Fortbildung Palliativmedizin Primäres Behandlungsziel: Lebensqualität erhalten Rainer Prönneke Das Spannungsfeld zwischen leben wollen und sterben müssen wird uns insbesondere bei einer lebensbedrohenden Erkrankung bewusst. Die Hospizbewegung widmet sich in Deutschland seit den 80er Jahren Schwerkranken, Sterbenden und ihren Angehörigen. Davon ausgehend hat sich die Medizin zunehmend mit den Symptomen und Beschwerden Schwerkranker beschäftigt und damit die sogenannte Palliativmedizin begründet. Heute ist auch der Hausarzt verstärkt gefordert, seine Patienten am Lebensende zu begleiten. 42 Der Allgemeinarzt 11/2013 Laut WHO ist Palliativmedizin die aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit einer progredienten, weit fortgeschrittenen Erkrankung und einer begrenzten Lebenserwartung zu der Zeit, in der die Erkrankung nicht mehr auf eine kurative Behandlung anspricht und die Beherrschung von Schmerzen, anderen Krankheitsbeschwerden, psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen höchste Priorität besitzt. rakteristisches palliativmedizinisches Handeln: Ausgehend von der Gewissheit des Todes als Lebensende können wir uns im Vorfeld auf einen (natürlich nicht zeitlich festzulegenden) Verlauf einstellen. „Advanced care“ beinhaltet also eine systematische Vorbereitung auf zu erwartende Symptome und Verläufe: •• Eine Bedarfsmedikation wird regelmäßig und rechtzeitig zur Verfügung gestellt zur Bewältigung von möglichen Krisen. Das Wort „aktiv“ beschreibt im Gegensatz zum „passiven“ abwartenden Vorgehen ein cha- www.allgemeinarzt-online.de Fortbildung •• Vorausverfügungen werden angesprochen mit Angeboten zur Hilfestellung. Voraussetzung für ein aktives Vorgehen ist unsere ärztliche Stellungnahme zum Krankheitsgeschehen, hier sind besonders Kommunikationsfähigkeiten gefragt, um die Balance zwischen distanzierender Diagnosevermittlung und empathischer Begleitung im Kontext prognostischer Unsicherheiten zu finden. Ein ganzheitlicher Behandlungsansatz im palliativmedizinischen Kontext kann in vier Beschwerde- bzw. Bedürfnisbereiche aufgeteilt werden: körperliche, seelische, soziale und spirituelle Pro­ bleme. Zudem müssen Ressourcen bzw. Kraftquellen erfragt werden als Basis einer zukünftigen Krankheitsverarbeitung. Palliative Care löst sich damit vom gängigen defizitorientierten Modell der Medizin, weist konsequent auf alle Dimensionen unserer menschlichen Existenz und bildet schließlich die rationale Grundlage für einen multidisziplinären Versorgungsansatz. In der WHO-Definition heißt es: „progrediente, weit fortgeschrittene Erkrankung“. Ab wann ist man ein Palliativpatient? Die Unheilbarkeit als Kriterium gilt natürlich für alle chronischen Erkrankungen und reicht nicht aus, und „fortgeschritten“ beinhaltet aufgrund prognostischer Unschärfe einen wenig messbaren Relativitätscharakter. Hilfreich kann folgendes Phasenmodell sein, welches aus Erfahrung und Intuition heraus eine ungefähre Einschätzung der aktuellen Krankheitssituation des Betroffenen zulässt: Einer „stabilen“ Rehabilitationsphase (bis Jahre andauernd wie bei der metastasierten Tumorerkrankung) folgt eine präterminale Phase (bis Monate andauernd, gekennzeichnet durch Katabolismus und Gewichtsverlust), eine terminale Phase (bis Wochen andauernd, gekennzeichnet durch zusätzlichen sozialen Rückzug), welche in die Finalphase mündet (bis Tage andauernd entsprechend der eigentlichen Sterbephase). Welche Patienten kommen für eine palliative Versorgung in Frage? Die Symptomenkontrolle Vorab: Der Begriff ist unglücklich, da eine unrealistische Kontrollmöglichkeit über die Krankheitszeichen „von außen“ suggeriert wird, für den internen Gebrauch hat er sich aber eingeführt. Ganzheitliche Palliativmedizin