Individualschutz der Überstellungsfristen in der Dublin III

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VG München, Gerichtsbescheid v. 21.12.2016 – M 1 K 16.50018
Titel:
Individualschutz der Überstellungsfristen in der Dublin III-Verordnung
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1
Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2 S. 1
Leitsatz:
Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich aus den Regelungen zu den Überstellungsfristen in der
Dublin III-Verordnung Individualschutz ergibt. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Verfahren, Abschiebungsanordnung, Bekanntgabe einer ablehnenden Eilantragsentscheidung,
Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist, Zuständigkeitsübergang auf ersuchenden Mitgliedsstaat
Tenor
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu
vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger ist nach eigenen Angaben am … geboren, nigerianischer Staatsangehöriger und am … Juni
2015 in das Bundesgebiet eingereist. Er beantragte am 1. September 2015 die Anerkennung als
Asylberechtigter.
2
Im Rahmen eines persönlichen Gesprächs mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt)
zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am 1. September
2015 gab er an, er sei über Italien nach Deutschland eingereist. In Italien habe er sich einen Monat
aufgehalten. Dort seien ihm am 16. Mai 2015 Fingerabdrücke abgenommen worden. Laut einer EURODACTreffermeldung hat der Kläger in Italien einen Asylantrag gestellt. Ein Wiederaufnahmegesuch des
Bundesamts nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin
III-VO) an die zuständige italienische Stelle vom 30. Oktober 2015 ist unbeantwortet geblieben.
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Mit Bescheid vom 30. Dezember 2015, zugestellt am 9. Januar 2016, lehnte das Bundesamt den Asylantrag
als unzulässig ab (Nr. 1) und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an (Nr. 2). Der Asylantrag
sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Italien für die Behandlung des Antrags zuständig sei.
Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Beklagte veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht
gemäß Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Die Anordnung der Abschiebung
beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
4
Gegen den Bescheid des Bundesamts erhob der Kläger am … Januar 2016 Klage und beantragt,
den Bescheid des Bundesamts vom 30. Dezember 2015 aufzu-heben.
5
Zur Begründung der Klage führt er im Wesentlichen aus, er sehe den Gleichheitsgrundsatz des
Grundgesetzes durch die angefochtene Entscheidung des Bundesamts als verletzt an, da er ohne sachliche
Rechtfertigung anders behandelt werde als andere Flüchtlinge. Es unterliege einer willkürlichen
Stichtagsregelung, wann das Dublin-Verfahren zur Anwendung komme und wann nicht.
6
Mit Beschluss vom 1. März 2016 hat das Gericht den Antrag des Klägers auf vorläufigen Rechtsschutz nach
§ 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt (M 1 S. 16.50019). Der Beschluss war den Parteien jeweils am 10. März 2016
zugestellt worden.
7
Die Beklagte legte am 22. Januar 2016 die Behördenakten vor und stellte bisher keinen Antrag.
8
Der Rechtsstreit wurde mit Beschluss der Kammer vom 15. September 2016 zur Entscheidung auf den
Einzelrichter übertragen.
9
Eine Überstellung des Klägers nach Italien erfolgte bis 21. Dezember 2016 nach Aktenlage nicht.
10
Die Parteien wurden am 16. September 2016 zur Absicht des Gerichts angehört, über das Streitverfahren
durch Gerichtsbescheid zu entscheiden.
11
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht kann durch den Berichterstatter als Einzelrichter entscheiden, nachdem diesem das Verfahren
durch Beschluss der Kammer vom 15. September 2016 zur Entscheidung übertragen worden ist (§ 76 Abs.
1 AsylG). Die Entscheidung kann nach § 84 Abs. 1 VwGO durch Gerichtsbescheid ergehen, da die Parteien
vorher hierzu angehört wurden.
13
Die Klage hat Erfolg.
14
1. Sie ist zulässig, insbesondere ist der Kläger klagebefugt nach § 42 Abs. 2 VwGO. Aus seinem Vorbringen
lässt sich herleiten, dass er ‒ sollte sich der Bescheid als objektiv rechtswidrig erweisen ‒ möglicherweise in
eigenen Rechten verletzt ist. Denn die angefochtenen Regelungen belasten ihn in seinem subjektivöffentlichen Recht aus §§ 4, 24, 31 AsylG auf Prüfung seines Schutzgesuchs durch die Beklagte.
