C. Gerloff Pseudotumor cerebri (PTC) ISBN 978-3-17-024473-3 Kapitel A9 aus T. Brandt, H.C. Diener, C. Gerloff (Hrsg.) Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012 Kohlhammer BDG_neu.book Seite 77 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 A 9 A9 Pseudotumor cerebri (PTC) von C. Gerloff In der Differentialdiagnose chronischer Kopfschmerzen muss insbesondere bei übergewichtigen Frauen im gebärfähigen Alter an den Pseudotumor cerebri (PTC; engl. idiopathic intracranial hypertension, IIH) gedacht werden. A 9.1 Klinik Der PTC ist ein pathogenetisch heterogenes Syndrom mit der Schlüsselkonstellation Liquordrucksteigerung und Stauungspapille ohne intrakranielle Raumforderung und ohne Hydrozephalus. Der PTC kann ohne erkennbare Ursache (idiopathisch) oder als Folge einer Sinusvenenthrombose, bei erhöhtem zentral-venösen Druck (ZVD) und medikamentös induziert auftreten (symptomatisch). In Einzelfällen kann ein PTC auch Folge einer arteriovenösen Malformation oder Durafistel sein. A 9.1.1 Symptome Kopfschmerzen, ein- oder beidseitig, häufig pulsierend und gelegentlich begleitet von Übelkeit und Erbrechen, sind das häufigste (80–100 %) und meist auch erste Symptom, gefolgt von Obskurationen (60–82 %), Gesichtsfeldausfällen (50–73 %), Visusminderung (20–75 %) bis zur vollständigen Erblindung (1–5 %), Doppelbildern (20–40 %; meist Abduzensparesen) und Tinnitus (60–65 %; z. T. pulsatil) (Giuseffi et al. 1991, Radhakrishnan et al. 1994, Rudnick und Sismanis 2005, Skau et al. 2011, Soler et al. 1998). Selten werden retinale Metamorphopsien (Warner und Katz 2005), Fazialisparesen (Tzoufi et al. 2010), Gesichtsschmerzen, Sensibilitätsstörungen (Round und Keane 1988) oder Trochlearisparesen (Speer et al. 1999) beobachtet. Bewusstseinsstörungen gehören nicht zum Bild des PTC. Beidseitige Stauungspapillen sind charakteristisch, der Papillenbefund kann aber variieren, sodass in Einzelfällen auch nur eine Papille betroffen ist (z. B. Saito et al. 1999). Bei Kindern stehen weniger Kopfschmerzen oder Sehstörungen als vielmehr Abgeschlagenheit und Irritabilität im Vordergrund (Lessell 1992). A 9.1.2 Diagnose und Differentialdiagnose Neben der klinisch-neurologischen Untersuchung mit Visusprüfung, Fingerperimetrie und Fundoskopie sollten immer eine kraniale Bildgebung und eine Lumbalpunktion (LP) mit Druckmessung erfolgen. Die kraniale Kernspintomographie (cMRT) mit MR-Phlebographie und Darstellung der venösen Sinus bietet die umfassendsten Informationen; falls nicht verfügbar, kann alternativ ein sekundär kontrastmittelangehobenes kraniales Computertomogramm (cCT) durchgeführt werden. Eine ausführliche neuroophthalmologische Untersuchung (einschließlich Perimetrie) gehört zur Initialdiagnostik. Auch die optische Kohärenztomographie (OCT) kann für Verlaufsuntersuchungen herangezogen werden (Skau et al. 2010, 2011). Die diagnostischen Kriterien (Ball und Clarke 2006, Friedman und Jacobson 2002) sind in Tabelle A 9.1 gelistet. Sie entsprechen im Wesentlichen den modifizierten Dandy-Kriterien, wurden aber an die verbesserten Möglichkeiten der intrakraniellen Bildgebung angepasst. Die LP darf erst nach Ausschluss einer intrakraniellen Raumforderung durch bildgebende Verfahren erfolgen. Der Liquoreröffnungsdruck, lumbal im Liegen gemessen, ist auf > 25 cm H2O gesteigert. Zytologischer und chemischer Liquorbefund sind normal. Das