Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik 1 Rechtstheorie 2 2005 Gerhard Preyer Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik Die Inklusion ist zum Problem geworden. Verkannt wird nur, dass sie es immer gewesen und dass noch nie jeder Mensch nur als Mensch Mitglied einer Gesellschaft gewesen war. 1 Seit Anfang der 1990er Jahre ist Globalisierung auch in der Öffentlichkeit zu einem Kampfbegriff geworden. Die Unternehmerverbände fordern Deregulierung, damit Unternehmen im globalen Standortwettbewerb bestehen können, Globalisierungsgegner dagegen befürchten einen ungehemmten Kapitalismus und fordern durchgreifende Regulierungen, zum Beispiel der Finanzmärkte sowie die Erhaltung und Fortführung des Sozialstaates. A. Giddens unterscheidet zum Beispiel die Globalisierungsskeptiker, für die eine globale Wirtschaft sich nicht von der uns bekannten Weltwirtschaft unterscheidet, von den Radikalen, für die sich die Folgen von globalen Märkten heute in allen Lebensbereichen auswirken und die traditionelle Ordnungsmacht des Nationalstaats nach innen und außen nur noch eine Fiktion ist. Nach Giddens haben beide Positionen unrecht, da sie Globalisierung nur auf das Wirtschaftssystem beziehen und nicht das mit ihr einhergehende „revo2 lutionäre“ erkennen. Das ist eine zutreffende Auffassung. Vereinfachend können wir zwei Ansätze in der sozialwissenschaftlichen und soziologischen Forschung unterscheiden. Der eine analysiert Globalisierung als weltweite Beziehungen, Austausch und Bewegungen von Populationsteilen, Bildern, Gütern und Leistungen, ein zweiter geht von dem globalen historischen und 1 Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main 1993, S. 159. 2 Anthony Giddens, Die entfesselte Welt. Wie Globalisierung das Leben verändert, Frankfurt am Main: 2001, S. 18-22. 2 Gerhard Preyer politischen Ökonomie Ansatz aus, der mittlerweile Probleme der Kultur und 1 der sozialen Identität von Gruppen in die Analyse miteinbezieht. Worin besteht die veränderte Fragestellung der soziologischen Forschung, die uns zu einer Differenztheorie sozialer Integration führt? Das können wir an den bereits vorliegenden Forschungsergebnissen erkennen. Man mag zu diesem Ansatz unterschiedliche persönliche Meinungen hegen, dem Problem sollten wir uns unabhängig davon stellen. Wir können es annäherungsweise dahingehend umreißen, dass es sich auf die Auswirkungen von globaler Dynamik auf die lokale Lebenswelt auszurichten hat. Das hat Münch konzeptuell und substantiell weiter ausgearbeitet.2 Globale Probleme werfen die Frage auf, wie sie mit den vorhandenen Institutionen des politischen Systems auf nationaler und internationaler Ebene zu bewältigen sind. Das betrifft die Restrukturierung des politischen Systems, das segmentär in Staaten differenziert ist, die auf dem Weltmarkt für Protektion konkurrieren.3 Es stellt sich aber bereits die Frage, ob globale Dynamik und lokale Lebenswelt (Vielfalt) überhaupt noch miteinander abstimmbar sind. Daraus erklären sich viele, für uns oft unverständliche Vorkommnisse, so zum Beispiel der neue Ethnozentrismus, Nationalismus und die verschiedenen Versionen von Fundamentalismus, denen wir in einem globalen Weltsystem begegnen. Dazu gehört auch das Problembewusstsein, ob es sich bei solchen Abstimmungen überhaupt noch um ein politisches Problem handelt, das im politischen System einer Lösung zuzuführen ist. 1 Vgl. zu einer zusammenfassenden Darstellung Jonathan Friedman, Global System, Globalization and the Parameters of Modernity, S. 69-107, in: Mike Featherstone, Scott Lash, Roland Robertson eds., Global Modernities, London: 1995; zu einer zusammenfassenden Darstellung über die Weltsystemanalyse Thomas D. Hall, World-Systems, Frontiers, and Ethnogenesis: Incorporation and Resistance to State Expansion, S. 35-66, in: Gerhard Preyer, Mathias Bös eds., Borderlines in a Globalized World, New Perspectives in a Sociology of the World-System, Dordrecht 2002, zu einem Überblick über Globalisierungsbegriffe, mit Bezugnahme auf M. Castells „Neuer sozialer Morphologie“ einer globalisierten Welt siehe Barrie Axford, Enacting Globalization: Transnational Netwerks and the Deterritorialization of Social Relationship in the Global System, S. 99-124, in: Preyer, Bös eds., Borderlines. Zu den Folgeproblemen von Globalisierung und ihrer Dimensionen vgl. Gerhard Preyer, Die globale Herausforderung, Wie Deutschland an die Weltspitze zurückkehren kann, Frankfurt am Main 1998 (digitale Neuauflage 2003) und ders., Soziologische Theorie der Ge g e nw a rtsg e se llschaft. Mitgliedschaftstheoretische Untersuchungen, Veröffentlichung in Vorbereitung. Zu einer Auswahl aus dem Forschungstand vgl. auch Preyer, Bös, Introduction Borderlines in Time of Globalization: New Theoretical Perspectives, S. IXXVIII, in: Preyer, Bös, Borderlines. 2 Richard Münch, Globale Dynamik, lokale Lebenswelten, Der schwierige Weg in die Weltgesellschaft, Frankfurt am Main 1998. 3 Zu diesem Strukturproblem Volker Bornschier, Westliche Gesellschaft im Wandel, Frankfurt am Main 1988. Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik 3 Es häufen sich mittlerweile die Belege, dass der Anspruch auf Inklusion in die Funktionssysteme im Kontext eines globalen Weltsystems immer mehr in Frage gestellt wird. Das führt vermutlich zu einer neuen Differenzierungsform. Das belegen nicht nur die großen Exklusionsbereiche der Gettos, sondern auch die Migrationsströme. Inklusionsansprüche, ihre Selbstverständlichkeiten und die damit einhergehenden Wertordnungen „Freiheit“, „Gleichheit“, „Partizipation“, die das Bürgertum gegenüber den europäischen Aristokratien durchsetzte, konnten ohne große Schwierigkeiten durch die Verteilungspolitik des Sozialstaates als Programm der Herbeiführung von sozialen Kompromissen übernommen werden. Strukturprobleme von sozialer Integration können wir an dem Problembezug orientieren: Was bedeutet soziale Integration im Zeitalter der Globalisierung, das heißt, jenseits des Nationalstaates, und welche Rückwirkung auf die solidarische Integration des Nationalstaates hat Globalisierung? Welche Formen der solidarischen Integration werden sich im Zeitalter der Globalisierung herausbilden? Was bedeuten die grundlegend veränderten