Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD Bericht des Bundesrates zum Postulat Segmüller 09.3518 vom 9. Juni 2009; Untersuchungshaft in Raserfällen vom 13. Februar 2013 1. Das Postulat Am 2. März 2011 hat der Nationalrat das folgende Postulat von Herrn Nationalrat Segmüller mit 84 gegen 75 Stimmen angenommen 1: 09.3518 Postulat Segmüller Untersuchungshaft in Raserfällen Wortlaut des Postulates vom 9. Juni 2009 Der Bundesrat wird beauftragt, zu prüfen, ob die in der schweizerischen Strafprozessordnung vorgesehenen Möglichkeiten für Untersuchungshaft dahingehend anzupassen sind, dass Raser, die schwere Verkehrsunfälle mit Toten und Verletzten verursachen, aufgrund der immanenten Gefahr, die von ihnen ausgeht, konsequent in Untersuchungshaft gesetzt werden können und nur in begründeten Einzelfällen von der Untersuchungshaft abgesehen werden kann. Mitunterzeichnende Aeschbacher Ruedi, Amstutz Adrian, Galladé Chantal, Jositsch Daniel, Malama Peter, Moser Tiana Angelina, Teuscher Franziska (7) Begründung Es wurden Fälle bekannt, bei denen Raser am selben oder Folgetag eines schweren von ihnen verursachten Unfalles entweder wieder Auto fahren konnten oder bei den Kollegen damit prahlten, einen schweren Unfall verursacht zu haben und nun bereits wieder im Ausgang zu sein. Das darf aus zwei Gründen nicht sein: Erstens geht von diesen Personen eine Gefahr aus, vor der es weitere potenzielle Opfer zu schützen gilt. Zweitens ist es absolut unverständlich und ein falsches Signal – sowohl an die Opfer und ihre Angehörigen als auch an allfällige Nachahmungstäter –, wenn nach einem Raserunfall die Täter frei herumlaufen und mit ihrer Tat angeben können. Entsprechende Vorkehrungen sind deshalb zum Schutz weiterer Opfer zu treffen. Stellungnahme des Bundesrates vom 26.08.2009 1 AB 2011 N 125 Bei der Untersuchungshaft handelt es sich um eine schwere strafprozessuale Zwangsmassnahme, zum einen, weil sie zu einem Freiheitsentzug führt, zum andern, weil sie in einem Spannungsverhältnis zum Verfassungsrecht der Unschuldsvermutung steht. Untersuchungshaft ist deshalb sowohl nach den heute geltenden kantonalen Strafprozessordnungen wie auch nach der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (StPO) nur unter strengen Voraussetzungen zulässig. Neben der Voraussetzung des dringenden Tatverdachts müssen besondere Haftgründe vorliegen. Neben den beiden Haftgründen der Flucht- und der Kollusionsgefahr, welche die Verfügbarkeit der beschuldigten Person für das Verfahren und den Vollzug bzw. die ungestörte Beweiserhebung sicherstellen sollen, kennt die StPO auch die Haftgründe der Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO) und der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO). Beiden ist gemeinsam, dass die Haft angeordnet werden kann, um weitere Straftaten zu verhindern. Die beiden Haftgründe unterscheiden sich jedoch hinsichtlich ihres Anknüpfungspunktes: Die Wiederholungsgefahr setzt den Verdacht eines Verbrechens oder Vergehens voraus, während bei der Ausführungsgefahr die Drohung mit einem schweren Verbrechen genügt, ohne dass bereits ein Delikt begangen worden sein muss. Bei der im Postulat dargelegten Konstellation käme somit allenfalls Haft wegen Wiederholungsgefahr in Betracht. Weil die Haft wegen Wiederholungsgefahr aber letztlich von einer reinen Prognose über das Verhalten einer beschuldigten Person abhängt, erscheint sie rechtsstaatlich nicht unproblematisch. Sie ist deshalb nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts und der Lehre nur zulässig, wenn ernsthafte Anhaltspunkte für eine Wiederholung der deliktischen Tätigkeit bestehen; die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Straftaten genügt dagegen nicht. Ebenso wenig darf Untersuchungshaft bloss deshalb angeordnet werden, um eine mögliche oder zu erwartende Freiheitsstrafe sofort zu vollziehen; dazu dient vielmehr das Institut des vorzeitigen Strafantritts (Art. 75 Abs. 2 StGB und Art. 236 StPO), von dem in der Praxis rege Gebrauch gemacht wird. Schliesslich reicht für Untersuchungshaft auch die Befürchtung nicht aus, die beschuldigte Person könnte sich in Freiheit ihrer Tat sogar rühmen; solches Verhalten ist zweifelsohne verwerflich, vermag allein aber keine Inhaftierung zu rechtfertigen. Diesen rechtsstaatlich begründeten und notwendigen Einschränkungen würde nun aber eine Regelung nicht gerecht, wie sie das Postulat zu prüfen verlangt. Denn eine Inhaftierung allein aufgrund der Art des begangenen Delikts führt dazu, dass in bestimmten Fällen der Haftgrund der Wiederholungsgefahr vermutet wird, ohne dass sein Bestehen im Einzelfall geprüft und nachgewiesen würde. Dies widerspricht sowohl dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit, nach welchem u. a. nur dann in Grundrechte eingegriffen werden darf, wenn eine Notwendigkeit dafür