Spektrum Weltgestaltung Eine Rückschau auf das Calvin-Jahr 2009 von Hans-Georg Ulrichs Johannes Calvin und der Calvinismus stehen für die Pluralität der Reformation und des Protestantismus, ebenso für eine modernisierende Form evangelischen Glaubens. Der reformierte Protestantismus hat demokratiefördernd gewirkt und beinhaltet hohes Resistenzpotenzial. Der Calvinismus ist, wie das internationale Calvin-Jahr 2009 deutlich herausstellte, die eben nicht provinzielle Form des Protestantismus, sondern dessen globale Form. “Von mir selbst rede ich nicht gerne”, so verriet er einmal. Sein letztjähriger Geburtstag hat gleichwohl viel Anlass gegeben, über diesen Mann von welthistorischer Bedeutung zu reden und sein Leben, sein Werk und seine Wirkungen zu bedenken – neu zu bedenken und nachhaltig sein Image zu ändern. Das Calvin-Jahr 2009 Johannes Calvin wurde am 10. Juli 1509 im nordfranzösischen Noyon geboren. Im Jahr 2009 wurde weltweit seines 500. Geburtstags gedacht. Calvins tatsächlich weltweite Ausstrahlung macht ihn zur bedeutendsten Gestalt in der Reformationsgeschichte und zum erfolgreichsten Kirchenreformer überhaupt: Der maßgeblich auf Calvin zurückgehende reformierte Protestantismus ist verglichen mit dem Luthertum der größere Traditionsstrom. Sowohl die Minderheitensituation der Reformierten als auch das von Konfessionalisten und “Gebildeten” gepflegte negative Bild des Genfer Refor- 24 evangelische aspekte 3/2010 mators sind ein deutscher Sonderweg. Wenn nicht alles täuscht, geht mit dem Calvin-Jahr 2009 Calvins negatives Image dem sicheren Ende entgegen. Anders als bei früheren Gedenkjahren Johannes Calvins, in denen nicht zuletzt auch durch die offenbar permanent zu leistende Apologie von Seiten der Calvinisten die Fremdheit dieses großen europäischen Gelehrten zu Tage trat und sich darüber paradoxerweise weiter verfestigte, wurde das Gedenkjahr 2009 als eine Aufgabe des gesamten Protestantismus in Deutschland verstanden. Dass die Feierlichkeiten etwa in den Niederlanden und in den Vereinigten Staaten wesentlich origineller und lebendiger gestaltet waren, soll hier gar nicht als deutsches Manko aufgeführt werden. Vielmehr ist zu würdigen, wie sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) engagierte und Calvin endlich ein würdiger Platz in Tradition und Gegenwart auch des deutschen Protestantismus zugewiesen wurde. Im Rahmen der zunächst richtigerweise als Reformations-, dann aber leider einschränkend nur noch als Luther-Dekade bezeichneten aktualisierenden Erinnerungsarbeit im Hinblick auf das Gedenkjahr der Reformation im Jahr 2017 kooperierte die EKD mit den konfessionellen Nachfolgern Calvins. In Deutschland bestehen mit der Evangelischreformierten Kirche und der Lippischen Landeskirche zwei – überwiegend – reformiert geprägte Landeskirchen. Die meisten reformierten Christen leben aber in den Kirchen der Union, etwa im Rheinland, in Westfalen, in Hessen und in der Pfalz. Der 1884 gegründete Reformierte Bund versteht sich als landesweite Wahrerin reformierter Belange und hat typisch reformiert für sich eine äußerst schwache institutionelle Form gewählt, nämlich die eines Vereins. Die Kooperation zwischen EKD, den EKD-Gliedkirchen, den reformierten Landeskirchen und dem Reformierten Bund ermöglichte die zeitlich limitierte Spektrum Anstellung eines “Calvin-Beauftragten”. Diese Stelle konnte mit Dr. Achim Detmers, einem ausgewiesenen Calvin-Forscher der jüngeren Generation, optimal