Wie ist soziale Krankheit möglich? Über Viktor von

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Originalarbeit
Wie ist soziale Krankheit möglich?
Über Viktor von Weizsäckers Reformschrift 1, 2
■
M. Theunissen
Berlin (D)
Summary
Zusammenfassung
Theunissen M. [How is social disease possible?]
Schweiz Arch Neurol Psychiatr 2001;152:80–7.
Der Beitrag erörtert seine Leitfrage, in der Darstellung (1.) und Kritik (2.), anhand von Weizsäckers Soziale Krankheit und soziale Gesundung
1930. (1.) Als soziale Krankheit in engem, elementarem Sinn gilt eine zur Rechts- und Rentenneurose
spezifizierte Sozialneurose, die primär aus einer von
der modernen Sozialversicherung geprägten Situation entsteht. Weizsäcker definiert sie als Rechtsansprüche übermässig ausdehnende Einstellung,
die mit dem Ziel einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu therapieren ist. In einem weiteren,
fundamentaleren Sinn bedeutet sie eine die Gesellschaft befallende Krankheit, der nur mittels
einer den Staat vor den Individuen und die Individuen vor dem Staat schützenden Reform der
Sozialversicherung beizukommen ist. (2.) Weder
fügt sich das Soziale vollständig dem Begriff der
Krankheit noch die Krankheit dem Begriff des
Sozialen. Soziale Krankheit ist auch aussersozial,
sofern sie dreierlei impliziert: eine vom Kranken
selbst zu verantwortende Fiktion, eine Art Selbstverrechtung und eine jede Neurose kennzeichnende Unfreiheit zu wollen. Wesentlich aussersozial
ist eine Gesundung, die als eine je und je zu erzeugende dem Vorbild Kierkegaardscher Gesundheit
des Geistes folgt. Der Beitrag berührt am Schluss
die Stellung des beamteten Arztes zwischen Dienst
am Staat und Dienst am Kranken und wendet gegen
Weizsäcker ein, dass er, als «sozialer Funktionär»,
die sie durchherrschende Spannung ungeachtet
seines personalistisch-dialogistischen Anspruchs
nur zugunsten des Staates auflösen kann.
Schlüsselwörter: Rechts- und Rentenneurose;
Arbeitsfähigkeit; individuelle und gesellschaftliche
Krankheit; Dienst am Staat und Dienst am Kranken
This paper discusses its main theme through (1)
presentation of, and (2) objections to Weizsäcker’s
Social Disease and Social Recovery (1930). (1)
Social disease in the narrow, elementary sense is
a social neurosis specified as a legal and compensation neurosis arising primarily from a situation produced by social insurance. Weizsäcker
defines it as an attitude in which legal claims
are exaggerated and where treatment should be
aimed at restoring the patient’s fitness for work. In
a broader, more fundamental sense it represents a
disease affecting society and only to be overcome
by a reform of social insurance which will protect
the state from the individual and the individual
from the state. (2) “Social” does not completely
fit the concept of the disease, nor does the disease
entirely fit the term “social”. Social disease is also
extrasocial, inasmuch as it involves three things: a
fiction of the patient’s own, that he desires a form
of self-constituted legitimacy and the unfreedom
which typifies any neurosis. What is essentially
extrasocial is recovery modelled on Kierkegaard’s
“healthy mind”. Finally, the paper discusses the
position of the government-employed physician,
between service to the state and service to the
patient, and criticises Weizsäcker in that, as a
“social civil servant”, he can only resolve the
tensions inherent in his position in favour of the
state, regardless of his personalistic demands for
dialogue.
Keywords: legal and compensation neurosis;
fitness for work; individual and social disease;
service to the state and service to the patient
Korrespondenz:
Prof. Dr. Michael Theunissen
Beerenstrasse 50
D-14163 Berlin
80
1 Dieter Janz zum 80. Geburtstag.
2 Soziale Krankheit und soziale Gesundung. Berlin: Springer
1930. Das Folgende ist die geringfügig erweiterte Fassung
eines Vortrags auf der Jahrestagung der Viktor von Weizsäcker Gesellschaft am 27. und 28. Oktober 2000. Der Titel
der «Reformschrift» gab der Tagung das Rahmenthema
vor. Der hier abgedruckte Text spart die von anderen
Tagungsteilnehmern untersuchte Möglichkeit aus, den
Begriff anders zu fassen, als es in der Schrift geschieht.
SCHWEIZER ARCHIV FÜR NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE
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Einleitung
Darstellung von Weizsäckers Konzept
Viktor von Weizsäcker führt die Titelbegriffe
seiner Schrift Soziale Krankheit und soziale Gesundung3 nicht explizit ein. Die soziale Krankheit,
von der die Schrift hauptsächlich handelt, ist vom
allerersten Anfang Thema, ohne dass sie definiert
würde. Obwohl Weizsäcker ebenfalls gleich anfangs den «Grundbegriff des kranken Menschen»
(S. 35) ins Spiel bringt, zu dem eine defiziente
Sozialität wesentlich gehört, klärt er uns weder
über sein Verständnis von Krankheit auf noch über
seine Verwendung des Wortes «sozial».4 So ist zu
fragen: Was heisst «soziale Krankheit»? Gibt es
überhaupt eine Krankheit, die wir mit Fug und
Recht sozial nennen können? Gesetzt, es gäbe
sie – wie verhielte sie sich zur Krankheit als ganzer?
Ist jede Krankheit sozial oder nur eine bestimmte?
Und wie wäre soziale Krankheit im letzteren Fall
von nicht sozialer zu unterscheiden? Für Weizsäckers Programm sind Begriffsklärungen nicht
vordringlich, weil er vor allem Stellung nehmen
will zu gesellschaftlichen Realitäten seiner Zeit.
Die Schrift reagiert auf ökonomische und politische Missstände in den ausgehenden zwanziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts, in der Sicht ihres
Verfassers verursacht durch eine «Wirtschaftskrise», die eine umfassende «Gesellschaftskrise»
ankündigt (S. 43). Aber wir, die wir zu ihren aktuellen Anlässen Distanz gewonnen haben, müssen
versuchen, die Begriffe schärfer zu fassen.
