PTC - Libreka

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C. Gerloff
Pseudotumor
cerebri (PTC)
ISBN 978-3-17-024473-3
Kapitel A9 aus
T. Brandt, H.C. Diener, C. Gerloff (Hrsg.)
Therapie und Verlauf
neurologischer Erkrankungen
6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012
Kohlhammer
BDG_neu.book Seite 77 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09
A
9
A9
Pseudotumor cerebri (PTC)
von C. Gerloff
In der Differentialdiagnose chronischer Kopfschmerzen muss insbesondere bei übergewichtigen
Frauen im gebärfähigen Alter an den Pseudotumor
cerebri (PTC; engl. idiopathic intracranial hypertension, IIH) gedacht werden.
A 9.1
Klinik
Der PTC ist ein pathogenetisch heterogenes Syndrom mit der Schlüsselkonstellation Liquordrucksteigerung und Stauungspapille ohne intrakranielle
Raumforderung und ohne Hydrozephalus. Der PTC
kann ohne erkennbare Ursache (idiopathisch) oder
als Folge einer Sinusvenenthrombose, bei erhöhtem
zentral-venösen Druck (ZVD) und medikamentös
induziert auftreten (symptomatisch). In Einzelfällen
kann ein PTC auch Folge einer arteriovenösen Malformation oder Durafistel sein.
A 9.1.1
Symptome
Kopfschmerzen, ein- oder beidseitig, häufig pulsierend und gelegentlich begleitet von Übelkeit und Erbrechen, sind das häufigste (80–100 %) und meist
auch erste Symptom, gefolgt von Obskurationen
(60–82 %), Gesichtsfeldausfällen (50–73 %), Visusminderung (20–75 %) bis zur vollständigen Erblindung (1–5 %), Doppelbildern (20–40 %; meist
Abduzensparesen) und Tinnitus (60–65 %; z. T. pulsatil) (Giuseffi et al. 1991, Radhakrishnan et al. 1994,
Rudnick und Sismanis 2005, Skau et al. 2011, Soler
et al. 1998). Selten werden retinale Metamorphopsien (Warner und Katz 2005), Fazialisparesen (Tzoufi
et al. 2010), Gesichtsschmerzen, Sensibilitätsstörungen (Round und Keane 1988) oder Trochlearisparesen (Speer et al. 1999) beobachtet. Bewusstseinsstörungen gehören nicht zum Bild des PTC. Beidseitige
Stauungspapillen sind charakteristisch, der Papillenbefund kann aber variieren, sodass in Einzelfällen auch nur eine Papille betroffen ist (z. B. Saito et
al. 1999). Bei Kindern stehen weniger Kopfschmerzen oder Sehstörungen als vielmehr Abgeschlagenheit und Irritabilität im Vordergrund (Lessell 1992).
A 9.1.2
Diagnose und
Differentialdiagnose
Neben der klinisch-neurologischen Untersuchung
mit Visusprüfung, Fingerperimetrie und Fundoskopie sollten immer eine kraniale Bildgebung und eine
Lumbalpunktion (LP) mit Druckmessung erfolgen.
Die kraniale Kernspintomographie (cMRT) mit
MR-Phlebographie und Darstellung der venösen
Sinus bietet die umfassendsten Informationen; falls
nicht verfügbar, kann alternativ ein sekundär kontrastmittelangehobenes kraniales Computertomogramm (cCT) durchgeführt werden. Eine ausführliche
neuroophthalmologische
Untersuchung
(einschließlich Perimetrie) gehört zur Initialdiagnostik. Auch die optische Kohärenztomographie
(OCT) kann für Verlaufsuntersuchungen herangezogen werden (Skau et al. 2010, 2011).
Die diagnostischen Kriterien (Ball und Clarke 2006,
Friedman und Jacobson 2002) sind in Tabelle A 9.1
gelistet. Sie entsprechen im Wesentlichen den modifizierten Dandy-Kriterien, wurden aber an die verbesserten Möglichkeiten der intrakraniellen Bildgebung angepasst.
Die LP darf erst nach Ausschluss einer intrakraniellen Raumforderung durch bildgebende Verfahren
erfolgen. Der Liquoreröffnungsdruck, lumbal im
Liegen gemessen, ist auf > 25 cm H2O gesteigert.
Zytologischer und chemischer Liquorbefund sind
normal.