Teilnahmebedingungen am Wirtschaftssystem für die soziale Integration der Mitglieder von sozialen Systemen? Hat das moderne Recht in einem globalen Weltsystem eine Zukunft, oder ist die Angewiesenheit der Funktionssysteme auf die Operationalisierung des Rechtscodes doch nur eine Anomalie, die in der Evolution eines globalen Weltsystems rückgängig sein wird, wie es Luhmann vermutet hat? Wir sind mittlerweile mit dem Problem konfrontiert, dass die Vermehrung von Teilnahmechancen, sei es an kollektiven Entscheidungen (Modelle der demokratischen Partizipation), der Chancengleichheit bei der Teilnahme am ökonomischen Austausch, der Gleichheit der Bürgerrechte und des sozialen Ausgleichs durch den Wohlfahrtsstaat (Keynesianisches Gesellschaftsmodell) nicht mehr fortgesetzt werden kann.1 Das heißt aber, wir erleben das Ende der Allinklusion. Es ist eine Naivität, die zeitbedingten Inklusionsideologie des Sozialstaates zu einer normativen Orientierung zu stilisieren. Darüber hat man sich lange getäuscht. 1 Zu den evolutionären Inklusionen, die mit funktionaler Differenzierung einhergehen Preyer, Mitgliedschaftsbedingungen. Zur soziologischen Kerntheorie einer Protosoziologie, S. 110-12, in: Preyer Hrsg., Strukturelle Evolution und das Weltsystem, Theorien, Sozialstruktur und evolutionäre Entwicklungen, Frankfurt am Main 1998. 4 Gerhard Preyer Um die angesprochenen Problemstellungen soziologisch in den Griff zu bekommen, reinterpretiere ich die systemtheoretische Integrationstheorie N. Luhmanns vor dem Hintergrund einer Soziologie der Mitgliedschaft, um die veränderte Problemlage von sozialer Integration und die strukturellen Konfliktlagen zu beschreiben (1). In einem weiteren Schritt möchte ich die veränderten Grundlagen sozialer Integration an der Integrationstheorie der negativen und positiven Solidarität (Durkheim) verdeutlichen (2). Das führt mich zu einer Neuorientierung der Integrationstheorie (3). 1. Soziale Integration durch Mitgliedschaft Für die Analyse von sozialer Integration haben wir unter der Voraussetzung von Globalisierung viel differenzierter anzusetzen, als das üblicherweise geschieht. Dies auch deshalb, da gesellschaftstheoretisch die Differenz von Inklusion und Exklusion alle Teilsysteme dominiert. Es ist zur Problemklärung im Hinblick auf die veränderte Ausgangssituation hilfreich, vorläufig an Luhmanns Darstellung des Integrations- und Inklusions/Exklusion-Problems anzuschließen. Sie ist für eine Problemverschärfung hilfreich. Dabei ist davon auszugehen, dass funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems einen Differenzierungsvorgang zwischen den Teilsystemen, dem Organisationssystem und dem Interaktionssystem zur Folge hat. Soziale Integration ist nach diesem Ansatz nicht mehr über Konsens, auch nicht über Wertekonsens, zu erreichen, sondern als eine wechselseitige Einschränkung der Freiheitsgrade von sozialen Systemen zu erklären. Aus meiner Sicht sind diese Einschränkungen durch die Mitgliedschaftsbedingungen gegeben, wobei die Entscheidung über Mitgliedschaft fortlaufend zu treffen und zu kommunizieren ist. Das erfordert die Selektion von Mitgliedern durch die Teilsysteme und ist eine Voraussetzung für den Aufbau von systemeigener Komplexität. Es ist somit naheliegend, Integration als eine Variable (Mitgliedschaftsvariable) zu fassen. Damit ist nicht das Problem der Inklusion angesprochen. Hervorzuheben ist, dass mit diesem Anschnitt keine Vorentscheidungen im Hinblick auf eine Bewertungsrhetorik derart getroffen ist, ob Integration ‚gut‘, ‚schlecht‘, ‚wünschenswert‘ u.a.m. ist.1 Von besonderer Relevanz ist dabei, dass man bei der Angabe und Analyse von Bedingungen von Integrati- 1 Ausführlich zu Luhmanns Ansatz Maren Lehmann, Inklusion. Beobachtungen einer sozialen Form am Beispiel von Religion und Kirche, Frankfurt am Main: 2001. Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik 5 on/Desintegration auf ein Zeitverhältnis stößt, da „... alles, was geschieht, geschieht (wenn man es auf Zeit hin beobachtet) gleichzeitig“ 1. Die angesprochenen Einschränkungen von Freiheitsgraden sozialer Systeme betreffen somit die Entscheidung über Mitgliedschaft in den Teilsystemen und ihre Programmierung durch ihren Mitgliedschaftscode. Mitgliedschaft genügt der Anforderung der operativen Schließung des Teilsystems nach innen und außen. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass dadurch ein grundlegendes Problem von sozialen Systemen, das der Unsicherheitsabsorption, herbeigeführt wird. Die Funktion von Mitgliedschaft im Hinblick auf die Erhaltung der Außengrenze des Gesellschaftssystems betrifft ihre Nichtsubstituierbarkeit. Sie kann zum Beispiel durch keine besondere Funktion eines Teilsystems ausgetauscht werden, weder durch Recht, Argumente oder die Bewältigung von Knappheit. Die Gesellschaft entscheidet aber nicht über Mitgliedschaft, sondern im Falle von funktionaler Differenzierung legen die Teilsysteme die Teilnahmebedingungen in eigener Regie fest. Das Ereignis der Entscheidung über Mitgliedschaft findet immer gleichzeitig statt, ohne dass sich diese Entscheidungen beeinflussen könnten. Das erfordert, dass die Entscheidungen operativ signalisiert werden, damit sie von den Mitgliedern der Teilsysteme wahrgenommen werden können. Wir finden hier die Schnittstelle, die zur Entstehung der Mitgliedschaftsmedien führt. Mitgliedschaft enthält auch ein Zeitverhältnis, da wir immer nur eine bestimmte Zeit Mitglied in einem sozialen System sind. Wir erkennen daran, dass soziale Integration nicht etwas Festgefügtes ist, sondern sich in den Ereignissen über Entscheidungen über Mitgliedschaft, die es nur in der Gesellschaft geben kann, herstellt oder verhindert wird. Wir erkennen aber auch damit, dass soziale Integration durch strukturelle Überschneidung bedingt ist, an der immer mehrere soziale Systeme teilhaben, zum Beispiel ist die Mitgliedschaft im Wirtschaftssystem rechtlich normiert. Soziale Integration kraft Mitgliedschaft bedarf immer eines Mediums, das die differenzierten sozialen Einheiten, in denen wir Mitglieder sind, bindet bzw. koppelt. Wir können dies auch so beschreiben: Die evolutionäre Differenzierung des Gesellschaftssystems bedarf einer für die Differenzierungsform charakteristischen Stabilisierung, die durch Kopplung der differenzierten Einheiten erreicht wird. Diese Kopplung kann stark oder schwach ausfallen. Eine starke Kopplung sind zum Beispiel die Blutsbande der Verwandtschaft in Stammesgesellschaften sowie die organische Sozialordnung der Kasten und die Ständeordnung in der traditionalen Gesellschaft. 