, dass keine Absicht der Diskriminierung vorlag.
In den Fällen Stec gegen UK, 2006,25 knüpft der EGMR schließlich
wieder an die schon im belgischen Sprachenfall 1968 getroffenen prinzipiellen Aussagen zum normativen Gehalt von Artikel 14 an:
»§ 51 [...] Article 14 does not prohibit a Member State from treating groups differently in order to correct ‘factual inequalities’ between them; indeed in certain
23
24
25
16
EGMR, Chapman v. UK, Appl.Nr. 27238/95, 18.01.2001.
EGMR, Hugh Jordan v. UK, Appl.Nr. 24746/94, 04.05.2001; Nachova and
Others v. Bulgaria, Appl.Nr. 43577/98 und 43579/98, 26.02.2004.
EGMR, Stec and Others v. UK, Appl.Nr. 65971/01 und 659000/01, 12.04.2006.
Joseph Marko
circumstances a failure to attempt to correct inequality through different treatment
may in itself give rise to a breach of the article [...].«
Diese Wendung in der Argumentation ist aus zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens geht der EGMR hier auch vom Gebot der Gleichbehandlung von Gruppen aus und verlässt damit das strikt-individualistisch,
liberale Vorverständnis, dass nur Individuen »Rechte« haben können und
geht zweitens im Vergleich zum belgischen Sprachenfall noch einen
Schritt weiter: »faktische Ungleichheit« durch rechtliche Diskriminierung,
d.h. Ungleichbehandlung, zu korrigieren, kann nicht nur »gerechtfertigt«
sein, sondern unter Umständen sogar geboten, da auch ihr Unterlassen eine Diskriminierung darstellen könnte.
In den beiden Fällen D.H. g. Tschechische Republik, 200726 und Oršuš
g. Kroatien, 2010,27 entwickelt der EGMR schließlich, alle diese Ansätze
in seiner Vorjudikatur weiterführend, eine »positive Leistungspflicht«,
spezifische, auf Minderheitenangehörige zugeschnittene, positive Maßnahmen zu ergreifen, deren Unterlassen eine direkte oder indirekte Diskriminierung im Sinne von Artikel 14 EMRK darstellt. In beiden Fällen
ging es darum, dass Romakinder mangels ausreichender Kenntnis der Unterrichtssprache in Sonderschulen (Tschechien) bzw. gesonderte Klassen
(Kroatien) für geistig Behinderte eingeschrieben worden waren und keinen entsprechenden Unterricht erhielten bzw. regelmäßig getestet wurden,
ob sie befähigt sind, in »normale«, d.h. integrierte Schulen oder Klassen
überstellt zu werden. Im tschechischen Fall hatte die Regierung dies mit
dem Argument gerechtfertigt, dass aus Artikel 14 EMRK kein Anspruch
auf positive Maßnahmen ableitbar sei, da keine »positive Rechtspflicht
des Staates besteht, alle Nachteile auszugleichen, die verschiedene Teile
der Bevölkerung erlitten haben« und dass »Sonderschulen« keine »minderwertige, sondern eine alternative Erziehungsform« sind. Dem hielt der
EGMR jedoch entgegen, dass in den Sonderschulen »im Ergebnis« die
Benachteiligung der Romakinder nicht nur nicht ausreichend bekämpft,
sondern sogar »verschlimmert« werde, was angesichts der »überragenden
26
27
EGMR, D.H. and Others v. Czech Republic, Appl.Nr. 57325/00, 13.11.2007.
EGMR, Oršuš and Others v. Croatia, Appl.Nr. 15766/03, 2010, 16.03.2010.