Das Hirnparenchym ist im cMRT und cCT normal.
Typische Befunde sind erweiterte Optikusscheiden
(ca. 50 %) und das »empty sella«-Zeichen (ca. 50 %)
(Fraser und Plant 2011, Hassan et al. 2010, Weisberg
und Nice 1977, Weisberg et al. 1975). Beides kann
sich nach erfolgreicher Therapie zurückbilden (Zagardo et al. 1996). Die Ventrikel sind eher schmal
(bis hin zu sog. Schlitzventrikeln), niemals erweitert
(Johnston und Morgan 1991). Mittels cMRT und
MR-Phlebographie müssen frische Thrombosen der
venösen Sinus oder inneren Hirnvenen und intrakranielle vaskuläre Malformationen mit konsekutiver venöser Druckerhöhung ausgeschlossen werden
(s. Kap. E 8). Das cMRT ist dem cCT in mehrfacher
Hinsicht überlegen: Papillenödem und Erweiterung
der Optikusscheiden können präziser dargestellt
werden (Brodsky 1997, Brodsky und Glasier 1995,
Jinkins et al. 1996), die Darstellung der venösen
Blutleiter gelingt besser (Rohr et al. 2011), das MRT
ist sensitiver für die Detektion diffuser raumfordernder Prozesse im Marklager.
Differentialdiagnostisch müssen andere Ursachen
einer Liquordrucksteigerung ausgeschlossen werden (Tab. A 9.2). Hierzu gehören neben Sinusvenenthrombosen Raumforderungen, chronische infektiöse oder tumoröse meningeale Reizzustände
und Störungen der Liquorzirkulation durch erhöhten Liquoreiweißgehalt wie beim Guillain-BarréSyndrom oder durch einen spinalen Tumor. Weiterhin kann eine Stauungspapille durch Anomalien
bzw. Erkrankungen der Papille vorgetäuscht werden. Ein entzündliches oder ischämisches Papillenödem führt in der Regel zu sofortigem Visusverlust
77
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Schmerz
und ist wie die Zentralvenenthrombose (Retinopathie infolge venöser Stase) praktisch immer einseitig. Allerdings kann auch eine Sarkoidose bilaterale
Stauungspapillen verursachen und einen PTC vortäuschen (Pelton et al. 1999). Drusen können ein differentialdiagnostisches Problem darstellen, insbesondere wenn der Patient über Kopfschmerzen
klagt. In diesem Fall zeigt das cCT oder die Sonographie häufig Mikrokalzifikationen der Papille, und
der Liquordruck ist nicht erhöht.
Tab. A 9.1:
Diagnosekriterien des idiopathischen PTC
(nach Friedman und Jacobson 2002)
1. Wenn subjektive Symptome vorhanden sind, dürfen
diese ausschließlich auf einen generalisiert erhöhten
intrakraniellen Druck oder auf ein Papillenödem zurückzuführen sein
2. Wenn klinisch objektivierbare Defizite vorhanden
sind, dürfen diese ausschließlich auf einen generalisiert erhöhten intrakraniellen Druck oder auf ein
Papillenödem zurückzuführen sein
3. Nachweis eines erhöhten Liquordrucks anhand
Druckmessung bei Lumbalpunktion in Seitenlage
4. Normale Zusammensetzung des Liquors
5. Kein Hinweis auf Hydrozephalus, intrakranielle
Raumforderung, strukturelle oder vaskuläre Läsionen im cMRT oder kontrastmittelangehobenen cCT
bei Patienten mit typischem klinischen Bild; bei allen
anderen Patienten zusätzlich Ausschluss pathologischer Befunde in cMRT und MR-Phlebographie
6. Ausschluss anderer Ursachen eines gesteigerten intrakraniellen Drucks
Tab. A 9.2:
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Differentialdiagnose von Stauungspapillen
und Kopfschmerzen
Pseudotumor cerebri
Intrakranielle Raumforderung
Sinusvenenthrombose
Dekompensierte Anlageanomalie des Ventrikelsystems
Chronische infektiöse oder tumoröse meningeale
Reizung
Erhöhtes Liquoreiweiß
Papillenanomalie (Drusen)
Entzündliches Papillenödem
Zentralvenenthrombose der Retina
A 9.2
Verlauf
Die Inzidenz des PTC in der Allgemeinbevölkerung
beträgt etwa 1/100 000 (Übersicht bei Ball und Clarke 2006), ist bei übergewichtigen Frauen im Alter
von 15 bis 44 Jahren jedoch um das 10–20fache gesteigert. In einem kleineren Kollektiv (n = 20, davon
19 Frauen) war der mittlere Body-Mass-Index
(BMI) > 32 kg/m2 (Soler et al. 1998), in einer anderen Untersuchung das Körpergewicht um 38 % über
dem Idealgewicht (Durcan et al. 1988). Das Verhältnis Frauen : Männer beträgt 8–19 : 1. Die Symptome
sind bei Frauen und Männern ähnlich. Die extreme
Adipositas ist bei Frauen mit PTC häufiger (Frauen
78 %; Männer 25 %; Kesler und Gadoth 2001), bei
Männern mit PTC liegt häufiger ein obstruktives
Schlafapnoe-Syndrom vor (Wall und Purvin 2009)
und sie sind bei Erstmanifestation älter (Frauen vs.