Der Vorrang des Aktuellen vor dem Grundsätzlichen weist allerdings auch uns Nachgeborenen
den Weg. Die anzustellenden Überlegungen gliedern sich in zwei Teile, in Darstellung und Kritik.
Bei der Darstellung des in der Schrift entwickelten
Konzepts ist zu beginnen mit einer Erläuterung
des Elementarbegriffs sozialer Krankheit, sowohl
in diagnostischer wie auch in therapeutischer Hinsicht. Dann ist den Erweiterungen und Vertiefungen nachzugehen, die auf einen fundamentaleren
Begriff sowohl von der Krankheit selbst wie auch
von ihrer Behandlung abzielen. Der zweite, kritische Teil wird die in dem Konzept steckenden
Probleme erörtern und die vorausgeschickten
Fragen zu klären versuchen.
Vorerst also zu dem in der Schrift entwickelten
Elementarbegriff von sozialer Krankheit. Weizsäcker entnimmt ihn den Sorgen, die sich seine
Patienten um ihren Lebensunterhalt machten. Er
spezifiziert die an Individuen abgelesene und
insofern elementar verstandene Sozialkrankheit
zur Sozialneurose und diese wiederum zu einer
Rechts- und Rentenneurose. Worin das Eigentümliche einer Rechts- oder Rentenneurose liegt, kann
erst die fortgeschrittene Darstellung zeigen. Vorläufig muss der Hinweis genügen: Die Bezeichnung
«Rechtsneurose» steckt den Gesamtbereich ab,
um den die Gedanken des Sozialneurotikers kreisen, während die Bezeichnung «Rentenneurose»
innerhalb dieses Bereichs den Punkt heraushebt,
auf den der Sozialneurotiker fixiert ist. Im übrigen
sind die beiden Terme der Sache nicht gleichermassen angemessen. Beide sind aus der damaligen
Fachliteratur aufgelesen, aber der Ausdruck «Rentenneurose» wird zudem apostrophiert, vermutlich
um anzudeuten, dass die Rechtsneurose, nähme
man sie bloss für eine Rentenneurose, unterbestimmt wäre.5 Etwas anzufangen ist vorderhand
allein mit der Auskunft, die gemeinte Krankheit
sei eine Neurose. Weizsäcker fasst Neurose als
Einstellung auf. Damit gibt er eine erste Antwort
auf die Frage, ob jede oder nur eine bestimmte
Krankheit sozial sei. Definiens der sozialen
Neurose ist eine Einstellung «zur Krankheit und
Verarbeitung der Krankheit» (S. 43). Mit «Krankheit» kann hier nicht die Sozialneurose selbst gemeint sein, sondern nur eine ihr vorausgehende,
irgendeine Organerkrankung oder unfallbedingte
Behinderung. Die spezifisch soziale Krankheit ist
also eine «zweite» (S. 42 u. ö.).6 Schon dies, dass
sie jeweils nur die zweite Stelle einnimmt, macht
sie zu einer bestimmten und verwehrt ihre Gleichsetzung mit Krankheit schlechthin. Denn eine nach
der Ordnung der Zeit zweite Krankheit zu sein, ist
ihr so wesentlich, dass sie ihren Platz mit keiner
Primärkrankheit teilen kann. Ein dieser Feststellung scheinbar widersprechender Satz, der sie
als «Inbegriff aller individualen Krankheiten»
3 Wiederveröffentlicht in Viktor von Weizsäcker, Gesammelte Schriften, hg. von D. Janz u.a., Band 8, Frankfurt a. M.:
Suhrkamp 1986, S. 31–95. Die unmittelbar im Text gegebenen Seitenverweise beziehen sich auf diesen Band der
Schriften. Alle Zitate wurden mit der Ausgabe von 1930
verglichen. In ihr war «sozial» auch als Beiwort zu «Gesundung» mit grossem Anfangsbuchstaben geschrieben.
4 Aufklärung sucht man auch vergeblich in seiner unter
dem Titel «Zum Begriff der Krankheit» veröffentlichten
Besprechung von Friedrich Kraus, Die allgemeine und
spezielle Pathologie der Person (Gesammelte Schriften I
[1986], S. 481–90).
81
5 Die Rechtsneurose hat Weizsäcker schon 1929 zum
Gegenstand eines Aufsatzes gemacht («Über Rechtsneurosen», in: Der Nervenarzt 2, S. 569–81, Gesammelte Schriften 8, S. 7–30). Dem Aufsatz zufolge «müssen wir die ‹Rentenneurose› umtaufen und Rechtsneurose sagen» (S. 8).
6 Weizsäcker bezeichnet sie auch als «Leiden an den psychologischen, sozialen, ökonomischen Folgen der Insuffizienz» (S. 36), nämlich der Insuffizienz, die durch einen
Organschaden oder einen Unfall verursacht wurde. In
einem weiteren Sinne scheint er die psychologischen und
ökonomischen Folgen der Sozialität einer Krankheit zuzurechnen, die er zur «öffentlichsten aller Krankheiten»
erklärt (S. 36).
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beschreibt (S. 39), lässt sich mit ihrer Verweisung
auf den zweiten Platz nur so vereinbaren, dass man
ihn selbst nach deren Massgabe liest: Die soziale
kann auf jede Krankheit folgen.
Was ist nun sozial an ihr? Dass der von ihr
Befallene wie an den psychologischen und ökonomischen, so auch an den sozialen Folgen seiner
Insuffizienz leidet, ist nicht das hervorstechende
Merkmal ihrer Sozialität. Vielmehr ist sie sozial
vor allem hinsichtlich ihrer Ursachen, ihrer «Entstehungsbedingungen»7. Zu ihnen zählen nicht
nur äussere, sondern auch innere, ausser extrapsychischen ebensowohl intrapsychische. Die Analyse der inneren Faktoren wird uns über die Terme
«Rechtsneurose» und «Rentenneurose» aufklären.