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Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
Bedeutung des Verbots der rassischen Diskriminierung« niemals akzeptiert werden könne.28
Könnte man das Urteil des EGMR in D.H., 2007, noch immer als
»klassische«, weil liberal und formale, Konstellation des dem formalen
Gleichheitssatzes entsprechenden Diskriminierungsverbots qualifizieren,
weil eben die »positiven Maßnahmen« zwar gut gemeint, in der sozialen
Realität aber den umgekehrten Effekt hatten und damit »ungeeignet« und
»in Wirklichkeit« diskriminierend waren, so geht es im zuletzt zu besprechenden Fall Oršuš g. Kroatien, 2010, darum, dass das Unterlassen von
»positiven Maßnahmen« zu indirekter Diskriminierung führt, nicht nur,
weil diese »in Wirklichkeit« gar nicht geeignet sind, die Benachteiligungen zu bekämpfen, sondern auch, weil »spezielle Leistungen«, die den
Staaten als »positive Rechtspflicht« durch Art. 14 zum Nachteilsausgleich
auferlegt sind, unterlassen worden waren.
Ähnlich wie im Fall D.H. wurde auch im Fall Oršuš eine Reihe von
Romakindern als BeschwerdeführerInnen in der Region Međimurje in
Kroatien aufgrund ihrer fehlenden Kenntnisse des Kroatischen als Unterrichtssprache zwar in gemeinsamen Volksschulen, aber dennoch in separaten Schulklassen mit reduziertem Lehrplan unterrichtet. Wie schon die
tschechische Regierung in D.H., versuchte auch die kroatische Regierung
diese Maßnahme als »gute Absicht« zu rechtfertigen, durch getrennten
Unterricht den »spezifischen« Bedürfnissen Rechnung zu tragen. Dem
hielt der EGMR aufgrund des bei ethnischer Herkunft anzuwendenden
»strengen Prüfungsmaßstabes« jedoch entgegen, dass diese Maßnahme
»auch ohne Diskriminierungsabsicht vom Staat eine Rechtfertigung verlangt, weil sie ausschließlich auf die Mitglieder einer Gruppe angewandt
wurde«. Während der EGMR im Fall D.H. die Einschulung in Sonderschulen wegen der vollständigen institutionellen Segregation der Schüler
jedenfalls als unzulässige Diskriminierung qualifiziert, hält der EGMR in
diesem Fall als Ausgangspunkt seiner Verhältnismäßigkeitsprüfung jedoch fest, dass die
»vorübergehende Unterrichtung von Kindern in separaten Schulklassen aufgrund
ihrer mangelnden Kenntnis der Unterrichtssprache als solche nicht automatisch
28
18
Vgl. D.H. (2007), §§ 188-191, 199-200 und 200-204.
Joseph Marko
Artikel 14 verletzt, da unter gewissen Umständen eine solche Maßnahme das legitime Ziel verfolgen kann, das Erziehungssystem den speziellen Bedürfnissen der
Kinder anzupassen. Wenn jedoch, wie in diesem Fall, diese Maßnahme ausschließlich die Mitglieder einer speziellen ethnischen Gruppe betrifft, dann müssen spezifische Schutzmechanismen eingerichtet werden«.29
Dieser »Schutzmechanismus« wird daher vom EGMR weiter in zwei spezifische, positive Maßnahmen als zu erbringende Leistungen konkretisiert,
um daran die »Geeignetheit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit« des
getrennten Unterrichts, im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips, als
Maßstab prüfen zu können:
Erstens »hat der Staat die Verpflichtung, geeignete positive Maßnahmen zu ergreifen, um die BeschwerdeführerInnen darin zu unterstützen,
die notwendigen Sprachkenntnisse möglichst schnell zu erwerben, insbesondere durch speziellen Sprachunterricht, sodass ihre Integration in gemischte Schulklassen schnell erreicht werden kann«. Zweitens geht der
EGMR von der Verpflichtung aus, dass »sie sofort und automatisch [in
gemischte Klassen] überstellt werden, sobald sie die notwendigen Sprachkenntnisse erworben haben«.