besteht, als auch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), nach deren Artikel 5 Ziffer 1 Buchstabe c die hier infrage stehende Haft nur zulässig ist, "wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat zu hindern" (Hervorhebung nicht im Original). Neben diesen Gründen, welche den Bundesrat zum Antrag auf Ablehnung des Postulates bewegen, ist zu beachten, dass in der Praxis auch bei Verkehrsdelikten durchaus Untersuchungshaft angeordnet wird, dies insbesondere dann, wenn mehrere Personen beteiligt sind und wenn es sich um schwere Fälle handelt. Denn hier sind die Verdunkelungsgefahr und das Kollusionsinteresse häufig zu bejahen. Ist mit längeren Freiheitsstrafen zu rechnen, so müsste durch die Gerichte vermehrt eine lange Untersuchungshaft angeordnet werden, weil Fluchtgefahr besteht (siehe etwa den Fall der Schläger von Küsnacht, die, obwohl minderjährig, seit Längerem in Untersuchungshaft sitzen). Dasselbe gilt für Mitfahrer. Sie sollten vermehrt als Mittäter ins Recht gefasst werden, wie das beispielsweise bei Fahren in ange2/12 trunkenem Zustand gegenüber Mitfahrern und Wirten (die sich nicht gegen die Fahrt des Angetrunkenen wehrten beispielsweise durch Behändigen des Autoschlüssels) auch der Fall ist. Im Ergebnis ist der Bundesrat der Auffassung, dass die heutigen Voraussetzungen für die Anordnung von Untersuchungshaft richtig und angemessen sind. Es ist Sache der Untersuchungsbehörden und der Gerichte, den durchaus bestehenden Spielraum zu nutzen und dafür zu sorgen, dass Raser konsequent für ihre Straftaten zur Rechenschaft gezogen werden. Eine Ausdehnung der Voraussetzungen für die Anordnung von Untersuchungshaft auf weitere Fälle könnte dagegen mit den Anforderungen höherrangigen Rechts in Konflikt kommen. Antrag des Bundesrates vom 26.08.2009 Der Bundesrat beantragt die Ablehnung des Postulates. 2. Die Untersuchungshaft nach Art. 220 ff. StPO 2.1 Überblick Grundsätzlich bleibt die beschuldigte Person während der Dauer des Strafverfahrens auf freiem Fuss. Dies ergibt sich aus Artikel 212 Absatz 1 der Strafprozessordnung (StPO) 2, ist aber auch im höherrangigen Recht verankert. So bestimmt Artikel 9 Ziffer 3 Satz 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) 3: «Es darf nicht die allgemeine Regel sein, dass Personen, die eine gerichtliche Aburteilung erwarten, in Haft gehalten werden […]». Die StPO sieht jedoch freiheitsentziehende Zwangsmassnahmen vor, um die Anwesenheit des Tatverdächtigen zur Durchführung des Strafprozesses und der künftigen Strafvollstreckung sicherzustellen. 4 Die Untersuchungshaft nach den Artikeln 220 ff. StPO dient der Sicherung der Ziele des Vorverfahrens: 5 Sie umfasst grundsätzlich den Freiheitsentzug zwischen dessen Anordnung durch das Zwangsmassnahmengericht und dem Eingang der Anklage beim erstinstanzlichen Gericht (Art. 220 Abs. 1 StPO). 6 Bei der Untersuchungshaft handelt es sich um die schwerste Zwangsmassnahme im Strafverfahren. 7 Sie greift stark in die Freiheitsrechte des Betroffenen ein und ist daher nur gegenüber dringend Verdächtigen und als «ultima ratio» zulässig. 8 Als besonders problema- 2 3 4 5 6 7 8 SR 312.0 SR 0.103.2 HAUSER ROBERT/SCHWERI ERHARD/HARTMANN KARL, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel 2005, § 68 N 1 mit Verweis auf BGE 96 IV 45 E. a) S. 46. Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085 ff., 1228. Tritt die beschuldigte Person vorzeitig die freiheitsentziehende Sanktion an oder wird sie während der Untersuchung entlassen, endet die Untersuchungshaft zu diesem Zeitpunkt (Art. 220 Abs. 1 StPO). Die Haft zwischen Eingang der Anklage beim Gericht und der Rechtskraft des Urteils, dem Antritt einer freiheitsentziehenden Sanktion oder der Entlassung wird dagegen als Sicherheitshaft bezeichnet (Art. 220 Abs. 2 StPO). PIETH MARK, Schweizerisches Strafprozessrecht, Grundriss für Studium und Praxis, Basel 2009, S. 112. FORSTER MARC, in: NIGGLI MARCEL ALEXANDER/HEER MARIANNE/W IPRÄCHTIGER HANS (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Jugendstrafprozessordnung, Basel 2011, Art. 220 N 3. 3/12 tisch erweist sich, dass sich die strafprozessuale Haft gegen eine nicht verurteilte Person richtet – die aufgrund der Unschuldsvermutung für unschuldig gilt (vgl. unten, Ziff. 2.2). 9 Deshalb bedarf der von der Haftanordnung Betroffene besonderen Schutzes. Entsprechende Garantien enthalten nicht nur die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) 10 und die Schweizerische Bundesverfassung (BV), 11 sondern alle modernen Prozessgesetze. 