besetzt werden. Die an zahlreichen Orten gezeigte Wanderausstellung, das gemeinsam verantwortete CalvinMagazin und andere Materialien stellten Johannes Calvin als Reformator von europäischem Format vor. Das Deutsche Historische Museum zeigte eine große und großartige Ausstellung über den “Calvinismus”, die vom damaligen niederländischen Ministerpräsidenten Jan Pieter Balkenende als einem bekennenden Reformierten eröffnet wurde. Hauptredner während der zentralen Feier in Berlin am Geburtstag Calvins war der reformierte Lipper Frank-Walter Steinmeier, seinerzeit Außenminister und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Calvins Leben Wer war Johannes Calvin? Was hat er dem reformierten Protestantismus mit auf den Weg gegeben? Und wie könnte seine aktuelle Bedeutung beschrieben werden? Geprägt vom Humanismus, in Berührung gekommen mit Auswirkungen der lutherischen Reformation sowie enttäuscht von negativen Erfahrungen mit der altgläubigen Kirche öffnete sich der junge glänzende Jurist Johannes Calvin spätestens Anfang der 1530er Jahre in Paris reformatorischem Gedankengut. Einige Jahre auf der Flucht, in denen er unter anderen von adeligen Gönnern gefördert seine theologischen Studien autodidaktisch vorantreiben konnte, kam er im Sommer 1536 kriegsbedingt nach Genf, wo er durch den dortigen Reformator Wilhelm Farel zum Bleiben aufgefordert wurde, um der Reformation Halt und Form zu geben. Der eher wenig draufgängerische Gelehrte hätte sich lieber seinen Studien gewidmet, zumal kurz zuvor die erste Auflage desjenigen Buches in Basel gedruckt worden war, das Calvin bis heute den Rang eines in aller Welt bedeutenden Theologen sichern sollte: Die Institutio christianae religionis. Orientierte sich diese Auflage noch an vorliegenden katechetischen Werken, so erweiterte Calvin die Institutio durch zwei weitere Auflagen in Latein und Französisch bis 1559 zu einem umfangreichen Lehrbuch der Dogmatik. Erfreulicherweise erbrachte das Calvin-Jahr 2009 eine von Matthias Freudenberg verantwortete, lesbare Neuauflage dieses Werkes. In Genf, das sich in einer gewissen Gemengelage von Machtinteressen anderer Territorien und Städte vorfand, versuchten Farel, Calvin und andere Prediger, die Kirche neu zu ordnen. Der juristisch geschulte Exulant wollte Lehre und Ordnung der Kirche den reformatorischen Einsichten entsprechend ausrichten. Die von ihm dafür selbstverDr. phil. Hans-Georg ständlich verwandte Freiheit auch Ulrichs war in den gegenüber den weltlichen MachtJahren 2005/2006 der habern stieß durch die Interessen “WM-Pfarrer” der und überkommenen Privilegien EKD. Ab Oktober 2010 des Stadtpatriziats an ihre Grenist er Pfarrer der Unizen. Vorübergehend musste Calversitätsgemeinde vin 1538 Genf verlassen. Heidelberg (PeterskirWiederum konnte er seinen che). Sein Beitrag geht auf einen Vortrag beim Landesverband Wunsch nicht erfüllen, als theoBaden der Evangelischen Akadelogischer Privatgelehrter zu lemikerschaft in Deutschland e.V. ben, sondern wurde nach Straß(EAiD) zurück. burg gerufen, wo mit Martin Bucer der Ireniker und Ökumeniker der Reformation wirkte. In Straßburg arbeitete Calvin als Pfarrer der wachsenden französischen Flüchtlingsgemeinde und Lehrer an der Akademie. Bei Bucer lernte Calvin einiges kennen, was er später selbst weiterentwickelte, etwa die vier Formen des kirchlichen Amts oder auch den Psalmengesang. Genf rief 1541 den Verbannten zurück. Dieser setzte seine Arbeit in der