1 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, S. 605. 6 Gerhard Preyer Unter Inklusion versteht Luhmann eine Form, „deren Innenseite (Inklusion) als Chance der sozialen Berücksichtigung von Personen bezeichnet ist und deren Außenseite unbezeichnet bleibt.“1 Es geht dabei nicht um die Teilnahmebedingungen an Interaktionen oder den Zugang zu Organisationen. Personen sind soziale Hilfseinrichtungen der Zuschreibung. Parsons Annahmen über soziokulturelle Evolution als einer Vermehrung von adaptive upgrading, differentiation, inclusion and value generalization, werden von Luhmann nicht gerade bestritten, er nimmt aber eine Neubeschreibung der damit angesprochenen Problemstellung vor, indem er Formen der evolutionären Systemdifferenzierung unterscheidet. Sie legen strukturell InklusionenExklusionen fest. Statt von der „Form“ Inklusion könnte man auch von Systemmitgliedschaft sprechen, durch die der jeweilige Exklusionsbereich angegeben wird. Insofern reinterpretiere ich seinen Ansatz als eine Soziologie der Mitgliedschaftsbedingung. Mit funktionaler Differenzierung geht einher, dass es für Inklusion/Exklusion keine gesamtgesellschaftliche Steuerung mehr gibt. Die Entscheidung darüber ist den jeweiligen Teilsystemen überlassen. Die mit funktionaler Differenzierung einhergehende Inklusionsordnung führt zu der Idealisierung der „Vollinklusion aller Menschen“. Verkannt wird bei solchen Idealisierungen, dass die evolutionären Variationen von Inklusionen durch eine Differenzierung von Mitgliedschaftsbedingungen der jeweiligen Teilsysteme festgelegt und begrenzt ist. Das hat nicht verhindert, dass die Variabilität der Mitgliedschaftsbedingung zu entsprechenden Werten stilisiert und in politische Programme umgesetzt wurde. Gerade in den 1990er Jahren wurden zum Beispiel in der deutschen Politik die erschütterten „Werte“ wieder entdeckt. Man fragt zum Beispiel nach Werten und Trends, um eine Marketingstrategie für ein Produkt und politische Programme zu entwickeln. Es ist nicht sonderlich überraschend, dass eben durch die „Trends“ die „Werte“ kondensiert werden. Es drängt sich immer mehr auf, dass es sich bei der Hochstilisierung von Werten um eine ideengeschichtliche Semantik handelt, die nicht mehr soziologisch überzeugt. Das heißt aber nicht, dass sie sich nicht zur Ideologisierung im politischen System immer wieder zu eignen scheint. Werte scheinen sich auf Grund ihres unklaren ontologischen Status besonders gut dazu zu eignen, die Rolle der Motivierung übernehmen zu können, die aber in der Regel, vor allem im politischen System, enttäuscht wird. Diejenigen, die sich an absoluten Werten orientieren, haben dadurch einen scheinbar kommunikativen Vorteil, da es 1 Luhmann, Gesellschaft, S. 620-21. Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik 7 solche Werte erlauben, von vornherein zwischen Freund und Feind einteilen zu können. Das geht oft mit pathologischen Gewinnen für die Selbststabilisierung einher, die aber dann auch fatale Auswirkungen hat. Populationen haben erst die Schwelle der Systembildung und ihrer Mitgliedschaftsbedingungen zu passieren, um ihren Bestand in den Dimensionen zeitlich, sachlich und sozial mit den damit einhergehenden Beschränkungen zu erhalten. Das hat sich co-evolutiv eingestellt und steht für uns nicht mehr zur Disposition. Mitgliedschaftsbedingungen können ihrerseits inflationären und deflationären Prozessen ausgesetzt sein, zum Beispiel führt die Vermehrung der Teilnehmer am Wirtschaftssystem zu keiner Inflation von Teilnahmebedingungen, während die Erleichterung des Zugangs zum Universitäts-, politischen- und Gemeinschaftssystem inflationär wirkt. Insofern verzeichnen wir in diesen Bereichen auch entsprechende deflationäre Prozesse. Die Differenzierung der Inklusionsordnung besteht vor allem darin, dass die Struktur von sozialer Integration unter der Voraussetzung von funktionaler Differenzierung zu unterschiedlichen Solidaritätsmärkten geführt hat. Sie lassen sich kaum mehr aufeinander abstimmen. An den Bruchstellen dieser Märkte sind eine Abfolge von sozialen Bewegungen entstanden, die mehr oder weniger erfolgreich ihre Organisationsbildung bewältigt haben, zum Beispiel Gewerkschaften, Ökologiebewegung, Bürgerinitiativen und Frauenbewegung. Diese Märkte sind in unterschiedlichem Ausmaß innovierbar. Sie werden von den Oligopolen der Interessenverbänden dominiert, die aber auch in einem Verdrängungswettbewerb um Solidaritätsleistungen stehen. Dabei stellt sich vor allem bei der Steigerung von Solidaritätsleistungen das Problem der fortlaufenden Gewährung von Rechten und ihrer kulturellen Legitimation. Die alte Sozialpolitik, die, was oft nicht erwähnt wird, auch zu Ausgrenzungen geführt hat, wird unter diesen veränderten Bedingungen nicht mehr fortführbar sein. Im europäischen Vergleich ist hier New Labour in Großbritannien zu erwähnen, die soziale Integration nicht mehr als eine fortlaufende Subvention von Milieus der Armut aufrechtzuerhalten bereit war. Globalisierung als mediale Vernetzung verändert grundlegend die soziale Integration. Das führt tendenziell dazu, dass die negative Integration einseitig, ohne ihr positives Gegenstück vergrößert wird. Angesprochen sind damit die neuen Problemstellungen der Analyse von sozialer Integration und die Frage nach der Strategie ihrer Handhabung. Mitgliedschaftstheoretisch ist die neue Problemstellung dahingehend zu beschreiben, dass Exklusion durch 8 Gerhard Preyer funktionale Differenzierung herbeigeführt wird, das heißt, durch die damit einhergehenden Mitgliedschaftsbedingungen der Teilsysteme und der formalen Organisationen. Es fällt dabei immer schwerer und ist in globalem Maßstab nicht in Sicht, dass Exklusion in Zukunft durch das Modell des Wohlfahrtsstaates kanalisiert wird. Funktionssysteme und Organisationen entscheiden über Teilnahme und Ausschluss, das heißt, es tritt ein Exklusionsvorgang innerhalb der