Weltgestaltung - Evangelische Akademikerschaft

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Spektrum
Weltgestaltung
Eine Rückschau auf das Calvin-Jahr 2009
von Hans-Georg Ulrichs
Johannes Calvin und der Calvinismus stehen für die
Pluralität der Reformation und des Protestantismus,
ebenso für eine modernisierende Form evangelischen
Glaubens. Der reformierte Protestantismus hat
demokratiefördernd gewirkt und beinhaltet hohes
Resistenzpotenzial. Der Calvinismus ist, wie das
internationale Calvin-Jahr 2009 deutlich herausstellte,
die eben nicht provinzielle Form des Protestantismus,
sondern dessen globale Form.
“Von mir selbst rede ich nicht gerne”, so verriet er
einmal. Sein letztjähriger Geburtstag hat gleichwohl
viel Anlass gegeben, über diesen Mann von welthistorischer Bedeutung zu reden und sein Leben, sein
Werk und seine Wirkungen zu bedenken – neu zu
bedenken und nachhaltig sein Image zu ändern.
Das Calvin-Jahr 2009
Johannes Calvin wurde am 10. Juli 1509 im nordfranzösischen Noyon geboren. Im Jahr 2009 wurde
weltweit seines 500. Geburtstags gedacht. Calvins tatsächlich weltweite Ausstrahlung macht ihn zur bedeutendsten Gestalt in der Reformationsgeschichte
und zum erfolgreichsten Kirchenreformer überhaupt:
Der maßgeblich auf Calvin zurückgehende reformierte Protestantismus ist verglichen mit dem Luthertum der größere Traditionsstrom.
Sowohl die Minderheitensituation der Reformierten als auch das von Konfessionalisten und “Gebildeten” gepflegte negative Bild des Genfer Refor-
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mators sind ein deutscher Sonderweg. Wenn nicht
alles täuscht, geht mit dem Calvin-Jahr 2009 Calvins
negatives Image dem sicheren Ende entgegen.
Anders als bei früheren Gedenkjahren Johannes
Calvins, in denen nicht zuletzt auch durch die offenbar permanent zu leistende Apologie von Seiten
der Calvinisten die Fremdheit dieses großen europäischen Gelehrten zu Tage trat und sich darüber
paradoxerweise weiter verfestigte, wurde das Gedenkjahr 2009 als eine Aufgabe des gesamten Protestantismus in Deutschland verstanden. Dass die
Feierlichkeiten etwa in den Niederlanden und in
den Vereinigten Staaten wesentlich origineller und
lebendiger gestaltet waren, soll hier gar nicht als
deutsches Manko aufgeführt werden.
Vielmehr ist zu würdigen, wie sich die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) engagierte und
Calvin endlich ein würdiger Platz in Tradition und
Gegenwart auch des deutschen Protestantismus zugewiesen wurde. Im Rahmen der zunächst richtigerweise als Reformations-, dann aber leider einschränkend nur noch als Luther-Dekade bezeichneten aktualisierenden Erinnerungsarbeit im Hinblick
auf das Gedenkjahr der Reformation im Jahr 2017
kooperierte die EKD mit den konfessionellen Nachfolgern Calvins.
In Deutschland bestehen mit der Evangelischreformierten Kirche und der Lippischen Landeskirche zwei – überwiegend – reformiert geprägte Landeskirchen. Die meisten reformierten Christen leben
aber in den Kirchen der Union, etwa im Rheinland,
in Westfalen, in Hessen und in der Pfalz. Der 1884
gegründete Reformierte Bund versteht sich als landesweite Wahrerin reformierter Belange und hat typisch reformiert für sich eine äußerst schwache institutionelle Form gewählt, nämlich die eines Vereins.
Die Kooperation zwischen EKD, den EKD-Gliedkirchen, den reformierten Landeskirchen und dem Reformierten Bund ermöglichte die zeitlich limitierte
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Anstellung eines “Calvin-Beauftragten”. Diese Stelle
konnte mit Dr. Achim Detmers, einem ausgewiesenen Calvin-Forscher der jüngeren Generation, optimal besetzt werden.