Gemeinschaft der Genfer Geistlichkeit ruhig fort, verfasste einen neuen Katechismus und eine Kirchenordnung. In durchaus wechselhaften Jahren, zunehmend aber auch gesicherter, konnte Calvin in der Genfer Stadtrepublik wirken. Tausende Verfolgte suchten und fanden in Genf einen sicheren Asylort vor den Verfolgungen in ihrer französischen Heimat. Calvin predigte und lehrte; so liegt beinahe von jedem Bibelbuch eine umfangreiche Auslegung aus seiner Feder vor. Im Jahr 1559 wurde die Genfer Akademie gegründet, die bald eine europaweite Ausstrahlung haben sollte. Im Frieden, aber von der Arbeit völlig entkräftet, verabschiedete er sich von den Genfer Pfarrern und verstarb am 27. Mai 1564. Anders als Luther – und manch andere “Kirchenfürsten” – hatte Calvin weder Lust noch Interesse an der eigenen Legendenbildung. Er blieb der bescheidene, sich selbst hinter der Sache der Kirche und Theologie zurücknehmende Gelehrte. Wenige Monate nach seinem Tod war die genaue Stelle seines Grabes bereits nicht mehr bekannt. evangelische aspekte 3/2010 25 Spektrum Große Pilger-, ja Wallfahrten, wie sie in den kommenden Jahren zu den deutschen Reformationsgedenkstätten geplant sind, wären seine Sache gewiss nicht gewesen. Anders als sein theologisches Leben blieb das Familienleben unerfüllt: Idelette van Buren, eine in Straßburg geehelichte wallonische Flüchtlingswitwe, verstarb ebenso wie der gemeinsame Sohn in Genf. Seine tiefe Trauer über diesen Verlust hinderte ihn freilich nicht, sich herzlich um die Kinder Idelettes aus erster Ehe sowie um eigene Familienmitglieder zu sorgen. Markante Positionen Calvins Da Calvin in der Wirkungsgeschichte immer wieder wegen seines gemeindeorganisatorischen und theologischen Wirkens angefeindet wurde, seien im Folgenden markante und wirkmächtige Positionen identifiziert. Calvin, der erst fünf Jahre vor seinem Tod das Bürgerrecht erhalten sollte und bis dahin als mehr oder minder rechtloser Ausländer in Genf lebte, hat nie eine in konfessioneller Polemik behauptete Tyrannei in Genf errichtet, schon weil er gar nicht über eine entsprechende Macht verfügt haben kann. Vielmehr waren ihm Freiheit und Gewaltenteilung essentiell wichtig. Auch wenn die Parole von der “freien Kirche im freien Staat” erst im 19. Jahrhundert aufkommen sollte (katholischerseits durch Camillo di Cavour, reformierterseits durch den erzcalvinistischen Theologen und nachmaligen niederländischen Ministerpräsidenten Abraham Kuyper), hätte sie doch gewiss Calvins Zustimmung gefunden. Calvin achtete nämlich auf die Freiheit der Kirche gegenüber den lokalen Autoritäten – womit auch einer religiösen Überhöhung des Staates gewehrt und ein funktionales Staatsverständnis eröffnet wurde – und bemühte sich binnenkirchlich um eine Relativierung von Macht. So baute er das Bucersche System der vier Formen des Amtes aus (Pastoren, Älteste, Lehrer, Diakone) und beteiligte auf diese Weise Laien an der Leitung einer von unten nach oben organisierten Kirche. Dem Ernstnehmen des Glaubens und damit gerade auch der Freiheit diente die oft diskreditierte Kirchenzucht. Hatten Gemeindeglieder sich offensichtlich an göttlichen Geboten vergangen, hatten diese sich vor kirchlichen Gremien zu verantworten. Wie die Akten zeigen, die in den vergangenen Jahren tatsächlich erst erschlossen werden, entstand dadurch keine Theokratie, sondern geradezu 26 evangelische aspekte 3/2010 ein frühmodernes System von Mediation, indem es zu einem