Teilsysteme ein. Beispiele dafür sind Arbeitslosigkeit, Rückzug, fehlender soziale Anschluss im Alter. Ein weiteres Folgeproblem des Abbaus von solidarischer Integration ist darin zu sehen, dass der Partikularismus der Netzwerke eine gruppenübergreifende Solidarität verhindert. Die Mitglieder der sozialen Gruppen verlieren die Verfügung darüber, was in ihrem sozialen Handlungsfeld geschieht, und es wird immer schwerer, zu ihm eine Bindung aufzubauen. Das betrifft die Gemeinden, Regionen und den Nationalstaat. Wir können das in den Vereinigten Staaten aber auch in Europa beobachten. Die Städte werden zunehmend ausschließlich ökonomische Funktionsbereiche. Sie werden immer mehr zu Vergnügungszentren, Elendsvierteln und abgegrenzten und bewachten Gettos der Gutsituierten. Die notierten Konfliktlagenkönnen kaum noch einer einheitlichen Lösung zugeführt werden. Durch die Nationalstaaten können sie nicht mehr bewältigt werden. Sie beschreiben die Bruchstellen der solidarischen Integration, die durch die Dynamik eines globalen Weltsystems noch verschärft werden. Das wird dadurch verstärkt, dass globale Märkte mittlerweile in allen sozialen Systemen ihre Spuren hinterlassen. Sie sind nicht mehr durch Programme des politischen Systems, aber auch nicht mehr durch wirtschaftliches Wachstum und damit ermöglichte Umverteilung zu beheben. Das betrifft auch die Verallgemeinerung des Demokratieprogramms des politischen Teilsystems, da nicht zu erkennen ist, wie es auf die internationale Politik erfolgreich übertragen werden kann. Hier hat die Soziologie die richtigen Fragen zu stellen, um die Auflösung und die Folgen der Restrukturierung der Teilsysteme zu erfassen. Die angesprochenen Konfliktlagen führen immer mehr zu einer Desolidarisierung, die sie zunehmend verschärfen. Es betrifft dies die strukturellen Konflikte, die durch die Dynamik eines globalen Weltsystems herbeigeführt werden. Angesprochen sind dabei: 1. Die wirtschaftliche Globalisierung, da durch ein globales Wirtschaftssystem neue sozialpolitische Konflikte herbeigeführt werden. Unternehmen nehmen immer mehr ihre komparativen Kostenvorteile wahr und Wachstum erfolgt in globalen (transnationalen) Herstellungs- und Vertriebsketten. Das Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik 9 führt zu neuen Beschäftigungsstrukturen, zu denen auch Lohndumping gehört. 2. Globalisierung bewirkt aber auch ökologische Verteilungskonflikte, da durch die Herstellungs- und Transportketten, Konsumtion und Freizeitverhalten eine Übernutzung von natürlichen Ressourcen stattfindet. 3. Die kulturelle Globalisierung bringt weiter Konflikte zwischen autochthoner und kommerzieller Kultur sowie zwischen Zentrumskultur und peripheren Kulturen hervor. Autochthone Kulturen erheben gegenüber der Einheitskultur den Anspruch auf ihr eigenes Recht und wehren sich gegen ihre Vereinnahmung durch einen globalen Kulturmarkt. Periphere Kulturen wirken dem Anspruch der Zentrumskultur auf nationaler und globaler Ebene entgegen und melden ihr gegenüber ihre Ansprüche an. Das hat einen Konflikt zwischen Multikulturalismus und individualistischem Universalismus zur Folge, der kaum mehr auszugleichen ist. 4. Durch die wirtschaftliche Nutzung von technologischen Innovationen werden aber auch neue moralisch-ethische Konflikte herbeigeführt, da durch sie Situationen herbeigeführt werden, die nicht mehr durch die konventionelle Moral gedeckt sind, zum Beispiel die Anwendung der Genforschung für medizinische Diagnostik und die Transplantationsmedizin. 1 Das ist uns mittlerweile zunehmend bewusst und Thema sozialwissenschaftlicher Forschung. Soziologisch bedeutet dies, dass die klassische Integrationstheorie, die als Einheit der Gesellschaft Normen (Basisnormen), verallgemeinerte Werte und einen Basiskonsens annahm, nicht mehr überzeugen kann. Das hat weitgehende Folgen für die Theorie sozialer Systeme und die Gesellschaftstheorie. Wir erkennen aber auch daran, dass durch die strukturellen Konflikte eine Differenzierung der Inklusionsordnung nach Mitgliedschaften herbeigeführt wird. 2. Negative und positive Solidarität Wir können uns die Veränderungen der Grundlagen von sozialer Integration, die durch Globalisierung aber auch durch die Europäisierung herbeigeführt werden, an Durkheims Integrationstheorie der negativen und der positiven 1 Münch, Globale Dynamik, lokale Lebenswelten, S. 415-22. 10 Gerhard Preyer Solidarität verdeutlichen.1 Das führt mich zur Neuorientierung der Integrationstheorie. (a) Negative Solidarität Von negativer Solidarität sprechen wir dann, wenn Mitglieder von sozialen Systemen in der Einräumung der Verfolgung von Handlungsrechten übereinkommen. Das betrifft ihren formalen Mitgliedschaftsstatus. Dieser besondere Mitgliedschaftsstatus wird durch das Eigentumsrecht gewährleistet, der Streit um eine Sache und gewaltsame Aneignung vermeidet. Das führt zu einer Konfliktvermeidung. Diese Handlungsrechte bewirken in ihrer Ausübung insofern eine negative Solidarität der Mitglieder, da sie dadurch unabhängig voneinander ihre Interessen verfolgen können. Negative Integration betrifft den Abbau von Handelshemmnissen und den freien Kapitalverkehr im Wirtschaftssystem. Das Gegenstück dazu ist die Anerkennung dieser Rechte der Mitglieder untereinander und die Einrichtung von Instanzen, welche die Einhaltung dieser Anerkennung autoritativ gewährleisten. Daran ist erkennbar, dass der formale Mitgliedschaftsstatus einer formalen Regelung unterliegt. Negative Solidarität führt zu einer Indifferenz der Mitglieder untereinander, da sie eine starke Bindung an Traditionsgemeinschaften tendenziell durch die wirtschaftliche Interessenverfolgung neutralisiert und auflöst. Die „heilige Tradition“, wie es M. Weber genannt hat, definiert somit nicht gesellschaftliche Gemeinschaft als Ganze. Zu ihr gehören als Gegensteuerung gegenüber den Auswirkungen des wirtschaftlichen Handelns staatlich-regulierende Eingriffe in das Wirtschaftssystem, mit dem Ziel, nicht erwünschte Nebenwirkungen, wie zum Beispiel erhebliche Ungleichheiten, ökologische und technische Risiken, zu verringern. Wir erkennen daran, dass negative Solidarität durch eine strukturelle Überschneidung von Leistungen und Produkten zwischen dem rechtlich verfassten politischen System und dem Wirtschaftssystem herbeigeführt wird, welche die allgemeinen Teilnahmebedingungen verändert, da diese nicht mehr durch Traditionsgemeinschaften vorgegeben sind. 1 Münch, Offene Räume, Soziale Integration diesseits und jenseits des Nationalstaats, Frankfurt am Main 2001, S. 180-82, Karl Otto Hondrich, Claudia Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main: 1994, zu Begriff und Formen von Solidarität und den konstitutiven Bedingungen von Solidarität und ihren „Wandlungen“ und „Verwandlungen“ 12-24, Hondrich, Der Neue Mensch, Frankfurt am Main 2001, S. 103-111. Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik 11 (b) Positive Solidarität Positive Solidarität bedeutet eine Schließung der gesellschaftlichen Gemeinschaft und eine Steuerung der Optionen ihrer Mitglieder. Das heißt, der Mitgliedschaftsstatus in einer Gemeinschaft ist dadurch bestimmt, dass er die Spielräume der Optionen seiner Mitglieder untereinander begrenzt. Positive Solidarität schließt eine Gemeinschaft nach innen und außen. Dazu gehört: 1. Die Mitglieder von sozialen Systemen erkennen sich gegenseitig Spielräume der Interessenverfolgung zu. Marktbeziehungen sind dazu eine vorteilhafte Voraussetzung. Man rechnet dazu zivile, politische, soziale und kulturelle Rechte. Die Zuerkennung betrifft die Mitgliedschaft in der sozialen Gemeinschaft, die derart verfasst ist, dass sie Differenzerfahrung und formale Zugehörigkeiten ohne starke soziale Bindungen erlaubt. 2. Konflikte werden durch rechtlich normierte Verfahren entschieden. Die Versachlichung und Verrechtlichung des Gemeinschaftshandelns betrifft die restitutive Sanktion (Durkheim), das heißt, an die Stelle der restriktiven Sanktion tritt die Equity. Das betrifft eine soziale Gemeinschaft, deren Mitglieder bestimmte Billigkeitsforderungen teilen und achten. Das Mitgliedschafts- und Kommunikationsmedium der Achtung ist aber selbst inflationären und deflationären Prozessen ausgesetzt. Das ist in ihm strukturell angelegt, da Achtung nicht zeitunabhängig erteilbar ist. Sie ist aber oft in Organisationen ritualisiert, sei es durch Unternehmenslegenden, Rituale u.a. 3. Rechtliche Instanzen sanktionieren erfolgreich die Abweichungen der Mitglieder. Das setzt voraus, dass die Rechtsgeltung tatsächlich durchgesetzt werden kann. Dies ist nur dann erfolgreich, wenn die Rechtsordnung ihrerseits nicht unterhöhlt und durch eine Gesetzesflut zunehmend disfunktional geworden ist. Das Integrations- und Mitgliedschaftsmedium der positiven Solidarität ist somit das Recht. Insofern kann man auch von rechtlicher Solidarität einer Rechtsgemeinschaft sprechen. Die Verrechtlichung des Gemeinschaftshandelns durch das Zivilrecht und die Zivilgerichtsbarkeit belegt dabei das Ausmaß der Durchsetzung von positiver Solidarität. Unter der Voraussetzung von Globalisierung, stellt sich verschärft die Frage nach der Zukunft des Rechts. Das drängt sich auf, da das Recht in diesem Zusammenhang zwar nationalstaatlich organisiert ist, aber den vermehrten Regelungsbedarf nur noch schwer gewährleisten kann. Davon ist auch die Geltung von Rechtsnormen betroffen, die zunehmend verzeitlicht 12 Gerhard Preyer werden. Es ändern sich in einem globalen Weltsystem die Erwartungen an das Recht, das diese wiederum nicht erfüllen kann. Das erklärt uns vermutlich die Probleme der Normierungen, nicht nur beim Umweltrecht, sondern auch bei der rechtlichen Absicherung des Sozialstaates. Damit wird Recht zu einem Risiko für die davon Betroffenen. Davon ist auch die Rationalität des Rechts betroffen, da sie an die Rationalität des Gesetzgebers rückgekoppelt ist. Es verstärkt sich mittlerweile der Eindruck, dass Recht durch diese Struktur nicht ohne weiteres rationaler wird. Die Probleme liegen vermutlich darin, dass es zwar Gesellschaft ohne Recht nicht geben kann, dass aber seine globale Unsicherheitsreduktion nicht mehr erfolgreich, das heißt, für alle Teilsysteme gewährleistbar ist. Das macht Recht selbst zu einem Problem. Man braucht nicht zu bestreiten, dass es in einem globalen Weltsystem einen rechtlichen Regelungsbedarf gibt, sondern die soziologische Beschreibung hat einen Zugang zu dem Inklusions-Exklusionsproblem, somit zu den Mitgliedschaftscodes und ihrer Operationalisierung zu finden und es von der klassischen Frage nach der sozialen Integration sowie der Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung abzutrennen. Es ist sich auch deutlich vor Augen zu führen, dass die strukturelle Überschneidung zwischen dem Rechts- und den politischen System durch eine Verfassung in einem globalen Weltsystem keine Institutionalisierungschance haben wird. Die dadurch hervorgerufene Situation im Verhältnis von Recht und Gesellschaft erfordert noch eine gründlichere Analyse. Wir befinden uns vermutlich in einer Situation in der die Rechtsform der „subjektiven Rechte“ nicht mehr die Einheit von Recht und Gesellschaft stiftet. Das betrifft die erkennbaren Grenzen der liberalen Rechtstheorie. Man wird vermutlich doch nicht umhinkommen, Luhmann zuzustimmen, dass Konsens keine Bedingung der Rechtsgeltung ist. Es ist deshalb zu erklären, wie „soziale Abstimmung statt dessen“ gelöst wird. Damit ist die Evolution von Kompetenznormen und den sie einschränkenden Verfahren angesprochen. Für die evolutionäre Differenzierung des Rechtssystems ist dabei die Stellung der Gerichte im Rechtssystem grundlegend. Die positive Solidarität bedeutet jedoch nicht nur rechtliche Solidarität in einer Rechtsgemeinschaft. Sie besteht weiter 4. in einer gemeinsamen Verbundenheit. Sie wird durch die Dichte der Arbeitsteilung, Häufigkeit von Kontakten, Bürgersinn und gemeinsame Herkunft befördert und stabilisiert. Zu ihr gehört aber auch 5. die Billigung von Gerechtigkeitsforderungen nach einem sozialen Ausgleich von Ungleichheiten durch die Mitglieder des sozialen Systems. Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik 13 Gerechtigkeit unterliegt unterschiedlichen Interpretationen, zum Beispiel als Resultatsgleichheit, Fairness, fairer Anteil oder administrative Gleichbehandlung. 