Im konkreten Fall waren aber beide Kriterien nicht erfüllt. Weder wurde den Romakindern zusätzlicher Kroatischunterricht als positive Leistung
des Staates angeboten noch wurden sie regelmäßig daraufhin evaluiert, ob
sich ihre Sprachkenntnisse soweit gebessert hatten, die eine sofortige
Überstellung in gemischte Klassen erfordert hätte.30
29
30
Ȥ 157 The Court considers that temporary placement of children in a separate
class on the grounds that they lack an adequate command of the language, is not,
as such, automatically contrary to Article 14 of the Convention. It might be said
that in certain circumstances such placement would pursue the legitimate aim of
adapting the education system to the specific needs of the children. However,
when such a measure disproportionately or even, as in the present case, exclusively, affects members of a specific ethnic group, then appropriate safeguards
have to be put in place [...]«
Ȥ 165 [...] the State in addition had the obligation to take appropriate positive
measures to assist the applicant in acquiring the necessary language skills in the
shortest time possible, notably by means of special language lessons, so that they
could be quickly integrated into mixed classes.«, »§ 173 [...] As a result, the
Court is of the opinion that the time the applicants spent in Roma-only classes
19
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
In einem weiteren Schritt fordert der EGMR aufgrund der positiven
Rechtspflicht, die aus Art. 14 folgt, dass die Regierung noch weitere positive Maßnahmen als Leistungspflichten ergreift, die im konkreten Fall unterlassen wurden:
»[...] die hohe drop-out-Rate der Romaschüler im Međimurje-Bezirk hätte die
Anwendung von positiven Maßnahmen erfordert, um, unter anderem, das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Schulbildung in der Romabevölkerung zu erhöhen und um die Beschwerdeführer bei den Schwierigkeiten zu unterstützen, die
sie mit dem Schullehrplan hatten. [...] Daher wären zusätzliche Schritte notwendig
gewesen, um diese Probleme anzugehen, wie die aktive und strukturierte Einbindung der zuständigen staatlichen Sozialdienste.«31
Zusammenfassend können daher aus der Judikatur des EGMR zum Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK und damit auch der Frage der
rechtlichen Zulässigkeit oder sogar Rechtspflicht zur Setzung von positiven Maßnahmen folgende begriffliche Unterscheidungen und darauf aufgebaute Rechtspflichten abgeleitet werden:
• Auch der EGMR unterscheidet zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung und leitet aus Art. 14 das Gebot an staatliche Organe
ab, beide Formen von Diskriminierung zu unterlassen (»negative« Verpflichtung);
• Der EGMR geht aber auch von dem aus Art. 14 abzuleitenden
»Rechtsprinzip« aus, dass eine »rechtliche Ungleichbehandlung«, also
Diskriminierung, zur »Korrektur faktischer Ungleichheit« erforderlich
sein kann und entwickelt – durch Anwendung der Doktrin des »margin of
appreciation« – verschieden strenge Prüfungsmaßstäbe zur Frage der
Rechtfertigung solcher Diskriminierungen. Wie für die Rechtsprechung
31
20
appears to fall short of the requirement that their immediate and automatic
transfer be ensured as soon as adequate language proficiency was attained.«
Ȥ 177 [...] such a high drop-out rate of Roma pupils in Medimurje County
called for the implementation of positive measures in order, inter alia, to raise
awareness of the importance of education among the Roma population and to assist the applicants with any difficulties they encountered in following the school
curriculum. Therefore, some additional steps were needed in order to address
these problems, such as active and structured involvement on the part of the relevant social service [...]«
Joseph Marko
des EuGH ergibt sich damit für die Frage der Zulässigkeit von positiven
Maßnahmen eine Regel-Ausnahme-Struktur.