Täter-Opfer-Ausgleich und etwa zu einem Schutz von Frauen und Kindern vor gewissenlosen Männern und Vätern kommen sollte. Klaas Huizing, liberaler Theologe mit orthodox-calvinistischen Wurzeln, hat in seinem – manchem Calvin-Gralshüter als frech erscheinenden – Buch zum Calvin-Jahr die Kirchenzucht als einen wichtigen Beitrag von “Transparenz” gewürdigt. Zu Calvins Theologie sind bereits Bibliotheken von Interpretationen vorgelegt worden. In Deutschland waren es im vergangenen Jahrhundert nicht zuletzt Weggefährten und Schüler Karl Barths, die nahezu jedes Lehrstück christlichen Glaubens nach Calvin neu durchdacht und dargestellt haben. Auch Barth selbst hat in der ihm eigenen souveränen Freiheit calvinische Theologumena einer radikalen Neuinterpretation unterzogen (Bund, Erwählung, Versöhnung). Generell wäre zunächst festzuhalten, dass Calvin ein Format reformatorischer Theologie entwirft und er damit als einer der großen reformatorischen Denker des Gesamtprotestantismus gelten kann. Seine Theologie ist dabei geprägt von einem starken “Gottesbild”, das sich auch vom Alten Testament leiten lässt. Calvin und in seinem Gefolge der reformierte Protestantismus kennen keine funktionale Hierarchisierung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament; beide zeugen von dem einen Gott. Die besondere Liebe zum Alten Testament und die Fortführung zentraler theologischer Aussagen der jüdischen Tradition prägen die Reformierten und haben sie zu den Protagonisten des christlich-jüdischen Dialogs werden lassen. Zwei weitere konfessionelle Charakteristika sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Zum einen ging mit der Realisierung des Zweiten Gebots biblischer Zählung nicht etwa eine besondere Kunstfeindlichkeit einher – vielmehr blieben bilderstürmerische Attacken im Reformationsjahrhundert ja lediglich Episode –, sondern eine Befreiung der Kunst als weltliches Unterfangen, wie sich etwa an der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts zeigen ließe; im niederländischen “Goldenen Jahrhundert” wurden etwa das Stilleben und das Alltagsgenre zur malerischen Blüte gebracht. Auch einer der Begründer der modernen abstrakten Malerei, Piet Mondrian, entstammt dem Calvinismus. Zum anderen bewirkte Calvins Versuch, den Glauben im Leben wirkmächtig werden zu lassen, ein eindringliches Nachdenken über christliche Ethik (Heiligung) und setzte so eine besondere Kraft zur Weltgestaltung frei. Entsprechend wird der Dekalog nicht – ausschließlich – zu einem den Sünder überführenden theologischen Instrument degradiert, sondern als Grundlage für eine Ethik aus Dankbarkeit angesehen. Calvin gehört hier merklich der zweiten Generation der Reformatoren an, die von einer Reformation allein der Lehre zu einer “Reformation des Lebens” (Christoph Strohm) voranschreiten konnte. Calvins Freiheitsimpetus und sein ethisierender Zug der Weltgestaltung prägen – neben den Erfahrungen von Unterdrückung und Exil – das bemerkenswerte Resistenzpotenzial der Reformierten. Bereits früh finden sich hier so genannte Monarchomachen, später immer wieder unbeugsame Widerstandskämpfer, die dem Staat eben kein eigenes “Recht” – und damit unter Umständen legalisiertes Unrecht – zugestehen konnten. Die Vorstellung von der Königsherrschaft Jesu Christi verdeutlicht doch gegenüber der Zwei-Regimenten-Lehre des Luthertums, dass es für Christen kein Handeln geben kann, das nicht im Zusammenhang mit Gottes Gerechtigkeit zu sehen ist. Es