Männer: 28 vs. 37 Jahre; Bruce et al. 2009).
Prospektive Studien zum Spontanverlauf existieren
nicht, ohne Therapie ist aber von einer chronisch78
progredienten Visusminderung bis hin zur Erblindung auszugehen. In der Regel gelingt es, den intrakraniellen Druck konservativ oder invasiv zu senken, sodass sich Stauungspapillen und Sehstörungen
zurückbilden. Die Rückbildung des Papillenödems
ist unter Therapie im Verlauf von 2–5 Monaten zu
erwarten (Johnson et al. 1998, Soler et al. 1998), Besserungen von Abduzensparesen scheinen rascher
einzutreten (Cinciripini et al. 1999). Bei 4–12 % der
Patienten kommt es trotz Therapie zu einer irreversiblen Optikusschädigung (vollständiger Visusverlust in ca. 1–5 %); etwa 20 % der Betroffenen erleiden eine dauernde Visusminderung und etwa 70 %
bleibende Gesichtsfelddefekte (Ahlskog und O’Neill
1982, Corbett und Thompson 1989, Wall und George 1987). In einer offenen Studie zum Verlauf unter
Therapie erhielten 17 Patienten Acetazolamid (in
einem Fall zusätzlich Furosemid, in einem weiteren
alternativ Topiramat) in Verbindung mit diätetischen Maßnahmen (Skau et al. 2011). Nach 3 Monaten kam es bei 65 % der Patienten zu einer vollständigen, bei 29 % zu einer partiellen Besserung, 6 %
sprachen nicht auf die Therapie an. Die individuelle
Neigung zur intrakraniellen Hypertension muss als
chronisch angesehen werden, spontane Remissionen oder andauernde Remission nach kurzfristiger
medikamentöser Therapie kommen selten vor
(Ahlskog und O’Neill 1982, Leu et al. 1982, Noggle
und Rodning 1986, Shapiro 1978).
Zuverlässige Prädiktoren für einen benignen Verlauf
gibt es nicht (Arienta et al. 1990, Ball und Clarke
2006). Patienten mit konservativ therapiertem PTC
neigen zu Rezidiven (ca. 40–60 %) (Kesler et al.
2004, Soler et al. 1998), z. B. nach Absetzen der Medikation oder bei erneuter Gewichtszunahme.
A 9.3
Therapeutische Prinzipien
Die Mechanismen, die zur Entwicklung eines idiopathischen PTC führen, sind nicht geklärt. Es existieren die »Sinusstenosen-Hypothese«, die »Adipositas-Hypothese« und die »endokrine Hypothese«.
Sehr wahrscheinlich ist, dass alle genannten Aspekte
zusammenwirken und schließlich in das Bild des
PTC münden.
Es wird von einigen Autoren angenommen, dass
dem idiopathischen PTC lokale venöse Abflussstörungen zugrunde liegen, insbesondere Lumeneinengungen in den Sinus transversi (Bussiere et al.
2010, De Simone et al. 2010, Donnet et al. 2008,
Rohr et al. 2011). Berichte, nach denen einzelne
PTC-Patienten mit partieller uni- oder bilateraler
Sinusobstruktion nach Stenteinlage in einen Sinus
transversus eine Besserung zeigten (Higgins et al.