12 2.2 Rechtsstaatliche Vorgaben Die Artikel 5 EMRK und 31 BV stellen verschiedene Mindestanforderungen und Verfahrensgarantien auf: So bedarf es für die Anordnung der Untersuchungshaft eines hinreichenden Tatverdachts; ferner müssen die Haftgründe gesetzlich vorgesehen sein. Die inhaftierte Person muss unverzüglich über die Haftgründe und die der Haft zugrunde liegenden Delikte informiert und einem Richter vorgeführt werden. Sie hat Anspruch auf ein Urteil innert angemessener Frist oder auf Haftentlassung. Die Garantien der EMRK und BV betreffend Haftdauer, Haftanordnungs- und Haftprüfungsverfahren sowie betreffend der Haftbedingungen widerspiegeln sich in den Artikeln 224 ff. StPO. 13 Ein schwerwiegender Eingriff in die Freiheitsrechte der beschuldigten Person, wie ihn die Untersuchungshaft darstellt, ist nur gestützt auf eine formellgesetzliche Grundlage zulässig (Art. 31 Abs. 1 und 36 Abs. 1 BV, vgl. auch Art. 212 Abs. 1 StPO). Der Eingriff muss durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sein (Art. 36 Abs. 2 BV). Artikel 212 Absatz 2 und 3 StPO konkretisiert die Voraussetzung der Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV): 14 Die in Frage stehende Zwangsmassnahme muss geeignet und erforderlich sein, um das angestrebte öffentliche Interesse zu erreichen. So ist diese aufzuheben, wenn Ersatzmassnahmen zum gleichen Ziel führen (Art. 212 Abs. 2 lit. c StPO). Auch darf der Eingriff in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht nicht weiter gehen als unbedingt erforderlich. Im Falle von Übertretungen ist Untersuchungshaft ausgeschlossen (Art. 221 Abs. 1 StPO); sie ist aufzuheben, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind (Art. 212 Abs. 2 lit. a StPO) und darf nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (Art. 212 Abs. 2 StPO). 15 Die Unschuldsvermutung gehört zu den Kerngarantien eines fairen Strafverfahrens: 16 Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig (Art. 6 Ziff. 2 EMRK, Art. 14 Abs. 2 IPBPR, Art. 32 Abs. 1 BV). Dies wird auch in Artikel 10 StPO als «Grundsatz des Strafverfahrensrechts» aufgenommen. Die Unschuldsvermutung ist in sämtlichen Verfahrensstadien zu beachten und gilt unabhängig vom Gewicht des gegen die beschuldigte Person bestehenden Verdachts. Sie verpflichtet die Strafbehörden stets von der Möglichkeit auszugehen, dass die beschuldigte Person auch schuldlos sein könnte. 17 Deshalb stehen 9 10 11 12 13 14 15 16 17 SCHMID NIKLAUS, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, Zürich/St. Gallen 2009, § 67 N 994. SR 0.101 SR 101 HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, § 68 N 1. Zum Ganzen FORSTER, Art. 220 N 7; SCHMID, § 68 N 1017; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, § 68 N 2 ff. SCHMID, § 67 N 996. Zum Ganzen PIETH, S. 105 f. und SCHMID, § 67 N 996. TOPHINKE ESTHER, in: NIGGLI MARCEL ALEXANDER/HEER MARIANNE/W IPRÄCHTIGER HANS (Hrsg.), Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Jugendstrafprozessordnung, Basel 2011, Art. 10 N 2; Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085 ff., 1132. TOPHINKE, Art. 10 N 2. 4/12 Zwangsmassnahmen in einem besonderen Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung, weil die von ihnen betroffenen, beschuldigten Personen eben als unschuldig zu gelten haben. 18 Dieses generell bestehende Spannungsverhältnis akzentuiert sich bei Zwangsmassnahmen, die von der Intensität, Dauer oder ihrem Zweck her einer Strafe gleichkommen – wie dies unter Umständen bei der Untersuchungshaft der Fall sein kann. 19 Deshalb ist die Untersuchungshaft nur unter besonderen, strengen Voraussetzungen überhaupt zulässig. 2.3 Rechtliche Voraussetzungen Artikel 221 StPO formuliert die Voraussetzungen der Untersuchungshaft wie folgt: 1 Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind nur zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie: a. sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht; b. Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen; oder c. durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat. 2 Haft ist auch zulässig, wenn ernsthaft zu befürchten ist, eine Person werde ihre Drohung, ein schweres Verbrechen auszuführen, wahrmachen. Erforderlich ist zunächst ein dringender Tatverdacht (Art. 221 Abs. 1 StPO). Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung und Lehre müssen die Untersuchungsergebnisse konkrete Anhaltspunkte dafür liefern, dass eine Straftat vorliegt und die beschuldigte Person daran beteiligt ist. Ungenügend ist namentlich die reine Möglichkeit einer Tatbegehung oder ein vager Verdacht. Vielmehr muss mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Verurteilung zu erwarten sein. Das Mass des erforderlichen Tatverdachts ist jedoch abhängig vom Verfahrensstadium: Mit fortschreitender Untersuchung muss sich dieser verdichten. 20 Kumulativ verlangt das Gesetz einen besonderen Haftgrund. 