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Das kardiologische Gutachten
Anleitungen zur differenzierten Begutachtung bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Bearbeitet von
Jürgen Barmeyer
2. kompl. akt. Aufl. 2009. Buch. 316 S. Hardcover
ISBN 978 3 13 113942 9
Format (B x L): 17 x 24 cm
Weitere Fachgebiete > Medizin > Klinische und Innere Medizin > Kardiologie,
Angiologie, Phlebologie
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15 Mitralinsuffizienz15
Jürgen Barmeyer
15.1 Allgemeines
Bei der Mitralinsuffizienz besteht eine Schlussunfähigkeit oder ein Defekt der Mitralklappe, sodass
während der Ventrikelsystole Blut in den linken
Vorhof und die Lungenvenen zurückfließt. Da das
regurgitierte Blut während der Diastole zusammen mit dem aus der Lunge kommenden Blut dem
linken Ventrikel erneut zufließt, liegt eine Volumenüberlastung des linken Ventrikels vor, deren
Ausmaß von der Menge des Pendelblutes abhängig
ist. Die Ursachen der Mitralinsuffizienz werden in
Tab. 15.1 dargestellt.
Folgende Faktoren bestimmen die Größe des Regurgitationsvolumens:
• Ausmaß der Schlussunfähigkeit
• Größe des Mitralklappendefekts
• Gesamtkontraktilität
• Kontraktilität der den Mitralklappenring umgebenden Muskulatur
• Kontraktilität der Papillarmuskeln
• systolisches Druckgefälle zwischen linkem Ventrikel und linkem Vorhof
Bei schweren Mitralinsuffizienzen kann die regurgitierende Blutmenge so groß sein, dass die Peripherie trotz gesteigerter Kontraktilität minderperfundiert wird (Förderinsuffizienz). Da die Höhe des
Rückflussvolumens in erheblichem Maße auch von
funktionellen Faktoren wie dem kontraktilen Zustand und dem systolischen Blutdruck bestimmt
wird, kann das Ausmaß der Mitralinsuffizienz unter verschiedenen Bedingungen (Ruhe, Belastung,
Medikamente) großen Schwankungen unterliegen, die zwanglos das manchmal wechselvolle klinische Bild erklären.
Pathogenetisch und pathophysiologisch ist es
notwendig, zwischen akuter und chronischer Mitralinsuffizienz zu unterscheiden:
• Tritt eine akute Mitralinsuffizienz auf (Sehnenfadenabriss, Klappenperforation, Papillarmuskelinfarkt und/oder Abriss u. a.), liegt meist ein
bedrohliches klinisches Bild vor. Bei großem
Reflux kommt es zu einer akuten Erhöhung des
Tabelle 15.1 Ursachen der Mitralinsuffizienz.
degenerativ
•Mitralklappenprolapssyndrom
•Chordae-Abriss
–
–
–
–
Myxomatöse Mitralklappendegeneration
Marfan-Syndrom
Ehlers-Danlos-Syndrom
Mitralklappenringverkalkung
entzündlich
•rheumatische Herzerkrankung
•infektiöse Endokarditis
•Klappenperforation
•Chordae-Abriss
•systemischer Lupus erythematosus
•Sklerodermie
ischämisch
•Papillarmuskeldysfunktion
•Papillarmuskelabriss
traumatisch
•stumpfes Thoraxtrauma
•paravalvuläres Leck nach Klappenoperation
dilatativ
•Gefügedilatation
–
–
–
–
nach Herzinfarkt
bei dilatativer Kardiomyopathie
bei Druck- oder Volumenbelastung
nach primärer Schädigung
kardiomyopathisch
•hypertrophe Kardiomyopathie
•restriktive, obliterative Kardiomyopathie
120
aus: Barmeyer u.a., Das kardiologische Gutachten (ISBN 9783131139429) © 2010 Georg Thieme Verlag KG
15.1 Allgemeines
linksventrikulären Füllungsdruckes und zum
Reflux in die Lungenvenen (Refluxlunge) mit
Behinderung des Blutflusses zum linken Ventrikel. Starke Dyspnoe bis zum Lungenödem und
akutes Rechtsherzversagen infolge der rechtsventrikulären Druckbelastung können daraus
resultieren.