6. Die gemeinsame gefühlsmäßige, biographische, berufliche u.a. Verbundenheit bedeutet einen Vorrang der Mitgliedschaftszugehörigkeit von Gruppen vor den einzelnen Mitgliedern und 7. einen Vorrang der eigenen Gruppe vor anderen. Als Mitglieder des westlichen Kulturkreises neigen wir dazu, zu verkennen, dass sich eine universalistische Ethik nicht allgemein verbreitet hat. Für uns ist Solidarität auch immer eine freie Entscheidung, gleichzeitig stehen uns unsere solidarischen Beziehungen, in denen wir leben, nicht frei zur Disposition. Sie zwingen uns auch. Soziologen haben immer wieder herausgestellt, dass eine universalistische Ethik ihrerseits auf Familialismus angewiesen ist. Zudem ist hervorzuheben, dass eine universalistischer Markt moralischer Achtung von der Anlage her instabil ist. 1 Das Integrations- und Mitgliedschaftsmedium dieser positiven Solidarität ist das Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie wird durch die Dichte der Arbeitsteilung, politische Übereinstimmung, gemeinsame Gruppenzugehörigkeit aber auch die Höhe des sozialen Budgets herbeigeführt. Die Erfüllung der Bedingungen 1 - 7 zeigen an, in welchem Ausmaß solidarische Integration durch Mitgliedschaft vorliegt. An dem Ausmaß der sozialen Integration in 4 - 7 ist erkennbar, dass sie die Optionen der Interessenverfolgung der Mitglieder von sozialen Systemen verringert, da die askriptive Mitgliedschaftsbedingung in der jeweiligen Gruppe die Wahlfreiheit einschränkt. An sie ist man als Mitglied gebunden, und sie gibt jedem Mitglied das Commitment vor. Die Mitgliedschaftsbedingung entscheidet somit über die Struktur sozialer Integration. Das Dilemma von sozialer Integration als solidarischer Integration besteht darin, dass sie unter der Voraussetzung von Globalisierung und Europäisierung immer mehr paradoxe Auswirkungen hat, die nicht mehr durch eine höhere Instanz harmonisierbar sind. Eine solche höhere Instanz war der Nationalstaat.2 Verfügen die Mitglieder von sozialen Systemen über einen breiten Spielraum ihrer Optionen, den ihnen ihr jeweiliger Mitgliedschafts1 Hondrich, Der Neue M e n s c h , S. 106-07, 108-111, Münch, Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt am Main, 1995, S. 214-40. 2 Dazu unter dem Stichwort „Dezentrierung des Nationalstaates“ Timothy W. Luke, New World Order or Neo-World Orders: Power, Politics and Ideology in Informationalizing Glocalities, S. 9799, in: Featherstone, Lash, Robertson eds., Global Modernities. 14 Gerhard Preyer status einräumt, um so größer sind mögliche negative externe Wirkungen, zum Beispiel Kooperationsverweigerung, Zynismus, Ungerechtigkeit, Kriminalität. Werden dagegen die Optionen der Mitglieder durch den Mitgliedschaftsstatus übersteuert, so führt das zu einer Unterdrückung von Innovation durch Gemeinschaftszwang. Der Rückgang von Solidarität auf der Basis von askriptiv-privilegierten Mitgliedschaftsbedingungen (Familie, Nachbarschaft) hat in den Wohlfahrtsstaaten dazu geführt, dass sie durch das Wohlfahrtssystem und Selbsthilfegruppen kompensiert werden. Gerade die Selbsthilfegruppen sind ein Beispiel dafür, wie Solidarität jenseits eines staatlichen Wohlfahrtssystems gewährleistet und fortgeführt werden kann. Das erfordert aber eine andere Einstellung zu dem Solidaritätsproblem. Damit sind auch die Kirchen angesprochen. Die Paradoxie der sozialen Integration jenseits der Stabilisierung von Nationalstaaten führt uns zu dem Problem des Scheiterns der Allinklusion und zu einer Differenztheorie der Inklusionsordnung. Das wird vor allem durch die weltweiten Migrationsströme belegt. Die sozialwissenschaftliche Forschung belegt diesbezüglich, dass diese Wanderungen weiterhin anhalten werden. 3. Zur Neuorientierung der Integrationstheorie Wir leben in einer mobilisierten Gesellschaft, von der Ökonomie, Politik, Solidarität und Kultur erfasst sind. Dabei verändert sich Gesellschaft, Organisation und Interaktion derart, dass ein strukturelles Gefälle zwischen diesen entsteht: Interaktionen müssen beendet und angefangen werden, Gesellschaft ist dagegen eine Ressource (Luhmann: ein Ökosystem), die garantiert, dass mit beendeten Interaktionen die Gesellschaft nicht aufhört. Gesellschaft ist nicht mehr kommunikativ erreichbar. Dies erzwingt meines Erachtens die Dominanz von restrukturierten askriptiven Solidaritäten, zum Beispiel durch Austausch von bestimmten Leistungen gegen bestimmte Anerkennung, professionelle, ethnische und regionale Gruppenidentitäten, aber auch durch nationale Askription, die auch in einem globalen Weltsystem nicht verschwinden wird. Das ist eine Folge der Differenzierung der Inklusionsordnung und ein Mechanismus der Restrukturierung von sozialer Integration in einem globalen Weltsystem. Formalen Organisationen kommt dabei die Funktion zu, die Inklusionsoffenheit der Teilsysteme zu limitieren. Sie können aber, und das gehört mit zu ihrer Funktion, Inklusion nicht institutionalisieren. Das heißt, dass sie die Gewähr dafür übernehmen, dass der Anspruch auf personale Berücksichtigung in den Teilsystemen durchgesetzt werden Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik 15 kann. Sie haben eine ganz andere Funktion, das wirkt sich auch bei der organisationellen Bewältigung der Konfliktfelder in einem globalen Weltsystem aus, da es gerade nicht ihre Funktion ist, allgemeine Teilnahme, sei es an wirtschaftlichem Wohlstand, politischer Partizipation oder kultureller Vergemeinschaftung, herbeizuführen. Im globalen Weltsystem erfahren wir das Ende der Inklusionslogik, somit der Allinklusion und des Modernismus. Dafür fehlt es nicht an Belegen. In den Exklusionsbereichen sind keine Rechte durchsetzbar. Es genügt eigentlich schon, in einem Getto geboren zu sein, um aus den Karrieren der Teilsysteme ausgeschlossen zu sein. Integration in einem globalen Weltsystem ist nicht mehr ein Wachstumsprozess, sondern sie wird – vermutlich in Zukunft noch mehr – einer Dauerkrise von Inflations-Deflationsprozessen ausgesetzt sein. Vor allem wird eine solidarische Integration auf Dauer nicht mehr durch Subventionierung herzustellen sein, die immer auch Ausgrenzungen stabilisiert hat. Die Alternative dazu ist das Angebot der Mitgliedschaftsteilnahme an Unterstützungsbedürftige, das heißt, die Vergrößerung von Beschäftigung und die Verbreitung von Sozialunternehmen. Erfolg oder Misserfolg wird dabei, um mit Schumpeter zu sprechen, durch eine „schöpferische