21 Die «klassischen Haftgründe» der Flucht- und Kollusionsgefahr zielen auf die Verfügbarkeit der beschuldigten Person und die ungestörte Beweiserhebung: Die Untersuchungshaft soll verhindern, dass sich die beschuldigte Person durch Flucht dem Strafverfahren bzw. dem Strafvollzug entzieht (Art. 221 Abs. 1 Bst. a StPO) oder die Wahrheitsfindung durch Beeinflussung von Personen oder Einwirken auf Beweismittel beeinträchtigt (Art. 221 Abs. 1 Bst. b StPO). Nicht in allen kantonalen Prozessordnungen fand sich der heute in Artikel 221 Absatz 1 Buchstabe c StPO verankerte Haftgrund der Wiederholungsgefahr: Er setzt voraus, dass die bereits straffällig gewordene beschuldigte Person die Sicherheit anderer (wiederum) durch schwere Straftaten erheblich gefährdet. Der Haftgrund der Ausführungsgefahr (Art. 221 Abs. 2 StPO) kommt dagegen zum Tragen, wenn eine Drohung mit einem schweren Verbrechen vorliegt, ohne dass bereits ein Delikt begangen worden sein muss; ein dringender Tatverdacht ist hier nicht verlangt. 22 18 19 20 21 22 PIETH, S. 47; SCHMID, § 67 N 994; vgl. auch HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, § 68 N 1. TOPHINKE, Art. 10 N 33. BGE 116 Ia 143 E. 3c) S. 146; SCHMID, § 68 N 1019; HAUSER/SCHWERI/HARTMANN, § 68 N 9; FORSTER, Art. 221 N 3; PIETH, S. 106 und 112. Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085 ff., 1228. Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085 ff., 1229. 5/12 3. Definition des «Raserfalls» Der Begriff «Rasen» trifft gemeinhin unterschiedlichste Verhaltensweisen im Strassenverkehr, die zu einer Gefährdung, Verletzung oder Tötung von Personen führen. Eine Geschwindigkeitsüberschreitung ist nicht zwingend vorausgesetzt – das geforderte rücksichtslose oder skrupellose Verhalten kann sich auch etwa in «waghalsigem Überholen» oder in der «Teilnahme an einem nichtbewilligten Rennen mit Motorfahrzeugen» manifestieren. 23 Im Rahmen von Via sicura wird das Strassenverkehrsgesetz (SVG) 24 zur Verbesserung der Sicherheit im Strassenverkehr geändert, wobei Massnahmen bei «Raserdelikten» ein zentrales Thema sind. 25 In diesem Zusammenhang wird der Raser allgemein als Verkehrsteilnehmer bezeichnet, der in skrupelloser Weise eine grobe Verkehrsverletzung begeht (Art. 90a Abs. 1 Bst. a SVG). Das Parlament ging gar weiter als der Entwurf des Bundesrates und führte eine neue Strafbestimmung mit verschärftem Strafmass bei Raserei ein: Wer «durch vorsätzliche Verletzung elementarer Verkehrsregeln das hohe Risiko eines Unfalls mit Schwerverletzen oder Todesopfer eingeht», soll mit Freiheitsstrafe von einem bis zu vier Jahren bestraft werden (Art. 90 Abs. 3 SVG). 26 Ein Teil der Änderungen ist am 1. Januar 2013 in Kraft getreten. 27 «Rasen» zeichnet sich in den genannten Bestimmungen durch das Eingehen eines hohen Unfallrisikos durch skrupelloses Verhalten aus – und damit durch eine (schwerwiegende) Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer. Das Postulat stellt jedoch ab auf Täter, «die schwere Verkehrsunfälle mit Toten und Verletzten verursachen» und verlangt daher ein qualifiziertes Raserdelikt: Das Schaffen einer Gefahr ist nicht ausreichend, vielmehr muss konkret eine Person an Leib oder Leben verletzt worden sein. Das Bundesgericht hat seine Rechtsprechung in Bezug auf die Willensintention in Raserfällen geändert. Während es ursprünglich bei tödlich verlaufenden Unfällen Eventualvorsatz annahm, 28 relativierte es dies in einem Entscheid von 2007: «Erfahrungsgemäss neigen Fahrzeuglenker dazu, einerseits die Gefahren zu unterschätzen und andererseits ihre Fähigkeiten zu überschätzen, weshalb ihnen unter Umständen das Ausmass des Risikos der Tatbestandsverwirklichung nicht bewusst ist. Einen unbewussten Eventualdolus aber gibt es nicht […]. Eventualvorsatz in Bezug auf Verletzungs- und Todesfolgen ist bei Unfällen im Strassenverkehr daher nur mit Zurückhaltung in krassen Fällen anzunehmen, in denen sich aus dem gesamten Geschehen ergibt, dass der Fahrzeuglenker sich gegen das geschützte Rechtsgut entschieden hat.» 29 Einschlägig sind demnach zumeist die Tatbestände der fahrlässigen Tötung bzw. der fahrlässigen Körperverletzung (Art. 117 und 125 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs [StGB] 30). In einem neueren Entscheid erachtete das Bundesgericht 23 24 25 26 27 28 29 30 bis Vorlage Via sicura, Art. 90 Abs. 2 E-SVG, AB 2011 S 679 f.; vgl. auch die Eidgenössische Volksinitiative «Schutz vor Rasern», www.admin.ch/ch/d/pore/vi/vis384.html. SR 741.01 Botschaft zu Via sicura, Handlungsprogramm des Bundes für mehr Sicherheit im Strassenverkehr vom 20. Oktober 2010, BBl 2010 8447 ff., 8449. AS 2012 6291 ff., 6311; vgl. AB 2011 S 679 f. und AB 2011 N 2142. AS 2012 6291 ff. BGE 130 IV 58 E. 9.1.1 S. 64 m.H.: Dem Täter musste sich gemäss Bundesgericht die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts als so gross aufdrängen, dass sein Verhalten als Inkaufnahme des vorhergesehenen Erfolges gewertet werden muss. Die blosse Hoffnung auf dessen Ausbleiben schliesse eine Inkaufnahme nicht aus sondern bedeute lediglich, dass der Erfolgseintritt dem Täter unerwünscht sei. BGE 133 IV 9 E. 4.4 S. 20 m.H. SR 311.0 6/12 neben dem Fahrlässigkeitstatbestand von Artikel 117 StGB auch Artikel 129 StGB als erfüllt: «Wer skrupellos das Leben einer Person direktvorsätzlich gefährdet, welche in der Folge stirbt, ist sowohl wegen Gefährdung des Lebens als auch wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen, wenn er voraussieht, dass das Opfer sterben kann und er aus pflichtwidriger Unvorsicht auf den Nichteintritt des Todes vertraut.» 