umfasst körperliche, seelische, soziale und spirituelle Probleme. Die im palliativen Kontext eingesetzten Methoden der Symptomenkontrolle sind vielfältig und reichen von Musiktherapie über Radiatio bis zur Analgesie. Basis der palliativärztlichen Tätigkeit sind aber Medikamente, die im Folgenden beispielhaft und differenziert dargestellt werden. Applikationsformen Orale Medikamente sind zum Erhalt der Selbstständigkeit zu bevorzugen, die Schluckfähigkeit ist aber beim Schwerkranken häufiger und beim Sterbenden regelmäßig eingeschränkt, so dass parenterale Zugänge gewählt werden müssen. Hier hat sich die Subkutangabe bewährt mit den Vorteilen •• der Depotwirkung des Unterhautfettgewebes, das über 4 (bis 6-mal) tägliche Bolusgaben oder kontinuierliche Zufuhr über eine Pumpe einen verlässlichen Wirkspiegel bewirkt. •• des einfachen „universellen“ Zugangs über spezielle Subkutanports oder mit Transparenzpflastern fixierte Butterflykanülen an Bauch, Rücken, Oberarmen und Oberschen- Fotolia Nachdem onkologische Patienten infolge ihres zu erwartenden Krankheitsverlaufes zunächst im Fokus der Aufmerksamkeit standen, wurde im Laufe der letzten Jahre deutlich, dass einige neurologische Erkrankungen wie ALS, Multip­le Sklerose oder Chorea Huntington, aber auch internistische Patienten mit fortgeschrittener Herzinsuffizienz und chronisch obstruktiver Lungenerkrankung sowie multi- morbide und ältere und hochbetagte Kranke eine palliative Versorgung benötigen. In der Praxis hat sich der Leitsatz „nicht die Art, sondern die Schwere einer Erkrankung begründen eine Palliation“ bewährt, der nochmals den fächerübergreifenden Versorgungsansatz verdeutlicht. www.allgemeinarzt-online.de Der Allgemeinarzt 11/2013 43 Fortbildung Für ausgesuchte Analgetika hat sich ein transdermaler Zugang in Form eines Pflasters etabliert, der unter Beachtung von Indikationen das therapeutische Spektrum bereichert hat. Durch die mehrtägige und damit unberechenbare und nicht zu beeinflussende Wirkdauer ist der Einsatz in der Finalphase nicht empfehlenswert. Der intravenöse Zugang als bezüglich der Wirkung zuverlässigster Applikationsweg ist für Bolusgaben nicht geeignet und mittelfristig an einen zentralen Zugang in Form eines i.v.-Ports gebunden. Unbestrittener Vorteil bleibt der schnelle Wirkungseintritt innerhalb von Sekunden gegenüber ca. 15 Minuten nach Subkutangabe bei allen Notfallsituationen und Krisen bzw. Beschwerdeattacken. Alternativ wirkt nach wenigen Minuten ein sub­ lingualer, bukkaler und nasaler Zugang. Die Grundregeln der Medikamentengabe sind im Kasten dargestellt. Behandlung von Schmerzen „Jeder Kranke, der Schmerzen angibt, hat auch Schmerzen.“ Dieses Axiom weist auf die Multidimensionalität von Schmerzen hin. Analgetika führen nicht immer zu einer Schmerzerträglichkeit, da sie die nicht körperlichen Dimensionen des Schmerzes verfehlen. Zweifellos bilden Analgetika aber die Basis einer palliativmedizinischen Schmerzbehandlung und haben inzwischen dank neuer Formulierungen eine erhebliche Reichweite erzielt, so dass invasivere Maßnahmen wie Periduralkatheter und Neurolysen in den Hintergrund getreten sind. Die Frage nach der Schmerzqualität ist Grundbedingung für die richtige Auswahl, da somatische („helle“) Schmerzen, viszerale („dumpfe“) und neuropathische („brennende, reißende“) Schmerzen unterschiedlich angegangen werden. Häufig liegt allerdings ein gemischter Schmerztyp vor. Jeder Kranke, der Schmerzen angibt, hat auch Schmerzen. Das WHO-Stufenschema bildet immer noch das Fundament der medikamentösen Therapie. Mit den damit gewonnenen Erfahrungen resultiert heute aber ein differenziertes Vorgehen mit primärer Einbeziehung der Schmerzursachen und -typen. Bewährte Analgetika in der Palliativtherapie: 1. Nichtopioide: •• Metamizol als Basis speziell bei knochen- und kolikartigen Schmerzen (z. B. 4 x 30 Tropfen, auch s.c. und i.v.). Grundregeln der Medikamentengabe 1. Orale Applikation zum Erhalt der Selbstständigkeit, bei parenteraler Gabe in erster Linie subkutan. 