2002, Ogungbo et al. 2003, Rajpal et al. 2005), stehen
allerdings Berichte gegenüber, die eher darauf hinweisen, dass die Einengung der Sinus Folge und
nicht Ursache der intrakraniellen Hypertension ist
(Higgins et al. 2002, Rohr et al. 2011).
Die häufige Assoziation mit Adipositas könnte für
eine systemisch-venöse Druckerhöhung als pathogenetischen Faktor beim PTC sprechen, da es bei
extremer Adipositas zu einer Zunahme des intraabdominellen und damit des zentralvenösen Drucks
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Pseudotumor cerebri (PTC)
(ZVD) kommt. Dass die Theorie einer Erhöhung
des venösen Drucks aber nur einen Teil der Befunde
erklären kann, wird dadurch belegt, dass eine Liquorpunktion (Höhe C1–C2) mit dem Ablassen von
20–25 ml Liquor unmittelbar zur Normalisierung
des manometrisch erfassten Drucks im Sinus transversus führte (King et al. 2002). Dieses Ergebnis
spricht eher für einen erhöhten intrakraniellen
Druck als primären Faktor. Die Hypothese einer systemisch-venösen Druckerhöhung kann weder den
PTC bei normalgewichtigen Patienten noch die medikamentös induzierten PTC-Formen erklären.
Auch endokrine und metabolische Faktoren scheinen beim PTC eine Rolle zu spielen. In retrospektiven Fallstudien wurden Assoziationen des PTC mit
Hypo- und Hyperparathyreoidismus, M. Addison
und M. Cushing beschrieben. Interessant ist auch
die Beobachtung, dass bei Patientinnen mit PTC
gehäuft polyzystische Ovarien gefunden werden
(PCOS, »polycystic ovary syndrome«), sodass hier
ein Zusammenhang mit der beim PCOS vorliegenden Hyperöstrogenämie vermutet wurde (Glueck et
al. 2005). Neuere Arbeiten weisen auf eine Dysregulation der Cortisol-Produktion durch die gesteigerte
Aktivität der 11β-Hydroxysteroid-Dehydrogenase
(Sinclair et al. 2010b) oder eine hypothalamische
Leptin-Resistenz (Ball et al. 2009) beim PTC hin.
Weiterhin scheint eine Anzahl von Medikamenten das Auftreten eines PTC zu begünstigen
(Tab. A 9.3).
Tab. A 9.3:
Medikamentös-induzierter
cerebri
Pseudotumor
Tetrazykline (Tetrazyklin, Minozyklin) (Weese-Mayer et
al. 2001, Weller et al. 1994)
Vitamin A (Donahue 2000)
Retinoide (Isotretinoin, Acitretin) (Katz et al. 1999,
Shalita et al. 1983)
In Einzelfällen:
Abruptes Absetzen von Kortikosteroiden (Cardinale et
al. 1991)
Amiodaron (Ahmad 1996)
Amphotericin B (Heudier et al. 1992)
Budenosid (Levine et al. 2001)
Ciclosporin A (Cruz 1993)
Cytarabin (Fort und Smith 1999)
Danazol (Hamed et al. 1989)
Lithiumcarbonat (Levine und Puchalski 1990)
L-Thyroxin (Campos und Olitsky 1995)
Nalidixinsäure (Riyaz et al. 1998)
Ofloxacin, Ciprofloxacin (Getenet et al. 1993, Winrow
und Supramaniam 1990)
Rekombinantes Wachstumshormon (rhGH) (Rogers et
al. 1999)
Rofecoxib (Jacob und Rajabally 2005)
Sulfasalazin (Sevgi et al. 2008)
Primäres Ziel der Behandlung ist es, einen Sehnerven- oder Netzhautschaden zu vermeiden. Die Behandlung ist pathophysiologisch begründet. Alle
Empfehlungen beruhen auf offenen Studien und
persönlichen Erfahrungen (). Die erste randomisierte große Multicenter-Studie (Idiopathic Intracranial Hypertension Treatment Trial [IIHTT];
University of Iowa; NCT01003639) zur medikamentösen und diätetischen Therapie wurde Ende 2009
initiiert. Ergebnisse sind nicht vor 2014 zu erwarten.
Verglichen werden Acetazolamid, Placebo und diätetische Maßnahmen.