31 4. Die Unschuldsvermutung Das Postulat regt die Einführung einer Regel an, wonach bei schweren Verkehrsunfällen mit Toten oder Verletzten generell Untersuchungshaft angeordnet wird. Damit würden die dargelegten bestehenden Voraussetzungen der Untersuchungshaft in einer Weise ausgeweitet, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung beeinträchtigt würde: Auch wenn im Einzelfall immer ein dringender Tatverdacht nachgewiesen werden müsste, orientierte sich die Zwangsmassnahme einzig an der Art des vermuteten Delikts – ohne den besonderen Haftgründen Rechnung zu tragen und ohne dass die Inhaftierung damit der Sicherung des Vorverfahrens oder der Gefahrenabwehr dienen müsste. Die Anordnung von Untersuchungshaft allein gestützt auf einen Tatverdacht, ohne dass ausreichende Haftgründe vorliegen, wird jedoch für unzulässig gehalten. 32 Aus der Unschuldsvermutung wird eine Beweislastregel abgeleitet: Es ist Sache der Anklagebehörde, die Schuld des Angeklagten nachzuweisen. 33 Eine konsequente Anordnung von Untersuchungshaft in Raserfällen würde diese Beweislastregel relativieren. Auch wenn in begründeten Einzelfällen von Untersuchungshaft abgesehen werden könnte, wäre die Unschuldsvermutung nicht gewahrt. Im Ergebnis führte die Regelung zu einer Umkehr rechtsstaatlich abgestützter Prinzipien: Untersuchungshaft wäre bei Raserdelikten mit Toten oder Verletzten der Regelfall – Freiheit die Ausnahme. Grundsätzlich muss eine beschuldigte Person während der Dauer des Strafverfahrens jedoch auf freiem Fuss bleiben (Art. 212 Abs. 1 StPO; Art. 9 Ziff. 3 Satz 2 IPBPR). Würde jede Person, die einer bestimmten Tat verdächtigt wird und eine gerichtliche Aburteilung erwartet, in Haft genommen, so würde die Unschuldsvermutung beeinträchtigt. Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Unschuldsvermutung aufgrund der Art des in Frage stehenden Delikts durchbrochen werden müsste. Denn zur Sicherung der Ziele des Vorverfahrens und namentlich auch zur Gefahrenabwehr kann der beschuldigten Person bereits nach dem geltendem Recht die Freiheit entzogen werden (Art. 220 ff. StPO). Aus der Unschuldsvermutung folgt weiter, dass die Untersuchungshaft die Strafe bzw. die Strafzwecke nicht vorwegnehmen darf. Insbesondere darf die Untersuchungshaft auch nicht dem Zweck dienen, die zu erwartende Freiheitsstrafe sofort zu vollziehen. Das Gesetz sieht hierfür die Möglichkeit des vorzeitigen Strafantritts vor: Ist eine unbedingte Freiheitsstrafe zu erwarten, kann die beschuldigte Person auf deren Gesuch hin bereits vor der rechtskräftigen Verurteilung in den Straf- oder Massnahmenvollzug versetzt werden (Art. 75 Abs. 2 StGB und Art. 236 StPO). So wird dem Inhaftierten ermöglicht, von den Bedingungen des Strafvollzugs zu profitieren, die gerade in Bezug auf Betreuung, die weniger schwerwiegende Isolierung und die Arbeit bedeutend besser sind als unter dem Status eines Untersuchungsgefangenen. Dies erhöht letztlich auch die Resozialisierungschancen und die öffentliche Sicherheit. 34 In der Praxis wird der vorzeitige Strafantritt denn auch häufig gewährt. 31 32 33 34 BGE 136 IV 76, Regeste, Hervorhebung nicht im Original. TOPHINKE, Art. 10 N 33. PIETH, S. 47. BRÄGGER BENJAMIN F., in: NIGGLI MARCEL ALEXANDER/WIPRÄCHTIGER HANS (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht I, Art. 1–110 StGB, Jugendstrafgesetz, 2. Aufl., Basel 2007, Art. 75 N 14. 7/12 5. Die Ziele des Postulats 5.1 Schutz potentieller Opfer vor Wiederholungstaten Das Postulat zielt primär auf den Schutz potentieller Opfer ab. Es seien Fälle bekannt geworden, in denen Raser am Tag oder Folgetag des Unfalles wieder Auto fahren konnten oder bei Kollegen damit prahlten, einen schweren Unfall verursacht zu haben und nun bereits wieder im Ausgang zu sein. Von solchen Tätern gehe eine Gefahr aus, vor der es weitere potenzielle Opfer zu schützen gelte. Im Vordergrund steht damit die Verhinderung von Wiederholungstaten. 5.1.1 Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr im Besonderen Dem Schutz potentieller Opfer vor Wiederholungstaten dient die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO). Das Bundesgericht mahnt in Zusammenhang mit diesem Haftgrund zur Vorsicht: Wesensgemäss wohne ihm eine gewisse Missbrauchsgefahr inne, weshalb ein strenger Massstab anzulegen sei. 35 Anders als bei den «klassischen Haftgründen» dient die Untersuchungshaft hier der Gefahrenabwehr und ist eine sichernde, polizeilich begründete Präventivhaft. 