Wirtschaftspolitik Die Wirtschaftspolitik der EU ist die notwendige Ergänzung zu zentralen Integrationsprojekten der Union: Binnenmarkt und Währungsunion. Hinzu kommen ökonomische Effizienzziele, die den Wettbewerbsprozessen zugeschrieben werden (Steuerungs-, Verteilungs- und Antriebsfunktion des Wettbewerbs). Grundlage für die Wirtschafts- und Währungspolitik bildet primärrechtlich im Lissabon-Vertrag Titel VIII mit den Art. 119 bis Art. 144 AEUV, davon für die Wirtschaftspolitik die Art. 120 bis 126 AEUV, die schwerpunktmäßig prozesspolitisch ausgerichtet ist. Ausgehend von ihrem traditionellen wirtschaftlichen Integrationsprozess hat die Union weitere Zuständigkeitsbereiche mit wirtschaftspolitischen Bezügen, die jedoch einen anderen Zuständigkeitsgrad haben. Darunter fallen Bereiche mit ausschließlicher Zuständigkeit wie Zollunion, Wettbewerbsregeln im Binnenmarkt, Währungspolitik für EuroLänder, Handelspolitik (Art. 3 AEUV). Aus dem Bereich der geteilten Zuständigkeit sind insb. Binnenmarkt, Sozialpolitik, wirtschaftlicher Zusammenhalt und Landwirtschaft anzuführen (Art. 4 AEUV). Entsprechend Art. 5 AEUV verbleibt die Wirtschaftspolitik im Bereich der Koordinierung, jedoch mit der Einschränkung, dass für die Währungsunion bzw. für die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, besondere Regelungen gelten. I. Wirtschaftspolitische Koordination „Die Mitgliedsstaaten koordinieren ihre Wirtschaftspolitik innerhalb der Union. Zu diesem Zweck erlässt der Rat Maßnahmen: insbesondere beschließt er die Grundzüge dieser Politik.“ Mit dieser primärrechtlichen Festlegung in Art. 5 Abs. 1 AEUV (iVm Art. 3 EUV) normieren die Verträge die Einführung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer engen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten gründet. Die in Art. 5 AEUV vorgegebene Handlungsform der Union entspricht der offenen Methode der Koordinierung (OMK), die neben der Unionszuständigkeit und der geteilten Zuständigkeit tritt. Die Mitgliedsstaaten betrachten ihre Wirtschaftspolitik „als eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“ (Art. 121 Abs. 1 AEUV) und richten sie so aus, dass vor allem folgende Unionsziele gefördert werden: Wirtschafts- und Währungsunion (deren Währung der Euro ist), dauerhafte Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, Binnenmarkt, Grundsatz der freien Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb, nachhaltige Entwicklung (Wirtschaftswachstum, Preisstabilität, wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialer Fortschritt, Umweltschutz, Technologiefortschritt, Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten). Ausgenommen von der OMK ist die Währungsunion, da für die Mitgliedsstaaten, deren Währung der Euro ist, besondere wirtschaftspolitische Regelungen gelten (Art. 5 Abs. 2 AEUV). Damit folgt die Union der Erkenntnis, dass mit zunehmender Integration es unabdingbar ist, die wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Union zu vertiefen. II. Ordnungs- und Prozesspolitik Die Integration der Märkte bedingt eine Integration der Wirtschaftspolitik. Allgemeine Ansatzpunkte sind die Ordnungs- und Prozesspolitik. 1. Ordnungspolitik Der Staat gestaltet den Rahmen des wirtschaftlichen Handelns (Wirtschaftsordnung, Währungsordnung und Sozialordnung); er greift indirekt in die Wirtschaft ein. Art. 119 Abs. 1 AEUV bildet die Grundlage für die Durchführung einer Wirtschaftspolitik, die auf einer en- gen Koordinierung der Wirtschaftspolitik der EU-Staaten, dem Binnenmarkt und der Festlegung gemeinsamer Ziele beruht. Ordnungspolitisch sind die Mitgliedstaaten und die Europäische Union aufgefordert, im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb zu handeln, wodurch ein effizienter Einsatz der Ressourcen gefördert wird (Art. 120 AEUV). Tragende Säule der Ordnungspolitik ist die Binnenmarktpolitik (Art. 26 AEUV). Einen Kernbereich bildet dabei die Wettbewerbspolitik mit ausschließlicher Unions-Zuständigkeit, die das Funktionieren der Märkte sowohl gegenüber staatlichen wie auch privaten Wettbewerbsbeschränkungen schützt. 