• Das Diskriminierungsverbot des Art. 14 hat in der Entwicklung der
Rechtsprechung drei Formen angenommen, um dieses Verbot nach dem
Wortlaut des Art. 1 EMRK auch durch staatliches Handeln zu »gewährleisten«. Dementsprechend beinhaltet das Diskriminierungsverbot folgende drei Formen von (positiven) »Gewährleistungspflichten« (»positive obligations«):
- Das Differenzierungsgebot: Nicht nur gleiche Sachverhalte sind gleich
zu behandeln, sondern in Gesetzgebung und Rechtsanwendung ist bei
konkreten Entscheidungen der faktisch unterschiedliche Kontext zu berücksichtigen und demgemäß Unterschiedliches auch unterschiedlich zu
behandeln;
- Schutzpflichten: Jedenfalls für den Minderheitenschutzkontext gilt,
dass die staatlichen Organe auch die Verpflichtung haben, unterschiedliche Gruppenidentitäten nicht nur rechtlich anzuerkennen,32 sondern die
Angehörigen von Gruppen auch vor privater Diskriminierung effektiv zu
schützen.33 Bei entsprechenden staatlichen Maßnahmen durch Gerichte
32
33
Was nach der in der deutschen und österreichischen rechtsdogmatischen Terminologie in Form von »objektivem Recht« durch »Staatszielbestimmungen« oder
selbst in der einzelfallorientierten, höchstgerichtlichen Normenkontrolle durch
die Entwicklung von abstrakten, aber die Präzedenzwirkung begründenden, supra-nationalen und nationalen Verfassungsnormen konkretisierenden »Maßstäben«
(Lepsius) geschehen kann, ohne dass damit ein »effektiver« Schutz, d.h. mit
Transformationswirkung für soziales Verhalten erzielt werden kann. Gerade der
oben zitierte Fall Chapman des EGMR ist dafür ein gutes Beispiel. Der EGMR
hat zwar als »Prinzip«, das aus Art. 14 folgt, zum Ausdruck gebracht, dass es eine »positive Rechtspflicht« gibt, den »Lebensstil der Roma zu erleichtern«, diese
Rechtspflicht im Subsumtionsteil der Entscheidung dann aber nicht angewandt.
Vgl. dazu und zum Folgenden auch ALTWICKER, Tilman (2011): Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz, Springer, Heidelberg u.a., 304 ff. zu dem von ihm
sogenannten »Verbot der passiven Diskriminierung«. Im Gegensatz zu den Unterlassungspflichten, die aus dem Verbot der direkten und indirekten Diskriminierung folgen, fasst er mit dem Oberbegriff der passiven Diskriminierung die
positiven Handlungspflichten des Staates zusammen. Diese Begriffsbezeichnung
ist nicht nur kontra-intuitiv, sondern umfasst nach seiner Terminologie nicht das
Differenzierungsgebot, das er den Unterlassungspflichten zuordnet (vgl. S. 264).
Meines Erachtens deckt sich das aber weder mit der in der Judikatur zu findenden
21
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
und Ordnungs- und Sicherheitsverwaltungsorgane handelt es sich aber
noch nicht um positive Maßnahmen im eigentlichen Sinn;
- Leistungspflichten: Das Diskriminierungsverbot für staatliche Organe
kann dabei zwei Formen annehmen:
-- Werden vom Staat allgemeine Leistungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialverwaltung zur Verfügung gestellt, ist es den staatlichen Organen verboten, beim Zugang und der Vergabe von Leistungen zu
diskriminieren. Im Fall D.H. hat der EGMR die Form der institutionellen
schulischen Segregation als jedenfalls nicht rechtfertigbare Diskriminierung qualifiziert, weil sie als nur vermeintlich positive Maßnahme nicht
geeignet sein kann, faktische Ungleichheiten zu korrigieren, sondern im
Gegenteil rassische Stigmatisierung perpetuiert.
-- Im Fall Oršuš schließlich beurteilt der EGMR das Unterlassen von
positiven Maßnahmen als vom Staat zur Verfügung zu stellenden spezifischen, nur für die Angehörigen einer Gruppe anzubietenden Leistungen
(outreach und spezifische Fördermaßnahmen) als unzulässige Diskriminierung, weil dies eine Verletzung der Gewährleistungspflicht, positive
Maßnahmen zu ergreifen, darstellt.