Wieso und in welchem Sinne die fragliche Krankheit eine Sozialneurose ist, lehrt die nähere Kennzeichnung der äusseren Faktoren. Das Ganze,
zu dem die äusseren Faktoren sich zusammenschliessen, bringt Weizsäcker auf den Begriff
der Situation. Soziale Krankheit ist als soziale eine
«Situationsneurose» (S. 44). Die Situation eines
erkrankten Arbeitnehmers setzt sich in einem
modernen Sozialstaat aus drei Elementen zusammen: erstens seiner privaten und beruflichen
Lage, zweitens seiner Angewiesenheit auf einen
Arzt, drittens bestimmten ökonomischen und
politischen Regelungen, von denen ihn insbesondere die Sozialversicherung angeht. Seine
persönliche – private oder berufliche – Lage
wird zum Krankheitsfaktor, sobald zu seinem
psychophysischen Trauma «der Verlust einer
Stelle, einer geschäftlichen Konjunktur, eines
familiären Gleichgewichtes» hinzukommt (S. 72).
Die ärztliche Behandlung, die Krankheit heilen
sollte, erzeugt sie natürlich im Falle ihrer Verfehltheit. Aber das für soziale Krankheit primär
verantwortliche Situationselement ist die Sozialversicherung. Und zwar macht uns nicht erst ihre
Mangelhaftigkeit zu Sozialneurotikern, sondern
vorab sie selbst. Sie produziert Neurosen eben
dadurch, dass sie uns vor den Folgen einer Krankheit schützt. Denn dieselbe Institution, die dem
Sozialversicherten etwa nach einem Unfall eine
gewisse Sicherheit verschafft, ruft in ihm, so
Weizsäckers paradoxe These, ein Gefühl der Unsicherheit hervor. «Das Sicherheitsgefühl, welches
ihm das Sozialgesetz in gesunden Tagen gab, verliert er nach dem Unfall, obwohl man für ihn sorgt»
(S. 82).
Im Grunde gehört die Verunsicherung durch
Sicherung bereits mit zu einem Sachverhalt, den
Weizsäcker in den Satz fasst: «Das öffentliche
7 Weizsäckers bevorzugter, in der Schrift durchgehend verwendeter Ausdruck für eine Ursache sozialer Krankheit
ist «Entstehbedingung».
82
Recht auf Sicherung hat die Selbsterfahrung der
Kranken gänzlich umgebildet» (S. 42). Er selbst
denkt dabei allerdings an eine «Entstehbedingung», die er im Folgesatz mit den Worten beschreibt: «Der Kranke erfährt seine Krankheit
zugleich als eine Rechtsquelle: als Rechtsgrund
auf Sicherung, als Rechtsgrund auf Wiederherstellung.» Der Sozialneurotiker, der sich jetzt
als Rechtsneurotiker enthüllt, beansprucht damit
noch mehr als das ihm hier Nachgesagte. Er meldet nicht nur sein Recht auf eine ihm zukommende
Unterstützung an. Darüber hinaus dehnt er seine
Rechtsansprüche auf sozialgesetzlich gar nicht
geregelte Bereiche aus; ja, er wähnt sich generell
im «Alleinbesitz des Rechts» (S. 84). Ein derartiges
Verhalten hängt mit seiner Verunsicherung wohl
so zusammen, dass es sie überkompensiert. Trotz
dieses Zusammenhangs liegt es aber auf einer
anderen Ebene als die Quelle der Verunsicherung,
die Sozialgesetzgebung, die eigentlich ein Mindestmass an Sicherheit verbürgen soll. Darum
fällt schwer, das rechthaberische Verhalten bloss
für eine Ursache der Sozialneurose zu nehmen. Ein
innerer Krankheitsfaktor scheint es in dem strengen Sinne zu sein, dass es die interne Verfassung
der Sozialneurose bildet, genauer: das, was sie als
Rechts- und Rentenneurose konstituiert. Der von
irgendeiner Krankheit Befallene wird neurotisch,
wenn er aus massloser Sorge um eine Rente die
Grenzen seines Rechts überschreitet.
Mit alledem entwickelt Weizsäcker einen relativ engen Begriff von sozialer Krankheit. Bevor
wir den Erweiterungen nachgehen, durch die er
diesen Elementarbegriff auch vertieft, sollten wir
noch einen Blick auf die Art und Weise werfen,
wie er mit der elementaren Krankheit umgeht,
also auf den therapeutischen Aspekt seiner bisher
wiedergegebenen Ausführungen. Die herkömmliche Unterscheidung von Diagnose und Therapie
büsst bei ihm allerdings ihre Trennschärfe ein.8
Auch das Heilverfahren legt er, sofern er es
einer «Situationstherapie» überantwortet, diagnostisch an, als eine «Erfassung der Gesamtsituation»
(S. 40). Eigentlich therapeutisch an dem Verfahren
ist allein eine an der neurotischen Einstellung
selbst vorzunehmende Veränderung, die er ihre
Umstellung nennt. Die Parole «eine Einstellung
umstellen» (S. 72) zielt darauf ab, den Neurotiker
zur Preisgabe seiner überzogenen Rechtsan8 Er behauptet sogar, dass in seiner Praxis «sich die klassische Reihenfolge: zuerst Diagnose, dann Therapie umkehrt
in die neue: zuerst Behandlung, dann Beurteilung» (S. 44).
Hinter der für sich genommen übertrieben erscheinenden
Behauptung steht der sehr wohl einleuchtende Erfahrungsgrundsatz: «Es gibt meines Erachtens Gegenstände
der Erkenntnis, welche nur zu erkennen sind durch Akte
des Handelns» (S. 46).
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sprüche zu bewegen. Sie appelliert an seine Einsicht in die sozialgesetzliche Bodenlosigkeit seiner
Ansprüche. Allerdings wäre mit dieser Einsicht
erst ein Etappenziel erreicht. Erfüllt wäre mit
ihr nur eine Bedingung für das Verschwinden der
Neurose, nur eine Bedingung und nur eine Bedingung für ihr Verschwinden. Die andere Bedingung
ist «eine bestimmte ärztliche Einstellung» (S. 72),
dies, dass der Arzt den Patienten als Person vor sich
bringt und ihm seinerseits als Person begegnet.
