Soziale Klassen in Amerika Autor(en): L.R. Objekttyp: Article Zeitschrift: Rote Revue : sozialistische Monatsschrift Band (Jahr): 29 (1950) Heft 10 PDF erstellt am: 26.10.2017 Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-336498 Nutzungsbedingungen Die ETH-Bibliothek ist Anbieterin der digitalisierten Zeitschriften. Sie besitzt keine Urheberrechte an den Inhalten der Zeitschriften. Die Rechte liegen in der Regel bei den Herausgebern. Die auf der Plattform e-periodica veröffentlichten Dokumente stehen für nicht-kommerzielle Zwecke in Lehre und Forschung sowie für die private Nutzung frei zur Verfügung. Einzelne Dateien oder Ausdrucke aus diesem Angebot können zusammen mit diesen Nutzungsbedingungen und den korrekten Herkunftsbezeichnungen weitergegeben werden. Das Veröffentlichen von Bildern in Print- und Online-Publikationen ist nur mit vorheriger Genehmigung der Rechteinhaber erlaubt. 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Schon heute beginnen nicht wenige Ameri¬ kaner, besonders in der Arbeiterschaft und in liberalen Kreisen, die Natur des politischen Katholizismus zu begreifen und allmählich zu erkennen, daß er nicht weniger das Instrument einer fremden Macht darstellt als der Stali¬ nismus — unvereinbar mit der Emanzipierung der Massen, reaktionär und totalitär. Es ist eine der Aufgaben amerikanischer Sozialisten, in diesem Sinne auf¬ klärend zu wirken. Soziale Klassen in Amerika Denver (USA), im September 1950 Es ist ein populärer Mythos in den Vereinigten Staaten, daß es in diesem Lande nicht nur keinen Klassenkampf, sondern auch keine sozialen Klassen gebe. Spricht man mit einem Amerikaner über das Problem, dann wird er in den meisten Fällen dieses Argument zitieren und damit die Überlegenheit der amerikanischen über die europäische Gesellschaftsstruktur beweisen wollen. Er wird behaupten, daß alle Amerikaner gleich frei seien; daß keine Vor¬ rechte der Geburt und des Eigentums existieren. Er wird ferner behaupten, daß jeder Arbeiter den kapitalistischen Marschallstab im Tornister trage, und diese These mit den Lebens- und Erfolgsgeschichten Henry Fords, John D. Rockefellers, Charles Schwabs, Andrew Carnegies, Thomas A. Edisons und andern illustrieren. Er wird die relative Kleinheit und Bedeutungslosig¬ keit der sozialistischen Parteien anführen, um zu beweisen, daß der Gedanke des Klassenkampfes bei der amerikanischen Arbeiterschaft keinen Widerhall findet. Und die Schlußfolgerung, die der amerikanische Gesprächspartner aus diesen «Beweisen» zieht, ist diejenige Goethes, der vor nahezu 150 Jahren — freilich von andern Voraussetzungen ausgehend — geschrieben hat: «Amerika, du hast es besser ...» Nichts wäre falscher, als am guten Glauben des so argumentierenden Amerikaners zu zweifeln. Der «durchschnittliche» Bürger der Vereinigten Staaten ist fest davon überzeugt, daß er in der besten aller möglichen Gesell¬ schaften lebe, und wenn die realen Tatsachen nicht mit den vorgefaßten Kon¬ zeptionen und Mythen übereinstimmen, dann werden sie zugunsten der letz433 teren ignoriert. So haben die Gründung der CIO-Gewerkschaften und die großen Streiks der dreißiger Jahre seine Ansicht über die Nichtexistenz des Klassenkampfes nicht geändert. Dasselbe gilt in bezug auf die Klassenstruktur der amerikanischen Gesellschaft — ein Thema, das in den letzten drei Jahr¬ zehnten von amerikanischen Soziologen intensiv bearbeitet worden ist. Wahr¬ scheinlich hat unser amerikanischer Gesprächspartner die klassischen Studien des Ehepaares Lynd über «Middletown» und von Lloyd Warner