Stadtarchiv und Stadtgeschichte Forschungen und Innovationen Festschrift für Fritz Mayrhofer zur Vollendung seines 60. Lebensjahres Linz 2004 A r c h iv d e r S t a d t L i n z HISTORISCHES JAHRBUCH DER S TA D T L I N Z 2003/2004 HERAUSGEGEBEN VON WALTER SCHUSTER, MAXIMILIAN SCHIMBÖCK UND ANNELIESE SCHWEIGER Umschlaggestaltung: Walter Litzlbauer Porträtfoto Fritz Mayrhofer: Maximilian Schimböck Für den Inhalt der Abhandlungen sind ausschließlich die AutorInnen verantwortlich. Der teilweise oder vollständige Abdruck von Arbeiten aus der vorliegenden Publikation ist nur mit Bewilligung der HerausgeberInnen nach Genehmigung der AutorInnen gestattet. ISBN 3-900388-56-3 Medieninhaber: Archiv der Stadt Linz, Hauptstraße 1–5, 4041 Linz Hersteller: Trauner Druck, Linz INHALT Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Linz . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Vorwort des Kulturreferenten der Landeshauptstadt Linz . . . . . . . . . . . . . . . 21 Vorwort von Herausgeberin und Herausgebern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 ARCHIVTHEORIE UND ARCHIVMANAGEMENT Erich Wolny: Zeitgemäße Leitung des Stadtarchivs – verlangt sie eine neue Sicht der Funktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Wilhelm Rausch: „Vor fünfzig Jahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Lorenz Mikoletzky: Wozu ein Archiv? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Peter Csendes: Metaphern für Archive – das Archiv als Metapher? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Walter Schuster: Zur Strategie für Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Ferdinand Opll: Öffentlichkeitsarbeit in Kommunalarchiven Überlegungen am Beispiel des Wiener Stadt- und Landesarchivs . . . . . . . . 73 Lukas Morscher: Zukunft der Archive – Archive der Zukunft Vorschläge für ein zukünftiges Marketing von Archiven . . . . . . . . . . . . . . . 95 Gerhart Marckhgott: Paradigmenwechsel Das Oberösterreichische Landesarchiv vor der „digitalen Revolution“ . . . 109 8 Josef Riegler: Digitalisierung mittelalterlicher Urkunden – Aspekte der Medienkonvertierung im Steiermärkischen Landesarchiv . . . . . . . . . . . . 119 Maximilian Schimböck: Kommunalarchive als Dienstleistungsbetriebe Das Beispiel Linz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Werner Matt: „Linz als das pulsierende Herz der Kommunalarchivare“ Fritz Mayrhofer und der Arbeitskreis der Kommunalarchivare Österreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Siegfried Haider: Das Oberösterreichische Archivgesetz in seinen Auswirkungen auf die Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Thomas Klagian: Die Abenteuer eines jungen Archivars in Bregenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Hans Eugen Specker: Arbeitsgemeinschaften zum Erfahrungsaustausch und als Interessenvertretung von Kommunalarchiven in Deutschland . . . . . . . . . 165 Josef Nössing: Gemeindearchive in Südtirol Zur Geschichte der Gemeindearchive in Südtirol sowie deren Erhaltung und Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 ( S TA D T ) G E S C H I C H T S F O R S C H U N G – THEORIE UND PROJEKTE Wilfried Ehbrecht: 30 Jahre Westfälischer Städteatlas Ein regionaler historischer Städteatlas im Kontext europäischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Gabriella Hauch: „Zukunft heißt erinnern“ Zur Genese der historischen Frauenforschung im gesellschaftlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 9 Peter Johanek: Stadt und Zisterzienserinnenkonvent Ausblick auf ein Forschungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Anton Eggendorfer: Fünf Jahre Projekt „Netzwerk Geschichte“ in Niederösterreich Eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Georg Heilingsetzer: Alfred Hoffmann und die Stadtgeschichte Bemerkungen anlässlich des 100. Geburtstages des Archivars, Historikers und Lehrers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Helmut Konrad: Universitäten in Bewegung: Zur Dynamisierung des Bildungssystems . . 253 QUELLEN Walter Aspernig: Grundlagenforschung und Stadtgeschichte in Oberösterreich: Anmerkungen zur Edition der „Quellen zur Geschichte von Wels“ . . . . . 265 Leopold Auer: Materialien zur Linzer Stadtgeschichte im Haus-, Hof- und Staatsarchiv . . 273 Fritz Koller: Die „Linzer Akten“ im Salzburger Landesarchiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Johannes Seidl: Von der Immatrikulation zur Promotion Ausgewählte Quellen des 19. und 20. Jahrhunderts zur biographischen Erforschung von Studierenden der Philosophischen Fakultät aus den Beständen des Archivs der Universität Wien . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Brigitte Kepplinger: Fürsorgeakten als historische Quelle Die Betreuungsakten des Linzer Jugendamtes (1918–1950) . . . . . . . . . . . 303 10 L I N Z E R S TA D T G E S C H I C H T E Erwin M. Ruprechtsberger – Otto H. Urban: Eine bronzene Schwertklinge vom Luftenberg – Zur Spätbronzezeit im Linzer Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Willibald Katzinger: Linz ohne Phantomzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Anneliese Schweiger: Weinbau im alten Linz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Georg Wacha: Albrecht Dürer in Linz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Herta Hageneder: Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenreformation in Linz . . . . . . . . . . . . 355 Rainer F. Schraml: Bernhard Weidner (1640–1709) Ein Linzer Schusterssohn als Abt des Zisterzienserstiftes Wilhering in Oberösterreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Alfred Ogris: Die Linzer Wollzeugfabrik und die Orientalische Kompanie: Reaktionen in Kärnten (1725/26) auf eine Privilegierung . . . . . . . . . . . . . 375 Gerhard Winkler: Johann Puchner und seine Weltsprache Nuove-Roman . . . . . . . . . . . . . . . 387 Wieland Mittmannsgruber: Bürger der Stadt Linz Erwerb, Inhalt und Verlust des Gemeindebürgerrechts im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Monika Würthinger: Gruß aus Linz Correspondenzkarten dokumentieren Bau des Neuen Domes . . . . . . . . . 411 Rudolf Zinnhobler: Franz Sales Maria Doppelbauer Korrekturen zu einem Bischofsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Emil Puffer: Hans Rösler – der letzte Stadtamtsleiter von Urfahr . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 11 Oskar Dohle: Geld für den Krieg Die Kriegsanleihe-Zeichnungen der Städte Linz und Urfahr im Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Andrea Kammerhofer: „Lebende Bilder“ in Linz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Harry Slapnicka: Knapp über der Wahrnehmungsgrenze Oberösterreichs Gauleiter der DNSAP fast so bedeutungslos wie die Partei selbst – weit über Hitlers Machtübernahme vom Jahre 1926 hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Kurt Tweraser: Wirtschaftspolitik zwischen „Führerstaat“ und „Gaupartikularismus“ Eigruber und Hinterleitner: Der „Gaufürst“ und sein Wirtschaftsberater . . 499 Birgit Kirchmayr: Der Briefwechsel August Zöhrer – Elise Posse im Archiv der Stadt Linz Eine „Fußnote“ zur Geschichte des „Linzer Führermuseums“ . . . . . . . . . 