Die an zahlreichen Orten gezeigte Wanderausstellung, das gemeinsam verantwortete CalvinMagazin und andere Materialien stellten Johannes
Calvin als Reformator von europäischem Format
vor. Das Deutsche Historische Museum zeigte eine
große und großartige Ausstellung über den “Calvinismus”, die vom damaligen niederländischen
Ministerpräsidenten Jan Pieter Balkenende als
einem bekennenden Reformierten eröffnet wurde.
Hauptredner während der zentralen Feier in Berlin
am Geburtstag Calvins war der reformierte Lipper
Frank-Walter Steinmeier, seinerzeit Außenminister
und Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland.
Calvins Leben
Wer war Johannes Calvin? Was hat er dem reformierten Protestantismus mit auf den Weg gegeben?
Und wie könnte seine aktuelle Bedeutung beschrieben werden?
Geprägt vom Humanismus, in Berührung gekommen mit Auswirkungen der lutherischen Reformation sowie enttäuscht von negativen Erfahrungen
mit der altgläubigen Kirche öffnete sich der junge
glänzende Jurist Johannes Calvin spätestens Anfang
der 1530er Jahre in Paris reformatorischem Gedankengut. Einige Jahre auf der Flucht, in denen er
unter anderen von adeligen Gönnern gefördert seine
theologischen Studien autodidaktisch vorantreiben
konnte, kam er im Sommer 1536 kriegsbedingt nach
Genf, wo er durch den dortigen Reformator Wilhelm
Farel zum Bleiben aufgefordert wurde, um der Reformation Halt und Form zu geben.
Der eher wenig draufgängerische Gelehrte hätte
sich lieber seinen Studien gewidmet, zumal kurz
zuvor die erste Auflage desjenigen Buches in Basel
gedruckt worden war, das Calvin bis heute den
Rang eines in aller Welt bedeutenden Theologen
sichern sollte: Die Institutio christianae religionis.
Orientierte sich diese Auflage noch an vorliegenden
katechetischen Werken, so erweiterte Calvin die Institutio durch zwei weitere Auflagen in Latein und
Französisch bis 1559 zu einem umfangreichen Lehrbuch der Dogmatik. Erfreulicherweise erbrachte das
Calvin-Jahr 2009 eine von Matthias Freudenberg
verantwortete, lesbare Neuauflage dieses Werkes.
In Genf, das sich in einer gewissen Gemengelage von Machtinteressen anderer Territorien und
Städte vorfand, versuchten Farel, Calvin und andere
Prediger, die Kirche neu zu ordnen. Der juristisch
geschulte Exulant wollte Lehre und Ordnung der
Kirche den reformatorischen Einsichten entsprechend ausrichten.
Die von ihm dafür selbstverDr. phil. Hans-Georg
ständlich verwandte Freiheit auch
Ulrichs war in den
gegenüber den weltlichen MachtJahren 2005/2006 der
habern stieß durch die Interessen
“WM-Pfarrer” der
und überkommenen Privilegien
EKD. Ab Oktober 2010
des Stadtpatriziats an ihre Grenist er Pfarrer der Unizen. Vorübergehend musste Calversitätsgemeinde
vin 1538 Genf verlassen.
Heidelberg (PeterskirWiederum konnte er seinen
che). Sein Beitrag geht auf einen
Vortrag beim Landesverband
Wunsch nicht erfüllen, als theoBaden der Evangelischen Akadelogischer Privatgelehrter zu lemikerschaft in Deutschland e.V.
ben, sondern wurde nach Straß(EAiD) zurück.
burg gerufen, wo mit Martin
Bucer der Ireniker und Ökumeniker der Reformation wirkte. In
Straßburg arbeitete Calvin als Pfarrer der wachsenden französischen Flüchtlingsgemeinde und Lehrer
an der Akademie. Bei Bucer lernte Calvin einiges
kennen, was er später selbst weiterentwickelte,
etwa die vier Formen des kirchlichen Amts oder
auch den Psalmengesang.
Genf rief 1541 den Verbannten zurück. Dieser
setzte seine Arbeit in der Gemeinschaft der Genfer
Geistlichkeit ruhig fort, verfasste einen neuen Katechismus und eine Kirchenordnung.