Weizsäcker betrachtet auch sie als eine «Verschwindbedingung».9 Aber der Endzweck aller
therapeutischen Bemühungen ist über das Verschwinden der Neurose hinaus die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, die der Patient nur
erlangt, wenn er überhaupt nicht mehr auf Rente
sinnt, sondern einen neuen Willen zur Arbeit aufbringt. «Immer ist das Ziel, dass der Kranke einen
vermeinten Anspruch aufgibt, seine Symptome
verliert und arbeiten kann» (S. 49).
Entsprechend dem Vorgehen bei der gegebenen Erläuterung des Elementarbegriffs sind
auch von den in der Schrift vorgenommenen Erweiterungen in einem ersten Schritt nur die des
Begriffs der sozialen Krankheit selber zu verfolgen
und erst in einem zweiten Schritt die, welche die
Therapie dieser Krankheit betreffen. Die soziale
Krankheit selber stellt Weizsäcker zunächst in die
Weite der jeweiligen Lebensgeschichte. Er geht
zurück auf die «Schicksalsbildung und -lenkung
des Kranken in der Zeit» (S. 39). Damit bleibt er
in Übereinstimmung mit seinem Ansatz bei Einstellungen. Denn der bringt «die dynamischen
Bewegungen der sozialneurotischen Einstellungen» (S. 54) in den Blick, so dass seine Ausarbeitung eine genetische Sicht erfordert: «Es soll nicht
hervortreten, wie der Patient ist, sondern was und
wie es [‹das soziale und situative Moment›] aus
ihm wird» (S. 53). Das Besondere an Weizsäckers
lebensgeschichtlicher Wendung ist aber, dass sie
schon als solche auf überindividuelle Geschichte
ausgreift. Für ihn ist die Lage des Einzelnen gar
nicht zu trennen von der Situation als einem Inbegriff geschichtlich gewordener Umstände, seien
diese nun rechtlicher, institutioneller, gesellschaftlicher oder ökonomischer Art.10
Letztlich entwirft Weizsäcker sogar einen überindividuellen Begriff von der sozialen Krankheit
selber. In Wahrheit ist sie schon für sich selbst mehr
als ein «Zustand der Einzelperson» (S. 39), der
durch Sozialgebilde bloss verursacht wäre, nämlich
eine Krankheit, die sich in den Sozialgebilden
selbst einnistet. Schon in dem Aufsatz «Kranker
und Arzt» (1928) hiess es, Psychoneurosen seien
«soziale Phänomene im weitesten Sinne», weil sie
eine «Entwicklungsstörung der Beziehungen eines
Menschen zu anderen Menschen» anzeigten.11
Kann man dies noch so auffassen, als stecke die
Krankheit doch in einem Individuum und affiziere
sie die Beziehungen, in denen das Individuum
steht, lediglich, so diagnostiziert die Reformschrift
eindeutig «eine aus den zwischenmenschlichen
Beziehungen herzuleitende Krankheit, zu Ende
gedacht überhaupt eine Krankheit nicht der Individuen, sondern der Beziehungen von Individuen»
(S. 90). Weizsäcker geht 1930 über Beziehungen
zwischen Individuen sogar noch hinaus. Er bezeichnet es als einen «Grundgedanken» seines
Traktats, dass die darin geschilderten Zustände
aus einer «Erkrankung der Gesellschaft (nicht
nur des Individuums) hervorgehen» (S. 53). Diesen
Gedanken rückt er in eine utopische Perspektive.
Dem Negativen Positives abgewinnend, deutet
er das «Phänomen gesellschaftlicher Krankheit»
(S. 90) als Erscheinung einer «geschichtlichen
Werdekrankheit» (S. 40), die auf den «grossen
Geburtsakt einer neuen Gesellschaft» (S. 86) vorausweist.
Den Utopieentwurf holt die erweiterte Therapie nicht ein. Daran hindert sie ihr Grundsatz
einer Unübersteigbarkeit des bestehenden Rechtszustands.Wir sind alle dessen «Gefangene» (S. 84).
Um so entschiedener kämpft Weizsäcker für eine
gemässigte Reform, die «in einem halb sozialisierten, halb manchesterlich-liberalen Staatsgefüge»
(S. 89) mehr Gerechtigkeit innerhalb der Grenzen
des geltenden Sozialrechts anstrebt, insbesondere
durch eine «Sanierung kranker Zustände der Sozialversicherung» (S. 71). Die Reform trägt faktisch
sozialdemokratische oder gar sozialistische Züge,
zumindest in ihrer Parteilichkeit für die Arbeiterschaft und gegen das Bürgertum.12 Im Ganzen ist
9 Dem Thema «Entsteh- und Verschwindbedingung der
Sozialneurose» ist ein eigener Abschnitt der Schrift
gewidmet (S. 71–8).
10 Dementsprechend erstreckt sich in seinem Sprachgebrauch auch der Begriff «historisch» bereits auf die
Betrachtung des «biographischen Verlaufs» (S. 39) einer
Krankheit. Das «Fehlen der Verschwindbedingung» im
Leben des Einzelnen ist «eine ganz und gar historische
Realität» (S. 72) und «die Zuordnung von Entsteh- und
Verschwindbedingung» etwas, das die «historische Logik»
verlangt (S. 74).
11 Viktor v. Weizsäcker, «Arzt und Kranker» I. Dritte Auflage Stuttgart: Koehler 1949. S. 162 (in Gesammelte
Schriften 5).
12 Dass in der Heidelberger Klinik eine eigene Station für
Sozialversicherte eingerichtet wurde, war wohl auch in
Weizsäckers Überzeugung begründet, sozialversicherte
Arbeiter seien im Vergleich mit privatrechtlich abgesicherten Bürgern «zur Vernunft verführbarer, durch Güte
zwingbarer, durch erzieherische Härte formbarer» (S. 48).
Weizsäcker bekennt ausdrücklich, dass er sich nicht
scheue, «einen Klassenbegriff in die medizinische Frage
hineinzubringen» (S. 54).
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die vorgeschlagene Reform freilich eher etatistisch
ausgerichtet. Sie will zwar Individualität vor staatlichem Bürokratismus schützen, aber vor allem
auch den Staat vor individueller Willkür.