515 Hermann Rafetseder: Das „KZ der Linzer Gestapo“ Neue Quellen im Rahmen des Österreichischen Versöhnungsfonds zum „Arbeitserziehungslager“ Schörgenhub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Michael John: Maghrebinien in Linz Beobachtungen über eine verborgene Seite der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . 541 Winfried R. Garscha – Claudia Kuretsidis-Haider: „Traurige Helden der Inneren Front“ Die Linzer Tagespresse und die Anfänge der gerichtlichen Ahndung von NS-Verbrechen in Oberösterreich 1945/46 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Helmut Fiereder: Die Wiederbegründung der jüdischen Gemeinde von Linz 1945–1948 . . 583 Johannes Ebner: Im Boot des Bischofs Franz S. Zauner „Porträts“ der Bistumsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Siegbert Janko: Linz – Von der Stahlstadt zur Kulturstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 12 ALLGEMEINE GESCHICHTE UND S TA D T G E S C H I C H T E Karl Vocelka: Vom himmlischen Jerusalem bis Brasilia Zur utopischen Stadt in der Geschichte der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . 625 Herwig Wolfram: Die Stadt der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Georg Scheibelreiter: Der König verlässt die Stadt Überlegungen zur räumlichen Veränderung der Herrschaft im 7. und 8. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 641 Walter Brunner: Neues und Interessantes zur Frühgeschichte der Stadt Graz . . . . . . . . . . . 657 Alois Niederstätter: Die Städte der Grafen von Montfort und von Werdenberg Ein strukturgeschichtlicher Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 Hannes Obermair: Vormoderne Übergangsregion? Die Städtelandschaft im Raum Trient-Bozen im Hoch- und Spätmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 Susanne Claudine Pils: Wem gehört die Stadt? Von der Nutzung des städtischen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 Heinrich Koller: Stadt und Staat Das Hauptstadtproblem unter Kaiser Friedrich III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719 Rudolf Kropf: Die spätmittelalterliche Gründung einer Kleinstadt im westungarischösterreichischen Grenzraum (Stadtschlaining) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 739 Roman Sandgruber: Die Grenzen der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Kurt Mühlberger: Bemerkungen zum Wiener Poetenkolleg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 13 Franz-Heinz Hye: Ein unbekanntes, spätes Dokument – vom 11. Juni 1646 – zur Geschichte des Bauernaufstandes des Stefan Fadinger von 1626 . . . . . . . 779 Helmut Kretschmer: Zur Geschichte des Wiener Mozart-Denkmals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 Johann Seedoch: Eingemeindungen im Stadtgebiet von Eisenstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797 Helmut Lackner: Ein „blutiges Geschäft“ – Zur Geschichte kommunaler Viehund Schlachthöfe Ein Beitrag zur historischen Städtetechnik am Beispiel Österreich . . . . . 805 Wolfgang Maderthaner: Pathologie der Großstadt – Geschichten um den Praterstern . . . . . . . . . . 829 Evan Burr Bukey: Ein bitterer Triumph: Die Kampfmoral der deutschen Zivilbevölkerung 1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 Wolfgang Weber: Gibraltar liegt in Jamaika Zur Geschichte des Internierungslagers Gibraltar in Kingston 1940–1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 Wolfgang Neugebauer – Herwig Czech: Medizin und Gedächtnis Zum Umgang mit den NS-Medizinverbrechen in Österreich nach 1945 . . 873 Publikationen von Fritz Mayrhofer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885 Verwendete Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891 641 G EORG S CHEIBELREITER DER KÖNIG VERLÄSST DIE STADT Überlegungen zur räumlichen Veränderung der Herrschaft im 7. und 8. Jahrhundert Im 3. Jahrhundert geriet das römische Reich in eine soziale und wirtschaftliche Krise, die schließlich einen Umbau des Staates unter geänderten Gegebenheiten notwendig machte.1 Bürokratie und Militär gaben in dieser Gesellschaft den Ton an, barbarische Elemente beeinflussten hellenistische Traditionen und bedingten einen Wandel des inneren und äußeren Lebens, der für die soziale Wirklichkeit weitreichende Folgen haben sollte.2 Leidtragende der staatlichen Umgestaltung waren besonders die Bürger der „municipia“, namentlich deren führende Schichten, die Kurialen.3 Ihnen machte der wirtschaftliche Niedergang der Städte am meisten zu schaffen. Das Funktionieren des städtischen Lebens lag finanziell und organisatorisch vielfach in ihren Händen; diese verantwortungsvolle Tätigkeit wurde seit dem 4. Jahrhundert aus einer Ehre zur bald unerträglichen Last. Staatliche und munizipale Forderungen trieben viele Kurialen in den Ruin und lösten eine Stadtflucht aus, die auch die von ihnen abhängigen Unterschichten erfasste. Die zunehmende Unsicherheit der Daseinsverhältnisse bewog auch senatorische Familien, sich auf ihren ländlichen Besitzungen einzurichten, wo sie der Willkür des Militärs weniger ausgesetzt waren. Lagen jene fernab vom italischen Zentralraum und näher den Reichsgrenzen, so begann man die Gebäudeensembles zu befestigen. Für den persönlichen Schutz sorgten mitunter Buccellarier, eine Art bewaffnete Privattruppe. So wurde für die oberen Schichten, die bisher das Reich primär repräsentiert hatten, das Landleben nicht ein Idyll „procul negotiis“, sondern eine neue Form des Alltags, der bisher städtisch geprägt gewesen war. Die neuen Generäle und Offiziere des Heeres stammten sehr 1 2 3 Dazu grundlegend noch immer Michael Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich. Bd. 2. Leipzig 1931 (Nachdr. Aalen 1985), 143–148, 194, 203–209; siehe auch Alexander Demandt, Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian 284–565 n. Chr. (Handbuch der Altertumswissenschaften 3/6). München 1989, 37–39, 412–413. Franz Wieacker, Die Krise der antiken Welt (Vortragsreihe der Niedersächsischen Landesregierung 50). Göttingen 1974, 21–23, 25–29. Geza Alföldy, Römische Sozialgeschichte. Wiesbaden 31984, 141–143, 164–166 und Demandt, Spätantike (wie Anm. 1), 408–410. 642 Georg Scheibelreiter häufig aus ländlich beheimateten Unterschichten, die für die sozial gehobene Stadtbevölkerung kaum Verständnis aufbrachten: Die Annehmlichkeiten der Stadt wurden von ihnen gern genützt, doch vom Lebensstil her blieb ihnen die „civitas“ fremd, die sie auch nicht als „patria“ betrachten konnten. Diese Schicht von Emporkömmlingen verstärkte sich noch durch den Aufstieg barbarischer Soldaten, die aus einer städtelosen Welt kamen. Als Herren von „villae“ näherten sie sich äußerlich dem Lebensstil der alten Eliten, die nach einer Zeit der kulturellen und bildungsmäßigen Abschichtung ihrerseits allmählich barbarisiert wurden.4 In den Grenzprovinzen an der mittleren Donau bestand vielfach ein Nebeneinander von befestigten Garnisonen und Zivilstädten, die einer Ummauerung entbehrten. Letztere waren seit Mitte des 3. Jahrhunderts im Niedergang, doch hielten sie sich bis in die Zeit des Kaisers Valentinian I. (364–375), der noch einmal für einen kurzen Aufschwung sorgte.5 Als der Durchzug barbarischer Heere und nicht immer zuverlässiger Föderaten sich für die Bevölkerung der Zivilstädte zusehends verlustreich gestaltete, gab Odowakar 488 die Donaugrenze auf und nahm die Verteidigungslinien bis zum Alpenhauptkamm zurück.6 Die wehrlosen „municipia“ waren bis dahin schon überwiegend von ihrer Bevölkerung verlassen worden. Diese hatte