In durchaus wechselhaften Jahren, zunehmend
aber auch gesicherter, konnte Calvin in der Genfer
Stadtrepublik wirken. Tausende Verfolgte suchten
und fanden in Genf einen sicheren Asylort vor den
Verfolgungen in ihrer französischen Heimat. Calvin
predigte und lehrte; so liegt beinahe von jedem
Bibelbuch eine umfangreiche Auslegung aus seiner
Feder vor.
Im Jahr 1559 wurde die Genfer Akademie
gegründet, die bald eine europaweite Ausstrahlung
haben sollte. Im Frieden, aber von der Arbeit völlig
entkräftet, verabschiedete er sich von den Genfer
Pfarrern und verstarb am 27. Mai 1564.
Anders als Luther – und manch andere “Kirchenfürsten” – hatte Calvin weder Lust noch Interesse an der eigenen Legendenbildung. Er blieb der
bescheidene, sich selbst hinter der Sache der Kirche
und Theologie zurücknehmende Gelehrte. Wenige
Monate nach seinem Tod war die genaue Stelle seines Grabes bereits nicht mehr bekannt.
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Große Pilger-, ja Wallfahrten, wie sie in den
kommenden Jahren zu den deutschen Reformationsgedenkstätten geplant sind, wären seine Sache
gewiss nicht gewesen. Anders als sein theologisches
Leben blieb das Familienleben unerfüllt: Idelette
van Buren, eine in Straßburg geehelichte wallonische Flüchtlingswitwe, verstarb ebenso wie der gemeinsame Sohn in Genf. Seine tiefe Trauer über diesen Verlust hinderte ihn freilich nicht, sich herzlich
um die Kinder Idelettes aus erster Ehe sowie um
eigene Familienmitglieder zu sorgen.
Markante Positionen Calvins
Da Calvin in der Wirkungsgeschichte immer wieder
wegen seines gemeindeorganisatorischen und theologischen Wirkens angefeindet wurde, seien im Folgenden markante und wirkmächtige Positionen
identifiziert.
Calvin, der erst fünf Jahre vor seinem Tod das
Bürgerrecht erhalten sollte und bis dahin als mehr
oder minder rechtloser Ausländer in Genf lebte, hat
nie eine in konfessioneller Polemik behauptete Tyrannei in Genf errichtet, schon weil er gar nicht
über eine entsprechende Macht verfügt haben kann.
Vielmehr waren ihm Freiheit und Gewaltenteilung
essentiell wichtig.
Auch wenn die Parole von der “freien Kirche im
freien Staat” erst im 19. Jahrhundert aufkommen
sollte (katholischerseits durch Camillo di Cavour, reformierterseits durch den erzcalvinistischen Theologen und nachmaligen niederländischen Ministerpräsidenten Abraham Kuyper), hätte sie doch gewiss
Calvins Zustimmung gefunden. Calvin achtete nämlich auf die Freiheit der Kirche gegenüber den lokalen Autoritäten – womit auch einer religiösen Überhöhung des Staates gewehrt und ein funktionales
Staatsverständnis eröffnet wurde – und bemühte
sich binnenkirchlich um eine Relativierung von
Macht. So baute er das Bucersche System der vier
Formen des Amtes aus (Pastoren, Älteste, Lehrer, Diakone) und beteiligte auf diese Weise Laien an der Leitung einer von unten nach oben organisierten Kirche.
Dem Ernstnehmen des Glaubens und damit
gerade auch der Freiheit diente die oft diskreditierte
Kirchenzucht. Hatten Gemeindeglieder sich offensichtlich an göttlichen Geboten vergangen, hatten
diese sich vor kirchlichen Gremien zu verantworten.
Wie die Akten zeigen, die in den vergangenen
Jahren tatsächlich erst erschlossen werden, entstand dadurch keine Theokratie, sondern geradezu
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ein frühmodernes System von Mediation, indem es
zu einem Täter-Opfer-Ausgleich und etwa zu einem
Schutz von Frauen und Kindern vor gewissenlosen
Männern und Vätern kommen sollte. Klaas Huizing,
liberaler Theologe mit orthodox-calvinistischen
Wurzeln, hat in seinem – manchem Calvin-Gralshüter als frech erscheinenden – Buch zum Calvin-Jahr
die Kirchenzucht als einen wichtigen Beitrag von
“Transparenz” gewürdigt.