In ihrer Richtung auf Individualität versteht
sich die Reform als Korrektur an der Gleichmacherei, zu der das «Institut der Sozialversicherung»
neigt, sofern es Bedürftigkeit als «für alle Fälle
identisch charakterisiert» (S. 79). Im Gegenzug
zu dieser Tendenz war die für Sozialversicherte
eingerichtete Station der Heidelberger Klinik
darauf angelegt, «soziale Arbeiterneurosen individuell zu behandeln», demgemäss, dass die neurotisierenden Faktoren selbst «individuell» und «von
Fall zu Fall verschiedene sind» (S. 79). Mit dieser
Individualisierung geht eine Differenzierung
der leitenden Begriffe «Arbeitsfähigkeit» und
«Arbeitswilligkeit» einher. An die Stelle einer
monolithischen Arbeitsfähigkeit setzt Weizsäcker
«Arbeitsfähigkeiten für verschiedene Arten von
Arbeit» (S. 37f.), und den Schein, als gäbe es eine
vom jeweiligen Gegenstand unabhängige Arbeitswilligkeit überhaupt, löst er auf durch Berücksichtigung der «Proportion zwischen (der) Anziehungskraft der besonderen Handlung ‹Arbeit›
und der Willensintensität sie zu tun» (S. 80f.).13
Die differenzierende Auffassung der Arbeit selbst
kommt zur Stärkung der Individualität des Arbeiters nicht etwa als etwas Zweitrangiges hinzu. Sie
ist sogar besonders wichtig, weil sie den Endzweck
der individuellen Therapie betrifft und den Punkt
markiert, an dem unter den gegenwärtigen Bedingungen mehr Gerechtigkeit am effektivsten
durchzusetzen wäre.
Aber Gerechtigkeit hat noch eine andere Seite,
und auf dieser Seite sucht der Reformator nach
Schutz des Staates vor ungerechtfertigten Ansprüchen von Individuen. Mit seiner Forderung
nach Revision der Sozialversicherung postuliert
er nicht so sehr deren Fortbildung als deren
Einschränkung, zum einen durch Verweigerung
einer «Dauerrente» (S. 71–3), zum andern mittels
der Einleitung von «Zwangsverfahren» (S. 92). Er
wehrt nicht nur eine Rente ohne vorausgehende
Behandlung ab, sondern möchte auch ausgeschlossen wissen, dass sie «im Falle des Misserfolges»
(S. 72) einer Behandlung zur Lebensrente wird.
Und ein Zwangsverfahren soll immer dann einge13 Ob jemand unfähig zur Arbeit ist oder in Wirklichkeit
unwillig, könnte der Arzt im übrigen nur feststellen, wenn
er «die Ermüdung der Leistung an und in der Arbeit
selbst» prüfte (S. 37). Dadurch sind natürlich besonders
dem als Gutachter tätigen Arzt enge Grenzen gesetzt.
Denn: «Nicht nur gestattet der klinische Befund kein
wissenschaftliches Urteil über Arbeitsfähigkeit, sondern
auch die Arbeit, zu welcher jemand fähig oder unfähig
sein soll, ist dem Gutachter unbekannt» (S. 38).
84
leitet werden, wenn die geltend gemachte Arbeitsunfähigkeit sich auch nach spezifizierten Massstäben als Arbeitsunwilligkeit erweist, als mangelnde
Bereitschaft zu jeder Art von Arbeit.
Kritik an Weizsäckers Konzept
Es sind nun, nach der Präsentation des Konzepts,
einige darin liegende Probleme zu diskutieren.
Der ihnen gewidmete Abschnitt umfasst wiederum
zwei Gedankengänge; deren Reihenfolge bildet
die Rollenverteilung zwischen Patient und Arzt
ab. In Orientierung an der Lage des Patienten
drängen sich vornehmlich zwei komplementäre
Fragen auf. Die erste: Was an Krankheit entzieht
sich dem Begriff des Sozialen? Die zweite: Was am
Sozialen entzieht sich dem Begriff der Krankheit?
Die Frage nach dem, was auch an der vermeintlich
sozialen Krankheit einer vollständigen Sozialisierung widerstrebt, ist offenkundig eine skeptische,
die Tatsache eines asozialen Restbestandes bereits
voraussetzende Version der Grundfrage nach der
Legitimität des ganzen zur Debatte stehenden
Begriffs. Infolgedessen muss uns hauptsächlich
sie beschäftigen. Die gegenläufige Frage nach
dem Widerstand, den umgekehrt das Soziale
dem Krankheitsbegriff entgegensetzt, können wir
rascher abklären. Sie ist eben darum vorzuziehen.
Verweist uns die erste Frage auf soziale Krankheit im engeren Verstande einer individuellen
zurück, so richtet sich die zweite an Weizsäckers
erweiterten Entwurf, der die Einzelperson auf
Intersubjektivität, Gesellschaft und Staat hin überschreitet. Letztlich läuft sie auf einen einzigen
Punkt hinaus: Kann der auf Sozialgebilde angewendete Krankheitsbegriff mehr sein als eine
Metapher? Zweifel daran nährt Weizsäcker selbst,
wenn er die kranken Zustände, die an den gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen des
Sozialrechts zu sanieren sind, als die unserem
System der Sozialversicherung zugefügten «Schäden» (S. 71) oder als die ihm anhaftenden Mängel
entschlüsselt. Die Zweifel wachsen proportional
zur Spezifizierung des Krankheitsbegriffs. Die
Behauptung, die fragliche Neurose sei «ein Verhalten der Gesellschaft», nicht nur «ein Verhalten
der Person» (S. 79), hypostasiert ihren Begriff.
Doch gibt uns Weizsäcker gleichzeitig ein Mittel an
die Hand, seiner Vergesellschaftung der Neurose
einen rationalen Sinn abzugewinnen. Jene Behauptung erläutert er durch den Zusatz: «Das Verhalten der Person ist nur die innere Anwendung
des äusseren Verhaltens der Gesellschaft: das eine
ist nur der Spiegel des anderen, die mikrokosmische Darstellung einer makrokosmischen Struk-
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tur.» Der Zusatz erlaubt uns, die Vergesellschaftung der Neurose in dem schwachen und damit
weniger problematischen Sinne zu verstehen,
wonach das Verhalten der Gesellschaft sich nur im
Verhalten einer Person als Neurose manifestiert
und sich als eine solche nur manifestiert, derart,
dass es erst in einer Person die Gestalt der Neurose
annimmt.
