Deutscher Bundestag Drucksache 18/3333 18. Wahlperiode Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, Katrin Kunert, Dr. Petra Sitte, Frank Tempel, Halina Wawzyniak, Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE. Entschädigung für NS-Opfer in Italien Das italienische Verfassungsgericht hat in einer Entscheidung vom 22. Oktober 2014 (Urteil 238/2014, veröffentlicht unter www.cortecostituzionale.it) NSOpfern wieder die Möglichkeit eröffnet, Entschädigungsklagen gegen Deutschland zu führen. Ein Gesetz, das Deutschland vor solchen Klagen schützen sollte und italienischen Gerichten die Zuständigkeit für diese entzog, wurde für verfassungswidrig erklärt. Es könne, entschied das Verfassungsgericht, „von der italienischen Gerichtsbarkeit nicht hingenommen werden, wenn das, was man schützt, die rechtswidrige Ausübung der Regierungsgewalt des fremden Staates ist, die insbesondere als Kriegsverbrechen gegen die Menschheit anzusehen sind.“ Weder die Opfer von Massakern durch Wehrmachts- und SS-Einheiten bzw. ihre Angehörigen, noch die ehemaligen italienischen Militärinternierten, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren, sind bislang entschädigt worden. In den letzten Jahren gab es deswegen mehrere Entschädigungsverfahren in Italien. Bis September 2011 waren nach Angaben der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 17/6923) drei Klagen vom Obersten Gerichtshof in Rom rechtskräftig entschieden, darunter eine von Angehörigen von Opfern eines Massenmordes, bei dem die Wehrmacht am 29. Juni 1944 in Civitella 203 Personen umgebracht hatte. Deutschland wurde zu einer Entschädigung von insgesamt 51 Mio. Euro verurteilt. 47 weitere Zivilverfahren waren vor drei Jahren noch anhängig. Anstatt die Opfer zu entschädigen, schaltete die Bundesregierung den Internationalen Gerichtshof (IGH) ein, der am 3. Februar 2012 die italienischen Urteile als Verletzung der Staatenimmunität wertete (General List 143, veröffentlicht unter www.icj-cij.org). In Italien wurde daraufhin ein „Sonder-Anpassungsgesetz“ verabschiedet, das italienischen Gerichten die Zuständigkeit für Klagen von NS-Opfern gegen Deutschland absprach. Dieses Gesetz wurde jetzt vom italienischen Verfassungsgericht „kassiert“. Geklagt hatten zwei ehemalige Militärinternierte sowie der Erbe eines in einem deutschen Lager gestorbenen Militärinternierten. Das italienische Verfassungsgericht verwies darauf, die italienische Verfassung garantiere gerichtlichen Schutz gegen Verletzungen seiner fundamentalen Menschenrechte. „Das genügt, um auszuschließen, dass als Verbrechen gegen die Menschheit qualifizierte Handlungen wie Deportation, Zwangsarbeit und Massenmorde […] die völlige Aufopferung des Schutzes der unverletzlichen Rechte der Personen rechtfertigen können, die diesen Verbrechen zum Opfer gefallen 25.11.2014 Drucksache 18/3333 –2– Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode sind.“ Zumindest bei schweren Kriegsverbrechen sei die unumschränkte Geltung der Staatenimmunität nicht mit italienischem Verfassungsrecht vereinbar. Sollte sich die Bundesregierung weiterhin weigern, den NS-Opfern Entschädigung anzubieten, ist daher mit weiteren Entschädigungsklagen zu rechnen, ebenso mit der Beschlagnahme deutschen Staatseigentums. Da Artikel 24 der italienischen Verfassung die Garantie des gerichtlichen Schutzes nicht auf italienische Staatsbürger beschränkt, sondern jedermann gewährt, ist davon auszugehen, dass auch griechische NS-Opfer (Distomo-Fall) in Italien erneut die Vollstreckung rechtskräftiger Urteile des obersten griechischen Gerichtshofes begehren. Die Verantwortung für allfällige Spannungen zwischen Italien und Deutschland, die daraus entstehen könnten, trägt aus Sicht der Fragesteller die Bundesregierung, weil diese sich geweigert hat, die bisherigen Urteile anzuerkennen. Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit wiederholt auf ihre „Globalzahlung“ an Italien in den 60er-Jahren hingewiesen. Bei dieser Summe war es aber weder um die Militärinternierten noch um die Opfer der Massaker gegangen. Zudem handelte es sich gerade einmal um 40 Mio. DM. Mit solch einer geringen Summe kann sich Deutschland nicht aus seiner finanziellen Verantwortung für die NS-Opfer „freikaufen“. Aus Sicht der Fragesteller ist die Bundesregierung jetzt endgültig gefordert, entweder auf die NS-Opfer zuzugehen und ihnen angemessene Entschädigungen anzubieten, oder die Urteile der italienischen Justiz anzuerkennen. Sollte die Bundesregierung bestimmte Fragen noch nicht beantworten können, weil sie die Urteilsbegründung noch auswertet, wird darum gebeten, die Antworten nach Abschluss der Auswertung nachzureichen. Wir fragen die Bundesregierung: 1. Stimmt die Bundesregierung der Bewertung des italienischen Verfassungsgerichtes zu, bei den in Frage stehenden NS-Verbrechen, wie Deportation, Zwangsarbeit und Massenmorde, handele es sich um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit? 2. Hat die Bundesregierung Grund zur Annahme, die drei Kläger, auf die das Urteil des Verfassungsgerichtes wesentlich zurückgeht, oder andere Kläger, die in der Vergangenheit vor italienischen Gerichten Entschädigungsforderungen erhoben haben, hätten bereits Entschädigungsleistungen aus Deutschland erhalten (bitte ggf. ausführen)? 3. Teilt die Bundesregierung die Ansicht der Fragesteller, dass eine Summe von 40 Mio. DM nicht ausreichend ist, um auch nur annähernd das in Italien bzw. an Italienern verübte NS-Unrecht zu entschädigen, und wenn ja, welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus? 4. Gehen die Fragesteller recht in der Annahme, dass die Bundesregierung auch in Zukunft den italienischen NS-Opfern keine Entschädigung auszahlen wird? 5. Wie viele Klagen sind seit der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE. „Entschädigungsverfahren von NSOpfern gegen die Bundesrepublik Deutschland vor italienischen Gerichten“ (Bundestagsdrucksache 17/6923) von italienischen Gerichten rechtskräftig entschieden worden (bitte jeweils angeben, welches Gericht die Entscheidung getroffen hat sowie das Datum der Entscheidung)? a) Welche Hauptgründe nannten die Kläger dabei für ihre Forderungen (bitte die konkreten NS-Verbrechen angeben)? Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode –3– b) Auf welche Summen belaufen sich die zugesprochenen Entschädigungen (bitte für jeden Fall einzeln angeben), und in wie vielen Fällen ist die Festlegung der Entschädigungssumme noch Gegenstand gesonderter Verfahren? 6. Wie viele weitere Verfahren (seit der in Frage 5 erwähnten Beantwortung der Kleinen Anfrage) sind seither neu eröffnet worden? 7. Bei welchen Gelegenheiten hat die Bundesregierung seit der Entscheidung des IGH gemeinsam mit italienischen Regierungsvertretern die Problematik der Entschädigungen und der Gerichtsverfahren gegen Deutschland erörtert (bitte Angaben zu den jeweiligen Gesprächspartnern, Terminen und Orten sowie den Inhalten der Gespräche und etwaigen Absprachen, die dabei getroffen worden waren, machen)? 8. Hat sich die Bundesregierung im Zusammenhang mit der Entschädigungsproblematik sowie dem Verfahren vor dem italienischen Verfassungsgericht mündlich oder schriftlich an die italienische Regierung gewandt, wenn ja, wann, und was wurde dabei im Wesentlichen übermittelt (bitte im Einzelnen nach Absender und Empfänger angeben)? Inwiefern hat die italienische Regierung darauf reagiert? Inwiefern betrafen diese Kontakte direkt das Verfahren vor dem italienischen Verfassungsgericht? 9. Hat sich die Bundesregierung unmittelbar, mündlich oder schriftlich, an das italienische Verfassungsgericht gewandt, um ihre Position darzulegen, und wenn ja, was hat sie dabei übermittelt, und inwiefern gab es eine Reaktion des Verfassungsgerichtes? 