2. Prozesspolitik Die Union betreibt eine makroökonomische Stabilisierungspolitik. Sie versucht, direkt auf die Ergebnisse des Wirtschaftsprozesses Einfluss zu nehmen. Die Vorgaben der Prozesspolitik sind in Art. 3 EUV geregelt. Zu fördern sind eine harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft; ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz; die Gleichstellung von Männern und Frauen; ein beständiges, nicht inflationäres Wachstum; ein hoher Grad von Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz der Wirtschaftsleistungen; ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität; der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den EUStaaten. III. Wirtschaftspolitische Teilbereiche Die Teilbereiche der Wirtschaftspolitik (praktische Wirtschaftspolitik) sind im AEUV fixiert. Dazu gehören insbes. die Währungspolitik, die Strukturpolitik (Regionalpolitik) mit Verteilungspolitik (Kohäsionspolitik) und Politikbereiche wie Beschäftigungs-, Energie-, Agrar-, Verkehrs-, Industrie-, Umwelt-, Forschungs- und Technologiepolitik, Entwicklungszusammenarbeit sowie Bildungspolitik (siehe die einzelnen Stichwörter). IV. Verfahrensregelungen 1. Multilaterale Überwachung Grundlage für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik ist die „multilaterale Überwachung“ (Art. 121 Abs. 3 AEUV). Der Rat erstellt auf Empfehlung der Kommission einen Entwurf für die Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten und der Union. Darüber berichtet er dem Europäischen Rat, der dazu seine Schlussfolgerung erörtert. Auf Grundlage dieser Schlussfolgerung verabschiedet der Rat seine Empfehlungen, die gemäß Art. 288 AEUV nicht verbindlich sind. Der Rat unterrichtet ferner das EP über seine Empfehlungen. Die Empfehlungen orientieren sich an langfristigen wirtschaftspolitischen Strategien (z. B. LissabonStrategie 2000−2010 und Europa-2020-Strategie für den Zeitraum 2011−2020). In der Folge überwacht der Rat durch Berichte der Kommission seine Empfehlungen anhand der wirtschaftlichen Realität in den Mitgliedsstaaten und nimmt eine Gesamtbewertung vor (multilaterale Überwachung). Wird nun festgestellt, dass die Wirtschaftspolitik eines Mit- gliedsstaates nicht den Empfehlungen entspricht oder die Funktionalität der WWU gefährdet ist, so kann die Kommission eine Verwarnung an den betreffenden Mitgliedsstaat richten. Ferner kann der Rat eine erforderliche Empfehlung beschließen, die auf Vorschlag der Kommission auch veröffentlicht werden kann. Der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit (ohne Berücksichtigung der Stimme des jeweiligen betroffenen Mitgliedsstaates). Der Präsident des Rates und die Kommission informieren das EP über die Ergebnisse der mulilateralen Überwachung. 2. Hilfeleistungen in Notsituationen Art. 122 AEUV sieht u.a. vor, dass der Rat auf Vorschlag der Kommission einem Mitgliedsstaat finanziellen Beistand gewährt, wenn der Mitgliedsstaat von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen betroffen ist, die sich seiner Kontrolle entziehen. 