Die andere Frage «Was an Krankheit entzieht
sich dem Begriff des Sozialen?» ist, wie gesagt,
komplexer. Sie lässt sich umformulieren in eine,
die Weizsäcker selbst aufwirft, in «die Frage nach
dem Verhältnis innerer und äusserer Krankheitsfaktoren» (S. 79), das heisst ja im Kontext seiner
Schrift: nach dem Zusammenhang zwischen sozialen und aussersozialen Entstehungsbedingungen.
Um die Diskussion nicht zu überlasten, sehe
ich von allen über diesen Zusammenhang hinausführenden Fragen ab.14 Sogar von den «beiden wichtigsten Entstehungsbedingungen äusserer Art» ist die eine, die «falsche Behandlung durch
Ärzte» (S. 91), bloss beiläufig wiederaufzurufen,
vor allem deshalb, weil sie als Entstehungsbedingung der Sozialneurose schwerlich deren Behandlung selber sein kann. Wir sollten uns darum auf
die einsichtigere Entstehungsbedingung äusserer
Art konzentrieren, auf «die Form der Sozialversicherung» (S. 91).
Trotz der gemachten Abstriche verbleiben immerhin drei Punkte, an denen eine Klärung der
Frage nach dem möglicherweise Aussersozialen
an der sozialen Krankheit anzusetzen hat. Für
alle drei Diskussionspunkte liefert unsere Schrift
Stichwörter. Das erste Stichwort gibt sie mit einer
Art Definition: Die Sozialneurose ist «der Ausdruck einer objektiven Situation wirklicher Gefahr
[...], die durch eine Fiktion bewältigt werden soll»
(S. 84). Das zweite lässt sich der Kritik an einer
überdehnten «Verrechtung» (S. 83), an «Überrechtung» (S. 77, 83) entnehmen. Mit dem dritten
schliesslich versorgt uns die Feststellung, für die
Sozialneurose sei «beides verantwortlich: eine
Realangst vor weiterem Abstieg und eine Unfreiheit zu wollen, ein Bann» (S. 81). Den Zitaten ist
gemeinsam, dass sie jeweils zwei Sachverhalte
gegeneinander abheben, zwischen denen die uns
interessierende Grenze verläuft. Bei der Auslegung
der beiden ersten Zitate ist kein grosser Aufwand
14 Kritisch zu reflektieren wären vornehmlich die Probleme,
die sich daraus ergeben, dass Weizsäcker einen Ausdruck
wie «Rentenneurose» zwar auf Distanz hält, aber nicht
durch einen passenderen ersetzt. Wohl steuert er, als
Vorläufer des frühen Foucault, eine «Revision der Grundbegriffe» (S. 78) an. Doch bleibt das theoretische Seitenstück zur praktischen «Revision der Grundlage der Sozialversicherung» (S. 37) unausgeführt.
85
nötig, um die Grenze zu markieren. Die objektive
Situation resultiert aus einem Missgeschick,
das Arbeiter und kleine Angestellte zur Inanspruchnahme der Sozialversicherung nötigt. Die
Fiktion hingegen, die zur Bewältigung der Gefahr
verhelfen soll, wird von den auf Sozialversicherung
angewiesenen Individuen selbst erzeugt. Sie ist
also kein extrapsychischer, sondern ein intrapsychischer, ein aussersozialer, kein sozialer Krankheitsfaktor. Obwohl «Überrechtung» ein vereinheitlichender Begriff ist, lässt sich doch auch an
ihr die entscheidende Zäsur leicht erkennen. Der
Begriff fasst zweierlei zusammen: eine Universalisierung einklagbaren Rechts, die auf das Konto
des modernen Staats geht, und eine am Sozialneurotiker zu beobachtende «Verrechtung seines
menschlichen Zustands» (S. 83), die man ihm als
sein eigenes Tun zurechnen muss. Ist die staatlich
vorgegebene Verrechtung bloss eine äussere Ursache der Sozialneurose, so fällt die Selbstverrechtung bereits in deren Inneres, als interne Verfassung des Verhaltens von jemandem, der sein
angemasstes Recht über das gesetzlich Geregelte
hinaus durchsetzen will.
Etwas eingehender zu erörtern ist der letzte
Punkt, an dem Weizsäcker für die Sozialneurose
einerseits eine «Realangst vor weiterem Abstieg»,
anderseits eine «Unfreiheit zu wollen» verantwortlich macht. Dieser Punkt bedarf der Ausführung, weil die «Unfreiheit zu wollen» in der
Schrift kein eigens behandelter Gegenstand ist,
so dass wir das damit Gemeinte unsererseits explizieren müssen. Dass die Realangst vor weiterem
Abstieg durch die äussere Lage hervorgerufen
wird, scheint klar. Die Behauptung ihrer Mitverantwortlichkeit setzt sich lediglich dem Zweifel
aus, den je auf ihre Weise auch die Thesen über die
angeblich vom Sozialstaat ausgehende Gefahr und
die staatlich verordnete Überrechtung wecken: Ist
es tatsächlich die Sozialversicherung, die ängstigt,
oder nicht vielmehr die ohne sie noch schlimmere
Aussicht auf eine Zunahme der sozialen Beeinträchtigung, die das eingetretene Missgeschick
selber mit sich brachte?
Ganz unzweifelhaft intrapsychisch aber ist die
Unfreiheit zu wollen, der Bann. Möglich scheint
höchstens, dass sie durch so etwas wie eine Sozialversicherung befördert wird, sofern nämlich der
mit einem solchen Institut versehene Staat ein
«kanalisierter Bewegungsraum»15 ist, der seinen
Angehörigen bestimmte Bewegungen vorschreibt
und auch festlegt, «in welchen Bahnen die Aktion
des Neurotischen sich notwendig bewegen muss»
15 Vgl. den Abschnitt «Arbeitswilligkeit und kanalisierter
Bewegungsraum» (S. 79–80).