2. Regelmäßige bzw. kontinuierliche (vorbeugende) Verordnungen bei allen chronischen Beschwerden. 3. Dann Bedarfsmedikation mit Dosishöhe und maximaler Frequenz pro Tag festlegen. 4. Schrittweise Dosissteigerung (Ausnahme: Krisen). 5. Nutzung von sinnvollen Medikamentenkombinationen. 6. Einbezug der Betroffenen und Angehörigen. 44 Der Allgemeinarzt 11/2013 Fotolia keln, dies auch bei kachektischen Patienten. •• der Möglichkeit für Angehörige, Medikamente nach Anleitung eigenständig über das Schlauchsystem zu injizieren. •• der geringen Belastung und Abhängigkeit für den Betroffenen, da die Subkutankanülen in der Regel nur im wöchentlichen Abstand gewechselt werden müssen. •• der subkutanen Applikationsfähigkeit der meisten relevanten palliativ eingesetzten Medikamente, die abhängig von entsprechenden Kompatibilitätslisten auch in Pumpen gemischt werden können. •• NSAR speziell bei entzündlicher Schmerzkomponente unter Beachtung der Nebenwirkungen, bei mittel- bis längerfristigem Einsatz immer mit PPI kombinieren (z. B. Ibuprofen retard 2 x 400 – 800 mg). 2. Mittelstarke Opioide: •• Tilidin N durch Naloxonzusatz wenig Obstipation, ca. 10 % Non-Responder. 3. Starke Opioide: •• Morphinsulfat, da initial vermehrte Nebenwirkungen, langsame Dosissteigerung (z. B. MST 2-mal 10 mg alle 12 Stunden). •• Hydromorphon, im Allgemeinen gute Verträglichkeit (1- bis 2-mal täglich, auch subkutan und i.v.). •• Oxycodon, eher mittelstarke Wirksamkeit, in Kombination mit Naloxon wenig Obstipation. •• Buprenorphin in Ausnahmen bei gewünschter Sublingualapplikation, als TTS mittelstarke Wirksamkeit. •• Tapentadol speziell bei zusätzlicher neuropathischer Komponente (z. B. 2 x 50 – 250 mg). •• Fentanyl als TTS in der Analgesie nicht immer ausreichend, Einschränkungen bei Dermatosen, Schwitzen. •• Morphin per os als Lösung wegen kurzer Wirkdauer nur in der Titrierphase sinnvoll, als subkutane, intravenöse und peridurale Applikation eine der Therapiesäulen (z. B. 2,5 bis 40 mg subkutan alle 6 Stunden (4-StundenIntervall nur bei guter Nierenfunktion) bzw. als Pumpe bzw. Perfusor). www.allgemeinarzt-online.de Fortbildung •• L-Polamidon als effektives Reserveanalgetikum in der Hand eines Erfahrenen. Typische Opioid(neben-)wirkungen: •• Effektive Analgesie (korrespondiert mit Endorphinsystem) •• Atemdepression (in kleineren Dosen therapeutisch genutzt bei Dyspnoe) •• Übelkeit/Erbrechen (meist nur zu Anfang) •• Verwirrtheit (meist nur zu Anfang) •• Obstipation (Dauerwirkung) •• Harnverhalt (selten, aber eher Dauerwirkung) •• Pruritus (selten, aber Dauerwirkung) •• Schwitzen (sehr selten, aber Dauerwirkung) •• Gewöhnung (bei Schmerzbetroffenen nur körperlich, deshalb beim Absetzen langsame Dosisreduktion zur Vermeidung einer Entzugssymptomatik) •• Opioidinduzierte Hyperalgesie mit Zunahme von Ganzkörperschmerzen und Berührungsempfindlichkeit mit Verlangen der Dosissteigerung, Therapie: drastische Dosisreduktion und leichte Sedierung für ein paar Tage, ggf. Neustart mit alternativem Opioid (Opioidrotation) Bei End-of-Dose-Schmerzen sollte man die Dosis steigern, nicht die Intervalle verkürzen. •• Muskelkloni (Hinweis auf mögliche Überdosierung) •• Diffuse Ängste vor Einnahme, da tradierte gesellschaftliche Einschätzung des Morphins als „Mittel der letzten Wahl“ (geht langsam dank geduldiger Aufklärung zurück, sollte bei Neuverordnung aller opioidhaltigen Sub­ stanzen direkt angesprochen werden) End-of-Dose-Schmerzen Damit