3. Verbotsregelungen Kreditfazilitäten sind bei der EZB oder den Zentralbanken der Mitgliedsstaaten für die Union oder die Mitgliedsstaaten (Zentralregierungen, einschließlich ihrer regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, öffentlichen Körperschaften und öffentlichen Unternehmen) verboten. Gleiches gilt für den unmittelbaren Erwerb von Schuldtiteln bzw. Staatsanleihen (Art. 123, Art. 124 AEUV). Ferner haftet die Union nicht für die Verbindlichkeiten der Mitgliedsstaaten. Diese sog. „Nobail-out-Klausel“ entwickelte sich mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP), der mit dem Maastricht-Vertrag (1.11.1993 in Kraft) vereinbart wurde. Die No-bail-out-Klausel des Art. 125 AEUV enthält nicht nur einen Haftungsausschluss, sondern ein Einstands- und Beistandsverbot. Offen ist die Frage, inwieweit die Griechenlandhilfe 2010 mit Art. 125 AEUV vereinbar ist. Seit Mai 2010 gewähren die Euro-Länder bilateral Griechenland 80 Mrd. EUR Garantien und Ausfallkredite. 4. Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) Kernelement ist ein verbindlicheres Verfahren der Überwachung der Haushaltspolitik, da Art. 126 AEUV das Konvergenzkriterium der Stabilität der öffentlichen Finanzen normiert. Es geht um eine auf Dauer tragbare Finanzlage der öffentlichen Hand, festgemacht an zwei Referenzwerten (Protokoll Nr. 12 über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit): Das jährliche öffentliche Haushaltsdefizit (Neuverschuldung) darf 3% des BIP nicht überschreiten und die Gesamtschulden der öffentlichen Hand dürfen nicht mehr als 60% des BIP ausmachen. Das 3%-Kriterium ist ein Richtwert, d. h. ein Überschreiten wird toleriert, wenn der Wert erheblich und laufend zurückgeht und die Nähe von 3% erreicht oder er nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird und in der Nähe von 3% bleibt. Gleiches gilt für das 60%-Kriterium, wo ebenfalls ein Überschreiten toleriert wird, wenn der Wert rückläufig ist. Die Kommission überwacht jährlich die Haushaltslage und den Schuldenstand aller Mitgliedsstaaten. Wird von einem Mitgliedsstaat kein oder nur ein Referenzwert erfüllt oder ist die Kommission der Auffassung, dass in einem Mitgliedsstaat ein übermäßiges Defizit besteht, dann erstellt sie einen Bericht. Sie kann Mitgliedsstaaten mit einem übermäßigen öffentlichen Defizit direkt eine Stellungnahme vorlegen. Im Beschlussverfahren zur Feststellung eines übermäßigen Haushaltdefizits eines Mitgliedsstaates entscheidet der Rat auf Grundlage eines Kommissionsvorschlags (ohne die Stimmen des betroffenen Mitgliedsstaates) und unter Berücksichtigung der Stellungnahme des betreffenden Mitgliedsstaates. Damit tritt ein Haushaltsdefizit nicht automatisch dann ein, wenn die Referenzwerte der Verschuldung des nationalen Haushalts überschritten sind. Bei Feststellung eines übermäßigen Defizits, beschließt der Rat auf Empfehlung der Kommission Empfehlungen an den betreffenden Mitgliedsstaat. Empfehlungen können alle Mitgliedsstaaten der Union erhalten. Werden die Empfehlungen nicht befolgt, kann der Rat wiederum auf Empfehlung der Kommission folgende Maßnahmen bzw. Zwangsmittel beschließen (Art. 126, Abs. 11 AEUV), die jedoch nur für Mitgliedsstaaten der Euro-Gruppe angewendet werden dürfen (Art. 139 AEUV) und bei deren Beschluss auch nur die Mitgliedsstaaten der Euro-Gruppe stimmberechtigt sind: Veröffentlichung zusätzlicher Angaben gegenüber dem Rat vor der Emission von Schuldverschreibungen und sonstigen Wertpapieren; Überprüfung der Darlehenspolitik der Europäischen Investitionsbank; unverzinsliche Einlage bei der Union; Geldbuße verhängen. Das EP wird über die Maßnahmen informiert. 