verwundert nicht, dass im reformierten Bereich die Barmer Theologische Erklärung zu den anerkannten Bekenntnisgrundlagen zählt. Als Vertreter der zweiten Reformationsgeneration fiel es Calvin zu, die neu entdeckte Rechtfertigungslehre vertieft zu durchdenken. Der ungemein bibelkundige Calvin sah den Gnadencharakter des Glaubens und des Heils nicht zuletzt in den biblischen Erwählungsgeschichten aufleuchten. Diese nachzeichnend hat er die augustinischlutherische Lehre von der Prädestination aus der engeren Gotteslehre herausgenommen (etwa auch von der Providenz gelöst) und sie neu erörtert, nämlich im Zusammenhang mit der Aneignung des Heils. Die Prädestinationslehre ist so keine abstrakte Lehre von Erwählung und Verwerfung durch einen willkürlichen Gott, sondern ein Beitrag zur Gewisswerdung der Gläubigen (so gehören Prädestination und Perseveranz zusammen!). Obwohl Calvin diesem Lehrstück einen eigenen umfangreichen Traktat und einen größeren Abschnitt in der Institutio widmet, kann doch nicht gut von der Zentrallehre Calvins gesprochen werden, wie es frühere Dogmengeschichtsschreibung tat. Vielmehr rückte das Lehrstück von der Prädestination durch die theologischen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Dordrechter Synode 1618/1619, wo der reformierte Protestantismus Europas zusammentrat, in den Mittelpunkt und bekam dadurch eine derart starke Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit der Theologie Calvins. Während des Calvin-Jahres wurde betont, dass die Prädestinationslehre besonders bei Calvin selbst kontextuell gelesen werden müsse. So habe er die zu Tausenden verfolgten und mit dem Tod bedrohten französischen Flüchtlinge trösten wollen, dass sie sich auch gegen den Augenschein der Bedrohungssituation gewiss sein sollten, nicht aus dem Stand des Heils herausfallen zu können. evangelische aspekte 3/2010 27 Spektrum Der bereits genannte originelle Klaas Huizing interpretierte die Prädestination in psychologischer Kategorie als Versuch einer “Entängstigung”. Hier eine mentalitätsgeschichtliche Wurzel für die andauernde typisch reformierte Unbeugsamkeit zu sehen, ist schwerlich von der Hand zu weisen. Kritik und Einordnung Die nachhaltige Wirkung des Calvin-Jahres mag auch darin begründet sein, dass man sich nicht zuerst an überkommenen Klischees meinte abarbeiten zu müssen, sondern vielmehr zu Person und Sache selbst redete. Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, wie hartnäckig falsche historische Bilder wirken. Auch der Verfasser hat es 2009 erlebt, dass nach der Ankündigung von Calvin-Vorträgen Pamphlete mit unerträglichen Denunziationen Calvins aus alter Literatur anonym (!) zugestellt wurden. Vor allem der Fall des Michel Servet hat das kollektive CalvinBild des gebildeten Bürgertums überschattet, wobei besonders Stefan Zweigs Roman Ein Gewissen gegen die Gewalt Wirkung zeitigte. Dabei ist die historische Rechtslage klar: Servet war bereits anderenorts entsprechend dem Reichsrecht als Ketzer zum Tode verurteilt worden. Er suchte in Genf Zuflucht, musste sich dann nach Entdeckung auch dort vor Gericht verantworten. Literatur Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion / Institutio Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Im Auftrag des Reformierten Bundes bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008. Calvin-Studienausgabe, Neukirchen-Vluyn 1994 (bisher 6 Bde). Calvin-Handbuch, herausgegeben von Herman