sind Schmerzen kurz vor Einnahme bzw. Gabe der nächsten routinemäßigen Dosis gemeint, nicht zu verwechseln mit Durchbruchschmerzen. Die Behandlung besteht aus einer Steigerung der Dosis. Die Intervalle dürfen nicht über die empfohlenen substanztypischen Einnahmeintervalle hinaus verkürzt werden. www.allgemeinarzt-online.de Durchbruchschmerzen Um solche Schmerzphasen trotz effektiver analgetischer Dauerbehandlung zu vermeiden, wird prophylaktisch routinemäßig eine schnellwirkende Bedarfsmedikation verordnet: ca. 1/4 bis 1/6 der Gesamttagesdosis (z. B. Hydromorphon 1,3 und 2,6 mg). Fentanyl mit schnellster Wirksamkeit ist in Form eines nasalen, bukkalen und sublingualen Zugangs geeignet für die eher seltenen einschießenden Attacken. Koanalgetika Koanalgetika haben eine indirekte schmerzlindernde Wirkung und können als Kombinationspartner zur Analgetikadosiseinsparung beitragen. In diese Kategorie gehören Spasmolytika wie Buscopan®, Antidepressiva (vor allem trizyklische wie Amitriptylin in niedriger Dosis bis maximal 75 mg), bei „Brennschmerzen“ Antikonvulsiva wie Pregaba­lin, Gabapentin, Carbamazepin und Lidocain-Pflaster. Bei reinen peripheren oder zentralen Nervenschmerzen sind Koanalgetika oft erste Wahl und gelegentlich allein ausreichend. Bisphosphonate kommen bei Knochenschmerzen durch Filiae zum Einsatz. Kortison, insbesondere Dexamethason, wirkt über eine Reduktion des Tumorbegleitödems (z. B. Beginn mit 2- bis 4-mal 8 mg mit Versuch der Dosisreduktion bei Wirkung). Therapieresistenz Die fehlende oder unzureichende Ansprache einer Analgetikatherapie nach o. g. Regeln einschließlich dem Wechsel von Opioiden (Opioidrotation) verursacht Ohnmachtsgefühle, weist aber eindringlich auf andere das Schmerzgefühl unterhaltende Dimensionen sozialer, seelischer und spiritueller Art. Auch hier ist der ganzheitliche Anspruch der Palliativmedizin gefragt, indem alle Dimensionen und damit Disziplinen ( frühzeitig) einbezogen werden, um einen für den Betroffenen erträglichen Schmerzzustand zu erreichen. Allein die Vermittlung eines klärenden Gespräches zwischen Kranken und Angehörigen kann schmerzreduzierend wirken, ebenso wie das Besprechen von Sorgen vor zunehmenden Beschwer- den. Verbleiben unerträgliche Schmerzzustände trotz eines multidisziplinären Ansatzes oder sich rasch entwickelnde progrediente Schmerzzustände wie bei einer nicht aufhebbaren Extremitätenischämie, sollte als Ultima Ratio eine sogenannte palliative Sedierung erwogen werden mit gezielter Bewusstseinsausschaltung durch Hypnotika wie Midazolam oder Narkotika wie Propofol. Allein die Kenntnis dieser Möglichkeit kann Schwerkranken ein verlorengegangenes Kontrollgefühl zurückgeben und lässt sie ihre Beschwerden ertragen, ohne dass die palliative Sedierung letztlich angewandt werden muss. Dyspnoe Zunehmende Atemnot ist ein verbreitetes Phänomen und bedarf durch den hohen Leidensdruck eines intensiven palliativen Therapiekonzeptes. Wie beim Schmerzempfinden ist das Ausmaß der angegebenen Luftnot nicht messbar und korreliert nicht zwingend mit objektivierbaren Parametern wie Sauerstoffsättigung. Deshalb gilt auch hier die Regel: Ein Patient, der über Atemnot klagt, hat Atemnot! Folgende palliativorientierte Maßnahmen kommen in Frage: 1.Allgemeinmaßnahmen: •• Ruhe ausstrahlen und für Ruhe sorgen •• nicht allein lassen, aber nicht zu viele Menschen im Raum •• frische, angefeuchtete Luft •• bequeme Lagerung mit erhöhtem Oberkörper 2.Medikamente: •• Opioide reduzieren das Luftnotgefühl über eine gezielte Atemdepression. •• bei Opioidnaiven Beginn mit kleinen Morphindosen (z. B. 1 – 2,5 mg alle 4 Stunden in Tropfenform oder 2,5 – 5 mg subkutan alle 4 – 6 Stunden, im Notfall Morphin 2,5 mg i.v., ggf. als wiederholte Bolusgaben, später Umstellung auf orale Dauertherapie mit retardiertem Opioid). •• Sedativa und Anxiolytika, z. B. Lor­ azepam 1 – 2,5 mg alle 8 Stunden, bei Anfällen Tavor® expidet® 1 – 2,5 mg Der Allgemeinarzt 11/2013 45 Fortbildung sublingual, Midazolam 2,5 – 5 mg s. c. alle 4 – 6 Stunden, im Notfall Midazolam 2,5 mg i.v., ggf. als wiederholte Bolusgaben, Levomepromazin p. o. und s. c., insbesondere bei zusätzlicher Verwirrtheit. •• Dexamethason (z. B. 2- bis 3-mal 8 mg p. o. oder s. c.). 