über «Yankee City» überhaupt nicht gelesen. Wird er darauf aufmerksam gemacht, so ist in den meisten Fällen eine negative Reaktion zu erwarten. Entweder wird er die Resultate der soziologischen Forschungen als «wissenschaftlichen Unsinn» klassifizieren, oder aber durch Wiedergabe seiner eigenen «praktischen» Er¬ fahrungen die These von der klassenlosen Gesellschaft zu stützen suchen. Was die Lynds, Warner und eine Anzahl anderer Soziologen praktisch demonstriert haben, ist die Existenz einer ausgeprägten Klassenstruktur in den Vereinigten Staaten. Dieses Phänomen ist relativ neueren Datums. Natür¬ lich hat es schon immer Klassenunterschiede in den USA gegeben. Die gesell¬ schaftliche Struktur der Südstaaten, die den Negern nur eine inferiore Position zubilligt, kann sogar als Kastensystem definiert werden. Was aber in den übrigen Gebieten der Vereinigten Staaten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschte, war ein «offenes Klassensystem». Ein Einwanderer aus Europa, der über keine Geldmittel verfügte, gehörte auch in Amerika zur untersten sozialen Klasse. Durch harte Arbeit und finanziellen Erfolg konnte aber ent¬ weder er selbst in eine höhere Klasse aufsteigen oder den Aufstieg seiner Kinder vorbereiten. Die Klassenstruktur war nicht fixiert. Mobilität von einer Klasse zur andern war möglich; wenn auch die sagenhaften Karrieren «vom Tellerwäscher zum Millionär» oder «vom Laufburschen zum Bankpräsidenten» nur auf ganz wenige Fälle beschränkt blieben. Das Charakteristikum der amerikanischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert ist das graduelle Verschwinden des Mobilitätsfaktors. Das Klassensystem wird immer starrer und gleicht sich ständig mehr dem europäischen System an. Für die übergroße Mehrheit aller Amerikaner gibt es heute keinen Aufstieg mehr aus der Klasse, in die sie geboren wurden. Besonders aufschlußreiche Belege für diese These sind in der fünfbändigen Serie «Yankee City» ent¬ halten, die Professor Lloyd Warner von der Universität Chicago mit einer Anzahl von Mitarbeitern publiziert hat. Warner und seine Assistenten stu¬ dierten die soziale Struktur von Newsburyport, Massachusets, einer «typi¬ schen» mittelgroßen amerikanischen Stadt. Das Ziel der Untersuchung war, festzustellen, ob es in Amerika soziale Klassen gebe und ob sich die Bewohner von Newsburyport dieser Klassenscheidung bewußt seien. Direkte Beobach434 tung und zahlreiche persönliche Interviews, die sich auf mehrere Jahre er¬ streckten, bildeten die Basis, von der die Soziologen ausgingen. Außer den Fragen über Herkunft, Beruf, Einkommen usw. suchten die Interviewer auch zu erfahren, wie der Befragte seine soziale Stellung einschätze und wie er von seinen Mitbürgern bewertet werde. Die klassische Antwort wurde einem Assistenten von einer jungen Frau gegeben. «Es wird behauptet», so erklärte diese Frau, «daß in unserer Stadt keine Klassen existieren; aber sie sind vorhanden. Es gibt eine obere, eine mittlere und eine untere Klasse. Dann sind noch Zwischenklassen da. Das Einkommen ist der Hauptfaktor, der die Klassenzugehörigkeit bestimmt. Aber es gibt auch noch andere Faktoren. Wichtig ist die Art, wie man sein Geld verwendet, wie man sich benimmt, welche Stellung man in der Stadt hat und zu welchen Klubs man gehört.» Die Auswertung der Untersuchungsergebnisse hat dieses Urteil vollkom¬ men bestätigt. Warner und seine Mitarbeiter fanden, daß es in Newsburyport drei scharf ausgeprägte Klassen gibt — eine Oberklasse, eine Mittelklasse und eine Unterklasse. Jede dieser Klassen ist