• Bei der chronischen Mitralinsuffizienz haben
sich rechter und linker Ventrikel an die pathologischen Druck- und Volumenbedingungen anpassen können, sodass gänzlich andere pathophysiologische Gegebenheiten vorliegen.
Ähnlich wie bei der Aorteninsuffizienz lassen sich
vier Stadien unterscheiden. Im Stadium 1 (geringe
Regurgitation) wird die zurückfließende Blutmenge durch stärkere Entleerung des enddiastolischen
Volumens ohne Vergrößerung des linken Ventrikels und des Herzvolumens voll kompensiert,
sodass die Hämodynamik auch unter maximaler
Belastung der Norm entspricht (Abb. 15.1).
Nimmt die regurgitierende Blutmenge zu, entwickelt sich eine regulative Dilatation des linken
Ventrikels und des linken Vorhofs, wobei schon
in diesem Stadium Vorhofflimmern auftreten
kann. Auch in diesem Stadium 2a (HV/kg<15 ml,
LVED<65mm) und 2b (HV/kg>15 ml, LVED>65mm)
HV –
TS = 120 ml
EDV –
20 ml
ESV ↓
RV = 20 ml
(17%)
ES = 100 ml
EF ↑
∙
Q
–
120 ml
Stadium 1
Abb. 15.1 Mitralinsuffizienz-Stadium 1. HV: Herzvolumen; EDV: enddiastolisches Volumen; ESV: endsystolisches Volumen; EF: Ejektionsfraktion; Q̇ : Herzminutenvolumen; TS: totales Schlagvolumen; RV: Regurgitationsvolumen; ES: effektives Schlagvolumen.
TS = 200 ml
HV ↑
EDV ↑
100 ml
ESV ↓
RV = 100 ml
(50%)
ES = 100 ml
EF ↑
∙
Q
–
200 ml
Stadium 2
regulative Dilatation
Abb. 15.2 Mitralinsuffizienz-Stadium 2.
ist die Hämodynamik (Füllungsdruck, HMV) unter
Belastung infolge der strukturellen Anpassung des
ungeschädigten linken Ventrikels noch normal.
Röntgenologisch zeigt sich ein vergrößertes, linksasymmetrisches Herz, dessen Größenzunahme in
etwa dem Zweifachen der regurgitierenden Blutmenge entspricht (Abb. 15.2).
Beispiel
Der 62-jährige Mann klagt über zunehmende
Dyspnoe und Palpitationen (NYHA II). Mit P. m.
über der Herzspitze lässt sich ein Click mit anschließendem Systolikum auskultieren. Das
Echokardiogramm deckt einen Prolaps beider
Mitralsegel mit Mitralinsuffizienz auf. Bei vergrößertem, linksasymmetrischem Herzen (HV/
kg 14,4 ml) und noch normalem Anstieg von
Schlagvolumen und Herzminutenvolumen befindet sich dieser Patient im pathophysiologischen
Stadium 2 (Abb. 15.3, Tab. 15.2).
Im Stadium 3 hat der Rückfluss an der Mitralklappe ein solches Ausmaß erreicht, dass trotz
Ausschöpfung aller Regulationsmechanismen
(weitere Größenzunahme des linken Herzens und
des Herzvolumens) das effektive Schlagvolumen
reduziert ist. Trotz ungeschädigter Ventrikelmuskulatur (normale Ejektionsfraktion) liegt jetzt
eine Förderinsuffizienz des Herzens vor, bei der
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15 Mitralinsuffizienz
Abb. 15.3 Röntgen-Thorax bei 62-jährigem Patienten mit Mitralklappenprolapssyndrom und Mitralinsuffizienz.
Linksasymmetrisch vergrößertes Herz.
Quelle: Institut für Radiologie und Nuklearmedizin „Bergmannsheil“, Ruhruniversität Bochum.