36 Dass diese somit nicht auf die Sicherung der Untersuchung und Strafvollstreckung, sondern letztlich auf Spezialprävention (d.h. einen Strafzweck) abzielt, wird in der Lehre mit Blick auf die Unschuldsvermutung zwar kritisiert 37, der Haftgrund der Wiederholungsgefahr hält jedoch sowohl vor der Bundesverfassung als auch vor Artikel 5 Ziffer 1 Buchstabe c EMRK stand. 38 Rechtsstaatlich problematisch scheint der Haftgrund der Wiederholungsgefahr insbesondere, da er von einer Prognose über das Verhalten der beschuldigten Person abhängig ist. Diesem Haftgrund wohnt deshalb die Gefahr inne, dass Untersuchungshaft bloss aufgrund nicht näher begründeter Annahmen oder Vermutungen verhängt wird. Dem wirkt das Gesetz in verschiedener Hinsicht entgegen: Nebst der allgemeinen Voraussetzung eines dringenden Tatverdachts werden einschränkende Anforderungen an die befürchtete Wiederholungstat gestellt. Diese darf nicht geringfügiger Natur sein; vielmehr müssen schwere Verbrechen oder Vergehen zu erwarten sein, die die Sicherheit anderer erheblich gefährden. Die erneute Tatbegehung muss ernsthaft zu befürchten sein. Schon unter kantonalem Prozessrecht verlangten Bundesgericht und Lehre, dass ernsthafte Anhaltspunkte für eine Wiederholung vorliegen müssen, während die rein hypothetische Möglichkeit der Begehung weiterer Straftaten nicht ausreiche. 39 Der Gesetzgeber hat die Untersuchungshaft auf Fälle beschränkt, in denen die beschuldigte Person bereits früher Straftaten (mindestens zwei) verübt hat, die von gleicher Art sind wie die Wiederholungstat. 40 Nach einer systematisch-teleologischen Auslegung von Artikel 212 Absatz 1 Buchstabe c StPO ist das Bundesgericht aber zur Auffassung gelangt, «dass es – selbst bei Fehlen von früheren gleichartigen Straftaten – nicht in der Absicht des Gesetzgebers lag, mögliche Opfer von weiteren Gewaltdelikten derartigen Risiken auszusetzen». Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr kann daher auch ohne den Nachweis früherer gleichartiger Straftaten angeordnet werden, wenn Verbrechen und Verge- 35 BGE 105 Ia 26 E. 3.c) S. 31 Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085 ff., 1229; SCHMID, N 1024. 37 TOPHINKE, Art. 10 N 33; siehe auch PIETH, 114. 38 SCHMID, § 68 N 1024; FORSTER, Art. 221 N 9. 39 BGE 135 I 71 E. 2.3 S. 73 40 Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1085 ff., 1229. 36 8/12 hen und eine ernsthafte und konkrete Gefahr für mögliche Opfer vorliegen. 41 5.1.2 Anwendung auf Raserfälle Das Postulat regt an, bei schweren Raserunfällen konsequent Untersuchungshaft anzuordnen. Dies würde vor der gesetzlichen Regelung und vor den von Lehre und Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen nicht standhalten: Nach der Regelung, welche das Postulat zu prüfen verlangt, würde in jedem Fall eines schweren Raserunfalls eine schlechte Prognose über das zukünftige Verhalten der beschuldigten Person fingiert – ohne dass dies näherer Begründung bedürfte. Die rein hypothetische Möglichkeit der Begehung weiterer (Raser-) Delikte genügt aber gerade nicht, um Untersuchungshaft zu rechtfertigen. Vielmehr müssen im konkreten Einzelfall ernsthafte Anhaltspunkte für die erneute Begehung eines schweren Vergehens oder Verbrechens sprechen. Die geforderte Regelung stünde im Widerspruch zum Verhältnismässigkeitsprinzip: Danach darf nur in die Grundrechte der beschuldigten Person eingegriffen werden, wenn eine Notwendigkeit dafür besteht – die Untersuchungshaft also erforderlich ist, um die beschuldigte Person an weiteren Delikten zu hindern. Dies ist aber nicht per se in allen Raserfällen mit Todes- oder Verletzungsfolge gegeben, sondern nur, wenn konkret ernsthafte Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr nachgewiesen werden können. Auch Artikel 5 Ziffer 1 Buchstabe c EMRK lässt Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr nur zu, «wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, [die betreffende Person] an der Begehung einer Straftat […] zu hindern». Eine Auflockerung der strengen Voraussetzungen in Raserfällen wäre zum Schutz potentieller Opfer denn auch nicht erforderlich: Wo die Gefahr einer Wiederholungstat besteht, genügt die geltende, rechtsstaatlich abgewogene gesetzliche Regelung, um dieser zu begegnen. Schon heute kann Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr angeordnet werden, wo eine solche gegeben ist und wo es zum Schutz potentieller Opfer tatsächlich angezeigt ist. 5.2 Signal an Opfer und Nachahmungstäter Das Postulat stützt die konsequente Anordnung von Untersuchungshaft in Raserfällen ferner auf deren Signalwirkung: Es sei absolut unverständlich, wenn der Unfallverursacher nach der Tat frei herumlaufe und mit der Tat