4. Nichtinvasive Masken- oder invasive Beatmung über Tracheostoma bei Atemmuskellähmung wie amyotrophischer Lateralsklerose. 5. Bei rezidivierendem Pleuraerguss evtl. Dauerableitungskatheter (effektiver als Pleurodese). Durst und Mundtrockenheit Geäußerte Durstgefühle werden von den Begleitern oft mit der „Qual des Verdurstens“ assoziiert und sind emotional stark belastend, da der Tod bei unzureichender Flüssigkeitsaufnahme unausweichlich näher rückt. Ungenügendes Trinken ist für Angehörige ebenso wie die reduzierte Nahrungsaufnahme immer ein bewegendes Thema, so dass von Behandlerseite eine themenbezogene Stellungnahme sinnvoll ist. Nach Jahren einer unter stationären Bedingungen fast routinemäßigen Versorgung von Sterbenden mit Infusionen bis zum Todeseintritt hat sich heute eine differenzierte Vorgehensweise etabliert. Durst und Hungergefühle nehmen durch Beobachtung und Befragung gesichert bei Schwerkranken ab. Zumindest bei abnehmender Nahrungsaufnahme wurden erhöhte Endorphinspiegel gemessen. Mundtrockenheit ist häufig, korreliert aber nicht mit dem aktuellen Flüssigkeitshaushalt, sie wird zudem durch Morphin, Antidepressiva, Spasmolytika, Mundatmung bei Schwäche, Sauerstoffzufuhr und Soorstomatitis ausgelöst. Eine intra46 Der Allgemeinarzt 11/2013 Fotolia 3.Sauerstoff: Indikation bei Sauerstoffsättigungsabfall und Dyspnoe, Nachteile: Abhängigkeit, Mundtrockenheit, „Aktionismus”, in der Finalphase nach Aufklärung der Angehörigen absetzen. venöse bzw. subkutane Flüssigkeitszufuhr führt meistens nicht zu einer Besserung der Mundtrockenheit. Eine Infusionstherapie kann eine Ödembildung und die Bronchialverschleimung in der Finalphase (Todesrasseln) durch eine Belastung des in Rückzug befindlichen Stoffwechsel- und Herzkreislaufsystems befördern. Bei schnellem Flüssigkeitsdefizit oder bei durch den Flüssigkeitsmangel bedingten Beschwerden wie Verwirrtheit kann eine parenterale Infusionsbehandlung versucht werden, bei fehlender Wirkung sollte die Maßnahme aber beendet werden. Basis der Versorgung ist immer eine regelmäßige, anfeuchtende Mundpflege. Ernährung Die schwere fortschreitende („konsumierende“) Erkrankung ist meist durch eine Inappetenz und abnehmende Nahrungsaufnahme mit Gewichtsverlust charakterisiert („Schwindsucht“). Die katabole Stoffwechsellage findet ihre rationale Grundlage in einem chronischen inflammatorischen ResponseSyndrom, welches durch verschiedene Grundkrankheiten aktiviert wird und sich in der Erhöhung des C-reaktiven Proteins zeigen kann. Klinisch kommt es zur gut bekannten Tumorkachexie, bei fortgeschrittener COPD und Herzinsuffizienz zur respiratorischen bzw. kardialen Kachexie. Als Kranker steigt der Stigmatisierungsgrad mit der infolge Inappetenz gestörten Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten, Mundtrockenheit lässt sich durch parenterale Flüssigkeitszufuhr meist nicht verbessern. bei denen das soziale Gefüge ritualisiert gefestigt wird. Nachvollziehbare Versuche der umsorgenden Gruppenmitglieder, durch Zuwendung die Essensbereitschaft des Kranken zu erhöhen, führen bei Versagen oft zu erheblichen sozialen und emotionalen Spannungen. Zu dem palliativen Behandlungsansatz gehören: •• eine Thematisierung dieses Problems mit Vermittlung