in die Militärlager gedrängt und sich dort notdürftig eingerichtet. Die noch vorhandene Besatzung reservierte sich eine Ecke des „castrum“ und erbaute dort einen durch dickes Mauerwerk geschützten, meist quadratischen „burgus“.7 In Binnennorikum verfuhr man anders. Auch dort konnten sich die unbefestigten Städte nicht halten und mussten zugunsten mauerbewehrter Siedlungen auf bewaldeten Höhenrücken aufgegeben werden.8 Zum Reich Theoderichs des Gro4 5 6 7 8 Diese gesellschaftliche Veränderung setzt nicht überall gleichzeitig ein und ist in ihrem Verlauf von dem Vorhandensein eines engeren und weiteren Netzes von „civitates“ abhängig. Im allgemeinen erfolgte ein Einschnitt gegen Ende des 4. Jahrhunderts, eine stärkere Barbarisierung setzte an Rhein und Donau aber erst nach 500 ein. Im Raum, der zum Mittelmeer hin orientiert war, blieb man von dieser Entwicklung noch längere Zeit verschont. Kurt Genser, Der Donaulimes in Österreich (Schriften des Limes-Museums Aalen 44). Stuttgart 1990, 21–22; Peter Pleyel, Das römisches Österreich. Wien 1987, 23–26. Zu den Geschehnissen Demandt, Spätantike (wie Anm. 1), 178–179; Wolfram, Geschichte der Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. München 31990, 346–347. Hannsjörg Ubl, Die Christianisierung von Noricum Ripense bis zum 7. Jahrhundert nach den archäologischen Zeugnissen. In: Das Christentum im bairischen Raum von den Anfängen bis ins 11. Jahrhundert. Hrsg. von Egon Boshof und Hartmut Wolff (Passauer Historische Forschunge 8). Köln-Wien 1994, 145–148 und Wilhelm Sydow, Spätantike „Hauskeramik“ aus dem Kastell von Veldidena (Innsbruck-Wilten). In: Fundberichte aus Österreich (1996/1997), 369–372. Vereinzelt scheint man alte keltische Siedlungen wiederbelebt zu haben. Ein gutes Beispiel bildet das Pilgerzentrum am Kärntner Hemmaberg. Ein keltisches „oppidum“ wurde in eine an der Talstraße gelegene Poststation des römischen Reiches verwandelt (Iuenna), diese jedoch in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zugunsten der Höhensiedlung wieder verlassen; Gernot Piccottini, Frühes Christentum in Kärnten. In: Carinthia I 161 (1971), 16 und Sabine Ladstätter, Die materielle Kultur der Spätantike in den Ostalpen. Eine Fallstudie am Beispiel der westlichen Doppelkirchenanlage auf dem Hemmaberg. Mit einem Beitrag von Roman Sauer (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Mitteilungen der Prähistorischen Kommission 35). Wien 2000, 201. Der König verlässt die Stadt 643 ßen gehörig, erlebten diese Bergsiedlungen noch bis in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts eine bescheidene Blüte städtischen Lebens. Mit dem urbanen Charakter der Zeit vor 200 lässt sich dieses jedoch nicht vergleichen. Die Siedlungen entsprachen aber zweifellos den Vorstellungen und Erfahrungen von Stadt, wie sie der Mensch des 6. Jahrhunderts – abgesehen von den ehemaligen Residenzstädten des Westens – hegte und für typisch hielt. Ist das donauländische Städtewesen nach Odowakars Maßnahme als nahezu erloschen anzusehen, und bot sich Herulern und Langobarden nur ein schlecht versorgtes Gebiet zur unruhigen Besiedlung, so wurden die Reste antiker Urbanität im Drautal durch Slawen und Awaren um 600 beseitigt.9 Das 7. Jahrhundert war die erste Periode, die sich von der mediterranen Zivilisation abgekehrt hatte und absterbende oder schon abgestorbene Formen mit einer barbarischen Welt- und Lebensauffassung gleichsam überwölbte. Im heute österreichischen Raum fehlte auch ein politisches Machtzentrum, das die Reste antiker Überlieferung recht und schlecht tradierte und so für neue Kräfte anziehend wirkte. Selbst das Christentum blieb dort ein äußerst fragiler Traditionsbesitz, der wohl in eine inhaltsarme, ja dürre Routine abgeglitten war. Zu den Voraussetzungen des Christentums gehörte wesentlich die Stadt: „Civitas“ und Umland waren die Zelle seiner Ausbreitung und Mittelpunkt seiner hierarchisch gegliederten Organisation. In Ufernorikum ist darüber nur wenig bekannt, außer in Lauriacum (Lorch) lässt sich kein Stadtbischof nachweisen, wenn man auch andere vermuten kann. Um 500 dürfte auch das Lorcher Bistum erloschen sein;10 nicht so ganz das christliche Leben: Als Chrodberht (Rupert) 696 eine Niederlassung suchte, schien im österreichischen Donauraum gerade dieses Lorch noch in Frage zu kommen. Nur das im Landesinneren liegende Iuvavum (Salzburg) hatte das Glück, neben einer ausdauernden romanischen Bevölkerung auch die Gunst des bairischen Herzogs zu besitzen. Dort ermöglichten Reste christlicher Tradition, herzogliche Nähe und Förderung nicht zu übersehende Ansätze für eine neue städtische Entwicklung. Doch blieb diese trotz der günstigen Voraussetzungen unerheblich, weil das soziale und wirtschaftliche Modell Stadt antiker 9 10 Achim Leube, Die Langobarden. In: Die Germanen. Geschichte und Kultur der germanischen Stämme in Mitteleuropa. Bd. 2. (Veröffentlichungen ders Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie der Akademie der Wissenschaften der DDR 4/2). Berlin 1983, 587–592; Herwig Wolfram, Das Reich und die Germanen zwischen Antike und Mittelalter (Das Reich und die Deutschen. Siedler deutsche Geschichte). Berlin 1990, 392–393. Heinrich Berg, Bischöfe und Bischofssitze im Ostalpen- und Donauraum vom 4. bis zum 8. Jahrhundert. In: Die Bayern und ihre Nachbarn. T. 1. Hrsg. von Herwig Wolfram und Andreas Schwarcz (Veröffentlichungen der Kommission für Frühmittelalterforschung 8 = Österreichische Akademie der Wissenschaften Phil.-hist. Kl., Denkschriften 179). Wien 1989, 66–68 und Georg Scheibelreiter, Das Christentum im österreichischen Raum in Spätantike und Mittelalter. Von den Anfängen bis in die Zeit Friedrichs III. In: Geschichte des Christentums in Österreich von der Spätantike bis zur Gegenwart (Österreichische Geschichte Erg.Bd. 3). Wien 2003, 21. 644 Georg Scheibelreiter Art im 7. und 8. Jahrhundert überholt war und von der neuen Gesellschaft nicht mehr angenommen wurde. In Noricum mediterraneum hielten sich mit Aguntum, Teurnia und vielleicht auch Virunum drei Mittelpunkte kirchlicher Organisation bis in die neunziger Jahre des 6. Jahrhunderts.11 Doch war das Drautal unter gotischer und byzantinischer Herrschaft ein Randgebiet, was auch die kirchliche Abhängigkeit von Aquileia nicht aufhob. Der Rückgang antiker Zivilisation musste daher stark spürbar gewesen sein. In awarisch-slawischen Zeiten ist von Städten dann keine Rede mehr. Da die beiden Norikum schon in der Kaiserzeit keine auffallenden Stadtlandschaften waren, wurde das Verschwinden der städtischen Siedlungen viel deutlicher als in Gebieten, die über ein dichtes Netz bedeutender Zentralorte verfügten. Da die Region durch die „civitates“ nicht mehr strukturiert wurde, ergab sich ein Zug zur Kleinräumigkeit, der zur Beherrschung weiter Flächen ungeeignet machte. Von Nachteil war die Entfernung zu den neuen politischen Zentren, die eine Teilhabe am entscheidenden Geschehen fast ausschloss. Auch die kirchliche Neuorganisation erfasste das Ostalpenland nicht vor der Mitte des 8. Jahrhunderts, das Donauland noch später. Selbst dann kam es aber nirgends zur Einsetzung eines Bischofs, der ein städtisches Leben auch im bescheidenen Rahmen garantiert hätte. Es fehlten die Voraussetzungen, aber man suchte auch nicht an die alten Römerstädte bewusst anzuknüpfen. Eine Beherrschung des