Hirnparenchym ist im cMRT und cCT normal. Typische Befunde sind erweiterte Optikusscheiden (ca. 50 %) und das »empty sella«-Zeichen (ca. 50 %) (Fraser und Plant 2011, Hassan et al. 2010, Weisberg und Nice 1977, Weisberg et al. 1975). Beides kann sich nach erfolgreicher Therapie zurückbilden (Zagardo et al. 1996). Die Ventrikel sind eher schmal (bis hin zu sog. Schlitzventrikeln), niemals erweitert (Johnston und Morgan 1991). Mittels cMRT und MR-Phlebographie müssen frische Thrombosen der venösen Sinus oder inneren Hirnvenen und intrakranielle vaskuläre Malformationen mit konsekutiver venöser Druckerhöhung ausgeschlossen werden (s. Kap. E 8). Das cMRT ist dem cCT in mehrfacher Hinsicht überlegen: Papillenödem und Erweiterung der Optikusscheiden können präziser dargestellt werden (Brodsky 1997, Brodsky und Glasier 1995, Jinkins et al. 1996), die Darstellung der venösen Blutleiter gelingt besser (Rohr et al. 2011), das MRT ist sensitiver für die Detektion diffuser raumfordernder Prozesse im Marklager. Differentialdiagnostisch müssen andere Ursachen einer Liquordrucksteigerung ausgeschlossen werden (Tab. A 9.2). Hierzu gehören neben Sinusvenenthrombosen Raumforderungen, chronische infektiöse oder tumoröse meningeale Reizzustände und Störungen der Liquorzirkulation durch erhöhten Liquoreiweißgehalt wie beim Guillain-BarréSyndrom oder durch einen spinalen Tumor. Weiterhin kann eine Stauungspapille durch Anomalien bzw. Erkrankungen der Papille vorgetäuscht werden. Ein entzündliches oder ischämisches Papillenödem führt in der Regel zu sofortigem Visusverlust 77 BDG_neu.book Seite 78 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 Schmerz und ist wie die Zentralvenenthrombose (Retinopathie infolge venöser Stase) praktisch immer einseitig. Allerdings kann auch eine Sarkoidose bilaterale Stauungspapillen verursachen und einen PTC vortäuschen (Pelton et al. 1999). Drusen können ein differentialdiagnostisches Problem darstellen, insbesondere wenn der Patient über Kopfschmerzen klagt. In diesem Fall zeigt das cCT oder die Sonographie häufig Mikrokalzifikationen der Papille, und der Liquordruck ist nicht erhöht. Tab. A 9.1: Diagnosekriterien des idiopathischen PTC (nach Friedman und Jacobson 2002) 1. Wenn subjektive Symptome vorhanden sind, dürfen diese ausschließlich auf einen generalisiert erhöhten intrakraniellen Druck oder auf ein Papillenödem zurückzuführen sein 2. Wenn klinisch objektivierbare Defizite vorhanden sind, dürfen diese ausschließlich auf einen generalisiert erhöhten intrakraniellen Druck oder auf ein Papillenödem zurückzuführen sein 3. Nachweis eines erhöhten Liquordrucks anhand Druckmessung bei Lumbalpunktion in Seitenlage 4. Normale Zusammensetzung des Liquors 5. Kein Hinweis auf Hydrozephalus, intrakranielle Raumforderung, strukturelle oder vaskuläre Läsionen im cMRT oder kontrastmittelangehobenen cCT bei Patienten mit typischem klinischen Bild; bei allen anderen Patienten zusätzlich Ausschluss pathologischer Befunde in cMRT und MR-Phlebographie 6. Ausschluss anderer Ursachen eines gesteigerten intrakraniellen Drucks Tab. A 9.2: • • • • • • • • • Differentialdiagnose von Stauungspapillen und Kopfschmerzen Pseudotumor cerebri Intrakranielle Raumforderung Sinusvenenthrombose Dekompensierte Anlageanomalie des Ventrikelsystems Chronische infektiöse oder tumoröse meningeale Reizung Erhöhtes Liquoreiweiß