Zu Calvins Theologie sind bereits Bibliotheken
von Interpretationen vorgelegt worden. In Deutschland waren es im vergangenen Jahrhundert nicht
zuletzt Weggefährten und Schüler Karl Barths, die
nahezu jedes Lehrstück christlichen Glaubens nach
Calvin neu durchdacht und dargestellt haben. Auch
Barth selbst hat in der ihm eigenen souveränen Freiheit calvinische Theologumena einer radikalen Neuinterpretation unterzogen (Bund, Erwählung, Versöhnung). Generell wäre zunächst festzuhalten, dass
Calvin ein Format reformatorischer Theologie entwirft und er damit als einer der großen reformatorischen Denker des Gesamtprotestantismus gelten kann.
Seine Theologie ist dabei geprägt von einem
starken “Gottesbild”, das sich auch vom Alten Testament leiten lässt. Calvin und in seinem Gefolge
der reformierte Protestantismus kennen keine funktionale Hierarchisierung zwischen dem Alten und
dem Neuen Testament; beide zeugen von dem einen
Gott. Die besondere Liebe zum Alten Testament und
die Fortführung zentraler theologischer Aussagen der
jüdischen Tradition prägen die Reformierten und
haben sie zu den Protagonisten des christlich-jüdischen Dialogs werden lassen.
Zwei weitere konfessionelle Charakteristika
sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Zum
einen ging mit der Realisierung des Zweiten Gebots
biblischer Zählung nicht etwa eine besondere
Kunstfeindlichkeit einher – vielmehr blieben bilderstürmerische Attacken im Reformationsjahrhundert
ja lediglich Episode –, sondern eine Befreiung der
Kunst als weltliches Unterfangen, wie sich etwa an
der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts
zeigen ließe; im niederländischen “Goldenen Jahrhundert” wurden etwa das Stilleben und das Alltagsgenre zur malerischen Blüte gebracht. Auch
einer der Begründer der modernen abstrakten Malerei, Piet Mondrian, entstammt dem Calvinismus.
Zum anderen bewirkte Calvins Versuch, den Glauben im Leben wirkmächtig werden zu lassen, ein
eindringliches Nachdenken über christliche Ethik
(Heiligung) und setzte so eine besondere Kraft zur
Weltgestaltung frei. Entsprechend wird der Dekalog
nicht – ausschließlich – zu einem den Sünder überführenden theologischen Instrument degradiert, sondern als Grundlage für eine Ethik aus Dankbarkeit
angesehen. Calvin gehört hier merklich der zweiten
Generation der Reformatoren an, die von einer Reformation allein der Lehre zu einer “Reformation des
Lebens” (Christoph Strohm) voranschreiten konnte.
Calvins Freiheitsimpetus und sein ethisierender
Zug der Weltgestaltung prägen – neben den Erfahrungen von Unterdrückung und Exil – das bemerkenswerte Resistenzpotenzial der Reformierten.
Bereits früh finden sich hier so genannte Monarchomachen, später immer wieder unbeugsame Widerstandskämpfer, die dem Staat eben kein eigenes
“Recht” – und damit unter Umständen legalisiertes
Unrecht – zugestehen konnten.
Die Vorstellung von der Königsherrschaft Jesu
Christi verdeutlicht doch gegenüber der Zwei-Regimenten-Lehre des Luthertums, dass es für Christen
kein Handeln geben kann, das nicht im Zusammenhang mit Gottes Gerechtigkeit zu sehen ist. Es verwundert nicht, dass im reformierten Bereich die
Barmer Theologische Erklärung zu den anerkannten
Bekenntnisgrundlagen zählt.
Als Vertreter der zweiten Reformationsgeneration fiel es Calvin zu, die neu entdeckte Rechtfertigungslehre vertieft zu durchdenken. Der ungemein
bibelkundige Calvin sah den Gnadencharakter des
Glaubens und des Heils nicht zuletzt in den biblischen Erwählungsgeschichten aufleuchten.