15
Die Klage wurde auch fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des angegriffenen
Bescheids erhoben (§ 74 Abs. 1 AsylG).
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2. Die Klage ist auch begründet. Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig und
verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2
AsylG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung war die Überstellungsfrist bereits abgelaufen.
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Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die am 19. Juli 2013
in Kraft getretene VO (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013
des Mitgliedsstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in
einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin-III-VO). Diese findet
gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin-III-VO auf alle in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2014 gestellten
Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, mithin auch auf das am 1. September 2015 gestellte
Schutzgesuch des Klägers.
18
Unabhängig von der Frage, ob der Asylantrag wirklich unzulässig war und die Abschiebung nach Italien
angeordnet werden durfte, ist die Beklagte jedenfalls nunmehr durch Zeitablauf für die Durchführung des
Asylverfahrens zuständig.
19
Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder
Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden
Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten durchgeführt wird.
Dieser Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Sechsmonatsfrist stellt keinen fingierten Selbsteintritt,
sondern eine besondere Zuständigkeitsnorm dar, die letztlich lediglich vom Ablauf der Frist abhängig ist
(BayVGH, B.v. 11.5.2015 - 13a ZB 15.50006 - juris Rn. 5).
20
Nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung, sobald dies praktisch möglich ist und
spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Annahme des (Wieder-)Aufnahmegesuchs durch
einen anderen Mitgliedstaat (Alt. 1) oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine
Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat (Alt. 2). Wird die
Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat
nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO nicht mehr zur (Wieder-)Aufnahme der betreffenden Person verpflichtet,
und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr
verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen
konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.
21
Unabhängig von der Frage, ob die Sechsmonatsfrist schon mit Ablauf einer zweiwöchigen Frist nach
Übermittlung des (unbeantwortet gebliebenen) Wiederaufnahmegesuchs vom 30. Oktober 2015 (Art. 25
Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO) und damit Mitte November 2015 begonnen hat, ist seit der Bekanntgabe des
den vorläufigen Rechtsschutzantrag des Klägers ablehnenden Beschlusses des Gerichts vom 1. März 2016
am 10. März 2016 erneut die Sechsmonatsfrist angelaufen, nachdem die ursprünglich angelaufene Frist
durch den vor ihrem Ablauf gestellten Eilantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung unterbrochen
wurde (OVG NW, U.v. 7.7.2016 - 13 A 2238/15.A - juris Rn. 24 ff., unter Bezugnahme auf BVerwG, U.v.
27.4.2016 - 1 C 24.15 - NVwZ 2016, 1495 - juris Rn. 18; ferner BVerwG, U.v. 9.8.2016 - 1 C 6.16 - DÖV
2016, 963 (Ls.) - juris Rn. 23). Diese neu in Lauf gesetzte Frist ist mittlerweile abgelaufen, ohne dass der
Kläger nach Italien überstellt wurde.
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Dieses Verstreichen der Überstellungsfrist hat gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO zur Folge, dass der
zuständige Mitgliedsstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person
verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedsstaat übergeht. Die Zuständigkeit für die
Prüfung des Asylantrags des Klägers ist damit auf die Beklagte übergegangen.
23
Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass eine Umdeutung des „Dublin-Bescheids“ in eine
ablehnende Entscheidung nach § 71a AsylG aus prozessualen und materiellen Gründen nicht in Betracht
kommt (BayVGH, B.v.18.05.2015 ‒ 11 ZB 14.50053 ‒ juris Rn. 15 ff.).
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3. Der Kläger ist auch in seinen Rechten verletzt. Anders als noch bei den Regelungen in der Dublin IIVerordnung ist es insbesondere hinsichtlich der Regelungen zu den Überstellungsfristen in der Dublin IIIVerordnung unter Beachtung der neueren höchstrichterlichen Rechtsprechung (EuGH, U.v. 7.6.2016 - C-
63/15 u.a. - NVwZ 2016, 1157 „Ghezelbash“; BVerwG, U.v. 9.8.2016 - 1 C 6.16 - NVwZ 2016, 1492 - juris
Rn. 22) nicht ausgeschlossen, dass sich aus ihnen Individualschutz für den Kläger ergibt.
25
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Regelung der vorläufigen
Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).
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