J. Selderhuis, Tübingen 2008. Christoph Strohm, Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009. Klaas Huizing, Calvin … und was vom Reformator übrig blieb, Frankfurt a.M. 2008. www.reformiert-info.de www.refo500.de 28 evangelische aspekte 3/2010 Auch wenn Calvin gutachterlich tätig war, war er doch weder Ankläger noch Richter. Das Verfahren oblag den weltlichen Behörden. Dass der Leugner der Trinität und Feind der Kindertaufe nach damaligem Empfinden den Tod verdient hatte, bezeugten auch der heute ob seiner Milde so geschätzte Philipp Melanchthon und auswärtige Gutachter. Freilich steht Stefan Zweig als Urheber eines negativen Calvin-Bildes nicht allein. Er folgte auf katholische Kampfliteratur. Von Anfang an war Calvins Ruf ruiniert worden durch die Schriften des Hieronymus Bolsec, einem unterlegenen theologischen Diskursgegner Calvins. Gebildete müssten heute endlich zur Kenntnis nehmen, dass sowohl Calvin und seine Gegner, die Wirkungsgeschichte wie auch Stefan Zweig historisch kontextualisiert werden müssen: Es ging Zweig um eine Abrechnung mit dem Totalitarismus im nationalsozialistischen Deutschland – und dafür bediente er sich fachlich falsch informiert eines historischen Sujets. Das mag man möglicherweise nicht Zweig selbst vorwerfen, wohl aber allen, die sich weiterhin weigern, historisch-kritisch die Dinge zur Kenntnis zu nehmen. Ein – wenn auch bislang oft missverstandenes – positives Bild Calvins zeichneten neben den Konfessionellen, die es nach dem 30jährigen Krieg erst wieder seit dem 19. Jahrhundert gibt, vor allem die Heidelberger Max Weber und Ernst Troeltsch, die durchaus auf zweifelhafter Quellenbasis die umstrittene These eines Zusammenhangs von Calvinismus und Kapitalismus entwickelten. Für die Deutschen war Anfang des 20. Jahrhunderts im Kaiserreich der angelsächsisch-amerikanische Kapitalismus im demokratischen Kontext negativ konnotiert. Tatsächlich muss der Kapitalismus aber auch als Freiheit, nämlich als freies Handeln im freien Kontext und in Gewaltenteilung, verstanden werden. In diesem Sinn könnte man Calvin also durchaus am Anfang der modernen Freiheitsidee sehen, wenn analysiert wird, dass der Kapitalismus in erster Linie dort entstand, wo der Calvinismus kulturprägend war. Wenn Calvins Persönlichkeit verglichen werden soll, dann muss dieser feinnervige Gelehrte doch wohl am ehesten Melanchthon zur Seite gestellt werden. Auch dieser war auf Grund intellektueller Einsicht in humanistischer Tradition bemüht, die Lehre und die Ordnung der Kirche ohne konfessionellen Zorn zu gestalten. Calvins juristisch-humanistische Ausbildung an damaligen Exzellenz-Universitäten hat seiner Theologie einen so klaren Cha- Spektrum rakter verliehen, der möglicherweise mitverantwortlich für einen durchaus rationalisierenden Zug reformierter Frömmigkeit geworden ist. Wertschätzung Calvins Calvin und Calvinismus stehen für die Pluralität der Reformation und des Protestantismus, ebenso für eine modernisierende Form evangelischen Glaubens. Der reformierte Protestantismus hat demokratiefördernd gewirkt und beinhaltet hohes Resistenzpotenzial. Der Calvinismus ist, wie das internationale Calvin-Jahr 2009 deutlich herausstellte, die eben nicht provinzielle Form des Protestantismus, sondern dessen globale Form. Diesen Charakter des reformierten Protestantismus zu betonen, könnte übrigens auch das Jubiläumsjahr des Heidelberger Katechismus, der wirk- mächtigsten reformierten Bekenntnisschrift, im