von Verständnis für die Position des Kranken und seiner Angehörigen. •• die Aufdeckung von Faktoren, die neben der Grundkrankheit zur eingeschränkten Nahrungsaufnahme führen können, wie Geschmacksstörungen, Soor, Malabsorption, Hyperkalzämie. •• die Definition des Therapieziels bezogen auf eine Gewichtszunahme, Appetitsteigerung, Lebenszeitverlängerung und Lebensqualität. •• die Überlegung, ob eine gesteigerte („künstliche“) Kalorienzufuhr sinnvoll ist: Bei fortgeschritten Erkrankten mit aktivierter Entzündungskaskade können zugeführte Kalorien unabhängig von ihrer Menge nicht mehr verstoffwechselt werden und belasten den sich im Rückzug befindlichen Stoffwechsel. Ein Kriterium für diesen Prozess ist die fehlende Gewichtszunahme trotz hochkalorischer Zufuhr. www.allgemeinarzt-online.de Fortbildung Die Finalphase Die Finalphase ist durch die folgenden charakteristischen Veränderungen gekennzeichnet: •• psychophysische Unruhe bis zur Agitation und für die Krankheitsphase unerwartete Kraftreserven, im Nachhinein als „Aufbäumen“ vor dem „Zusammenbruch“ gedeutet. •• zunehmend eingeschränkte Nahrungs- und dann auch Flüssigkeitsaufnahme. •• zurückgehende Urin- und Stuhlproduktion bei eingeschränkter Organfunktion. •• Atemregulationsstörungen zentraler Natur vom Maschinen- und CheyneStokes-Typ, dann auch mit zunehmend längeren Atempausen, zuletzt als (ineffektive) Schnappatmung bezeichnet. •• eine progrediente Bewusstseinseintrübung mit immer kürzeren Wachheitsphasen mit Aufhebung des TagNacht-Rhythmus, dabei wohl lange erhaltenes Hörvermögen. •• Mundtrockenheit bei Mundatmung und Exsikkose. •• sogenanntes Todesrasseln entsprechend einer Bronchialverschleimung, die schwächebedingt nicht mehr abgehustet werden kann. •• im Gegensatz zu weit verbreiteten Befürchtungen treten körperlich bedingte Schmerzzustände in der Finalphase selten neu auf, wenn bis dahin eine relative Schmerzfreiheit bestand. Basismedikamente für die Finalphase: •• Opioide bei Schmerzen und/oder Luftnot (z. B. Morphin 2,5 – 5 mg s.c. alle 6 Stunden). www.allgemeinarzt-online.de •• Benzodiazepine bei Unruhe/Angst (z. B. Midazolam 2,5 – 5 mg s.c. alle 6 Stunden) •• Neuroleptika bei deliranten Zuständen (z. B. Levomepromazin ½ bis 1 Ampulle s. c. alle 6 Stunden). •• Glycopyrroniumbromid bei Todesrasseln (z. B. Robinul ½ bis 1 Ampulle s. c. alle 6 Stunden). Die häufig erforderliche Umstellung von oralem Opioid auf parenterales Morphin zur Vermeidung eines Entzugs und Erhalt der Analgesie gelingt nach folgenden Regeln: 1.Tagesdosis in Morphinäquivalenz des oralen Opioids bestimmen gemäß Umrechnungstabellen. 2.Die orale Tagesdosis entspricht ca. 50 % einer subkutanen und ca. 30 % einer intravenösen Dosis. 3.Für die subkutanen Boligaben Aufteilung der Tagesdosis in 4 – 6 Einzeldosen. 4.Bedarfsmedikation entsprechend der Höhe einer Einzeldosis zusätzlich verordnen. Allgemeinmaßnahmen: •• Mundpflege •• Hautpflege/Einreibungen •• Auf Harnverhalt achten (Opioidnebenwirkung) •• Begleitung: Wie und wer? Seelsorge? Basismedikamente für die ­Finalphase sind Opioide, ­Benzos, Neuroleptika und Glycopyrronium. Unsere Todeszeitbestimmung suggeriert ein plötzliches Lebensende, obwohl es sich um einen biologischen Prozess handelt: Nach dem klinischen Tod mit Atemund Kreislaufstillstand (Todeszeit) tritt nach einigen Minuten der biologische Tod mit ZNS-Ausfall und starren Pupillen ein. Muskelzuckungen und Schnappatmung sind noch für weitere 30 Minuten möglich. Erst nach zwei bis drei Tagen ist das Absterben aller Körperzellen abgeschlossen entsprechend einem „totalen“ Zelltod. Fotolia •• Dexamethason als medikamentöser symptomatischer Ansatz zur Unterbrechung des inflammatorischen Prozesses, Steigerung des Appetits und Reduktion