Papillenanomalie (Drusen) Entzündliches Papillenödem Zentralvenenthrombose der Retina A 9.2 Verlauf Die Inzidenz des PTC in der Allgemeinbevölkerung beträgt etwa 1/100 000 (Übersicht bei Ball und Clarke 2006), ist bei übergewichtigen Frauen im Alter von 15 bis 44 Jahren jedoch um das 10–20fache gesteigert. In einem kleineren Kollektiv (n = 20, davon 19 Frauen) war der mittlere Body-Mass-Index (BMI) > 32 kg/m2 (Soler et al. 1998), in einer anderen Untersuchung das Körpergewicht um 38 % über dem Idealgewicht (Durcan et al. 1988). Das Verhältnis Frauen : Männer beträgt 8–19 : 1. Die Symptome sind bei Frauen und Männern ähnlich. Die extreme Adipositas ist bei Frauen mit PTC häufiger (Frauen 78 %; Männer 25 %; Kesler und Gadoth 2001), bei Männern mit PTC liegt häufiger ein obstruktives Schlafapnoe-Syndrom vor (Wall und Purvin 2009) und sie sind bei Erstmanifestation älter (Frauen vs. Männer: 28 vs. 37 Jahre; Bruce et al. 2009). Prospektive Studien zum Spontanverlauf existieren nicht, ohne Therapie ist aber von einer chronisch78 progredienten Visusminderung bis hin zur Erblindung auszugehen. In der Regel gelingt es, den intrakraniellen Druck konservativ oder invasiv zu senken, sodass sich Stauungspapillen und Sehstörungen zurückbilden. Die Rückbildung des Papillenödems ist unter Therapie im Verlauf von 2–5 Monaten zu erwarten (Johnson et al. 1998, Soler et al. 1998), Besserungen von Abduzensparesen scheinen rascher einzutreten (Cinciripini et al. 1999). Bei 4–12 % der Patienten kommt es trotz Therapie zu einer irreversiblen Optikusschädigung (vollständiger Visusverlust in ca. 1–5 %); etwa 20 % der Betroffenen erleiden eine dauernde Visusminderung und etwa 70 % bleibende Gesichtsfelddefekte (Ahlskog und O’Neill 1982, Corbett und Thompson 1989, Wall und George 1987). In einer offenen Studie zum Verlauf unter Therapie erhielten 17 Patienten Acetazolamid (in einem Fall zusätzlich Furosemid, in einem weiteren alternativ Topiramat) in Verbindung mit diätetischen Maßnahmen (Skau et al. 2011). Nach 3 Monaten kam es bei 65 % der Patienten zu einer vollständigen, bei 29 % zu einer partiellen Besserung, 6 % sprachen nicht auf die Therapie an. Die individuelle Neigung zur intrakraniellen Hypertension muss als chronisch angesehen werden, spontane Remissionen oder andauernde Remission nach kurzfristiger medikamentöser Therapie kommen selten vor (Ahlskog und O’Neill 1982, Leu et al. 1982, Noggle und Rodning 1986, Shapiro 1978). Zuverlässige Prädiktoren für einen benignen Verlauf gibt es nicht (Arienta et al. 1990, Ball und Clarke 2006). Patienten mit konservativ therapiertem PTC neigen zu Rezidiven (ca. 40–60 %) (Kesler et al. 2004, Soler et al. 1998), z. B. nach Absetzen der Medikation oder bei erneuter Gewichtszunahme. A 9.3 Therapeutische Prinzipien Die Mechanismen, die zur Entwicklung eines idiopathischen PTC führen, sind nicht geklärt. Es existieren die »Sinusstenosen-Hypothese«, die »Adipositas-Hypothese« und die »endokrine Hypothese«. Sehr wahrscheinlich ist, dass alle genannten Aspekte zusammenwirken und schließlich in das Bild des PTC münden. Es wird von einigen Autoren angenommen, dass dem idiopathischen PTC lokale venöse Abflussstörungen zugrunde liegen, insbesondere Lumeneinengungen in den Sinus transversi (Bussiere et al. 2010, De Simone et al. 2010, Donnet et al. 2008, Rohr et al. 2011). Berichte, nach denen einzelne PTC-Patienten