angebe. Dies sei ein falsches Signal an die Opfer, ihre Angehörigen und allfällige Nachahmungstäter. Rühmt sich die beschuldigte Person ihrer Tat, so ist dies zweifelsohne höchst verwerflich. Die Befürchtung, dass sich der Unfallverursacher so verhalten könnte, darf aber wiederum nicht als Grund für eine generelle Anordnung von Untersuchungshaft herangezogen werden. Die Verwerflichkeit des Verhaltens rechtfertigt allein keine Zwangsmassnahme, die dermassen in die Freiheitsrechte der beschuldigten Person eingreift. Untersuchungshaft ist auch in Raserfällen nur zulässig, wenn weitere Voraussetzungen erfüllt sind. Auch bei anderen Delikten besteht die Gefahr, dass der Täter nach der Ausübung einer Straftat ein verwerfliches Verhalten an den Tag legt. Dieser Gesichtspunkt kann dort wie bei Raserdelikten im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt werden und zu einer höheren Strafe führen: Das Verhalten des Täters nach der Tat ist ein Aspekt, welchen das Gericht bei der Würdigung des Verschuldens und bei der Zumessung der Strafe nach Artikel 47 StGB zu berücksichtigen hat. 42 41 42 BGE 137 IV 13 Regeste und E. 3. und 4 S. 18 ff.; bestätigt in den Urteilen des Bundesgerichts 1B_133/2011 vom 12. April 2011 und 1B_397/2011 vom 29. August 2011. BGE 117 IV 112 E. 1 S. 114; W IPRÄCHTIGER HANS, in: NIGGLI MARCEL ALEXANDER/W IPRÄCHTIGER HANS (Hrsg.), Basler Kommentar, Strafrecht I, Art. 1–110 StGB, Jugendstrafgesetz, 2. Aufl., Basel 2007, Art. 47 N 129 ff. 9/12 Dieses kann als «Erkenntnisquelle für die Täterpersönlichkeit» 43 dienen; Reue und Einsicht etwa wirken entlastend, umgekehrt ist das Prahlen mit der begangenen Tat als straferhöhend zu würdigen. 44 Was das Signal an Nachahmungstäter betrifft, ist gleichzeitig die Frage der negativen Generalprävention angesprochen. Diese sucht den Zweck der Strafe in der «Verbrechensverhütung durch Einwirkung auf die Allgemeinheit»: Potenzielle Rechtsbrecher sollen von der Tatbegehung abgehalten werden. 45 Dieser Ansatz gilt heute als überholt: 46 Ob sich jemand für oder gegen die Begehung eines Delikts entscheidet, basiert nicht auf einer rationalen Abwägung von Vor- und Nachteilen oder von Fall zu Fall. Vielmehr scheinen längerfristige Wertüberzeugungen und Verhaltensdispositionen massgebend. Die Geltung, die einer Norm zukommt, ist davon abhängig, ob ihre Verletzung strafrechtlich verfolgt wird und zu einer Strafe führt. 47 Der Abschreckungsgedanke allein kann aber nicht rechtfertigen, was die Strafe dem Betroffenen zufügt; die Frage der persönlichen Schuld bleibt unabweisbar. 48 Dies muss erst recht gelten, wenn es um eine Zwangsmassnahme in einer Phase geht, in der die Schuld des Betroffenen noch nicht bewiesen ist: Ein Freiheitsentzug zur Bekämpfung weiterer Verbrechen und zur Abschreckung potentieller Nachahmungstäter würde zu weit führen. 6. Besteht Handlungsbedarf? Die geltende strafprozessuale Regelung ermöglicht es heute bereits, in Raserfällen gezielt Untersuchungshaft zu verhängen, wo eine solche zur Gefahrenabwehr oder zur Sicherung der Untersuchungszwecke angezeigt ist. Sind potentielle Opfer in Gefahr, weil eine erneute Tatbegehung zu befürchten ist, kann Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr angeordnet werden (Art. 221 Abs. 1 Bst. c StPO). Die heutige, ausdifferenzierte Regelung nimmt auf rechtsstaatliche Grundsätze Rücksicht und erlaubt es, entsprechenden Gefahrenlagen zu begegnen. Sind mehrere Personen in ein Raserdelikt involviert und handelt es sich um schwere Fälle (wie bei den anvisierten Raserdelikten mit Todes- oder Verletzungsfolge), so ist zudem oft Kollusionsgefahr gegeben (Art. 221 Abs. 1 Bst. b StPO): Es steht zu befürchten, dass Personen beeinflusst werden könnten oder dass auf Beweismittel eingewirkt werden könnte, um die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen. Sofern eine längere Freiheitsstrafe zu erwarten ist, kommt schliesslich auch Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr in Frage (Art. 221 Abs. 1 Bst. a StPO). Die geltende Regelung ermöglicht Untersuchungsbehörden und Gerichten somit, auf die verschiedenen Gefahrenlagen zu reagieren und in Raserfällen Untersuchungshaft anzuordnen. Die Schranken, welche das höherrangige Recht und das Strafprozessrecht vorsehen, sind gerechtfertigt und dürfen auch bei Raserdelikten nicht leichtfertig über Bord geworfen werden. Zur Bannung der Wiederholungsgefahr trägt zudem die geltende Regelung bei, wonach die Polizei den Führerausweis sofort vorsorglich entziehen kann, wenn sich ein Motorfahrzeugführer oder eine Motorfahrzeugführerin durch grobe Verletzung wichtiger Verkehrsregeln als 43 44 45 46 47 48 Urteil des Bundesgerichts 6S.778/1997 vom 30. Januar 1998. Urteile des Bundesgerichts 6B_974/2009 vom 18. Februar 2010, E. 5.5 und 6B_857/2010 vom 4. April 2011, E. 5.2.2.4. STRATENWERTH GÜNTER, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I, Die Straftat, 3. Aufl., Bern 2005, § 2 N 20; W IPRÄCHTIGER, Art. 47 N 41. W IPRÄCHTIGER, Art. 47 N 41. Art und Mass der Sanktion sind dagegen innerhalb eines weiten Rahmens irrelevant: STRATENWERTH, § 2 N 21. STRATENWERTH, § 2 N 22. 