5. Euro-Gruppe Mit Bezug zur Währungsunion umfasst die Wirtschaftspolitik der Euro-Gruppe drei Elemente: die Geldpolitik zur Sicherung der Preisstabilität, die Finanzpolitik der Euro-Länder und politische Maßnahmen, durch die gewährleistet werden soll, dass die Märkte (wie Produkt-, Arbeits- und Kapitalmärkte) reibungslos funktionieren. V. Strategie Europa 2020: Grundzüge der Wirtschaftspolitik Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik innerhalb der Union erfolgt im Rahmen der Grundzüge der Wirtschaftspolitik, der beschäftigungspolitischen Leitlinien und der „Strategie Europa 2020“. Der Europäische Rat verabschiedete im Juni 2010 das Nachfolgeprogramm der LissabonStrategie, das von der Kommission im März 2010 offiziell vorgeschlagen wurde. In der Dekade 2011−2020 verfolgt die EU demnach drei sich gegenseitige verstärkende Prioritäten: 1. Intelligentes Wachstum − Entwicklung einer auf Wissen und Innovation gestürzten Wirtschaft. 2. Nachhaltiges Wachstum − Förderung einer ressourcenschonenden, ökologischeren und wettbewerbsfähigeren Wirtschaft. 3. Integratives Wachstum − Förderung einer Wirtschaft mit hoher Beschäftigung und ausgeprägtem sozialen und territorialen Zusammenhalt. Kernziele der „Strategie Europa 2020“ sind: 75% der Bevölkerung im Alter von 20 bis 64 Jahren sollen in Arbeit stehen (2010 lag der Wert bei 60%). 3% des BIP der EU sollen für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden. Die 20-20-20 Klimaschutz-/Energieziele sollen erreicht werden: Reduzierung der Emissionen um 20% (im Vergleich zu 1990), Erhöhung des Anteils erneuerbaren Energien um 20% und die Steigerung der Energieeffizienz um 20%. Absenkung der Zahl armutsgefährdeter Personen um 25% (entspricht 20 Mio. Personen). Der Anteil der Schulabbrecher soll unter 10% abgesenkt werden, und mindestens 40% der jüngeren Generation sollen einen Hochschulabschluss haben (2010 lagen die Werte bei 15% und 31%). Zur Zielerreichung verfolgt die EU sieben Leitinitiativen, die für die Mitgliedsstaaten bindend sind: Innovationsunion, Jugend in Bewegung, digitale Agenda für Europa, ressourceneffizientes Europa, Agenda für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten, Europäische Plattform gegen Armut und Industriepolitik für das Zeitalter der Globalisierung. VI. Finanzkrise und Reform der Wirtschaftspolitik Im Zuge der weltweiten Finanzkrise 2007 und den Folgejahren ergab die hohe wirtschaftliche und finanzielle Integration im Euro-Raum das Risiko nachteiliger Ansteckungseffekte, die von einzelnen Euro-Ländern auf den Euro-Raum insgesamt übergreifen. Insb. stellten die Finanzmärkte die Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung in einigen Euro-Ländern infrage. Die Finanzkrise führte zu fortschreitenden Regelungen zur Finanzstabilität. Sie bewirkte Maßnahmen zur Verbesserung der Systemüberwachung sowie der Krisenpräventions- und Krisenbewältigungsmechanismen, den Möglichkeiten zur Stärkung des Systems und seiner Widerstandsfähigkeit sowie den Bemühungen zur Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit und zur Verbesserung der Umsetzung von wirtschaftspolitischen Empfehlungen des IWF. Dazu ein Überblick der wesentlichen Maßnahmen: 1. Konjunkturförderung Die Kommission entwickelte 2008 ein gesamteuropäisches Konjunkturprogramm mit ca. 200 Mrd. EUR zum Arbeitsplatzschutz und zur Umsetzung von Zukunftsinvestitionen. Zu einem Konflikt mit dem SWP kam es nicht, da seit der SWP-Reform 2005 der Pakt Flexibilität zulässt. So ist ein Abweichen von der 3% Klausel zulässig, wenn die wirtschaftliche Wachstumsrate unter der Trendwachstumsrate liegt. So konnten alle Mitgliedsstaaten bis zu 1,2% ihres nationalen BIP als konjunkturellen Impuls verwenden. 