wieder in zwei Subklassen aufgeteilt, so daß man eine obere und untere Oberklasse, obere und untere Mittelklasse, obere und untere Unterklasse unterscheiden kann. Prozentual ausgedrückt, gehören 3 Prozent der Bewohner Newsburyports zu den beiden Oberklassen, 39 Prozent zu den Mittelklassen und 58 Prozent zu den Unterklassen. Warners Bewertung des sozialen Prestiges und der Klassenzugehörigkeit ist auf vier Faktoren basiert. Erstens der Haustypus, wobei die Größe und der Zustand des Hauses sowie des umgebenden Rasens in Betracht gezogen werden. Besitz eines Hauses wird höher gewertet als eine Mietwohnung, und ein älteres, aber vornehmes Haus gilt mehr als ein neuerbautes. Der zweite Faktor ist die Gegend, in der man wohnt. Das soziale Prestige wird automatisch geringer, wenn die Nachbarschaft nicht «richtig» ist, das heißt, wenn Neger, Mexikaner und andere Angehörige der Unterklassen im selben Residenzdistrikt wohnen. Daß sich die Mitglieder der Mittel- und Ober¬ klassen dieser Tatsache bewußt sind, zeigt sich daran, daß sie den Zuzug der Unterklassen in ihre Wohnbezirke mit allen möglichen Mitteln zu verhindern suchen. Gelingt es ihnen nicht, die unerwünschten Elemente fernzuhalten, dann siedeln sie oft freiwillig in neue Residenzdistrikte über — ein Phänomen, das in der Geschichte amerikanischer Städte häufig vorgekommen ist. Drittens wird der professionelle Status bewertet, und zwar nach einer Prestigeskala, die von den Bewohnern Newsburyports selbst erarbeitet wurde. So werden zum Beispiel Doktoren und Rechtsanwälte hoch bewertet. Ein 435 Farmbesitzer rangiert über einem Pächter, ein geschulter Arbeiter über einem ungeschulten, ein Versicherungsagent über einem Autoverkäufer, usw. Endlich wird auch die EinkommensgweZZe in Betracht gezogen, nicht aber der Wert des Einkommens. Ererbter Reichtum rangiert vor erworbenem Reich¬ tum. Dann folgen Profite, Dividenden, Gehälter, Löhne und Fürsorgeunter¬ stützung in dieser Reihenfolge. Mit diesem Maßstab gemessen, hat der Eigen¬ tümer eines Geschäftes, der 3000 Dollar jährlich verdient, mehr soziales Pre¬ stige als ein Angestellter, der 5000 Dollar erhält. Das System ist nicht so kompliziert, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Warner und seine Mitarbeiter haben eine Punktbewertung für jeden Faktor ausgearbeitet, und die Addition aller Punkte ermöglicht es, die soziale Position oder die Klassenzugehörigkeit eines Individuums zu bestimmen. Ein niedriges Gesamtresultat zeigt die Zugehörigkeit zu den oberen Klassen an, während ein hohes Total für die Unterklassen charakteristisch ist. Wichtiger noch als die Ausarbeitung einer soziologischen Untersuchungs¬ methode und die Darstellung der Klassenschichtung — die durch zahlreiche Studien in andern Städten bestätigt wurde — sind die Schlußfolgerungen, die aus Warners Studie gezogen werden können. In den «Yankee-City»-Büchern wird wiederholt darauf hingewiesen, daß die amerikanische Klassenstruktur starr geworden ist. Die Mobilität von einer Klasse zur andern hat fast gänz¬ lich aufgehört. Die Mitglieder der oberen Klassen bilden soziale Gruppen für sich, die keine Außenseiter mehr aufnehmen wollen. Sie haben ihr eigenes soziales Leben, ihre eigenen Klubs und heiraten gewöhnlich auch innerhalb ihrer sozialen Klasse. Diese Tendenz darf nicht unterschätzt werden. Die Oberklassen dominieren nicht nur das Wirtschaftsleben Amerikas, sondern sind auch politisch überaus einflußreich, vor allem auf lokalem Gebiet. Das Resultat der Ausschließlichkeit ist, daß sich ihr Monopol hinsichtlich der