- Quoten: In keinem Fall hatte sich der EGMR bisher mit der Frage der
Zulässigkeit von Quoten auseinanderzusetzen.34
34
22
Verwendung des Begriffs »positive obligations« noch ist seine auf S. 306 zitierte,
von Asbjorn Eide übernommene trias der positive obligations, die eine »duty to
respect«, »duty to protect«, und »duty to fulfil« umfassen, damit in Einklang,
weil gerade die duty to respect schon vom Differenzierungsgebot funktional erfüllt wird.
Das Beispiel einer Quote für Studienplätze für Angehörige einer bestimmten ethnischen Gruppe von HARRIS; David / O’BOYLE, Michael / BATES, Ed /
BUCKLEY, Carla (2009) (Hg.): Law of the European Convention on Human
Rights, 2. Auflage, Oxford University Press, Oxford, 611, ist hypothetisch. Auch
die geäußerte Vermutung, dass eine solche Quote nicht Art. 14 verletzen würde,
»if it had the ‘objective and reasonable justification’ of increasing the disproportionately low percentage of members of that disadvantaged group in the university student population« ist rein spekulativ, wie die verschiedenen Formen von
Quoten und die dazu differenzierte Judikatur des EuGH, aber auch des US Supreme Court deutlich genug zeigen.
Joseph Marko
3. Können »Positive Maßnahmen« als dogmatische Brücke zwischen formaler und materialer Gleichheit »effektive Gleichheit« garantieren?
Aus der Darstellung und Analyse der Entwicklung des Gleichheitsprinzips
im Recht der Europäischen Union sowie der EMRK durch die Judikatur
der beiden supranationalen europäischen Gerichtshöfe ging hervor, dass
die auf dem ideologischen Bias des strikt-individualistischen Liberalismus
aufbauende Dichotomie von »formaler« und »materialer« Gleichheit
durch die Zulässigkeit bzw. sogar »positive Rechtspflicht«, sogenannte
»positive Maßnahmen« als »spezifische Leistungspflichten« gegenüber
benachteiligten Gruppen bzw. Kategorien zu ergreifen, überwunden ist.
Die rechtsdogmatische Analyse ergibt daher, dass »strukturelle« soziale
Ungleichheit wie »strukturelle« kulturelle Verschiedenheit durch positive
Maßnahmen abgebaut werden darf, ja – wenn das Urteil des EGMR,
Oršuš g. Kroatien kein Einzelfall bleibt35 – die wechselseitige Verschränkung und Verstärkung dieser beiden Phänomene wie dies in segregierten
Wohnvierteln zum Ausdruck kommt, durch staatliche Gesetzgebungs- und
Verwaltungsmaßnahmen sogar aktiv als Ausdruck der »positiven Rechtspflicht«, die aus Artikel 14 EMRK folgt, bekämpft werden muss, da ihr
Unterlassen diskriminierenden Charakter haben würde.
Trotzdem stellt sich abschließend die kritische Frage, wie »effektiv«
positive Maßnahmen sind, um »strukturelle« Diskriminierung bzw. Ungleichheit bekämpfen zu können.
In drei Berichten wurden im Vergleich der EU-27 Mitgliedstaaten einerseits eine Bestandsaufnahme der Rechtsprechung im Antidiskriminierungsrecht vorgenommen sowie die Umsetzung der Anti-Rassismusrichtlinie untersucht.36
35
36
Der Fall EGMR, Horvath and Kiss v. Hungary, Appl.No. 11146/11, 29.01.2013,
greift zwar wieder die Diskriminierung von Romakindern auf, ist aber dem Fall
D.H. v. Czech Republic gleichgelagert.
Siehe DO, Thien Uyen (2011): 2011: eine Bestandsaufnahme von 10 Jahren Antidiskriminierungsrecht, in: Europäische Zeitschrift zum Antidiskriminierungsrecht, Vol. 12, 11-23; INTERNATIONAL CENTRE FOR MIGRATION
POLICY DEVELOPEMENT (2008): The Benefits of Positive Action. Thematic
Discussion Paper, Wien, und EUROPEAN UNION AGENCY FOR
FUNDAMENTAL RIGHTS (FRA) (2012): Die Richtlinie zur Gleichbehandlung
23
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
Was die Umsetzung der Antirassismusrichtlinie betrifft, so ergab sich
bei einer Befragung der Sozialpartner eine deutliche West- und Süd-/bzw.