Raums war so nicht mehr zu erreichen. Welche Funktion der Stadt in einer veränderten Sicht von Herrschaft und Herrschaftsdurchsetzung zugesprochen wurde, lässt sich am ehesten im fränkisch besiedelten Gallien erkennen. Abgesehen von den Gegenden, die im heute normannischen und flandrischen Raum an der Nordsee lagen und mehr und mehr verwilderten, blieb die gallorömische Stadtlandschaft auch unter Burgundern und Franken erhalten. Die burgundische Königssippe dürfte sehr an einer Akkulturation interessiert gewesen sein, und rückte in die bedeutendsten „civitates“ ihres Siedlungsgebietes ein: Genf, Lyon, Vienne. Die fränkischen Kleinkönige richteten ihre Angriffe gegen die befestigten Militärstädte des gallischen Nordens, um dann dort nach der Eroberung die Plätze der Magistrate einzunehmen. Wenn man heute von den Franken von Tournai, Cambrai oder Köln spricht, so ist das freilich nur ein Hilfsmittel der modernen Forschung. Tatsächlich waren es nicht Städte, sondern Könige, um die sich zunächst deren Gefolgsleute, dann aber auch der ganze „exercitus“ scharten. Orientierungspunkt 11 Grundsätzlich wird die (äußerst umstrittene) Nennung der drei „civitates“ im Schreiben der Bischöfe der Provinz Aquileia an Kaiser Maurikios 591 als letzte Erwähnung dieser Bischofssitze angesehen; dazu Othmar Hageneder, Die kirchliche Organisation im Zentralalpenraum vom 6. bis zum 10. Jahrhundert. In: Frühmittelalterliche Ethnogenese im Alpenraum. Hrsg. von Helmut Beumann und Werner Schröder (Nationes 5). Sigmaringen 1985, 212–216; Berg, Bischöfe (wie Anm. 10), 82–84; Scheibelreiter, Christentum in Spätantike und Mittelalter (wie Anm. 10), 22. Der König verlässt die Stadt 645 war der Herr, nicht seine Residenz als geographischer Begriff! Die Franken erhielten sich ihre Auffassung, in einem Geflecht persönlicher Bindungen zu existieren, die nicht Gegenstand theoretischer Überlegungen waren, sondern in der sichtbaren, lebendigen menschlichen Gegenwart ihren bestimmenden Ausdruck fanden. Die Merowinger übernahmen die Sitze der Präfekten und Heermeister, sie setzten Grafen („comites“) als Statthalter in die „civitates“,12 auf die sich auch die Gaue („pagi“) bezogen, aber sie teilten das Reich zunächst nach den Windrichtungen, wie es ihren Prinzipien entsprach, und bestimmten danach ihre Hauptstädte. Damit ließen sie schon 511 ihre Auffassung von Herrschaft erkennen,13 wenn sie auch im übrigen pragmatischen Erwägungen folgten: Die von den Gallorömern getragene Verwaltung ließ keine Alternativen zu, solange die Könige von jenen abhingen und mit den administrativen Mechanismen eines großen Reichs nur unzureichend vertraut waren.14 Der Adel hingegen saß wie die gallorömischen Senatoren auf dem Land: Seine Aktionsräume schlossen sich um befestigte „villae“, von wo sie das Umland, aber auch die Gebiete zwischen den „civitates“ kontrollierten. Dies geschah in der Realität nicht selten, weil sich die „comites“ und „duces“ als königliche Amtsträger selbst überwiegend auf ihren ländlichen Besitzungen aufhielten.15 Je mehr Einflüsse aus der mittelmeerischen Welt ausblieben – diese hatten Gallien seit Caesar in immer neuen Wellen politisch, wirtschaftlich, sozial und auch mental geprägt –, desto eher setzten sich die grundlegenden Haltungen der neuen Führungsschicht gesellschaftlich durch. Und da zeigte sich, dass die Franken nicht in dem Maße akkulturiert waren wie Goten oder Burgunder. Die Könige verließen sich in vielem auf ihre gallorömischen Berater, Adelige dichteten lateinisch, aber im Grunde ihres Wesens blieben sie Barbaren. Deren Lebenssicht begann nun ihrerseits auf die romanisierte Reichsbevölkerung Einfluss zu üben: Das zeigte sich im rechtlichen Verständnis der Amtsträger16 und sollte sich allmählich auf einem gesellschaftlichen Sektor zeigen, der bisher das antik-römische Element am reinsten bewahrt hatte, der Kirche. Offiziell aber auch traditionell lebte diese „lege Romana“, ihre Vertreter jedoch stammten aus 12 13 14 15 16 Dazu Dietrich Claude, Untersuchungen zum frühfränkischen Comitat. In: Zeitschrift der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 81 (1964), 11–32 und Dietrich Claude, Art. comes. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 5 (1984), 66–68. Ausführlich behandelt bei Eugen Ewig, Die fränkischen Teilungen und Teilreiche (511–613). In: Eugen Ewig, Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952–1973). Hrsg. von Hartmut Atsma. Bd. 1 (Beihefte der Francia 3/1). München 1976, 114–128. Siehe dazu Georg Scheibelreiter, Der König und sein Ratgeber. In: La Noblesse romaine et les Chefs barbares du Ille au VIIe siècle. Hrsg. von Francoise Vallet et Michel Kazanski (Memoires publiées par l`Association d’Archéologie Mérovingienne 9). o. O. 1995, 35–37. Vgl. dazu Gregorii episcopi Turonensis libri historiarum X. Hrsg. von Bruno Krusch et Wilhelm Levison (MGH Scriptores rerum Merovingicarum 1. 1). Hannover 21951, VI 41. Dazu grundlegend Georg Scheibelreiter, Die barbarische Gesellschaft. Mentalitätsgeschichte der europäischen Achsenzeit 5. bis 8. Jahrhundert. Darmstadt 1999, 84–101. 646 Georg Scheibelreiter Familien, die herrschaftliche Grundbesitzer waren, Gefolgschaften anführten und bei Streitigkeiten oft selbst zur Waffe griffen. Am stärksten wirkte sich das im Gebiet zwischen Seine und Rhein aus, aber barbarische Wirklichkeit findet man auch bis in die Auvergne und ins Rhônetal. Zur kirchlichen Organisation gehörte wesentlich der „episcopus civitatis“.17 Dieser amtlichen Bindung an die Stadt war im säkularen Bereich um 600 nichts entgegenzusetzen. Reichsversammlungen fanden gegen Ende des 6. Jahrhunderts auch schon in königlichen Pfalzen statt, vereinzelt sogar kirchliche.18 Im 7. Jh. wird das häufiger. Im Hauptsiedlungsgebiet der Franken begannen die Könige nun vemehrt, Aufenthalt in „villae“ und „palatia“ zu nehmen. Die alten gallorömischen Stadtresidenzen hörten deswegen nicht auf, Verwaltungsmittelpunkte zu sein, doch verloren sie im Leben des Königs und der durch seine Gegenwart legitimierten Leute zweifellos an Bedeutung.19 Die Pfalzen waren meist in Gegenden, die Gelegenheit zur Jagd boten, doch verlegte der Herrscher auch seinen Hof und die Abwicklung der Staatsgeschäfte in das ländliche Ambiente vertrauter Umgebung. Damit erfolgte eine Absage an eine „imitatio imperii“, wie sie Chlodwig mit der Forcierung von Paris, das er zu einem fränkischen Konstantinopel ausbauen wollte,20 wahrscheinlich bezweckt hatte. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen der fränkischen Welt konnten ein solches Vorhaben nicht fördern, auch weil man das germanische Prinzip der Herrschaftsteilung nie außer acht ließ. So glich sich der König seinem Adel an. Viele der Königshöfe lagen nicht weit von den Residenzstädten entfernt, der Herrscher konnte jederzeit dorthin zurückkehren; er tat es aber immer seltener. Die Rurifizierung war im 7. Jahrhundert in vollem Gang. Man sah auch die Königsherrschaft nicht mehr mit den Augen des Städters, dessen Denken in imperialen Traditionen mit der Gegenwart barbarischer Könige wohl nie sehr vetraut geworden war. Viele neue Bewohner hingegen hatten nie gelernt, die Besonderheit und Einzigartigkeit städtischer Existenz in ihrem alltäglichen Leben umzusetzen. Mit anderen Worten: Sie bewohnten die Stadt wie ein Dorf, und nur die gelegentlichen Zeremonien, die 17 18 19 20 Vgl. Fabienne Cardot, L’espace et le pouvoir. Étude sur l’Austrasie mérovingienne (Université Paris I. Histoire ancienne et médiévale 17). Paris o. J., 155–163. So etwa die Synode von Berny-Rivière (Brinnacus), die 580 auf einer „villa“ König Chilperichs I. stattfand; Gregor (wie Anm. 15), V 49; dazu Martin Heinzelmann, Gregor von Tours (538–594) “Zehn Bücher Geschichte“. Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert. Darmstadt 1994, 45–47 und die nur nebenher von Gregor (wie Anm. 15), IX 37 zu 589 erwähnte Synode in Sorcy (Sauriciacus), wohl in der Umgebung von Soissons gelegen, die Childebert II. zusammentreten hieß; zu beiden Odette Pontal, Die Synoden im Merowingerreich (Konziliengeschichte A). Paderborn 1986, 148–149 . Siehe Eugen Ewig, Descriptio Franciae. In: Eugen Ewig, Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952–1973). Hrsg. von Hartmut Atsma. Bd. 1 (Beihefte der Francia 3/1) München 1976, 278–288 und Eugen Ewig, Résidence et Capitale pendant le Moyen Age. In: Ebenda, 384–389 Ewig, Résidence (wie Anm. 19), 388-389 und Karl Hauck, Von einer spätantiken Randkultur zum karolingischen Europa. In: Frühmitelalterliche Studien 1 (1967), 34–39. Der König verlässt die Stadt 647 mit dem Einzug des Bischofs oder gar des Königs zusammenhingen, erinnerten noch an die Stadt als glanzvollen Hintergrund triumphalen Geschehens.21 Die Geschichtsschreiber geben uns wichtige Hinweise auf diesen Wandel. Um 600 besteht im offiziellen Leben der Merowinger noch ein Übergewicht städtischer Präsenz. Im Jahre 596 losen Theudebert II. und Theuderich II. nach fränkischer Tradition um die Herrschaft: dem älteren wird Auster mit der Residenz Metz zuteil, dem jüngeren das Reich seines Großonkels Gunthramn in Burgundia mit der Hauptstadt Orléans.22 Die Teilreiche sind noch mit einer bestimmten „civitas“ verbunden, was umso deutlicher wird als der Hauptaufenthalt des Königs im Süden längst Chalon-sur-Saône war. Für die Fixierung der Herrschaft ist die Abhängigkeit von Städten unbedingt notwendig. Das beweist noch im selben Jahr Chlothar II., als er zusammen mit seiner Mutter Fredegund überfallsartig Paris „vel reliquas civitates“ besetzt. Der Besitz von Städten macht Herrschaft für deren Einwohner erfahrbar, für weitere Kreise aber überhaupt erst sichtbar. Denn schon äußerlich als befestigte, aus der Landschaft hervorgehobene, kompakte Siedlungseinheiten waren sie das sinnvollste Ziel eines bewaffneten Angriffs. Auf dem flachen Land mit seinen verstreuten Siedlungen konnte man zwar heeren und plündern, doch kam ein kriegerisches Unternehmen nie zu einem eigentlichen Abschluss und lief sich bald tot. Im Jahre 600 vertrieben die königlichen Brüder ihren Oheim Chlothar II. wieder aus dem Pariser Raum. Im folgenden Frieden ist nach Fredegar nur mehr von „pars“, „ducatus“ und von „pagi“ die Rede. Deren zwölf verblieben dem unterlegenen König, wobei städtische Zentren allerdings nicht genannt werden.23 Es genügten sichtlich die Angaben der ungefähren Herrschaftsgrenzen. Dieses Nebeneinander von Stadt und Landschaft (im Sinne von beherrschtem Gebiet) ist bei der Lokalisierung des politisch-militärischen Geschehens noch für das erste Jahrzehnt des 7. Jahrhunderts typisch. Der Hausmeier Bertoald zieht 604 aus, um „per pagus (!) et civitates“ Steuern einzutreiben, von einem neustrischen Heer verfolgt rettet er sich mit seinen Begleitern nach Orléans.24 Die Szene, in der er von den Zinnen der Stadtmauer aus mit seinen Feinden spricht, verdeutlicht die immer noch unleugbaren Vorteile der Stadt: Sie schützt wie es die befestigten Pfalzen und Höfe nicht in diesem Maße könnten! 21 22 23 24 Ein gutes Bild gibt Gregor (wie Anm. 15), VIII 1 und 2, wo er König Gunthramns Einzug in Orléans 585 beschreibt; dazu Heinzelmann, Gregor von Tours (wie Anm.18), 57–59. Chronicarum quae dicuntur Fredegarii Scholastici libri IV. Hrsg. von Bruno Krusch (MGH Scriptores rerum Merovingaricum 2). Hannover 1888 (Nachdr. 1984), 16 und 17. Metz und Orléans werden ausdrücklich „sedes“ genannt. Fred., Chron IV. (wie Anm. 22), 20: Es handelte sich wohl um die Gebiete von Beauvais, Amiens und Rouen. Die „pagi“ wurden von Seine, Oise und dem Meer begrenzt. Siehe auch Ewig, Fränkische Teilungen (wie Anm. 13), 148–149. Fred., Chron IV. (wie Anm. 22), 24 und 25. 648 Georg Scheibelreiter In Fällen, die eine größere Öffentlichkeit erfordern, besinnt man sich der Möglichkeiten der Stadt. Die zentralörtliche Funktion ist in einem Land bedeutender Städtetradition also noch immer gegeben. Obwohl in den „civitates“ Reichsversammlungen und Herrschereinzüge weiterhin stattfanden, kirchliche und auch weltliche Administration dort ihren Platz hatten, waren das nicht die Gründe, sie hervorzuheben. Die Nennung einer Stadt war mit einem Vorstellungskomplex verbunden, den einzelne „villae“ und Pfalzen beim Leser historiographischer Werke nicht auszulösen vermochten. Das Verständnis für den ländlichen Raum mit seinen Naturgegebenheiten und den kleinen, austauschbar scheinenden, wenig charakteristischen Siedlungen war noch lange nicht vorhanden. Legte man größere Strecken zurück, so boten die Städte die wesentliche Orientierungshilfe. Dies geht soweit, dass man wichtige Städte herausgreift, ohne sich immer um eine sinnvolle Richtung zu bemühen. Theudebert II. flieht nach verlorener Schlacht von Zülpich 612 über Metz und die Vogesen nach Köln. Der verzweifelte Versuch, seinem siegreichen Bruder zu entkommen, wird durch die Aufzählung der recht weit auseinanderliegenden Etappen erkennbar.25 Das gilt ebenso wie die Tatsache, dass man militärische Erfolge erst am Gewinn von Städten verständlich machen kann: So erklärt Fredegar die gelungene Offensive des Westgotenkönigs Sisebut gegen die Byzantiner bildhaft, indem er darauf hinweist, dieser habe den Gegnern „plures civitates“ entrissen und sie dann „usque fundamentum destruxit“.26 Die Praxis der Herrschaft sah jedoch zunehmend städtefern aus. Treffen von Königen und Königinnen werden oft schon außerhalb der „civitates“ abgehalten. Die Brüder Theudebert II. und Theuderich II. kommen 609 (oder 610) in dem kleinen befestigten Seltz (Saloissa castrum) zusammen, um die Franken darüber entscheiden zu lassen, wer von ihnen das Elsaß beherrschen soll. Theuderich, der von seinem hinterlistigen Bruder um das Land betrogen wird, verliert auch die Herrschaft über das Saintois, den Thurgau und die Champagne. Diese Gebiete werden nicht nach ihrer wichtigsten Stadt benannt, ja nicht einmal mit dem „pagus“-Begriff zusammengebracht, sondern verkörpern sich als sicht- und verstehbar in ihren waffenfähigen Bewohnern. Das ist nicht nur ein germanisches Element, das in den Vordergrund tritt, um Herrschaft zu verdeutlichen, sondern zugleich ein Abgehen von der Fixierung auf Städte als Mittel des geographischen Überblicks. Schon früher wollten Brunhild und Bilihild, die Frau Theudeberts II., „inter Colerinse et Sointense“ einander treffen, um zwischen den stets latent feindlichen Brüdern zu vermitteln. Obwohl es sich hier wohl eher um ein informelles Zusammenkommen der beiden Königinnen gehandelt hätte – 25 26 Fred., Chron. IV. (wie Anm. 22), 38. Die Vogesen sind als die Teilreiche begrenzendes Waldgebiet selbstverständlich ebenfalls ein Begriff. Fred., Chron. IV. (wie Anm. 22), 33. Der König verlässt die Stadt 649 es kam nicht