10. Was bedeutet das Verfassungsurteil nach Einschätzung der Bundesregierung für die von den italienischen Gerichten infolge des „Anpassungsgesetzes“ eingestellten Entschädigungsklagen? Können diese nunmehr weitergeführt werden, oder müssen sie vollständig neu aufgerollt werden? 11. Wie schätzt die Bundesregierung die Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtes ein, und welche Schlussfolgerungen zieht sie daraus? Inwiefern beabsichtigt sie, weitere diplomatische, politische oder rechtliche Schritte einzuleiten? 12. Interpretiert die Bundesregierung den Tenor der Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtes ähnlich wie die Fragesteller in der Hinsicht, dass nun auch Klagen griechischer NS-Opfer, die die Vollstreckung rechtskräftiger Urteile (Distomo-Fall) in Italien begehren, wieder vor italienischen Gerichten verhandelt werden können (bitte begründen)? 13. Wie schätzt die Bundesregierung die Wahrscheinlichkeit ein, dass künftig wieder mit der Beschlagnahmung deutschen Staatseigentums in Italien, etwa der Villa Vigoni oder von Konten der Deutschen Bahn AG, zu rechnen ist, um die Zwangsvollstreckung von Entschädigungsurteilen vorzunehmen? 14. Inwiefern hat die Bundesregierung Vorkehrungen getroffen bzw. trifft sie derzeit Vorkehrungen, um die (erneute) Beschlagnahme deutschen Staatseigentums in Italien zur Zwangsvollstreckung von Entschädigungsurteilen abzuwenden? 15. Auf welche Summe beläuft sich nach Kenntnis der Bundesregierung das deutsche Staatseigentum in Italien (bitte nach Barvermögen auf Konten sowie Immobilien und anderem Besitz getrennt angeben)? Drucksache 18/3333 Drucksache 18/3333 –4– Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode 16. Welche Einschätzung des Urteils hat nach Kenntnis der Bundesregierung die italienische Regierung, und welche Schlussfolgerungen zieht diese nach Kenntnis der Bundesregierung aus dem Urteil? a) Hat die Bundesregierung bereits gemeinsam mit der italienischen Regierung das Urteil erörtert, und wenn ja, welche Schlussfolgerungen hat die italienische Regierung vorgestellt, bzw. welche Maßnahmen will sie in Reaktion auf das Urteil einleiten? b) Inwiefern hat die Bundesregierung der italienischen Regierung Empfehlungen, Ratschläge oder Hinweise anderer Art gegeben, wie auf das Urteil zu reagieren sei, um weitere Entschädigungsurteile gegen Deutschland zu vermeiden, und inwiefern hat die italienische Regierung hierauf reagiert? c) Ist nach Auffassung der Bundesregierung eine Änderung der italienischen Verfassung erforderlich, um weitere Klagen gegen Deutschland zu blockieren, und inwiefern wird nach ihrer Kenntnis eine solche Verfassungsänderung in Italien derzeit diskutiert? 17. Mit welchem Tenor haben nach Kenntnis der Bundesregierung die wichtigsten politischen Parteien Italiens auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtes reagiert? 18. Mit welchem Tenor haben nach Kenntnis der Bundesregierung die Verbände italienischer NS-Opfer auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtes reagiert? 19. Mit welchem Tenor haben nach Kenntnis der Bundesregierung die führenden italienischen Medien auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtes reagiert? 20. Welche Überlegungen hat die Bundesregierung darüber angestellt, wie sie sich verhalten wird, falls es weitere Urteile gibt, die Deutschland zu Entschädigungszahlungen verpflichten? 21. Welchen Fortgang hat die Umsetzung der Empfehlungen der deutsch-italienischen Historikerkommission und die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirates zur Prüfung von Projektanträgen genommen (es wird um Aktualisierung insbesondere der Antwort der Bundesregierung zu Frage 5 auf Bundestagsdrucksache 18/928 gebeten)? Hat die Bundesregierung Überlegungen angestellt, das Finanzvolumen für den deutsch-italienischen Zukunftsfonds zu erhöhen, und wenn ja, inwiefern? Berlin, den 24. November 2014 Dr. Gregor Gysi und Fraktion Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333