Ostdifferenzierung. Während in den alten EU-15 Mitgliedstaaten die praktische Bedeutung der Richtlinie als gering eingeschätzt wird, weil schon
vor Verabschiedung der Richtlinie entsprechende Diskriminierungsverbote in den nationalen Rechtsordnungen verankert waren, wird in den südeuropäischen Ländern wie auch in den neuen Mitgliedstaaten Diskriminierung überhaupt nicht als Problem anerkannt! Dementsprechend gibt es nur
sehr wenige Beschwerden bei den eigens einzurichtenden Gleichbehandlungsstellen und auch in Bezug auf nationale Gerichtsurteile wurden vom
»Europäischen Netz Unabhängiger Sachverständiger« im Bereich der
Nichtdiskriminierung in den letzten zehn Jahren nicht mehr als 250 bemerkenswerte Fälle berichtet.37 So lag die Zahl der Beschwerden bei den
nationalen Gleichbehandlungsstellen oder Gerichten in Estland, Malta,
Portugal, Rumänien, der Slowakei und Slowenien im Jahre 2009 unter
zehn, während sie auf der anderen Seite des Spektrums in Frankreich über
3.000 betrug. Was die Einrichtung nationaler Gleichbehandlungsstellen
betrifft, so können in einem Drittel der Mitgliedstaaten diese Institutionen
mit Zustimmung der Betroffenen gerichtliche Verfahren anhängig machen, in Belgien, Irland und Ungarn auch »Popularklagen« einbringen,
wenn die Diskriminierung keine individuellen Opfer, sondern ganze
Gruppen betrifft. In Frankreich und Schweden können diese Institutionen
auch selbst Untersuchungen durchführen und sogar finanzielle Sanktionen
verhängen. Neben der Akzeptanz des Phänomens der Diskriminierung und
z.T. der geringen Zahl von Beschwerden stellt ein weiteres gravierendes
Problem die Sammlung von Daten über Diskriminierungsfälle in fast allen
Mitgliedstaaten dar, und nur in drei Fällen wurde aufgrund nationaler Gerichtsurteile eine (weit) über 10.000 € hinausgehende Schadenersatzsumme zugesprochen38, sodass also mangels »Abschreckungswirkung« die Effektivität der Antidiskriminierungsmaßnahmen infrage gestellt wird.
37
38
24
ohne Unterschied der Rasse: Anwendung und Herausforderungen, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg.
Do (2011), 13.
So in Großbritannien im Fall Hussain gegen Chief Constable of Kent, Urteil vom
6. April 2006, im Ausmaß von 93.000 €; im Falle eines Kopftuchverbots in
Joseph Marko
Im Wesentlichen werden in diesem Bericht der Grundrechteagentur
zwei große Herausforderungen für die effektive Verwirklichung der Ziele
der Richtlinie herausgearbeitet: Erstens sind die Mechanismen und Verfahren auf individuelle Streitbeilegung abgestellt. Wie die Befragungen
ergeben, gibt es aber in fast allen Mitgliedstaaten nur eine geringe Kenntnis über die individuellen Rechte, die sich aus der Richtlinie ergeben und
ihre Möglichkeiten, wirksam Beschwerde vor unabhängigen Instanzen zu
ergreifen; nicht nur, aber auch darauf ist die geringe Zahl von Beschwerden bzw. fehlende Bereitschaft, Beschwerde zu erheben, zurückzuführen;
und schließlich wirken auch Anwalts- und Prozesskosten abschreckend.
Individuelle Streitbeilegung ist zweitens aber auch aus anderer Sicht ungeeignet, strukturelle Benachteiligung oder systemische Diskriminierung
wirksam zu bekämpfen.