Zerstörung“ herbeigeführt. Das heißt aber, dass die durch den Strukturwandel eintretenden Ungleichgewichte fortlaufend nicht zu beseitigen sein werden. Worin besteht der Fluchtpunkt der positiven Integration (Solidarität) unter diesen veränderten Voraussetzungen? Luhmann kommt zu dem Ergebnis, und das wird die gesamte Integrationstheorie verändern, dass „die Exklusion viel stärker (integriert) als Inklusion“.1 Im Exklusionsbereich zählt nur noch der Körper, man ist Mitglied durch die Funktionsweise seines Körpers.2 Der Inklusionsbereich kann dagegen durch Distanz integrieren, das heißt, es können große kommunikative Schleifen eingerichtet werden. Generalisierte Achtung als Mitgliedschaftsmedium der Integration führt zu einer schwachen kommunikativen Kopplung, da sie eine Distanzierungen der Mitglieder von sozialen Systemen ohne Konflikte erlaubt. Das ermöglicht eine anspruchsvollere Kommunikation. Sie ist nicht auf dauerhafte Bestätigungsrituale und hohe Kontaktdichte, die in der Regel zu Reibungen führen, angewiesen. Sie kann dadurch auch leichter Interessenkonflikte kanalisieren oder durch Kooperationen überbrücken. Genau dieser Umstand macht den Inklusionsbereich stabil und erlaubt eine selektive Kommunikation. 1 Luhmann, Soziale Systeme, Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 631. Luhmann, Soziale Systeme, S. 632-33. 2 16 Gerhard Preyer Entgegen der These der Individualisierung ist hervorzuheben, dass zwar die Traditionsverbände der Kirchen, Parteien und Gewerkschaften an Mitglieder verlieren, das heißt aber nicht, dass ein Prozess der Atomisierung festzustellen ist. Im Gegenteil, es entsteht immer mehr eine Vielfalt von Initiativgruppen, deren Mitglieder sich nach besonderen Interessen organisieren, zum Beispiel in der Nachbarschaftshilfe, dem Tierschutz, der Entwicklungshilfe u.a.m. Hinzuweisen ist auch darauf, dass man sich im klaren darüber sein muss, dass auch die durch Globalisierung herbeigeführte Umstrukturierung des Arbeitsmarktes Desintegration nicht verhindern wird. Sie wird auch von ihm herbeigeführt. Insofern müssen wir davon ausgehen, dass in nicht absehbarer Zeit, auch bei einer günstigen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt, durch die ihn umgestaltenden Innovationen, ein Beschäftigungsgefälle nicht beseitigbar ist. Die Chance für eine Kompensierung dieser strukturellen Mängel besteht vermutlich nur darin, wenn zum Beispiel der Arbeitsmarkt für gemeinnützige Dienstleistungen durch unterschiedliche zivilgesellschaftliche Vereinigungen und Gemeinwohlunternehmen vergrößert wird.1 Gerade durch den Verlust des Steuerungsmonopols und der Steuerungskompetenz des Nationalstaats eröffnet sich ein neuer Spielraum für die Reinterpretation von Demokratie auf der Ebene der Städte und Gemeinden. Das ist durch die Struktur und die Dynamik des Wirtschaftssystems begründet, da im Standortwettbewerb die Regionen und ihre Strukturpolitik entscheidend sein werden und gerade nicht die ganze Nation. Darauf muss sich die Wirtschaftspolitik einstellen. Zu dem Standortwettbewerb um Investitionen gehört auch, dass die Regionen als Lebensraum attraktiv sind. Gehen wir zum Beispiel davon aus, dass die Universitäten von der Bevormundung durch die Kultus- und Wissenschaftministerien befreit sind und in einen offenen Wettbewerb treten, dann wird ihre Einbindung in die Region ein neues Gewicht für sie bekommen, da sie einer lokalen Unterstützung bedürfen. Das wird zu einer engeren Vernetzung zwischen Universität, Unternehmen und Städten führen, die nicht ihrer wissenschaftlich globalen Orientierung und Operation widerspricht, sondern diese ergänzt und dadurch sich gegenüber Marktinteressen öffnet. Es lässt sich dann auch nicht ausschließen, dass die Modernisierung der Städte, die wir in den letzten fünfzig Jahren erlebt haben, weniger verunstaltend ausfallen wird. Diese Restrukturierung ist ein Imperativ, der auf uns zukommenden Veränderungen. Für Europa zum Beispiel wird dies durch die Verlagerung der Entscheidungs1 Zu dem Erfordernis der Aktivierung der Zivilgesellschaft Münch, Offene Räume, S. 102-12, zu der Rolle von Sozialunternehmen, S. 112-19. Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik 17 kompetenzen nach Brüssel verstärkt werden, da wir nicht davon ausgehen sollten, dass in Europa eine vergleichbare Homogenisierung herbeigeführt wird, wie dies in den Nationalstaaten der Fall war. In ihrer Geschichte war sie immer auch ein Problem gewesen. Wir brauchen nicht davon auszugehen, dass die nationale Repräsentationsdemokratie gänzlich verschwindet, sondern es geht um eine Restrukturierung in einem Mehrebenenmodell von lokaler Demokratie, supranationaler Koordination und globaler Kooperation. Es ist aber in diesem Zusammenhang noch auf einen anderen Umstand aufmerksam zu machen, der unter dem Titel „Paradoxien der sozialen Ordnung“ notiert wird.1 Man neigt bis heute immer wieder dazu, das Integrationsproblem vom moralischen Standpunkt aus zu beschreiben und zu reinterpretieren. Das mag je nach kulturellem Hintergrund auch plausibel sein. Es gibt aber auch andere Einsichten. Man hat sich immer wieder gefragt, worin die Stabilität des modernen Kapitalismus besteht. Darauf mag man unterschiedliche Antworten bereit haben, zum Beispiel, dass durch Marktmechanismen gelernt wird, ein sozialer Kompromiss institutionalisiert wurde u.a. Ein Gesichtspunkt ist aber auch, dass er – das gilt für soziale Systeme generell – „seine Stabilität dem Einbau seiner beständigen Destabilisierung, seiner begrenzten Negation – durch Krisen, Konkurse und Streiks – in das System“ verdankt.2 Das würde bedeuten, dass solche begrenzte Negation eine Kohäsion in sozialen Systemen herbeiführt. Sie wird durch Beobachtung, Interesse, Ambivalenzen, Bewältigung der Folgeprobleme der Problemfelder mitverursacht. Soziale Integration kann in einem globalen Weltsystem nicht mehr die Integration in eine seine Mitglieder umfassende gesellschaftliche Gemeinschaft heißen. Eher wird das Gegenteil der Fall sein. Die neuen ethnischen Konflikte und der neue Nationalismus werden schwer begrenzbar sein. Zudem wird durch die neuen Atommächte eine Friedenspolitik fortlaufend erschwert. Wir haben uns innerhalb dieses Systems auf soziale Verwerfungen, Unsicherheiten, anomische Entwicklungen und Ausgrenzungen einzustellen. Insofern ist damit zu rechnen, dass sich die Solidaritätsmärkte stärker nach Maßgabe von askriptiven Solidaritäten formieren. Die im Zuge von Glokalisierung und der Expansion der Teilsysteme eröffnete Neuschöpfung von solidarischer Integration kann nur in den erkennbaren vergrößerten Zonen 1 Günther. Ortmann, Die Regeln und die Ausnahme. Paradoxien der sozialer Ordnung, Frankfurt am Main: 2003. 