mit partieller uni- oder bilateraler Sinusobstruktion nach Stenteinlage in einen Sinus transversus eine Besserung zeigten (Higgins et al. 2002, Ogungbo et al. 2003, Rajpal et al. 2005), stehen allerdings Berichte gegenüber, die eher darauf hinweisen, dass die Einengung der Sinus Folge und nicht Ursache der intrakraniellen Hypertension ist (Higgins et al. 2002, Rohr et al. 2011). Die häufige Assoziation mit Adipositas könnte für eine systemisch-venöse Druckerhöhung als pathogenetischen Faktor beim PTC sprechen, da es bei extremer Adipositas zu einer Zunahme des intraabdominellen und damit des zentralvenösen Drucks BDG_neu.book Seite 79 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 Pseudotumor cerebri (PTC) (ZVD) kommt. Dass die Theorie einer Erhöhung des venösen Drucks aber nur einen Teil der Befunde erklären kann, wird dadurch belegt, dass eine Liquorpunktion (Höhe C1–C2) mit dem Ablassen von 20–25 ml Liquor unmittelbar zur Normalisierung des manometrisch erfassten Drucks im Sinus transversus führte (King et al. 2002). Dieses Ergebnis spricht eher für einen erhöhten intrakraniellen Druck als primären Faktor. Die Hypothese einer systemisch-venösen Druckerhöhung kann weder den PTC bei normalgewichtigen Patienten noch die medikamentös induzierten PTC-Formen erklären. Auch endokrine und metabolische Faktoren scheinen beim PTC eine Rolle zu spielen. In retrospektiven Fallstudien wurden Assoziationen des PTC mit Hypo- und Hyperparathyreoidismus, M. Addison und M. Cushing beschrieben. Interessant ist auch die Beobachtung, dass bei Patientinnen mit PTC gehäuft polyzystische Ovarien gefunden werden (PCOS, »polycystic ovary syndrome«), sodass hier ein Zusammenhang mit der beim PCOS vorliegenden Hyperöstrogenämie vermutet wurde (Glueck et al. 2005). Neuere Arbeiten weisen auf eine Dysregulation der Cortisol-Produktion durch die gesteigerte Aktivität der 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase (Sinclair et al. 2010b) oder eine hypothalamische Leptin-Resistenz (Ball et al. 2009) beim PTC hin. Weiterhin scheint eine Anzahl von Medikamenten das Auftreten eines PTC zu begünstigen (Tab. A 9.3). Tab. A 9.3: Medikamentös-induzierter cerebri Pseudotumor Tetrazykline (Tetrazyklin, Minozyklin) (Weese-Mayer et al. 2001, Weller et al. 1994) Vitamin A (Donahue 2000) Retinoide (Isotretinoin, Acitretin) (Katz et al. 1999, Shalita et al. 1983) In Einzelfällen: Abruptes Absetzen von Kortikosteroiden (Cardinale et al. 1991) Amiodaron (Ahmad 1996) Amphotericin B (Heudier et al. 1992) Budenosid (Levine et al. 2001) Ciclosporin A (Cruz 1993) Cytarabin (Fort und Smith 1999) Danazol (Hamed et al. 1989) Lithiumcarbonat (Levine und Puchalski 1990) L-Thyroxin (Campos und Olitsky 1995) Nalidixinsäure (Riyaz et al. 1998) Ofloxacin, Ciprofloxacin (Getenet et al. 1993, Winrow und Supramaniam 1990) Rekombinantes Wachstumshormon (rhGH) (Rogers et al. 1999) Rofecoxib (Jacob und Rajabally 2005) Sulfasalazin (Sevgi et al. 2008) Primäres Ziel der Behandlung ist es, einen Sehnerven- oder Netzhautschaden zu vermeiden. Die Behandlung ist pathophysiologisch begründet. Alle Empfehlungen beruhen auf offenen Studien und persönlichen Erfahrungen (). Die erste randomisierte große Multicenter-Studie (Idiopathic Intracranial Hypertension Treatment Trial [IIHTT]; University of Iowa; NCT01003639) zur medikamentösen und diätetischen Therapie wurde