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(S. 81). Indes ist ja eingeschränkte Freiheit keine
Unfreiheit. Dass sie das Aussehen der Unfreiheit,
des Banns annimmt, folgt aus einer Eigengesetzlichkeit der Neurose, die sich aus sozialen Tatbeständen nicht ableiten lässt. Weizsäcker bietet
für die fehlende Untersuchung der Unfreiheit zu
wollen nur einen Ersatz an, Ausführungen über
das doppelte Unvermögen, «das Wollen mit dem
Erkennen zu verbinden» (S. 82) und «die Kluft
zwischen Wollen und Vollbringen» (S. 86) zu überbrücken. Das zu Untersuchende liegt jedoch tiefer
als beide Unfähigkeiten. Unfähig, sein Rechthaben-Wollen durch «Rechtserkenntnis» (S. 86)
zu läutern und in der geläuterten Form zu verwirklichen, ist der Sozialneurotiker in der Wurzel
darum, weil er schon am Wollen scheitert, dies aber
wie jeder Neurotiker, mithin nicht aus spezifisch
sozialen Gründen.16
Noch ein kritisches Wort zu der ebenfalls für
sozial ausgegebenen Gesundung. Wie steht es um
ihre Sozialität? Über sie sagt Weizsäcker, sieht man
von der ärztlichen Behandlung ab, im Zuge der
Ausarbeitung seines Konzepts weniger, als die
Aufnahme des Begriffs «soziale Gesundung» in
den Titel der Schrift erwarten lässt. Er begnügt sich
im wesentlichen damit, die Bedingungen für das
Verschwinden sozialer Krankheit auszuformulieren, ohne zumal den Prozess zu beschreiben, den
der Titelbegriff «Gesundung» anzuzeigen scheint.
Nur am Schluss nimmt er den Gesundungsprozess
in den Blick. Die letzten Sätze seiner Reformschrift
lauten:
«Die Gesundheit eines Menschen ist eben nicht
ein Kapital, das man aufzehren kann, sondern sie
ist überhaupt nur dort vorhanden, wo sie in jedem
Augenblick des Lebens erzeugt wird.Wird sie nicht
erzeugt, dann ist der Mensch bereits krank. Man
kann den Sozialkranken daher auch als einen
Menschen bezeichnen, bei dem die beständige
Erzeugung der Gesundheit nicht mehr richtig
erfolgt» (S. 94f.).
Die Sätze übertragen die Gesundheit des Geistes, bei Kierkegaard das Andere der so genannten
Krankheit zum Tode, auf die natürliche, speziell
seelische Gesundheit, gegen die sie der Verfasser
des Buches Die Krankheit zum Tode gerade abhebt. So wie jedenfalls eine leibliche Krankheit
irgendwann, meistens ohne Zutun des von ihr
16 In seinem Aufsatz «Über den Begriff der Arbeitsfähigkeit» von 1931 (Gesammelte Schriften 8, S. 97–113) fasst
Weizsäcker diesen Punkt genauer, indem er scharf
zwischen Wollen und Wollenkönnen unterscheidet. «Es
kommt dabei aber nicht darauf an, ob jemand will,
sondern ob und in welchem Leistungskreise er wollen
kann. [...] Gesund ist hier nur jemand, der das Gesollte,
nämlich Arbeiten, wollen kann, krank jemand, der das
Gesollte, nämlich Arbeiten, nicht wollen kann» (S. 108f.).
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Befallenen und jedenfalls gegen seinen Willen,
entsteht, eine Zeitlang unwillentlich fortbesteht
und schliesslich, vielleicht dank ärztlicher Hilfe,
aber ohne Verdienst des Kranken, zu bestehen aufhört, so ist jenem Buch zufolge für Leib und Seele
auch Gesundheit ein Geschenk, keine Leistung.
Die Gesundheit des Geistes hingegen muss der
Mensch stets neu erwerben, weil in jedem Augenblick, in dem er von dieser Anstrengung ablässt, die
Krankheit zum Tode, als eine im Geiste, seiner
Herr wird. Aber in Kierkegaards Verständnis
dieser geistigen Gesundheit geht nichts Soziales
ein. Dementsprechend enthält auch der in unserer
Schrift analog dazu gebildete Begriff einer unaufhörlich zu erzeugenden Gesundheit der Seele, trotz
der anderslautenden Versicherung des Verfassers,
kein Moment von Sozialität. Mit ihm sind nicht
einmal Grenzen gezogen, die Aussersoziales von
Sozialem abscheiden würden, so dass er wenigstens
innerhalb dieser Grenzen sozial bestimmt wäre.
In seiner Schlussbetrachtung nimmt Weizsäcker
denn auch auf soziale Verhältnisse in Wirklichkeit
keinerlei Rücksicht, nicht auf zwischenmenschliche und schon gar nicht auf gesamtgesellschaftliche.
Noch weiter als Weizsäckers abschliessender
Hinweis auf den Gesundungsprozess führt über
mein unmittelbares Thema, die soziale Krankheit,
die ihn so tief bewegende Frage nach der Beziehung von Arzt und Patient hinaus. Nicht nur
deswegen, weil mit ihr faktisch doch ein Aspekt
von sozial bewirkter Gesundung ans Licht tritt,
möchte ich diese Beziehung wenigstens noch
streifen. Sie verdient vor allem deshalb unsere
Aufmerksamkeit, weil Weizsäcker in der Reflexion auf sie seine grösste Tugend beweist, die der
Schonungslosigkeit, mit der er den Antagonismus
in der Stellung zumal des beamteten, begutachtenden Arztes zwischen dem Dienst am Staat und
dem Dienst am Kranken aufdeckt. Nach seiner
Einschätzung zieht der Dienst am Kranken in
diesem Konflikt den Kürzeren. So bekennt er:
«Zweifellos sind wir akademischen Ärzte in unseren Gutachten Opfer unserer amtlichen und
bürgerlichen Abhängigkeit auf Kosten unserer
ärztlichen Aufgabe geworden» (S. 78). Dies kann
nur jemand sehen, der beide Seiten ernst nimmt.