2 Ortmann, Die Regeln, S. 115. 18 Gerhard Preyer der Interpenetration zwischen Diskursen, Märkten, Vereinigungen und politischen Entscheidungsverfahren vorgenommen werden, welche die Handlungsfelder durch Vernetzung, Kommunikation, Aushandeln und Kompromissbildung restrukturieren. Die kulturelle, politische und ökonomische Mobilisierung kann die dadurch erzeugten Konflikte nur dann konstruktiv lösen, sofern „vermittelnde Institutionen“ den Austausch von Leistung und Konfliktlösung regeln.1 Eine so restrukturierte askriptive Solidarität erfüllt das strukturelle Erfordernis, dass Inklusionen auf der Ebene des Gesellschaftssystems schwach und Exklusionen stark ausgeprägt werden. Das ist zwar keine ganz neue soziologische Einsicht, aber diese Strukturierung von Inklusion und Exklusion wird durch die Differenzierungs-, Grenzprozesse und veränderten Interpenetrationen in einem globalen Weltsystem zunehmend verstärkt werden. Sie betrifft Selektionen, die durch die Zunahme von Beschleunigung, veränderte Qualifikationsstrukturen (Stichwort „Wissensarbeiter“), das Erfordernis der Ausprägung von kollektiver Intelligenz und die durch die modernen Kommunikationstechnologien fortlaufende vorgenommene Umschichtung von Zentralisierung und Dezentralisierung herbeigeführt werden. Das Programm der Moderne der letzten zwei Jahrhunderte bestand in einer Optimierung von Rechten und Interessen und in der Teilhabe aller Gruppen an dem materiellen Wohlstand. Darin bestand kein Unterschied zwischen linken und rechten politischen Programmen. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert vollzieht sich ein Paradigmenwechsel der Moderne, der schon lange vorbereitet war. Die Partizipationsideologien, die zwar immer noch zur Rhetorik und Ideologie des politischen Systems gehören, erweisen sich immer mehr als hohl. Insbesondere gilt dies für Deutschland und die strukturellen Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Die Besitzstandwahrer, vor allem die Gewerkschaften, blockieren mit einer Rhetorik aus dem 19. Jahrhundert jede angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Dabei werden sie durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht unterstützt, welche die Tarifautonomie, die auf ein Monopol auf Arbeitsplätzen hinausläuft, geradezu zu einem Rechtsinstitut gemacht hat. Die Tarifkorridore mit denen in der Regel von den Gewerkschaftsvertretern Rhetorik betrieben wird, sind nicht weitgehend genug. Auf dem Ist-Stand des Jahres 2003 können wir uns nicht der Einsicht entziehen, dass die Arbeitskosten in Deutschland zu hoch sind. Ohne eine Veränderung dieser Grundsituation wird des Beschäftigungsproblem nicht zu lösen sein. Die Struktur wird nicht fortbestehen können 1 Münch, Die Dialektik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt am Main 1991, S. 306-07. Luhmanns Theorie der sozialen Differenzierung – Das Ende der Inklusionslogik 19 und nicht nur aus demographischen Gründen. Die Unternehmen werden weiter abwandern. Sollte in den nächsten drei Jahren, keine grundsätzlichen Veränderungen herbeigeführt werden, wird ein weiterer Abwanderungsschub von Unternehmen zu erwarten sein. Daran ist erkennbar, dass die Inklusion ins Wirtschaftssystem im Fortgang erheblich differenziert und stratifiziert werden wird. Eine Differenztheorie der Inklusionsordnung wird das Problem der sozialen, aber auch der solidarischen Integration, auf mehreren Ebenen thematisieren und analysieren, dem der Restrukturierung der großen Funktionssysteme, der Organisationsbildung, der Vernetzung, der virtuellen Gemeinschaften u.a. Sie bricht mit der soziologischen Tradition, welche die Einheit des Sozialen in etwas Normativem zu erkennen glaubt resp. sie gibt auf die Trivialität, dass es Soziales nicht ohne soziale Normen geben kann, eine andere Antwort.1 Die Lösung der strukturellen Konflikte der gesellschaftlichen Entwicklung können nicht mehr mit den herkömmlichen Deutungsschemata des Modernismus und den Paradigmen der Moderne (Intellektualisierung als Fortschritt in der Abstraktion, Vermehrung der individuellen Rechte und Umverteilung) interpretiert und in dem Keynesianischen Gesellschaftsmodell einer Lösung zugeführt werden. Rückblickend ist uns mittlerweile bewusst, dass das 19. Jahrhundert als das ideologische Jahrhundert charakterisiert werden kann, das mit seinen Ideologien das 20. Jahrhundert dominiert hat. Das betrifft zum Beispiel die von den Teilsystemen entworfenen Gesellschaftsbeschreibungen der Wirtschafts- und Staatstheorien und die Karriere der Inklusionsbegriffe Gemeinschaft, Genossenschaft, Solidarität, Demokratie. Es geht nicht mehr um die Verwirklichung des Integrationsmodelles der Partizipation, sondern darum, wie wir leben wollen. Das ist aber nicht nur eine individuelle Entscheidung, sondern betrifft den Umbau der Mitgliedschaftsbedingungen der großen Teilsysteme. Es wird abzuwarten sein, welche Entwicklungen und Innovationen durch diese Konflikte eintreten werden. Erkennbar ist zudem, dass soziale Evolution die ökologische Problematik und die Nicht-Abstimmung der soziokulturellen Evolution mit natürlichen und menschlichen Ressourcen bewältigen muss. Es sind dies Probleme, mit denen sie – bis jetzt – nicht fertig werden konnte. Sie sind nicht trivial zu lösen, sondern stellt ein „Paradox der ökologischen Kommu- 1 Speziell zu diesem Problem Preyer, Eine neue Theorie der Kooperation (Besprechung von R. Tuomela, Cooperation, Dordrecht 2000), in: Ders., Interpretation, Sprache und das Soziale, Philosophische Artikel, Frankfurt am Main 2005. 20 Gerhard Preyer nikation“ dar. Das sind keine neuen Einsichten, sondern etwas, das wir mittlerweile wissen können. Dr. habil. Gerhard Preyer, Privatdozent www.protosociology.de J. W. Goethe-Universität, Frankfurt am Main