10/12 besonders gefährlich erwiesen hat (Art. 54 Abs. 3 SVG). 7. Exkurs: Via sicura Via sicura stellt ein Handlungsprogramm des Bundes für mehr Sicherheit im Strassenverkehr dar (vgl. schon oben, Ziff. 3.). Zu diesem Zweck wurde eine umfassende Änderung des SVG beschlossen. Ein Pfeiler der Vorlage sind «Repressive Massnahmen bei ‹Raserdelikten› und anderen schweren Delikten». Als solche werden in der Botschaft z.B. die Fahrzeugeinziehung und -verwertung, die obligatorische Fahreignungsabklärung beim Verdacht fehlender Fahreignung, die obligatorische Nachschulung bei schweren Geschwindigkeitsdelikten, der Einbau von Datenaufzeichnungsgeräten sowie von Alkohol-Wegfahrsperren genannt. 49 Die Änderungen zielen insgesamt auf die Verbesserung der Verkehrssicherheit und die Verminderung der Anzahl Strassenverkehrsunfallopfer. 50 Insofern deckt sich deren Hauptziel mit dem Anliegen des Postulats, potentielle Opfer zu schützen. Die vorgesehenen repressiven Massnahmen verlangen kein Delikt mit Todes- oder Verletzungsfolgen; auslösendes Delikt kann auch ein Gefährdungsdelikt sein (vgl. etwa die Einziehung von Motorfahrzeugen nach Art. 90a Abs. 1 Bst. a SVG). Insofern geht Via sicura weiter als das Postulat und erlaubt zielgerichtet, auf die im Einzelfall bestehende Gefährdungslage zu reagieren. Das Parlament hat die Via-sicura-Vorlage mit weiteren Massnahmen gegen Raserinnnen und Raser ergänzt 51, nämlich der Verschärfung des Strafrahmens für Raserdelikte (Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG) und der Verlängerung der Dauer des Führerausweisentzugs bei Erst- und Wiederholungstätern (Art. 16c Abs. 2 Bst. abis und Art. 16d Abs. 3 SVG). 8. Schlussfolgerungen Die Untersuchungshaft als schwerste Zwangsmassnahme im Strafverfahren greift stark in die Freiheitsrechte der beschuldigten Person ein. Sie steht namentlich in einem Spannungsverhältnis zur Unschuldsvermutung: Jede Person gilt bis zu ihrer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig. Untersuchungshaft ist zulässig, soweit die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen (insb. dringender Tatverdacht, besonderer Haftgrund und Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips). Kommt sie indes von ihrer Intensität, ihrer Dauer oder ihrem Zweck einer Strafe gleich, erweist sie sich als bedenklich. Das Postulat regt an, bei schweren Raserunfällen mit Toten und Verletzten konsequent Untersuchungshaft anzuordnen. In diesem Sinn nur auf die Art des Delikts abzustellen, auf das sich der Tatverdacht bezieht, würde vor der Unschuldsvermutung nicht standhalten. Es sind vielmehr besondere Haftgründe im Sinne von Artikel 221 StPO vorauszusetzen. Würde Untersuchungshaft in Raserfällen die Regel, so wäre das Prinzip verletzt, wonach die beschuldigte Person während der Dauer des Strafverfahrens in Freiheit zu belassen ist. Das Postulat zielt v.a. darauf ab, potentielle Opfer vor Wiederholungstaten zu schützen. Einschlägig ist damit der besondere Haftgrund der Wiederholungsgefahr nach Artikel 221 Absatz 1 Buchstabe c StPO. Die geltende gesetzliche Regelung ist rechtsstaatlich abgewogen und erlaubt die Anordnung von Untersuchungshaft, wo dies zum Schutz potentieller Opfer angezeigt ist. Eine Auflockerung der Voraussetzungen in Raserfällen ist nicht angezeigt und würde dem Verhältnismässigkeitsprinzip zuwiderlaufen. Auch die Befürchtung, der Täter könnte sich in Freiheit seiner Tat rühmen, reicht nicht zur Begründung der Untersuchungs- 49 Botschaft zu Via sicura, Handlungsprogramm des Bundes für mehr Sicherheit im Strassenverkehr vom 20. Oktober 2010, BBl 2010 8447 ff., 8449. 50 Botschaft zu Via sicura, Handlungsprogramm des Bundes für mehr Sicherheit im Strassenverkehr vom 20. Oktober 2010, BBl 2010 8447 ff., 8524. 51 AS 2012 6291 ff., 6311 und 6296 f.; vgl. AB 2011 S 681; AB 2011 N 2160. 11/12 haft. Solches Verhalten ist vielmehr bei der Strafzumessung nach Artikel 47 StGB zu würdigen. Eine Abschreckung möglicher Nachahmungstäter ist nicht zu erwarten. Die strafprozessualen Regeln zur Untersuchungshaft erlauben es Untersuchungsbehörden und Gerichten bereits, in Raserfällen gezielt Untersuchungshaft zu verhängen, wo eine solche zur Gefahrenabwehr oder zur Sicherung der Untersuchungszwecke erforderlich ist. Zudem ist auf die zahlreichen Massnahmen hinzuweisen, die der Bundesrat im Rahmen von Via sicura vorgeschlagen hat. Es scheinen somit weder eine Änderung der in der schweizerischen Strafprozessordnung verankerten Bestimmungen über die Untersuchungshaft noch allfällige weitere Massnahmen erforderlich. 12/12