Diese nachzeichnend hat er die augustinischlutherische Lehre von der Prädestination aus der
engeren Gotteslehre herausgenommen (etwa auch von
der Providenz gelöst) und sie neu erörtert, nämlich
im Zusammenhang mit der Aneignung des Heils.
Die Prädestinationslehre ist so keine abstrakte Lehre
von Erwählung und Verwerfung durch einen willkürlichen Gott, sondern ein Beitrag zur Gewisswerdung der Gläubigen (so gehören Prädestination und
Perseveranz zusammen!).
Obwohl Calvin diesem Lehrstück einen eigenen
umfangreichen Traktat und einen größeren Abschnitt in der Institutio widmet, kann doch nicht gut
von der Zentrallehre Calvins gesprochen werden,
wie es frühere Dogmengeschichtsschreibung tat.
Vielmehr rückte das Lehrstück von der Prädestination durch die theologischen Auseinandersetzungen
im Vorfeld der Dordrechter Synode 1618/1619, wo
der reformierte Protestantismus Europas zusammentrat, in den Mittelpunkt und bekam dadurch
eine derart starke Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit der Theologie Calvins.
Während des Calvin-Jahres wurde betont, dass
die Prädestinationslehre besonders bei Calvin selbst
kontextuell gelesen werden müsse. So habe er die
zu Tausenden verfolgten und mit dem Tod bedrohten französischen Flüchtlinge trösten wollen, dass
sie sich auch gegen den Augenschein der Bedrohungssituation gewiss sein sollten, nicht aus dem
Stand des Heils herausfallen zu können.
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Der bereits genannte originelle Klaas Huizing
interpretierte die Prädestination in psychologischer
Kategorie als Versuch einer “Entängstigung”. Hier
eine mentalitätsgeschichtliche Wurzel für die andauernde typisch reformierte Unbeugsamkeit zu
sehen, ist schwerlich von der Hand zu weisen.
Kritik und Einordnung
Die nachhaltige Wirkung des Calvin-Jahres mag
auch darin begründet sein, dass man sich nicht
zuerst an überkommenen Klischees meinte abarbeiten zu müssen, sondern vielmehr zu Person und
Sache selbst redete. Dennoch soll nicht unerwähnt
bleiben, wie hartnäckig falsche historische Bilder
wirken.
Auch der Verfasser hat es 2009 erlebt, dass nach
der Ankündigung von Calvin-Vorträgen Pamphlete
mit unerträglichen Denunziationen Calvins aus alter
Literatur anonym (!) zugestellt wurden. Vor allem
der Fall des Michel Servet hat das kollektive CalvinBild des gebildeten Bürgertums überschattet, wobei
besonders Stefan Zweigs Roman Ein Gewissen gegen
die Gewalt Wirkung zeitigte.
Dabei ist die historische Rechtslage klar: Servet
war bereits anderenorts entsprechend dem Reichsrecht als Ketzer zum Tode verurteilt worden. Er
suchte in Genf Zuflucht, musste sich dann nach
Entdeckung auch dort vor Gericht verantworten.
Literatur
Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion / Institutio
Christianae Religionis. Nach der letzten Ausgabe von 1559 übersetzt und bearbeitet von Otto Weber. Im Auftrag des Reformierten
Bundes bearbeitet und neu herausgegeben von Matthias Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008.
Calvin-Studienausgabe, Neukirchen-Vluyn 1994 (bisher 6 Bde).
Calvin-Handbuch, herausgegeben von Herman J. Selderhuis,
Tübingen 2008.
Christoph Strohm, Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009.
Klaas Huizing, Calvin … und was vom Reformator übrig blieb,
Frankfurt a.M. 2008.
www.reformiert-info.de
www.refo500.de
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Auch wenn Calvin gutachterlich tätig war, war
er doch weder Ankläger noch Richter. Das Verfahren
oblag den weltlichen Behörden. Dass der Leugner
der Trinität und Feind der Kindertaufe nach damaligem Empfinden den Tod verdient hatte, bezeugten
auch der heute ob seiner Milde so geschätzte Philipp Melanchthon und auswärtige Gutachter.
Freilich steht Stefan Zweig als Urheber eines
negativen Calvin-Bildes nicht allein. Er folgte auf
katholische Kampfliteratur. Von Anfang an war Calvins Ruf ruiniert worden durch die Schriften des
Hieronymus Bolsec, einem unterlegenen theologischen Diskursgegner Calvins.