von Übelkeit (z. B. 2-mal 4 – 8 mg per os mit Reduktion auf eine möglichst kleine Erhaltungsdosis bei Wirksamkeit). •• der Versuch einer intensivierten enteralen Ernährung inklusive hochkalorischer Nahrungssupplemente vor einer methodenaufwendigen und abhängigkeitsschaffenden parenteralen Kalorienzufuhr. Tage benötigt. Diese Überlegungen haben eine große Bedeutung für unseren Umgang mit gerade Verstorbenen: Bei einem Prozess kann und sollte man sich Zeit lassen! Zusammenfassung Die mit dem Patienten und Angehörigen abgestimmte Änderung des Therapieziels von unbedingtem Lebenserhalt auf Lebensqualität bildet das Fundament von Palliative Care. Eine konzentrierte Hinwendung zu körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Beschwerden und Bedürfnissen, aber insbesondere Ressourcen und Kraftquellen bilden Rahmenbedingungen für einen „Heilungsprozess“ im übertragenen Sinn – eines „In-sich-heil-Werden“, trotz Todesnähe. Zur Linderung stehen uns bewährte medizinische und multidisziplinär getragene Maßnahmen zur Verfügung mit dem Ziel einer individuell angemessenen und vorausschauenden Versorgung. Zusammen mit der Hospizbewegung trägt die Palliativmedizin zu einer bewusst strukturierten und reflektierten Sterbekultur bei. Mit dem Maß der Verlässlichkeit auf ein Versorgungsnetz am Ende des Lebens entwickelt sich „rückwirkend“ Lebenskultur. ▪ Interessenkonflikte: keine deklariert Dr. med. Rainer Prönneke Arzt für Innere Medizin, Palliativmedizin 38102 Braunschweig Im Übrigen glauben Buddhisten, dass die Seele bis zum Verlassen des Körpers drei Der Allgemeinarzt 11/2013 47 Fortbildung Fragen zur zertifizierten Fortbildung „Palliativmedizin“ Nur jeweils eine Antwort ist richtig. Frage 1: Welche Aussage trifft zu? Die WHO-Definition der Palliativmedizin a.beinhaltet eine passive Grundhaltung. b. bezieht sich nur auf die Schmerzbehandlung bei Schwerkranken. c. ist eine Empfehlung für ein rein ärztliches Handeln. d. fordert ein Linderungskonzept für alle Erkrankten. e. ist vom Ansatz her ganzheitlich ausgerichtet. Frage 2: Welche Aussage trifft zu?Das palliativmedizinische Phasenmodell a. schließt eine Rehabilitationsphase aus. b. bezieht sich auf die Finalphase. c. u mfasst drei Phasen. d. ist hilfreich zur exakten Festlegung der individuellen Prognose. e. umfasst eine Rehabilitations-, Präterminal-, Terminal- und Finalphase. Frage 3: Welche Aussage zu medikamentösen Zugangswegen in der Palliativmedizin trifft zu? a. Der rektale Zugang ist bei Schluckunfähigkeit zu bevorzugen. b. In der Finalphase ist ein transdermales therapeutisches System aufgrund der langen Wirkdauer ideal. c. Zahlreiche lindernde Medikamente können subkutan appliziert werden. d. Die i.v.-Gabe steht bei Schluckunfähigkeit an erster Stelle. e. Subkutan angelegte Butterflykanülen müssen täglich gewechselt werden. Frage 4: Welche Aussage zu den Grundregeln der Medikamentengabe trifft zu? a. Im ersten Schritt wird die Bedarfsmedikation festgelegt. b. In der Regel wird die Initialdosis schrittweise reduziert. c. Die Nutzung von Medikamentenkombinationen sollte vermieden werden. 48 Der Allgemeinarzt 11/2013 d. Ein Grundprinzip ist die regelmäßige vorbeugende Verordnung bei allen chronischen Beschwerden. e. Orale Medikamente sind wegen des Risikos der Schluckunfähigkeit zu vermeiden. Frage 5: Welche Aussage zu Analgetika in der Palliativtherapie trifft zu? a. Metamizol ist bei ossär bedingten Schmerzen wenig wirksam. b. Der Naloxonzusatz zu Opioiden reduziert die obstipierende Nebenwirkung. c. L-Polamidon sollte frühzeitig eingesetzt werden. d. NSAR sind grundsätzlich zu vermeiden. e. Die Morphinlösung ist durch retardierte Präparate vollständig ersetzt worden. Frage 6: Als typische Opioidnebenwirkung gilt a. eine