2. Griechenland-Hilfe Im Jahr 2010 aktivierten die Euro-Länder (mit dem IWF) ein Programm zur finanziellen Unterstützung Griechenlands. Auslöser war ein deutlicher Anstieg der griechischen Staatsanleiherenditen, der dazu führte, dass Griechenland seinen kurzfristigen Finanzierungsbedarf nur noch mit Schwierigkeiten am Markt decken konnte, was die Finanzstabilität im Euro-Raum zu gefährden drohte. Das griechische Haushaltsdefizit führte auf den Finanzmärkten durch Risikoaufschläge zu übermäßig hohen Zinsen und in Folge zu gravierender Neuverschuldungen, die das Eurosystem destabilisieren. Befeuert wurde die Destabilisierung durch Marktspekulationen durch Leerverkäufe. Das Programm bestand aus einem bilateralen Darlehen der Euro-Länder (Volumen 80 Mrd. EUR) und einer Bereitschaftskreditvereinbarung des IWF in Höhe von bis zu 30 Mrd. EUR. 3. Irland-Hilfe Im Jahr 2010 beschlossen die Euro-Länder und der ECOFIN-Rat für Irland auf Antrag Finanzhilfen von bis zu 85 Mrd. EUR (50 Mrd. EUR Staatshaushalt; 35 Mrd. EUR Bankensystem), da die irischen Problemlagen die Finanzstabilität der gesamten EU und der Währungsunion zu schädigen drohten. Portugal ist nach Irland das zweite Euro-Land, das 2011 über den EFSF Finanzhilfen erhält. 4. EFSF/EFSM Die Euro-Länder errichteten 2010 auf bilateraler Ebene die europäische Finanzstabilitätsfazilität (EFSF), die als Aktiengesellschaft luxemburgischen Rechts Schuldverschreibungen an Euro-Länder mit Finanzierungsschwierigkeiten vergeben darf, die mit anteiligen Garantien der Euro-Länder bis zu 440 Mrd. EUR besichert sind. Diese Schuldverschreibungen sind mit der höchsten Bonitätseinstufung (AAA) der drei führenden Rating-Agenturen versehen. Hinzu kommen Kredite der Kommission, die selbst Geld aufnimmt und verleiht. Dieser European Financial Stability Mechanism (EFSM) hat ein potenzielles Volumen von 60 Mrd. EUR. Einschließlich der Kredite des IWF stehen der EFSF/EFSM-Konstruktion ein maximales Volumen von 750 Mrd. EUR zur Verfügung. Mit Juli 2013 endet diese Konstruktion und wird durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM − European Stability Mechanism) ersetzt. 5. ESM Der Europäische Rat einigte sich im März 2011 auf den ESM als permanenten EuroKrisenfonds (Sitz in Luxemburg). Der ESM erhält eine Kapitalbasis von 700 Mrd. EUR und verfügt als Dauereinrichtung über eine effektive Kreditausgabesumme von 500 Mrd. EUR. 200 Mrd. EUR dienen der Übersicherung der ESM-Kredite. Die Rating-Agenturen verlangten Sicherheiten, um dem ESM das erwünschte Top-Rating (AAA) zu verleihen. Der ESM stellt jedoch nicht nur abrufbares Kapital und Garantien zur Verfügung. Er enthält auch eingezahltes Kapital als eine Bareinlage in Höhe von 80 Mrd. EUR. Von den 80 Mrd. EUR stehen 16 Mio. EUR bis 2013 zur Verfügung, der Rest in vier Jahresscheiben bis 2017. Finanzierung: Die Beiträge der Euro-Länder zum ESM orientieren sich am Kapitalschlüssel der EZB. Der Beitrag Deutschlands beträgt 27,15% der Bareinzahlungen (21,7 Mrd. EUR) und des abrufbaren Kapitals/der Garantien (168,3 Mrd. EUR). Der Internationale Währungsfonds (IWF) erhöht die ESM-Ausleihsumme von 500 Mrd. EUR um die Hälfte. Damit stehen weitere 250 Mrd. EUR zur Verfügung. Im Unterschied zum EFSF können im ESM private Gläubiger im Rahmen einer Umschuldung an den Kosten einer Krise beteiligt werden (Forderungsverzicht oder Laufzeitverlängerung der Anleihen). Die Beteiligung ist nur dann möglich, wenn nach einer „Schuldentragfähigkeitsanalyse“ ein Euro-Land als tatsächlich insolvent und nicht nur als illiquide eingestuft wird. Dazu werden ab 2013 in den von den Euro-Ländern ausgegeben Anleihen „collective action clauses“ (CAC) eingeführt. Organisation: Die Organisation des ESM ist am IWF orientiert. Führungsgremium und oberstes Entscheidungsorgan ist der Verwaltungsrat, den die stimmberechtigten Finanzminister der Euro-Gruppe bilden. Die Stimmverteilung entspricht dem ESM- bzw EZB-Kapitalschlüssel. Beratend kommen der EU-Währungskommissar und der EZBPräsident dazu. Der Verwaltungsrat hat einstimmig über die Vergabe, Höhe und Be- dingungen der ESM-Finanzhilfen zu beschließen. Grundlage