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15.1 Allgemeines
Tabelle 15.2 Hämodynamik bei 62-jährigem Mann mit
Prolapssyndrom der Mitralklappe. Normaler Anstieg von
Schlag- und Herzminutenvolumen bei mäßigem pulmonalem und linksatrialem Druckanstieg (pathophysiologisches Stadium 2).
EDV ↑
Ruhe
50 Watt
ESV –
RR
115/60
140/80
EF
_
HF
57
106
∙
Q
↓
PA (mmHg)
35/15
75/30
PC (mmHg)
14
28
Q̇ (l×min–1)
5,7
12,3
SV (ml)
100
113
in der Regel auch der Füllungsdruck des linken
Ventrikels erhöht ist, sodass der rechte Ventrikel
mäßig druckbelastet wird. Die allgemeine körperliche Leistungsfähigkeit eines Arbeitnehmers in
diesem Stadium ist erheblich eingeschränkt. Das
zunehmende Missverhältnis zwischen Herzgröße
und Leistung spiegelt sich in einem pathologisch
erhöhten Herzvolumenleistungsquotienten (Kap.
5.2) wider (Abb. 15.4).
Beispiel
Die 50-jährige Frau klagt über Luftnot auf niedriger Belastungsstufe. Gelegentlich verspürt sie
Herzstolpern, begleitet von unangenehmen Palpitationen. Die Symptomatik wird als progredient
empfunden. Es findet sich ein holosystolisches
Geräusch mit einem protodiastolischen 3. Herzton als Folge einer Mitralinsuffizienz. Echokardiografisch sind linker Vorhof (60mm) und linker
Ventrikel (63mm) erweitert, der linke Ventrikel
zeigt ein hyperkontraktiles Verhalten (EF=78 %).
Das relative Herzvolumen (HV/kg) liegt mit
21,5 ml oberhalb der Norm. Bei der Linksherzkatheterisierung findet sich ein massiver Reflux an
der Mitralklappe. Die oben beschriebenen Befunde zusammen mit der pathologischen Hämodynamik entsprechen der typischen Konstellation
eines pathophysiologischen Stadiums 3 einer
Mitralinsuffizienz (Abb. 15.5, Tab. 15.3).
Das Stadium 4 entspricht der Kontraktionsinsuffizienz des linken Ventrikels und später auch des
rechten Ventrikels (Mitralisation). Die regulative
TS = 250 ml
HV ↑
RV = 200 ml
(80%)
200 ml
ES = 50 ml
250 ml
Stadium 3
regulative Dilatation
Förderinsuffizienz
Abb. 15.4 Mitralinsuffizienz-Stadium 3.
Dilatation ist übergegangen in eine Gefügedilatation mit Abfall der Ejektionsfraktion und weiterer
Zunahme der Herzgröße. Als Ausdruck der ungünstigen Hämodynamik ist die körperliche Leistungsfähigkeit noch weiter eingeschränkt (Abb.
15.6).
Die Einteilung der Mitralinsuffizienz in die oben
beschriebenen vier pathophysiologischen Stadien
bildet ein allerdings nur sehr grobes Klassifikationsprinzip, dem gewisse Mängel anhaften. Gehen
die Folgen des Klappenfehlers ausschließlich auf
Tabelle 15.3 Hämodynamik bei 50-jähriger Frau mit
Mitralinsuffizienz (pathophysiologisches Stadium 3). Inadäquater Anstieg des Herzminutenvolumens und Abfall
des effektiven Schlagvolumens trotz hyperkontraktilem
Zustand (Förderinsuffizienz); s. Text.
Ruhe
50 Watt
RR
150/80
170/80
HF
76
132
PA (mmHg)
28/10
51/20
PC (mmHg)
11
22
Q̇ (l×min–1)
5,3
8,2
SV (ml)
69
61
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15 Mitralinsuffizienz
Abb. 15.5 Röntgen-Thorax bei
50-jähriger Patientin mit höhergradiger
Mitralinsuffizienz (pathophysiologisches
Stadium 3). Vergrößertes, linksasymmetrisches Herz. Quelle: Institut für
Radiologie und Nuklearmedizin „Bergmannsheil“, Ruhruniversität Bochum.
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