Zur unmittelbaren Senkung des gesteigerten intrakraniellen Drucks eignet sich die LP; 20–30 % der
Patienten profitieren bereits von der ersten LP
(Ahlskog und O’Neill 1982, Colebatch und Lance
1983, Susman 1990) (, A). Ein bislang aufgrund
fehlender prospektiver Untersuchungen nur grob
abzuschätzender Anteil der Patienten (nach unserer
Erfahrung die überwiegende Mehrheit) kann durch
wiederholte LP mit zusätzlicher medikamentöser
Therapie und Gewichtsreduktion erfolgreich behandelt werden.
Gewichtsreduktion ist eine sinnvolle Maßnahme in
der Behandlung des idiopathischen PTC bei allen
übergewichtigen Patienten (BMI > 25 kg/m2), insbesondere bei ausgeprägter Obesitas (BMI > 30 kg/
m2). Die Effizienz einer diätetischen Gewichtsreduktion für die Rückbildung der Stauungspapillen
ist in retrospektiven Untersuchungen (z. B. Johnson
et al. 1998) und in einer prospektiven Kohortenstudie an 25 Frauen mit BMI > 25 kg/m2 belegt (Sinclair
et al. 2010a) (, A). Eine niedrigkalorische Diät
(425 kcal/Tag) über 3 Monate führte dabei zu einer
mittleren Gewichtsreduktion von 15,7 kg. Chirurgische Interventionen zur Gewichtsreduktion (Rouxen-Y-Bypass) sind ebenfalls effektiv (Sugerman et al.
1995), sollten aber nur bei therapieresistenter Symptomatik und Adipositas permagna in Betracht gezogen werden (, C).
Die medikamentöse Therapie stützt sich bislang auf
Acetazolamid und Furosemid (Bandyopadhyay
2001, Wall 1991). Acetazolamid (z. B. Diamox®), ein
Carboanhydrase-Inhibitor, senkt die Liquorproduktion und wirkt wie Furosemid (z. B. Lasix®) diuretisch. Unklar ist, ob die therapeutische Wirkung
durch die verminderte Liquorproduktion oder die
diuretischen Eigenschaften (Senkung des ZVD) zurückzuführen ist. Kortikosteroide sind aufgrund
ihres Nebenwirkungsprofils (Gewichtszunahme,
erhöhtes Thromboserisiko, vermehrte Flüssigkeitsretention), insbesondere aber wegen des Rezidivrisikos nach Absetzen, zur Therapie des PTC nicht geeignet. Topiramat (z. B. Topamax®) ist von Interesse,
da es zum einen häufig eine Gewichtsabnahme begünstigt, zum anderen auch über eine Reduktion der
Liquorproduktion wirken könnte. In einer offenen,
randomisierten Studie über 12 Monate wurden 40
Patienten (35 Frauen) mit Topiramat (100–150 mg/
Tag) oder Acetazolamid (1 000–1 500 mg/Tag) behandelt. Beide Substanzen führten zu einer vergleichbaren Besserung der Kopfschmerzen und Sehstörungen (Celebisoy et al. 2007) (, B).
Prospektive randomisierte Studien zu operativen
Verfahren existieren nicht. Die mikrochirurgische
Dekompression durch retrobulbäre Fensterung der
Optikusscheide (ONSF) (, B) ist geeignet, einen
rasch fortschreitenden Visusverlust beim PTC zu
behandeln. Hierbei wird durch longitudinale Inzisionen der Optikusscheide ein Liquorabfluss geschaffen, der insbesondere den Sehnervenkopf zu
entlasten scheint (Hamed et al. 1992). Die mittlere
Erfolgsquote beträgt ca. 85 % für eine Besserung
oder Stabilisierung von Sehschärfe und perimetri79
A
9
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Schmerz
Tab. A 9.4:
Ausgewählte Studien zur Fensterung der Optikusscheide bei Patienten mit idiopathischem PTC
Fensterung der Optikusscheide (, B)
Quelle
Patientenzahl*
Therapieerfolg†
Follow-Up‡
Komplikationen
Sergott et al.
1988
23
100 %
25 Monate
1 Auge perilimbales konjunktivales Bläschen
Kelman et al.
1991, 1992
17
97 %
17 Monate
1 Auge Hämatom orbital
Spoor und
McHenry 1993
54
68 %
0,5–5 Jahre
n/a
Acheson et al.