für die Entscheidungen des Verwaltungsrates ist die „Schuldentragfähigkeitsanalyse“. Zu entscheiden sind dann zwei Möglichkeiten: Das Euro-Land kann langfristig mit seinen Schulden leben oder kann mit einem „Anpassungsprogramm“ seine Probleme lösen. In diesem Fall sollen die Gläubiger sich möglichst verpflichten, ihre Anleihen bis zum Ende der Laufzeit zu halten und nicht abzustoßen. Hinzu kommt ein Kredit des ESM. Sollten die Schulden zu hoch sein, dann kann es zu einer Umschuldung oder Restrukturierung der Schulden kommen. Geld vom ESM gibt es in diesem Fall nur dann, wenn die Regierung des EuroLandes von ihren Gläubigern einen teilweisen Verzicht ihrer Forderungen vereinbart. Der ESM kann nicht nur Kredite an Krisen-Euro-Länder vergeben, sondern auch Anleihen direkt von den Krisen-Euro-Ländern aufkaufen (Primärmarkt). Offen blieb die Frage, inwieweit auch eine Intervention am Sekundärmarkt ermöglicht werden soll, dh ob der ESM Staatsanleihen eines in Finanznot geratenen Euro-Land auch Investoren abkaufen darf, um gegen eine drohende Zinseskalation anzugehen. Ablauf: Idealtypisch hat der ESM für ein betroffenes Euro-Land folgenden Hilfskreislauf: 1. Finanzkrise: steigende Zinsen, Zahlungsschwierigkeiten; 2. Rettungspaket aus ESM: Kredite zu bezahlbaren Zinsen, striktes Sparprogramm; 3. Wirtschaftsreformen; 4. Kritische Zeit wird überbrückt; 5. Haushaltssituation verbessert sich; 6. Finanzmärkte beruhigen sich wieder; 7. Kreditgeber schöpfen wieder Vertrauen; 8. Zinsen sinken; 9. Rückkehr des Landes an den internationalen Kapitalmarkt; 10. Rückzahlung der Kredite an den ESM; der ESM hat einen Vorzugsstatus gegenüber allen anderen Gläubigern (Ausnahme IWF); seine Forderungen müssen bevorzugt bedient werden. 6. SWP Der Europäische Rat verabschiedete im März 2011 eine Neuordnung der wirtschaftpolitischen Zusammenarbeit. Verschärft wurde zur Stärkung der Haushaltsdisziplin der SWP: Jedes Euro-Land muss bereits im Frühjahr über die Haushaltsplanung der kommenden Jahre informieren („Europäisches Semester“), damit die Euro-Gruppe rechtzeitig einschreiten kann. Im Falle einer Überschreitung des 60% Kriteriums muss der Teil, der über 60% liegt, jedes Jahr um ein Zwanzigstel abgebaut werden. Bei Verstößen gegen die Verschuldungskriterien muss zunächst ein unverzinsliches Pfand von 0,2% des BIP hinterlegt werden. Dieses Pfand wird in hohe Geldstrafen umgewandelt, wenn das Euro-Land die Schulden nicht abbaut. Läuft ein Verfahren gegen ein Euro-Land, das wie seither mit qualifizierter Mehrheit vom Rat beschlossen wurde, kann der Rat es nur noch stoppen, wenn er dies mit qualifizierter Mehrheit (reverse majority) beschließt. Wirtschaftliche Schieflagen (zB Immobilienblase, exorbitante Exportüberschüsse) in einem Euro-Land sollen durch ein Kontrollsystem erkannt werden. Würde ein betroffenes Euro-Land nicht rechtzeitig reagieren, riskiert es Strafzahlungen in Höhe von 0,1% des BIP. Ziel ist die Reduzierung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in der Euro-Zone. Hinzu kommen neue Inhalte der Zusammenarbeit. 23 EU-Mitgliedsstaaten verständigten sich ferner auf den „Euro-Plus-Pakt“, in dem sie sich verpflichten, ihre Wirtschafts- und Sozialsysteme wettbewerbsfähiger zu machen und sie einer jährlichen Evaluierung zu unterziehen. 7. Europäisches Semester Der Europäische Rat einigte sich im Jahr 2010 auf eine Ausweitung und Vertiefung der wirtschaftspolitischen Koordination mit der Einführung des „Europäischen Semesters“ zum 1.1.2011. Es umfasst feste kalendarische Vorgänge für alle Bereiche der Überwachung, einschließlich der Haushalts-, Makro- und Strukturpolitik. Der jährliche Zyklus dient der Koordinierung der Wirtschafts- und Haushaltspolitik im Voraus. Er ist der Rahmen der wirtschaftspolitischen Steuerung. Das „Europäische Semester“ der wirtschaftspolitischen Koordinierung hat folgenden neunstufigen Ablauf: 1. Im Januar veröffentlicht die Kommission den Jahreswachstumsbericht für die Union und den Euro-Raum. Der Jahreswachstumsbericht hat drei feste Elemente: Haushaltspolitik, kurzfristige Wirtschaftspolitik und langfristige Strukturreformen. 