zustande –, spricht der Geschichtsschreiber in beiden Fällen von einem „placetus“ (= placitum). Es sollten Rechtsentscheidungen getroffen werden, bei denen Große und Gefolgschaft, bei den Frauen vielleicht auch Leute des jeweiligen Hofes, ein wichtiges Mitspracherecht gehabt hätten. Für diese Art der politischen Rechtsfindung war die Stadt kein geeigneter Aktionsraum. Bis zur Mitte des 7. Jahrhunderts werden nun aber die Pfalzen, die ländlichen Höfe immer häufiger Aufenthaltsort der fränkischen Könige und Fixpunkte von deren alltäglicher Herrschaftsübung. Das heißt, auch die königliche Verwaltung wurde dorthin verlegt, während größere Versammlungen schon länger im Pfalzbereich stattfanden. Marlenheim (Marolegia) im Elsaß war schon unter Childebert II. (575–596) einer der wichtigsten Orte Austrasiens in dieser Hinsicht. Chlothar II. knüpfte an diese Tradition an, als er das östliche Teilreich 613 übernommen hatte und hielt in Marlenheim einen Gerichtstag ab. Im nördlichsten Burgund errang Mâlay-le-Petit (Maslacum) eine führende Stellung als Schauplatz von Regierungsakten aller Art.27 616 suchten die Großen Burgunds unter der Führung des Hausmeiers Warnachar den König in Bonneuil-sur-Marne (Bonogillum) auf. Beide Orte werden in den Quellen als „villae“ bezeichnet, lagen nicht in unmittelbarer Nähe königlicher „civitates“ und gehörten wohl nicht zu den größeren Pfalzen. Dennoch eigneten sie sich zur Abhaltung bedeutender politischer Versammlungen. Das öffentliche Leben konzentrierte sich unter Chlothar II. zunehmend auf ländliche Pfalzen, in denen sich der Hof des Königs befand. Eine Steigerung erlebte diese Rurifizierung sichtlich unter Dagobert I. In Reuilly (Romiliacum) nahm er Gomatrud zur Frau, in derselben „villa“ verstieß er sie auch wieder und heiratete die tüchtige Nanthild. In Épinay an der Seine (Spinogelum) erkrankte der König auf den Tod, bevor er in die Kirche von St. Denis gebracht wurde. In Mâlay-le-Petit wurde sein Sohn Chlodwig II. von Neustriern und Burgundern auf den Thron erhoben. Dieser teilte in Compiègne (Conpendium) den väterlichen Schatz mit seinem Halbbruder Sigibert III.28 Alle anderen Plätze übertraf jedoch Clichy (Clipiacum), das um 636/637 zu einem Mittelpunkt der Herrschaft Dagoberts avancierte. Dort empfing er andere Machthaber, Gesandte und Heerführer, führte Verhandlungen und beurteilte die Leistungen seiner „duces“. Eine besondere Bedeutung hatte die Pfalz schon unter Chlothar II., der in Clichy 627 ein großes Konzil und eine Reichsversammlung abhalten ließ. Die Pfalz sollte bis zum Ende des 7. Jahrhunderts eine wichtige Residenz der merowingischen Könige, aber auch ein Zentrum der politischen Tätigkeit der Hausmeier bleiben. 27 28 Bei Ewig, Descriptio (wie Anm. 19), 292 Anm. 55 wird Maslacum als Mâlay-le-Roi bezeichnet, bei Kusternig in der Edition Fredegars (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters IV a), 204 Anm. 41 als Mâlay-le-Grand. Ich halte mich an die Identifikation bei Kölzer in der Neuausgabe der Merowinger-Diplome. Fred., Chron. IV. (wie Anm. 22), 58; 78; 79; 85. 650 Georg Scheibelreiter Die meisten dieser Königshöfe lagen im Einzugsgebiet von Paris, jener Stadt, der schon Chlodwig I. sein Interesse zugewandt hatte, die im Zeitalter der Teilungen ideeller Mittelpunkt des fränkischen Reichs geblieben war, aber praktisch mit dem Königtum wenig zu tun hatte. Nicht nur Clichy und Reuilly lagen in unmittelbarer Umgebung der Stadt, auch Mâlay-le-Petit und Épinay waren nicht fern. Doch Paris selbst wird in den Quellen im Zusammenhang mit königlichen Aktionen nicht genannt. Eine Position als faktische Residenz kam ihr nicht wirklich zu. Anders stand es weiterhin im Falle der Notwendigkeit, eine allgemeine, möglichst große Öffentlichkeit zu erreichen: Dabei waren die Städte als bevölkerungsreichste Siedlungen unerlässlich, ihr Besuch für den König unumgänglich, gerade da an dem germanischen Stil der Herrschaft festgehalten wurde. Als Dagobert 629/630 vom burgundischen Teilreich Besitz ergriff, werden die Stationen seines Umritts genau genannt: Langres – Dijon – St-Jeande-Losne – Chalon – Autun – Auxerre – Sens –Paris. Es waren dies fast lauter „civitates“ und Bischofssitze.29 Dazu kommt aber auch die Tatsache, dass die Merowinger außer in den nördlichsten Gebieten, an der Grenze zu Neustrien, in Burgund sichtlich über keine Pfalzen verfügten. In jenen Jahrzehnten findet der Übergang zum mittelalterlichen Siedlungswesen statt; noch gibt es ein Nebeneinander von städtischer Landesstruktur und der Unsicherheit eines nur nach Flüssen oder Gebirgszügen ungefähr gegliederten Lebensbereichs von Menschen. Als Dagobert I. seinem Halbbruder Charibert II. ein Herrschaftsgebiet zwischen der Loire und den Pyrenäen anwies, werden zunächst die Gaue mit ihren dominanten „civitates“ genannt, zuletzt aber summarisch vom „Land gegen die Pyrenäen zu“ gesprochen.30 Der gebirgige Süden und dessen Vorland sind nicht mehr städtisch strukturiert, was aber schon einem antiken Zustand entsprechen dürfte, der höchstens in den völkerwanderungszeitlichen Epochen erweitert wurde. Im Osten des Reichs heißt es dagegen von den Völkern, die Sigibert III. 641 aufbietet, „gentes undique de universis regni sui pagus(!) ultra Renum“. Hier wird in den Worten das Massenhafte, Undifferenzierte der Barbaren ausgedrückt, die aus allen Gauen jenseits des Rheins zusammenströmen, denen man aber keine geordnete Herkunft nachsagen kann, weil es in ihren Gebieten keine Städte gibt! 29 30 Fred., Chron. IV. (wie Anm. 22), 58. Dijon, das keine antike Vergangenheit hatte, sich aber gegen das alte Langres durchsetzen sollte und St-Jean-de-Losne, ein wichtiger Grenzort und später wiederholt bevorzugter Platz für Verhandlungen mit fremden Herrschern, zählten nicht zu den kirchlichen Zentren des fränkischen Reichs, obwohl dort 673 oder 675 eine Synode abgehalten wurde; dazu Pontal, Synoden (wie Anm. 18), 198–200. Fred., Chron. IV. (wie Anm. 22), 57: „… pagum Tholosanum, Cathoricum, Agenninsem, Petrocorecum et Santonecum, vel quod ab his versus montis (!) Pereneos excludetur.“ Eugen Ewig, Die fränkischen Teilreiche im 7. Jahrhundert (613–714). In: Eugen Ewig, Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952–1973). Hrsg. von Hartmut Atsma. Bd. 1 (Beihefte der Francia 3/1). München 1976, 197–198 spricht von einem „Markenkönigtum“ Chariberts. Der König verlässt die Stadt 651 Im letzten Jahrhundert des merowingischen Reiches (640–740) tritt der Bedeutungsgegensatz zwischen Stadt und Pfalz stark hervor. Während das zur Orientierung dienende Raumgefüge immer noch weitgehend von den Städten bestimmt wird, ist die Ausübung der Herrschaft fast ganz an die Königshöfe gebunden. Die Verfügung über deren Ressourcen und die Ausnutzung der auf den Pfalzen vorhandenen administrativ-politischen Möglichkeiten erlaubten den Hausmeiern bestimmend zu wirken. In der sogenannten arnulfingisch-pippinidischen Sukzessionskrise,31 dem Jahrzehnt der allmählichen Durchsetzung Karl Martells, kann man als zentrale Punkte der Auseinandersetzungen die Städte Orléans – Paris – Köln nennen.32 Diese drei „civitates“ bilden die Struktur des politischen und militärischen Aktionsraums und charakterisieren ihn besser als landschaftliche oder herrschaftliche Angaben, denen immer etwas Ungefähres anhaftet. In den Schutz solcher Städte zog man sich weiterhin zurück, wenn man nach verlorener Schlacht floh. So verschlug es den Hausmeier Raganfred 717 nach Angers, wo ihn Karl Martell belagerte. 