1994
11
85 %
2 Jahre
1 Auge kontralateral Sehnervschwellung und
Verschleierung
Herzau et al.
1998
14
73 %
62 Monate
vereinzelt reversible sektorielle Lähmung des
Sphinkter pupillae
Villain et al.
1999
5
100 %
16 Monate
0%
Banta und Farris 2000
86
94 %
20 Monate
reversibel: 35 % Doppelbilder, 7 % Anisokorie, 1 % Orbitaspitzensyndrom, 1 % Optikusneuropathie, traumatisch, irreversibel:
1 Auge kompletter Sehverlust
1 Auge Adduktionsdefizit für 6 Wochen
n/a = keine Angaben; * = z. T. bilateral operiert; † = Besserung oder Stabilisierung des Sehvermögens; ‡ = Mittelwert.
Tab. A 9.5:
Daten zur Anlage eines ventrikuloperitonealen Shunts bei Patienten mit idiopathischem PTC
Ventrikuloperitonealer Liquorshunt (, B)
Quelle
Patientenzahl
Therapieerfolg
Follow-Up
Revisionen/Komplikationen
Tulipan et al. 1998
7
Besserung der
Stauungspapillen in 100 %,
Besserung der
Kopfschmerzen in 86 %
4–17 Monate
0%
Bynke et al. 2004
17
Besserung der
Stauungspapillen in 100 %,
Besserung der
Kopfschmerzen in 100 %
1,8–12,8 Jahre
(Mittelwert 6,5
Jahre)
0 % perioperative Morbidität/
Mortalität 41 % Revisionen im
Verlauf (Ursachen: 9 % Dislokation, 9 % Infektionsverdacht
[Kultur negativ], 18 % Abdominalwand-Zyste, 5 % ShuntObstruktion)
schem Befund (Tab. A 9.4). Der intrakranielle
Druck und der Kopfschmerz werden wenig beeinflusst. Eine retrospektive Analyse an 78 Patienten
belegt, dass eine unilaterale ONSF im Verlauf von 12
Monaten zu einem anhaltenden Rückgang der Stauungspapillen beidseits führt (Alsuhaibani et al.
2011). Die Besserung nach ONSF wurde in offenen,
nicht-kontrollierten Langzeitstudien gezeigt (individuelle Beobachtungszeiträume bis 145 Monate)
(Herzau und Baykal 1998, Sergott et al. 1988, Spoor
und McHenry 1993). Schreitet die Visusminderung
trotz ONSF fort, ist ein ventrikulo- oder lumboperitonealer Shunt indiziert. Die Angaben zum Auftreten von leichteren Komplikationen der ONSF
(transiente Diplopie oder Pupillenstörung) variieren
von 0 % (Villain et al. 1999) bis > 40 % (Banta und
Farris 2000) (Tab. A 9.4). Ernste Komplikationen
sind sehr selten.
Ventrikuloperitoneale (VP-)Shuntsysteme sind
beim PTC im kurz- und längerfristigen Verlauf
effektiv (Bynke et al. 2004, Tulipan et al. 1998)
(Tab. A 9.5) (, B). Sie sollten angewendet werden,
80
wenn die konservative Therapie versagt. Die
Komplikationsraten sind deutlich geringer als beim
früher eingesetzten lumboperitonealen Shunt. So
mussten in einer retrospektiven Analyse (McGirt et
al. 2004) 2,5-mal häufiger lumboperitoneale Shunts
revidiert werden als VP-Shuntsysteme, v. a. wegen
Shunt-Obstruktion. Die Mortalität der Shunt-Prozedur beim PTC wird mit 0,9 % für VP-Shunts und
0,2 % für lumboperitoneale angegeben (Curry et al.
2005; retrospektive Serie mit 2 779 Patienten, operiert zwischen 1988 und 2002).
A 9.4
Pragmatische Therapie
Das bei uns übliche stufenweise Vorgehen ist in
Abb. A 9.1 vereinfacht dargestellt.
Die therapeutischen Maßnahmen orientieren sich
vor allem an der Abnahme des Sehvermögens bzw.
der Zunahme der Gesichtsfeldeinschränkung; das
Gesichtsfeld wird initial regelmäßig (z. B. wöchentlich) perimetrisch kontrolliert. Die Mehrzahl der
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