2. ECOFIN-Rat und EP diskutieren und prüfen in den Monaten Februar und März den Bericht. 3. Im März legt der Europäische Rat die Prioritäten und Leitlinien für das laufende Jahr fest (für Union und Euro-Raum). Dabei handelt es sich um Stabilitäts- und Konvergenzprogramme (SCP – Stability and Convergence Programmes) für die Haushaltspolitik und die Nationalen Reformprogramme (NRP − National Reform Programms), die von den Mitgliedsstaaten in ihren 4. im April vorzulegenden NRPs und SCPs zu berücksichtigen sind. 5. Die Kommission entwickelt im Juni länderspezifische Bewertungen und Leitlinien durch Empfehlungen für den Rat. 6. Der Rat finalisiert und verabschiedet im Juli die länderspezifischen Leitlinien. 7. Der Europäische Rat billigt die Leitlinien und spricht länderspezifische Empfehlungen aus. 8. Im 2. Halbjahr (September bis Dezember) verabschieden die Mitgliedsstaaten ihre Haushalte für das kommende Jahr. 9. Im Jahreswachstumsbericht des Folgejahres prüft die Kommission, inwieweit die Mitgliedsstaaten den Leitlinien und Empfehlungen Rechnung getragen haben. 8. Scoreboard-Überwachung Mit dem Jahr 2012 existiert dazu ein verbesserter makroökonomischer Überwachungsrahmen, der darauf ausgerichtet ist, das Auftreten großer gesamtwirtschaftlicher Ungleichgewichte zu verhindern und zu korrigieren. Der Rahmen beinhaltete einen Warnmechanismus, der auf einem „Scoreboard“ (Indikatorenkatalog) basiert: Indikatoren der Auslandsposition (z. B. Leistungsbilanz, Nettoauslandsposition); Indikatoren der Wettbewerbsfähigkeit ( z. B. reale effektive Wechselkurse, Lohnstückkosten, HVPI-Inflation); Indikatoren der Binnenwirtschaft (z. B. Wertschöpfung im Bausektor, Preise für Wohneigentum, öffentliche und private Verschuldung). Für jeden Indikator sind Schwellenwerte festgelegt. Wenn auf Basis der Ergebnisse des Scoreboard erhebliche makroökonomische Ungleichgewichte oder Risiken festzustellen wären, würde die Kommission eine eingehende Überprüfung der Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltsentwicklung in dem betroffenen Mitgliedsstaat durchführen, auf deren Grundlage sie dem Rat vorschlagen könnte, eine Empfehlung an den Mitgliedsstaat zu richten. Bei schwerwiegenden Entwicklungen und einem übermäßigen Ungleichgewicht kann die Kommission das Verfahren einer strengen wirtschaftspolitischen Überwachung einleiten (Excessive Imbalance Procedure – EIP). Mitgliedsstaaten, die sich im EIP befinden, sind verpflichtet, eine Korrekturmaßnahmeplan (Corrective Action Plan – CAP) vorzulegen. Die Sanktionen bei Nichtbeachtung durch den Mitgliedsstaat entsprechen weitgehend denen im Verfahren bei einem übermäßigen Defizit festgelegten Mechanismen. VII. Fazit Vor allem mit dem ESM entwickelt sich die Euro-Raum prinzipiell zu einer Transferunion. Das Gründungsprinzip der Währungsunion, dass jedes Land seine Fiskalpolitik selbst verantwortet und kein Land für das andere einstehen muss (No-bail-out-Klausel), wird für die EuroLänder verlassen. Im Krisenfalle dürfen finanzschwache Euro-Länder (mit Verlust der eigenen Autonomie) auf Beistand der anderen Euro-Länder rechnen, die für sie bürgen. Entstanden ist eine Transferunion, eine Haftungsgemeinschaft oder eine Fiskalunion. Quelle: Lothar Ungerer, Wirtschaftspolitik. In: Bergmann (Hg.), Handlexikon der Europäischen Union. BadenBaden 2012