ökonomischen und politischen Führerschaft immer mehr verstärkt. Tatsäch¬ lich existiert heute in den USA eine Aristokratie, die auf dem «Adel der Ge¬ burt» basiert. Die besten und finanziell ertragreichsten wirtschaftlichen Posi¬ tionen stehen nicht mehr dem «Selfmademan» offen, sondern sind für die Söhne der Manager und Direktoren bestimmt, die sich eine langjährige Uni¬ versitätsausbildung leisten können und auf Grund ihrer «Beziehungen» bei den Stellenbewerbungen vorgezogen werden. Die zweite wichtige Schlußfolgerung ist, daß der sogenannte «ameri¬ kanische Traum» keine reale Grundlage mehr hat. Der Glaube an den kapi¬ talistischen Marschallstab, an die Möglichkeit des Aufsteigens in eine höhere 436 Klasse, ist — wie Warners und andere soziologische Studien demonstrierten — eine phantastische Hoffnung, die nur noch in den seltensten Fällen in Erfül¬ lung geht. Das hat nicht verhindert, daß der Erfolgsmythos — wie bereits ein¬ leitend erwähnt — in den Vereinigten Staaten immer noch lebendig und popu¬ lär ist. Auch die amerikanische Arbeiterschaft hält noch an diesem «Ideale» fest, und die Tatsache, daß es bis heute noch nicht gelungen ist, eine starke sozialistische Partei aufzubauen, ist neben andern Faktoren auf das Fehlen eines der heutigen Situation schon entsprechenden Klassenbewußtseins zurück¬ zuführen*. Dieser Umstand muß wahrscheinlich stärker berücksichtigt wer¬ den, als es bisher der Fall war. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand, daß die Popularisierung der soziologischen Studien über die Klassenstruktur der Vereinigten Staaten beträchtlich dazu beitragen könnte, die prokapitalistische Mentalität zu überwinden, die die amerikanische Arbeiterschaft von ihren europäischen Kollegen unterscheidet, und die — solange sie existiert — den Fortschritt des amerikanischen Sozialismus zu einer utopischen Angelegen¬ L. R. heit macht. * In der Geschichte der sozialen Klassen kommt es oft vor, daß eine ökonomische Situation, aus der ein bestimmtes Interesse und ein bestimmtes Verhalten logischerweise hervorging, sich im Laufe der Zeit verändert, ohne daß diese Veränderung der betroffenen Gesellschaftsschicht auch rasch genug zu Bewußtsein kommen und zu einer entsprechen¬ den Neugestaltung des Verhaltens Anlaß geben kann. Dann bleibt das «alte» Interesse, gewissermaßen als erstarrtes, perseverierendes Vorurteil, in Kraft, obwohl es der aktuellen Wirklichkeit nicht mehr entspricht. Durch derartiges, allen Ideologien innewohnendes «Beharrungsvermögen» lassen sich zahlreiche Widersprüche zwischen einem gegebenen ökonomischen «Unterbau» und gleichzeitig noch existierenden Bestandteilen früherer Ideologien vollkommen erklären. Reizend hat diese Erkenntnis Balzac (in seinem Roman «Glanz und Elend der Kurtisanen») formuliert: «Um sich von dieser Wahrheit zu über¬ zeugen, genügt es, eine Schar Menschen auf die gleiche Weise zu beobachten, wie man es kürzlich mit Herden von spanischen und englischen Schafen getan hat, die, wo das Gras auf den Wiesen der Ebenen im Überfluß wächst, eng aneinandergedrängt weiden und sich in den Bergen, wo das Gras dünn steht, zerstreuen. Wenn man diese beiden Arten Schafe aus ihren Ländern fortführt und sie in die Schweiz oder nach Frankreich bringt, sieht man, daß das Bergschaf selbst auf einer tiefgelegenen Weide mit strotzendem Gras¬ wuchs allein weiden wird, und daß die Schafe der Ebene auch in den Alpen sich im Weiden aneinanderdrängen. Und es dauert mehrere Generationen, bis sich diese erwor¬ V. G. benen und ererbten Instinkte neu anpassen.» 437