Sandra Fredman weist darauf hin, dass der weitere Ausbau von Verboten und ihre Durchsetzung durch strengere Sanktionen im Diskriminierungsschutzmodell auf einzelfallbezogene Rechtsprechung abstellt und
daher problematisch ist.39 Schon heute bedeutet dies exzessiven Stress für
das Opfer, weil zeitintensiv, mit hohen Kosten verbunden und konfliktbeladen. Aufgrund der prozeduralen Frage der Beweislast kann es auch dazu
kommen, dass das Opfer ein zweites Mal das Trauma der Diskriminierung
erleben muss. Weiters muss es überhaupt einen feststellbaren Täter geben,
aber strukturelle Ungleichheit oder sogar Diskriminierung ist institutionell
und nicht auf das Verschulden einer Person rückführbar. Da die Rechtsprechung einzelfallbezogen ist, wird auch keine systematische Prävention
erreicht, noch ist damit die rechtliche Verpflichtung verbunden, die institutionellen Strukturen zu ändern, die Ausgangspunkt der Diskriminierung
waren und weiterhin sind. Aber Rechtsetzung, Implementierung und Mo-
39
Frankreich, das nach dem Urteil des Pariser Berufungsgerichts vom 8. Juni 2010,
Az. 08/08286 nicht gerechtfertigt war, wurden die Beklagten zur Zahlung von
10.500 € verurteilt; das irische Gleichstellungsgericht sprach dem Angestellten
einer Baufirma 50.000 € Schadenersatz wegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung zu. Vgl. Do (2011), 14, 18 und 21.
Vgl. FREDMAN, Sandra (2009): Positive Rights and Positive Duties: Addressing Intersectionality, in: SCHIEK, Dagmar / CHEGE, Victoria (Hg.), European
Union Non-Discrimination Law. Comparative Perspectives on Multidimensional
Equality Law, Routledge, London-New York, 73 ff.
25
Vom Diskriminierungsverbot zu effektiver Gleichheit?
nitoring (»policy-appraoch«) ohne Verbote und Sanktionen und damit institutionellen Rassismus und strukturelle Diskriminierung als »Unrecht«
zu brandmarken, bleiben genauso ineffektiv, weil so kein Bewusstseinswandel herbeiführbar ist. Die effektive Bekämpfung dieses Phänomens erfordert daher die Entwicklung politischer Strategien zur Förderung der
Gleichbehandlung. So wird – etwa mit dem Beispiel der faktischen Segregation im Wohnungswesen – auch im Bericht der Europäischen Grundrechteagentur zu Recht auf die Verflechtung der Wohnsituation mit dem
Zugang zu Bildung und Beschäftigung verwiesen, die »eine ganzheitliche
politische Herangehensweise zur Verbesserung der sozio-ökonomischen
Gegebenheiten erfordert«.40
Schlussendlich werden durch eine Literaturanalyse aber auch zwei zentrale Desiderata der Forschung sichtbar:
• Studien von IGOs, aber auch »Integrationsberichte« von Regierungen
sind meist eine Sammlung von Problemfällen und »best practices«. Vielfach fehlt ihnen analytische und damit begriffliche Kohärenz, sodass oft
auch keine kohärenten Strategien und darauf aufbauende Aktionspläne mit
Maßnahmen entwickelt werden, deren Implementierung dann wieder anhand von Indikatoren gemessen werden könnte.
• Vielfach ignoriert aber auch der wissenschaftliche, juristische Diskurs
soziologische Forschungsergebnisse und umgekehrt. Soziologen ignorieren nur zu oft die rechtlichen Rahmenbedingungen. Forschung zu unserer
Fragestellung bleibt daher weitgehend nach akademischen Disziplinen
segregiert und interdisziplinäre Forschung, die Rechts- und Politikwissenschaften sowie Ökonomie und Soziologie integrieren würde, steckt noch
in den Kinderschuhen.
40
26
FRA (2012), 23.
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