dauerhafte Übelkeit. b. e ine vorübergehende Obstipation. c. eine Atemdepression. d. e ine anhaltende Sedierung. e. eine initiale Hyperalgesie. Frage 7: Zu den sogenannten Koanalgetika in der Palliativmedizin zählt/zählen a. nasales, bukkales oder sublinguales Fentanyl. b. Laxantien zur Obstipationsvermeidung. c. Benzodiazepine im Rahmen einer Analgosedierung. d. Neuroleptika. e. Dexamethason. c. eine Langzeitapplikation von Sauerstoff als Basismaßnahme. d. prinzipiell keine Beatmung. e. Opioide mit zunächst hohen Dosen (Dosiseskalation). Frage 9: Für die Ernährung und Flüssigkeitszufuhr der Palliativpatienten gilt: a. Eine intravenöse Flüssigkeitssubstitution lindert die Mundtrockenheit. b. Durstgefühle nehmen bei Sterbenden regelhaft zu. c. Die Ernährungsfrage spielt im Rahmen der Symptomenkontrolle keine Rolle mehr. d. Laborwertbestimmungen haben auf die Indikationsstellung einer Behandlung keinerlei Einfluss. e. Eine Definition des Therapieziels bezogen auf eine Gewichtszunahme, Lebenszeitverlängerung und Lebensqualität ist Voraussetzung für eine angemessene Behandlung. Frage 10: In der Finalphase a. sollte eine Infusionsbehandlung zur Vermeidung eines Durstgefühls nicht abgesetzt werden. b. reduzieren Opioide verlässlich und dauerhaft Unruhezustände. c. wird Glycopyrronium zur Behandlung von Dyspnoe eingesetzt. d. sind transdermale Analgetika aufgrund ihrer langen Wirkdauer empfehlenswert. e. sind Neuroleptika bei deliranten Zuständen indiziert. Frage 8: Welche Aussage trifft zu? Die Palliativbehandlung der Dyspnoe beinhaltet a. die Anlage einer Dauerdrainage bei rezidivierenden Pleuraergüssen. b. Antidepressiva. www.allgemeinarzt-online.de Der Allgemeinarzt Fortbildung Antwortbogen: Palliativmedizin So sichern Sie sich Ihre Fortbildungs-Punkte Für jede Folge unserer zertifizierten Fortbildung erkennt die Landesärztekammer Rheinland-Pfalz, mit der wir kooperieren, bis zu drei Fortbildungspunkte an, und zwar unter folgenden Voraussetzungen: •• Mindestens 70 % der Fragen wurden korrekt beantwortet = zwei Punkte •• Alle zehn Fragen wurden richtig beantwortet = drei Punkte Vordruck „Persönliche Daten“ aus. Den gesamten Antwortbogen faxen Sie dann an folgende Nummer: 09404 ‑ 952018. Tragen Sie Ihre Antworten bitte in das Antwortfeld rechts unten ein und füllen den Für das Freiwillige Fortbildungszertifikat, das viele Ärztekammern anbieten, kön- Bei erfolgreicher Teilnahme erhalten Sie per Fax oder E-Mail eine Bestätigung, die Sie bei Ihrer Landesärztekammer einreichen können. Die Teilnahme an dieser CME-Fortbildung ist bis zu ein Jahr nach Erscheinen möglich. nen 150 CME-Punkte in maximal drei Jahren erworben werden, u. a. durch eine strukturierte interaktive Fortbildung (also z. B. durch die in Der Allgemeinarzt angebotene CME-Fortbildung). Die seit dem 1.1.2004 geltende Pflichtfortbildung gemäß § 95d SGB V fordert 250 Punkte innerhalb von fünf Jahren, nachzuweisen mit Stichtag 30.6.2014. Weitere Informationen erfragen Sie bitte bei Ihrer zuständigen Ärztekammer. Persönliche Daten Titel Vorname Nachname Berufsbezeichnung Einheitliche Fortbildungsnummer (EFN) Straße Postleitzahl Hausnummer Praxisstempel Ort Fax-Nr. E-Mail Ich bin damit einverstanden, dass meine Daten gespeichert und der zuständigen Landesärztekammer gemeldet werden und bei mindestens 70 % korrekt beantworteten Fragen eine entsprechende Bestätigung an die angegebene Fax-Nummer geschickt wird. Ich versichere, alle Fragen ohne fremde Hilfe beantwortet zu haben. Keine Haftung für nicht exakt angenommene Faxe. Ort, Datum Antwortfeld: (nur eine Antwort pro Frage ankreuzen) Unterschrift a b c d e 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 www.allgemeinarzt-online.de Der Allgemeinarzt 11/2013 49