Gebildete müssten heute endlich zur Kenntnis
nehmen, dass sowohl Calvin und seine Gegner, die
Wirkungsgeschichte wie auch Stefan Zweig historisch kontextualisiert werden müssen: Es ging
Zweig um eine Abrechnung mit dem Totalitarismus
im nationalsozialistischen Deutschland – und dafür
bediente er sich fachlich falsch informiert eines historischen Sujets. Das mag man möglicherweise
nicht Zweig selbst vorwerfen, wohl aber allen, die
sich weiterhin weigern, historisch-kritisch die Dinge
zur Kenntnis zu nehmen.
Ein – wenn auch bislang oft missverstandenes –
positives Bild Calvins zeichneten neben den Konfessionellen, die es nach dem 30jährigen Krieg erst
wieder seit dem 19. Jahrhundert gibt, vor allem die
Heidelberger Max Weber und Ernst Troeltsch, die
durchaus auf zweifelhafter Quellenbasis die umstrittene These eines Zusammenhangs von Calvinismus und Kapitalismus entwickelten. Für die Deutschen war Anfang des 20. Jahrhunderts im Kaiserreich der angelsächsisch-amerikanische Kapitalismus im demokratischen Kontext negativ konnotiert.
Tatsächlich muss der Kapitalismus aber auch
als Freiheit, nämlich als freies Handeln im freien
Kontext und in Gewaltenteilung, verstanden werden. In diesem Sinn könnte man Calvin also durchaus am Anfang der modernen Freiheitsidee sehen,
wenn analysiert wird, dass der Kapitalismus in erster Linie dort entstand, wo der Calvinismus kulturprägend war.
Wenn Calvins Persönlichkeit verglichen werden
soll, dann muss dieser feinnervige Gelehrte doch
wohl am ehesten Melanchthon zur Seite gestellt
werden. Auch dieser war auf Grund intellektueller
Einsicht in humanistischer Tradition bemüht, die
Lehre und die Ordnung der Kirche ohne konfessionellen Zorn zu gestalten. Calvins juristisch-humanistische Ausbildung an damaligen Exzellenz-Universitäten hat seiner Theologie einen so klaren Cha-
Spektrum
rakter verliehen, der möglicherweise mitverantwortlich für einen durchaus rationalisierenden Zug reformierter Frömmigkeit geworden ist.
Wertschätzung Calvins
Calvin und Calvinismus stehen für die Pluralität der
Reformation und des Protestantismus, ebenso für
eine modernisierende Form evangelischen Glaubens. Der reformierte Protestantismus hat demokratiefördernd gewirkt und beinhaltet hohes Resistenzpotenzial. Der Calvinismus ist, wie das internationale Calvin-Jahr 2009 deutlich herausstellte, die
eben nicht provinzielle Form des Protestantismus,
sondern dessen globale Form.
Diesen Charakter des reformierten Protestantismus zu betonen, könnte übrigens auch das Jubiläumsjahr des Heidelberger Katechismus, der wirk-
mächtigsten reformierten Bekenntnisschrift, im Jahr
2013 herausstellen, wie die ersten Vorbereitungen
erkennen lassen. In diesem Zusammenhang muss
es auch als glücklich bezeichnet werden, dass in der
laufenden Reformationsdekade mit “refo500” ein
überkonfessionelles und weltweites Netzwerk entstanden ist, das die Reformationsdekade gestalten
will.
Die Wertschätzung, die Calvin in zahlreichen
Ländern Europas, aber nicht zuletzt auch in Amerika und in Asien genießt, hat endlich auch Deutschland erreicht. Wer sich heutzutage intellektuell blamieren will, der wiederholt die alten Calvin-Klischees und prolongiert auch damit den protestantischen Provinzialismus Deutschlands. Wer dagegen
kirchen- und theologiegeschichtlich sowie konfessionskundlich auf aktuellem Diskursniveau sein
möchte, sollte das Calvin-Jahr 2009 wahrgenommen
haben. ó
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ISSN 0939-3455
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Die Zeitschrift der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland,
20. Jahrgang 3. Quartal, August 2010.
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