680 fühlte sich der „dux“ Martin vor den Anschlägen des Hausmeiers Ebroin in dem schon durch seine natürliche Lage imposanten Laon sicher. Dieser lagerte nicht etwa vor den Mauern der kaum zu bezwingenden Stadt, sondern wartete in der „villa“ Ecry (Erchrego).33 Dies entsprach dem herrscherlichen Stil des Maiordomus, dem freilich praktische Erwägungen zugrunde lagen. In dieser Pfalz konnte Ebroin ein königgleiches Lebens führen: Die wirtschaftlichen Grundlagen waren dort ebenso gegeben wie ein höfisches Ambiente und Möglichkeiten zu Regierung und Repräsentation. „Villae“ sind nun immer häufiger als Aufenthaltsorte auch des Adels und der hohen Geistlichkeit nachzuweisen. Bischof Praeiectus von Clermont wird 676 auf seinem ländlichen Besitz Volvic (Vulvicus) erschlagen, Bischof Landbert von Maastricht 705 in der „villa“ Lüttich (Leodium) von seinen Feinden zu Tode gebracht.34 Volvic diente Praeiectus wohl als spätantikes Tuskulum, während Lüttich eine Funktion im räumlichen Machtgeflecht des Maastrichter Bischofs erfüllte und seiner Sippe als entsprechender Stützpunkt diente. Noch deutlicher wird diese Stellung adeliger Pfalzen bei Pippin II. Der Hausmeier lag 714 in 31 32 33 34 Der Begriff geht zurück auf Joseph Semmler, Zur pippinidisch-karolingischen Sukzessionskrise 714–723. In: Deutsches Archiv 33 (1977), 1–36. Liber Historiae Francorum. Hrsg. von Bruno Krusch (MGH Scriptores rerum Merovingicarum 2). Hannover 1888 (Nachdr. 1984), c. 52 und 53 und Chronicarum quae dicuntur Fredegarii libri IV Continuationes. Hrsg. von Bruno Krusch, ebenda, c. 10 und 11. LHF(wie Anm. 32), c. 46 und Fred., Chron. Cont. (wie Anm. 32), c. 3. Zur Tötung des Praeiectus Georg Scheibelreiter, Die Verfälschung der Wirklichkeit. Hagiographie und Historizität. In: Fälschungen im Mittelalter (MGH Schriften 33/5). Hannover 1988, 316; zu Landberts Ermordung ausführlich Georg Scheibelreiter, Der Tod Landberts von Maastricht. In: Bischofsmord im Mittelalter – Murder of Bishop. Hrsg. von Natalie Fryde und Dirk Reitz (Veröffentlichungen des Max-Plank-Instituts für Geschichte 191). Göttingen 2003, 75–80. 652 Georg Scheibelreiter Jupille (Iobvilla) krank darnieder: Dieser Hof wird in seinem Itinerar wiederholt genannt und war ein zentraler Ort für die Durchsetzung arnulfingischer Macht im Maas/Mosel-Raum. Sonst aber nutzten die Hausmeier selbstverständlich die königlichen Pfalzen. Leudesius floh 675 in die „villa“ Bacivus (Baizieux), in der sich (zumindest wesentliche) Teile des Horts König Childerichs II. befanden. Sein Verfolger Ebroin erreichte ebenfalls die Pfalz, raffte den noch vorhandenen Schatz an sich und begab sich von dort in eine andere Königspfalz, Crécy-en-Ponthieu (Criscecum), wo er ein „placitum“ abzuhalten gedachte.35 In diesen Auseinandersetzungen werden nun die Königshöfe als Zielpunkte politischer Aktionen deutlich, während die Städte diesbezüglich zurücktreten. Das wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass König Childebert III., der 711 in seiner Pfalz Choisy (Cauciaecum) verschied, auch in der dortigen Kirche begraben wird! Die Beziehung der Merowinger zu den alten „sedes regiae“ ist bereits verloren gegangen. Chilperich II. stirbt 721 in Noyon und wird dort gleich bestattet: Noyon ist zwar eine „civitas“, doch hat sie mit der Königsherrschaft nichts zu tun. Auch die Hausmeier agieren nun im wesentlichen „vom Land aus“ und rücken in die königlichen Pfalzen ein, die sie als Knotenpunkte im Netz ihrer persönlichen Beziehungen sehen. Die Veränderung der Herrschaftsstruktur spiegelt sich am deutlichsten in der Datierung der erhaltenen echten Merowinger-Urkunden. Die dort verzeichneten Ausstellungsorte zeigen Leben und Wirken von Königen und Hofbeamten in wechselnden ländlichen Pfalzen. Das Element der notwendigerweise immer sichtbaren Herrschaft, die deshalb nicht an einen ständigen Ort gebunden sein kann, hatte sich durchgesetzt und sollte bis ins 12. Jahrhundert europaweit maßgeblich bleiben. Die festen Residenzen der fränkischen Könige, die seit der Reichsteilung von 511 genannt werden, waren zunächst eine vernünftige Anpassung an die Reste einer vorgefundenen imperialen Herrschaftsstruktur. Ruhig darin gewohnt hatten die Könige jedoch nie; am ehesten vielleicht noch Gunthramn (561–593), der für Chalon-sur-Saône (nicht für die eigentliche „sedes regia“ Orléans) eine besondere Vorliebe entwickelte und im südlichen Teilreich der dominanten gallorömischen Bevölkerung und deren Vorstellungen von Königsherrschaft damit durchaus entsprach. Die Durchsetzung der neustrischen Königssippe im Jahre 613, die aus dem stark fränkisch besiedelten nordwestlichen Teilreich kam und den Verlust der Urbanisierung kennengelernt hatte, brachte eine Forcierung der Pfalzen als wechselnde Königssitze. Die barbarische Auffassung von Herrschaftsrepräsentation, die nichts anderes als Sichtbarmachung des Herrschaftsträgers bedeutete, die auf ein Dasein in kleineren Siedlungseinheiten und auf eine überschaubare Machtkonzentration zielte, verän- 35 LHF (wie Anm. 32), c. 45; Fred., Chron. Cont. (wie Anm. 32), c. 2. Der König verlässt die Stadt 653 derte auch das Verständnis vom Königtum und die Wirklichkeit der Beherrschten. In der Stadt blieb offiziell der Bischof, gebunden an seine Kathedra, aber im alltäglichen Leben mehr am weltlichen Adel und dessen Gewohnheiten orientiert, zu denen auch eine grundherrlich bestimmte Existenz gehörte. So wurden die Franken, Burgunder und Gallorömer des 7. und 8. Jahrhunderts von ländlichen Pfalzen aus beherrscht. Dass diese nicht wenige waren, erklärte sich aus dem wandernden Königtum. Zum Hauptort königlicher und hausmeierlicher Präsenz entwickelte sich seit den siebziger Jahren Compiègne (Conpendium), das bis ca. 700 in den Herrscherurkunden am häufigsten als Ort der Ausstellung überliefert ist.36 Auch im zweiten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts scheint diese Pfalz zeitweilig ein von den Merowingern (und den tatsächlich regierenden Hausmeiern) bevorzugter Aufenthalt gewesen zu sein. Noch unter Karl dem Kahlen war sie beliebt und bis zur endgültigen Durchsetzung von Paris als kapetingischer Hauptstadt im 12. Jahrhundert wichtig. Nach Compiègne ist gleich Montmacq (Mamaccas) zu erwähnen und zwar in einer Periode, in der die „Lieblingspfalz“ nicht als Beurkundungsort erscheint.37 Zwischen 709 und 712 ist dort mit einer wiederholten königlichen Anwesenheit zu rechnen. Im Gegensatz zu Compiègne verschwindet Montmacq allerdings seit Karl Martell aus dem herrscherlichen Itinerar. Weitere fünf Orte sind mindestens dreimal als temporäre Residenzen der Merowinger ausgewiesen: Étrépagny (Stirpiniacum), das wahrscheinlich schon im 6. Jahrhundert und dann bis in die zweite Hälfte des 7. Jahrhunderts aufgesucht wurde.38 Dazu zählt auch Clichy (Clipiacum), eine der wenigen Pfalzen, die auch in historiographischen und rechtlichen Quellen häufig als Ort bedeutender Veranstaltungen genannt wird.39 Der alte Chlothar II., noch mehr aber sein Sohn Dagobert scheinen eine Vorliebe für diesen Königshof gehabt zu haben. Er ist sicher weit öfter aufgesucht worden als sich aus den Urkunden ergibt, was nahelegt, die Nennungen in den merowingischen Diplomata nicht absolut zu setzen. Dennoch überrascht es, dass keine spätere Nennung als 654 für Clichy gesichert ist. Nogent-sur-Marne (Novientum, Novigintum) bedeutete in den neunziger Jahren des 7. Jahrhunderts eine gewisse Konkurrenz zu Compiègne,40 wird auch in späteren Jahrhunderten von den Königen gelegentlich besucht, ohne wirklich als Königsstadt gelten zu können. Dasselbe gilt für Valenciennes (Valencianis, Valentianas), das etwa zeitgleich wie Nogent als königliche Pfalz 36 37 38 39 40 Die Urkunden der Merowinger. 