Ende 2009 initiiert. Ergebnisse sind nicht vor 2014 zu erwarten. Verglichen werden Acetazolamid, Placebo und diätetische Maßnahmen. Zur unmittelbaren Senkung des gesteigerten intrakraniellen Drucks eignet sich die LP; 20–30 % der Patienten profitieren bereits von der ersten LP (Ahlskog und O’Neill 1982, Colebatch und Lance 1983, Susman 1990) (, A). Ein bislang aufgrund fehlender prospektiver Untersuchungen nur grob abzuschätzender Anteil der Patienten (nach unserer Erfahrung die überwiegende Mehrheit) kann durch wiederholte LP mit zusätzlicher medikamentöser Therapie und Gewichtsreduktion erfolgreich behandelt werden. Gewichtsreduktion ist eine sinnvolle Maßnahme in der Behandlung des idiopathischen PTC bei allen übergewichtigen Patienten (BMI > 25 kg/m2), insbesondere bei ausgeprägter Obesitas (BMI > 30 kg/ m2). Die Effizienz einer diätetischen Gewichtsreduktion für die Rückbildung der Stauungspapillen ist in retrospektiven Untersuchungen (z. B. Johnson et al. 1998) und in einer prospektiven Kohortenstudie an 25 Frauen mit BMI > 25 kg/m2 belegt (Sinclair et al. 2010a) (, A). Eine niedrigkalorische Diät (425 kcal/Tag) über 3 Monate führte dabei zu einer mittleren Gewichtsreduktion von 15,7 kg. Chirurgische Interventionen zur Gewichtsreduktion (Rouxen-Y-Bypass) sind ebenfalls effektiv (Sugerman et al. 1995), sollten aber nur bei therapieresistenter Symptomatik und Adipositas permagna in Betracht gezogen werden (, C). Die medikamentöse Therapie stützt sich bislang auf Acetazolamid und Furosemid (Bandyopadhyay 2001, Wall 1991). Acetazolamid (z. B. Diamox®), ein Carboanhydrase-Inhibitor, senkt die Liquorproduktion und wirkt wie Furosemid (z. B. Lasix®) diuretisch. Unklar ist, ob die therapeutische Wirkung durch die verminderte Liquorproduktion oder die diuretischen Eigenschaften (Senkung des ZVD) zurückzuführen ist. Kortikosteroide sind aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils (Gewichtszunahme, erhöhtes Thromboserisiko, vermehrte Flüssigkeitsretention), insbesondere aber wegen des Rezidivrisikos nach Absetzen, zur Therapie des PTC nicht geeignet. Topiramat (z. B. Topamax®) ist von Interesse, da es zum einen häufig eine Gewichtsabnahme begünstigt, zum anderen auch über eine Reduktion der Liquorproduktion wirken könnte. In einer offenen, randomisierten Studie über 12 Monate wurden 40 Patienten (35 Frauen) mit Topiramat (100–150 mg/ Tag) oder Acetazolamid (1 000–1 500 mg/Tag) behandelt. Beide Substanzen führten zu einer vergleichbaren Besserung der Kopfschmerzen und Sehstörungen (Celebisoy et al. 2007) (, B). Prospektive randomisierte Studien zu operativen Verfahren existieren nicht. Die mikrochirurgische Dekompression durch retrobulbäre Fensterung der Optikusscheide (ONSF) (, B) ist geeignet, einen rasch fortschreitenden Visusverlust beim PTC zu behandeln. Hierbei wird durch longitudinale Inzisionen der Optikusscheide ein Liquorabfluss geschaffen, der insbesondere den Sehnervenkopf zu entlasten scheint (Hamed et al. 1992). Die mittlere Erfolgsquote beträgt ca. 85 % für eine Besserung oder Stabilisierung von Sehschärfe und perimetri79 A 9 BDG_neu.book Seite 80 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 Schmerz Tab. A 9.4: Ausgewählte Studien zur Fensterung der Optikusscheide bei Patienten mit idiopathischem PTC Fensterung der Optikusscheide (, B) Quelle Patientenzahl* Therapieerfolg† Follow-Up‡ Komplikationen Sergott et al. 1988 23 100 % 25 Monate 1 Auge perilimbales konjunktivales Bläschen Kelman et al. 1991, 1992 17 97 % 17 Monate 1 Auge Hämatom orbital Spoor und McHenry 1993 54 68 % 0,5–5 Jahre n/a Acheson et al. 1994 11 85 % 2 Jahre 1 Auge kontralateral Sehnervschwellung und Verschleierung Herzau et al. 1998 14 73 % 62 Monate vereinzelt reversible sektorielle Lähmung des Sphinkter pupillae Villain et al. 1999 5 100 % 16 Monate 0% Banta und Farris 2000 86 94 % 20 Monate reversibel: 35 % Doppelbilder, 7 % Anisokorie, 1 % Orbitaspitzensyndrom, 1 % Optikusneuropathie, traumatisch, irreversibel: 1 Auge kompletter Sehverlust 1 Auge Adduktionsdefizit für 6 Wochen n/a = keine Angaben; * = z. T. bilateral operiert; † = Besserung oder Stabilisierung des Sehvermögens; ‡ = Mittelwert. Tab. A 9.5: Daten zur Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts bei Patienten mit idiopathischem PTC Ventrikuloperitonealer Liquorshunt (, B) Quelle Patientenzahl Therapieerfolg Follow-Up Revisionen/Komplikationen Tulipan et al. 1998 7 Besserung der Stauungspapillen in 100 %, Besserung der Kopfschmerzen in 86 % 4–17 Monate 0% Bynke et al. 2004 17 Besserung der Stauungspapillen in 100 %, Besserung der Kopfschmerzen in 100 % 1,8–12,8 Jahre (Mittelwert 6,5 Jahre) 0 % perioperative Morbidität/ Mortalität 41 % Revisionen im Verlauf (Ursachen: 9 % Dislokation, 9 % Infektionsverdacht [Kultur negativ], 18 % Abdominalwand-Zyste, 5 % ShuntObstruktion) schem Befund (Tab. A 9.4). Der intrakranielle Druck und der Kopfschmerz werden wenig beeinflusst. Eine retrospektive Analyse an 78 Patienten belegt, dass eine unilaterale ONSF im Verlauf von 12 Monaten zu einem anhaltenden Rückgang der Stauungspapillen beidseits führt (Alsuhaibani et al. 2011). Die Besserung nach ONSF wurde in offenen, nicht-kontrollierten Langzeitstudien gezeigt (individuelle Beobachtungszeiträume bis 145 Monate) (Herzau und Baykal 1998, Sergott et al. 1988, Spoor und McHenry 1993). Schreitet die Visusminderung trotz ONSF fort, ist ein ventrikulo- oder lumboperitonealer Shunt indiziert. Die Angaben zum Auftreten von leichteren Komplikationen der ONSF (transiente Diplopie oder Pupillenstörung) variieren von 0 % (Villain et al. 1999) bis > 40 % (Banta und Farris 2000) (Tab. A 9.4). Ernste Komplikationen sind sehr selten. Ventrikuloperitoneale (VP-)Shuntsysteme sind beim PTC im kurz- und längerfristigen Verlauf effektiv (Bynke et al. 2004, Tulipan et al. 1998) (Tab. A 9.5) (, B). Sie sollten angewendet werden, 80 wenn die konservative Therapie versagt. Die Komplikationsraten sind deutlich geringer als beim früher eingesetzten lumboperitonealen Shunt. So mussten in einer retrospektiven Analyse (McGirt et al. 2004) 2,5-mal häufiger lumboperitoneale Shunts revidiert werden als VP-Shuntsysteme, v. a. wegen Shunt-Obstruktion. Die Mortalität der Shunt-Prozedur beim PTC wird mit 0,9 % für VP-Shunts und 0,2 % für lumboperitoneale angegeben (Curry et al. 2005; retrospektive Serie mit 2 779 Patienten, operiert zwischen 1988 und 2002). A 9.4 Pragmatische Therapie Das bei uns übliche stufenweise Vorgehen ist in Abb. A 9.1 vereinfacht dargestellt. Die therapeutischen Maßnahmen orientieren sich vor allem an der Abnahme des Sehvermögens bzw. der Zunahme der Gesichtsfeldeinschränkung; das Gesichtsfeld wird initial regelmäßig (z. B. wöchentlich) perimetrisch kontrolliert. Die Mehrzahl der