Jahr 2013 herausstellen, wie die ersten Vorbereitungen erkennen lassen. In diesem Zusammenhang muss es auch als glücklich bezeichnet werden, dass in der laufenden Reformationsdekade mit “refo500” ein überkonfessionelles und weltweites Netzwerk entstanden ist, das die Reformationsdekade gestalten will. Die Wertschätzung, die Calvin in zahlreichen Ländern Europas, aber nicht zuletzt auch in Amerika und in Asien genießt, hat endlich auch Deutschland erreicht. Wer sich heutzutage intellektuell blamieren will, der wiederholt die alten Calvin-Klischees und prolongiert auch damit den protestantischen Provinzialismus Deutschlands. Wer dagegen kirchen- und theologiegeschichtlich sowie konfessionskundlich auf aktuellem Diskursniveau sein möchte, sollte das Calvin-Jahr 2009 wahrgenommen haben. ó Impressum ISSN 0939-3455 Manuskripte (möglichst per E-Mail) bitte an Dr. Michael Wildberger, Friedrich-Karl-Straße 13, 67655 Kaiserslautern, Tel (06 31) 2 64 59 oder 3 11 07 90; E-Mail [email protected]. Verantwortlich für Anzeigen: Verlagshaus Speyer GmbH, Beethovenstraße 4, 67346 Speyer, Tel.: (0 62 32) 2 49 26, Fax: (0 62 32) 13 23 44, E-Mail: [email protected] Die Zeitschrift der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland, 20. Jahrgang 3. Quartal, August 2010. Herausgeber: Evangelische Akademikerschaft in Deutschland e. V. (EAiD), Eugenstraße 6, 71229 Leonberg, Tel.: (0 71 52) 90 86 124; Fax: (0 71 52) 90 86 125; E-Mail: [email protected]. vertreten durch Dr. Bertram Salzmann, Ammerbuch. Redaktion: Prof. Dr. Klaus Engelhardt, Karlsruhe Helmut Falkenstörfer, Schorndorf Dr. Sybille C. Fritsch-Oppermann, Heppenheim Dr. Heiderose Gärtner-Schultz, Altdorf Dr. Wolfgang Osterhage, Wachtberg Horst Pageler, Hünstetten Dr. Bertram Salzmann, Ammerbuch Walter Schmidt, Stuttgart Dr. Winfried Wiegräbe, Neustadt/ Weinstraße Dr. Michael Wildberger (Leitender Redakteur), Kaiserslautern. Herstellung: Kerker Druck GmbH, Industriegebiet Nord, Hans-Geiger-Straße 4, 67661 Kaiserslautern. Verlag: Evangelische Akademikerschaft in Deutschland (EAiD), Eugenstraße 6, 71229 Leonberg, Tel.: (0 71 52) 90 86 124; Fax: (0 71 52) 90 86 125; E-Mail: [email protected]. Redaktionsanschrift: Evangelische Akademikerschaft in Deutschland (EAiD), Eugenstraße 6, 71229 Leonberg, Tel.: (0 71 52) 90 86 124; Fax: (0 71 52) 90 86 125; E-Mail: [email protected]. Zur Zeit gilt Anzeigenpreisliste Nr. 1/2003. Bankverbindung Abonnement: Evangelische Akademikerschaft in Deutschland: Konto Nr. 800 201 bei der Evangelischen Kreditgenossenschaft Kassel (BLZ 520 604 10). Bezug: Die Vierteljahresschrift evangelische aspekte erscheint jeweils Februar, Mai, August und November. Sie kann durch den Buchhandel oder direkt bei der Evangelischen Akademikerschaft abonniert werden. Einzelheft: € 5,– zuzüglich Versandkosten; Jahresabonnement: € 16,– einschließlich Versandkosten. Abbestellung ist zum Ende eines Jahrgangs möglich; sie muss bis zum 30. September beim Verlag eingegangen sein. Für Mitglieder der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland e.V. ist der Bezug der Zeitschrift evangelische aspekte im Jahresbeitrag enthalten. Für Rücksendung unverlangt zugesandter Manuskripte, Fotos und Rezensionsexemplare kann nicht garantiert werden. Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Übernahme von Beiträgen mit Quellenangabe ist nach Rücksprache mit dem Verlag in der Regel möglich. 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