2 Bde. Hrsg. von Theo Kölzer (MGH Diplomata). Hannover 2001, 118 (677), 128 (685), 131 (690), 140 (693), 142 (694), 143 (694), 149 (697), 150 (697), 166 (716), 167–171 (716), 173 (717), 175 (717), 190 (743). DD Merov. (wie Anm. 36),156–159 (709/710), 160 (711/715), 163 (712/713), 164 (712). DD Merov. (wie Anm. 36), 22 (584/628), 28 (625), 96 (661). DD Merov. (wie Anm. 36), 41 (632/633), 50 (636), 85 (654). DD Merov. (wie Anm. 36), 137–138 (693), 147 (696). 654 Georg Scheibelreiter belegt ist und die gleiche Bedeutung gehabt haben dürfte.41 Allerdings ist in diesem Falle die relative Nähe zu Paris nicht gegeben. Als letzte Pfalz dieser Gruppe ist Quierzy (Carriciacum) zu erwähnen.42 Ein Aufenthalt des Königs ist hier nicht vor 700 bezeugt und alles in allem hatte Quierzy seine große Zeit noch vor sich: Als karolingischer Königshof sollte es zum Schauplatz weltgeschichtlicher Ereignisse werden.43 Nur zweimal genannt werden in dem erhaltenen Urkundenmaterial Chaton oder Châtenay (Captiniacum), das in einem zeitlichen Abstand von fast hundert Jahren erscheint.44 Was man daraus schließen soll, ist fraglich. Der Ort, dessen heutige Lage umstritten ist, gehört damit zu den frühest nachgewiesenen Pfalzen der Merowinger, seine Bedeutung dürfte aber beschränkt gewesen sein. Das kann man für Mâlay-le-Petit (Maslacum) nicht behaupten. Es erscheint zwar nur zweimal als Ausstellungsort einer Königsurkunde, die noch dazu auf einen einzigen Aufenthalt des Herrschers und seines Hausmeiers Ebroin hindeuten,45 doch ist der Ort bei den Geschichtsschreibern als Königshof überliefert. 615 war Mâlay-le-Petit Schauplatz großer Reichsversammlungen. Noch weniger als bei Clichy sind die urkundlichen Bezeugungen als Ausweis der Bedeutung dieser Pfalz zu werten. Doch scheint ihre Beliebtheit mit dem Tod Ebroins 680 vorüber gewesen zu sein. Schließlich ist noch auf Luzarches (Lusar-e-ca) zu verweisen, dessen Nennungen isoliert bleiben.46 Nur einmal finden sich sechs Ausstellungsorte in Urkunden der Merowinger genannt, wobei zwei nicht als ländliche Pfalzen zu bezeichnen sind: Maastricht (Traiectum), das in keinem sonst sichtbaren Zusammenhang mit den Merowingern stand,47 jedoch im Machtbereich anderer Sippen lag. Hier war ein Schwerpunkt der Familien, zu denen Bischof Landbert (675–682–705) zählte, aber auch die Arnulfinger hatten in dem Gebiet Einfluss. Ganz anderes gilt für Soissons (Suessionis), das die „sedes regia“ des Herrschers im nördlichen Teilreich darstellte und zumindest im 6. Jahrhundert in dieser Hinsicht Bedeutung hatte. Sie ging zurück, als Chlothar II. das Reich einte, nun musste Soissons Paris oder Rouen den Vortritt lassen. Dass die alte Königsstadt im 7. Jahrhundert in den Diplomen allerdings gar nicht aufscheint, kann keinesfalls die Realität ihrer Geltung wiedergeben. Ihre Nennung zur Zeit des Hausmeiers Karl Martell48 be- 41 42 43 44 45 46 47 48 DD Merov. (wie Anm. 36), 141 (694), 151–152 (698). DD Merov. (wie Anm. 36), 153 (702), 182 (722), 184 (722). In Quierzy starb 741 Martell, 754 erfolgte dort in Gegenwart Papst Stephans II. die sog. „Pippinsche Schenkung“ („promissio“); dazu Bernd Schneidmüller, Art. Quierzy. In: Lexikon des Mittelalters 7 (1995), Sp. 367–368. DD Merov. (wie Anm. 36), 25 (596), 135 (692). DD Merov. (wie Anm. 36), 121–122 (679). DD Merov. (wie Anm. 36), 126 (682), 136 (692/693). D Merov. (wie Anm. 36), 108 (670). D Merov. (wie Anm. 36), 179 (721). Der König verlässt die Stadt 655 weist, dass die alten „civitates“ jedenfalls noch aufgesucht wurden. Doch ihre Wertigkeit ging über die einer der üblichen Pfalzen nicht hinaus. Als solche ist Namur (Namuchum) anzusehen, dass von seiner späteren Bedeutung noch weit entfernt scheint.49 Vom austrasischen Herrscher Sigibert III. (633–656) ist ein Aufenthalt in Bendorf oder Bodendorf (Bodouilla) in der Rheinpfalz überliefert: Er hielt dort sogar ein „placitum“ ab.50 Daraus ist zu schließen, dass Rechtsakte vom König auch auf bescheidenen Höfen durchgeführt wurden, obwohl es sich nicht immer um richtige Herrschaftsmittelpunkte handelte. Anders als das sonst unbekannte Bodouilla rechnen Crécy-en-Ponthieu (Crisciaecum) und Ponthion (Pontegunis) zu den Pfalzen, die als solche bevorzugt aufgesucht wurden. Dass beide nur einmal als Orte der Beurkundung aufscheinen, dürfte dem Zufall der Überlieferung zu verdanken sein.51 In Crécy war schon 675 ein Stützpunkt des Hausmeiers Ebroin, während Ponthion seine Blüte als Königspfalz erst unter Pippin III. und Karl dem Großen erlebte.52 Eine bedeutende merowingische Tradition hatte es wohl nicht. Es wird erst 726 genannt , was hier ausnahmsweise die Wirklichkeit spiegeln dürfte, der im 8. Jahrhundert ein gewisser Glanz beschieden sein sollte. Lässt man die Pfalzen, die bei den Geschichtsschreibern und in den Königsurkunden genannt werden, Revue passieren, so ist ein klares Übergewicht des neustrischen Raums festzustellen. In Burgund fehlen sie – von bedeutenden Ausnahmen wie Mâlay-le-Petit abgesehen – fast ganz, in Austrasien haben die wenigen, die nachzuweisen sind, ephemeren, zufällig wirkenden Charakter, sieht man von dem aufsteigenden Ponthion ab. Neustrien hingegen verfügte über Königshöfe, die sich zu echten Residenzen entwickelten, wenn auch nicht mehr im Sinne der alten aus der imperialen Zeit übernommenen „sedes regiae“. Das Gebiet zwischen Seine und Rhein war nicht arm an Römerstädten, wenn es auch keinen Vergleich mit dem südlichen Gallien aushalten konnte. Aber es war am dichtesten von Franken besiedelt. Also musste die Abkehr des Königs von der „civitas“, die auch dem Adel als Orientierung diente, am deutlichsten sichtbar werden. Das Traditionelle, Institutionelle, kurz das Alt-Gefügte, blieb in der Stadt, selbst in der Periode von deren Niedergang. So überdauerte dort die kirchliche Organisation, die zwar im einzelnen verwilderte, aber niemals zusammenbrach. Was der Stadt jedoch zusehends mangelte, war eine ihren topographischen und sozialen Voraussetzungen entsprechende Gesellschaft. Die maßgebliche Schicht der adeligen Grundherren huldigte einem Lebensstil, der dem Dasein auf Pfalzen und Höfen den Vorzug gab. Es war dies ein kriegerischer-jagdlicher Stil, 49 50 51 52 D Merov. (wie Anm. 36), 139 (693). D Merov. (wie Anm. 36), 79 (642/643). DD Merov. (wie Anm. 36), 155 (709, Crécy) und 187 (726, Ponthion). Besonders unter Pippin III. war Ponthion eine wichtige Pfalz; hier traf der neue König 754 mit Papst Stephan II. zusammen. 656 Georg Scheibelreiter gleichsam ein Miteinander und Gegeneinander der Bewegung auf freien, großen Flächen und in Wäldern, kein städtisches Wetteifern und Konkurrieren, das eine Agora oder ein Forum benötigte und auf Rhetorik und argumentativer Überzeugung aufgebaut war. Agonal sein hieß jetzt reiten, reizen, rächen und sich an des Herrn Hof bewähren.