Auf der einen Seite legt Weizsäcker mit seinem
Bemühen um Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit tatsächlich das «Verhalten des sozialen Funktionärs» an den Tag, zu dem er «Gutachter, Ärzte,
Beamte» schon im Vorwort der Schrift (S. 33) verpflichtet. Ein derartiges Verhalten ist auch eines
gegen den Patienten. Offen spricht Weizsäcker
seine Überzeugung aus, dass wir heute nicht so sehr
die einzelnen schützen müssen gegen die Gesamt-
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heit als die Gesamtheit «gegen die andrängende
Not und die Ansprüche der einzelnen» (S. 41). Auf
der anderen Seite fordert er vom Arzt, im Umgang
mit dem Patienten die entschieden personbezogene Haltung einzunehmen, die er eine «umfassende» nennt (S. 50); und eine solche Haltung schadet notwendigerweise dem Staat. In diesem
Zweifrontenkrieg ficht der seinem Vorbild folgende Arzt den Streit aus, in den an sich jeder
Mensch hineingestellt ist: den Streit zwischen Person und Funktion. Der Streit ist nie zu schlichten.
Sofern jeder Mensch eine Funktion ausübt, ist er
dem sozialen Ganzen überantwortet, das ihn zum
Mittel seiner Erhaltung herabsetzt. Sofern er als
Person existiert, hat er seinen unendlichen Wert in
sich selbst, unabhängig von seinem Nutzen für das
Ganze, dem er dient.
Allerdings trägt der Funktionalismus in unserer
Schrift über den Personalismus den Sieg davon.
Dies folgt nicht nur aus Weizsäckers Einsicht in die
Notwendigkeiten der Hobbesianischen Situation
moderner Staaten. Es erklärt sich leider auch aus
der Schwäche seines personalistischen Ansatzes.
In seiner Ausrichtung auf «die Existenz des insuffizienten Menschen» (S. 39) zielt er zwar auf die
in allen Lebensbereichen sich verwirklichende Existenz ab, die der Personalismus im Auge hat. Aber
die ganzheitliche Existenz verschwindet bei der
Durchführung seiner Intention hinter der allein
wirklich thematisierten Existenz als ökonomischer
Subsistenz, als Basis für «die Arbeits- und Existenzfähigkeit eines Menschen» (S. 36).
Noch weniger will es ihm gelingen, den personalen Umgang zu einem dialogischen fortzubestimmen. Weizsäcker sieht in der dialogischen
Arzt-Patient-Beziehung die gute Mitte zwischen
dem schlechten Extrem eines gleichsam obrigkeitlichen Verkehrs und dem noch schlechteren Extrem einer «Haltung der wohlwollenden
Distanzierung», die in Wirklichkeit nichts als
Herablassung wäre (S. 50). Die beiden Extreme
sind als Verweigerung eines Gesprächs durchaus
überzeugend charakterisiert. Aber die Mitte
zwischen ihnen, die ihrer Idee nach dialogische
Beziehung, ist nur schwer als Gesprächsangebot
identifizierbar. Das als umfassend bezeichnete Verhalten ist so, wie Weizsäcker es darstellt, kaum
mehr als ein einfühlendes, wenn nicht gar instrumentalisierendes Sich-Hineinversetzen in den
Patienten.17
Dieser Befund nötigt zu einer letzten Überlegung grundsätzlicher Art. Den Begriff einer
umfassenden Haltung übernimmt Weizsäcker von
Martin Buber. Der Begriff war schon bei Buber
sehr vage gefasst. In unserer Schrift verschwimmen
seine Umrisse noch mehr, weil er in seiner bloss
appellativen Fassung nicht aufkommt gegen die
Zwänge des Staatsdienstes. Dies scheint symptomatisch für das Schicksal eines Dialogismus, der
sich auf ein gesellschaftstheoretisches Feld begibt.
Buber selbst und sein Weggefährte Rosenzweig –
um nur die unserem Autor am nächsten stehenden
Vertreter des Dialogismus zu nehmen – sind
bei dualen Ich-Du-Beziehungen stehengeblieben,
sie überschreitend nur in Richtung auf den im
mitmenschlichen Du begegnenden Gott. Wo der
Dialogismus dagegen auf gesellschaftliche Verhältnisse ausgreift, da erliegt er leicht gegensätzlichen und doch zusammengehörigen Gefahren.
Entweder tendiert er dazu, gesellschaftliche Verhältnisse unter Ansprüche zu stellen, die allein
in dialogischen Beziehungen erfüllbar wären, oder
er bildet die Tendenz aus, sie von jeder Verpflichtung zur Dialogizität zu entbinden. Der einen
Gefahr ist Eugen Rosenstock ausgesetzt.18 Mit
der anderen Gefahr kämpft Weizsäcker. Bei
ihm droht die Gesellschaft zu einer rein funktional organisierten Sphäre zu werden, in die wenig
von der Dialogizität zwischenmenschlicher Beziehungen ausstrahlt. Müsste ich wählen, so
würde ich mich gleichwohl für das Konzept Weizsäckers entscheiden. Denn eine Freigabe der gesellschaftlichen Sphäre auf sich wird immerhin
den Imperativen der Moderne gerecht, während
eine Sphärenvermengung prämoderne Strukturen
restauriert.
17 Den Verdacht einer geradezu antidialogischen Instrumentalisierung erweckt vor allem eine Passage, in der er
«die Benutzung eines gemeinsamen Lebens zur Erzielung
gewisser Gemeinschaftserlebnisse», die «Einbeziehung
der Umwelt zur Herstellung therapeutisch günstiger Situationen», eine «möglichst vollständig erstrebte Beeinflussung» der Mitwelt des Kranken fordert (S. 51 – Her-
vorhebungen M.T.). Zu berücksichtigen ist natürlich, dass
solche Mittel personalen Zwecken dienen.
18 In der Schrift zitiert wird Rosenstocks 1926 erschienenes
Buch Industrierecht (S. 88, Anm. 13). Besonders stark
macht sich die Neigung zur Dialogisierung gesellschaftlicher Verhältnisse in seiner Soziologie geltend (Band 1
Stuttgart: Kohlhammer 1956).
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