studien zur internationalen politik - Helmut-Schmidt

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STUDIEN ZUR
INTERNATIONALEN POLITIK
Hamburg, Heft 2/2011
August Pradetto
Zivil-militärische Zusammenarbeit und
Comprehensive Approach im Kontext
post-bipolarer Weltordnungspolitik
IMPRESSUM
Studien zur Internationalen Politik
ISSN
1431-3545
Preis 5 €
HERAUSGEBER
Prof. Dr. August Pradetto, Prof. Dr. Anette Jünemann, Prof. Dr.
Michael Staack (Institut für Internationale Politik an der HelmutSchmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg)
REDAKTION
Prof. Dr. August Pradetto
Helmut-Schmidt-Universität
Universität der Bundeswehr Hamburg
Holstenhofweg 85
D-22043 Hamburg
Tel.: +49-40/ 65 41 - 34 25
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Studien zur Internationalen Politik. Alle Beiträge sind gesetzlich
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Autors, nicht in allen Fällen die der Herausgeber wieder.
EDITORIAL
Seit dem Ende der bipolaren Ordnung sind die internationalen Beziehungen zahlreichen Dynamiken unterworfen, die ihre Grundlagen bzw. deren
Wahrnehmung durch politische Akteure und die Wissenschaft tief greifend verändert haben. Neben die anfänglichen Herausforderungen durch
die Transformation post-kommunistischer Staaten sind zahlreiche weitere
Prozesse getreten, die heute im Fokus der IB-Forschung stehen. Die globale Machtarchitektur ist ebenso in Bewegung geraten wie regionale Kräftekonstellationen. Teile dieser Veränderungen sind geprägt von einem Trend
zu mehr Frieden, Wohlstand und Demokratie. Diverse innerstaatliche und
regionale Machtverschiebungen sowie Versuche der Neuordnung sind
aber auch verbunden mit einer Eskalation von Konflikten und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Der Zerfall alter Strukturen und Systeme geht
einher mit einer neuen Welle des Nation building. Neue Formen des internationalen Interventionismus und seiner Abwehr sind zu beobachten.
Teilweise wird das Primat staatlicher Souveränität in Frage gestellt, und
neue – oder als neu wahrgenommene – sicherheits- und entwicklungspolitische Herausforderungen wie der internationale Terrorismus oder das
Phänomen scheiternder und zerfallender Staaten haben die Komplexität
der internationalen Beziehungen zusätzlich erhöht.
In den STUDIEN ZUR INTERNATIONALEN POLITIK werden Aufsätze in deutscher
und englischer Sprache publiziert, die derartige Veränderungsprozesse in
den internationalen Beziehungen analysieren. Neben Beiträgen zur Außenpolitik westlicher Staaten und der EU sowie den europäischtransatlantischen Beziehungen werden Untersuchungen zu Themen globaler Sicherheitspolitik und zum System der Vereinten Nationen veröffentlicht. Daneben publizieren die STUDIEN ZUR INTERNATIONALEN POLITIK grundlegende theoretische und historische Untersuchungen im Bereich der internationalen Beziehungen.
In dieser Ausgabe der STUDIEN ZUR INTERNATIONALEN POLITIK wird das Konzept
der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit (Civil-Military Cooperation, CIMIC)
beleuchtet, das seit den 1990er Jahren inhärenter Bestandteil bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr sowie der Streitkräfte der NATOVerbündeten ist. Dieses Konzept versucht der Auffassung Rechnung zu
tragen, in Post-Kriegsgesellschaften oder in „gescheiterten Staaten“ sei
Entwicklung ohne Sicherheit und Sicherheit ohne Entwicklung nicht möglich. Das Konzept regelt die Beziehungen zwischen militärischen und zivilen Akteuren und zielt darauf ab, sowohl einen sicherheits- als auch einen
entwicklungspolitischen Mehrwert zu generieren. Dieser Zielsetzung versuchen die Bundeswehr, die EU und die NATO insbesondere in ihren drei
größten Einsatzgebieten – Afghanistan, Bosnien und Herzegowina (B-H)
und Kosovo – gerecht zu werden. Inwiefern dabei Erfolge zu verzeichnen
sind und wie Kriterien für eine Bewertung generiert werden können, ist
eine Ausgangsfrage für die Überlegungen, die nachfolgend angestellt werden.
CIMIC wird in dem vorliegenden Beitrag weniger auf der operativtaktischen sowie der strategischen Einsatzebene, sondern in der Hauptsache auf der Ebene übergeordneter politischer Zielsetzungen, die für das
Einsatzland verfolgt werden, analysiert. Auf dieser Ebene sind die hier
betrachteten Einsätze im Zusammenhang westlicher Bemühungen um
erfolgreiches State building zu sehen, also die Konsolidierung der Staatlichkeit in Afghanistan, Bosnien und Herzegowina und im Kosovo, und
zwar auf der Grundlage liberaler Gesellschaftsvorstellungen ausgehend
von der Annahme, dass eine Gesellschaft nur dann „nachhaltig“ friedlich
sein könne, wenn grundlegende Menschenrechts-, Rechtsstaatlichkeitsund Demokratie-Standards gewährleistet seien.
Dem entspricht, so der Autor, an der Schnittstelle von Politik und Militär
ein Comprehensive Approach (in einschlägigen Dokumenten der Bundeswehr und des deutschen Vereidigungsministeriums werden vielfach auch
die Termini „vernetzte Sicherheit“ sowie „umfassender Sicherheitsbegriff“
und „umfassendes Sicherheitsverständnis“ verwendet), der darauf gerichtet sei, ein weites Spektrum von Akteuren – militärische und zivile, internationale und regionale Organisationen, NGOs, private Partner und lokale
Akteure – in die Bemühungen um Stabilität und Sicherheit einzubinden.
Methodisch wird so vorgegangen, dass CIMIC-Konzepte und Deklarationen
in den Kontext zeitgeschichtlicher Entwicklung und westlicher postbipolarer, auf Peace building (als Teilbereich internationalen Konfliktmanagements) abzielender Ordnungspolitik gestellt werden. Zweitens wird
kursorisch auf die zivil-militärische Kooperation zwischen diversen Ebenen
auf der vertikalen Hierarchieachse sowie auf diversen Ebenen horizontal
eingegangen. Drittens schließlich wird der Zusammenhang zwischen ex-
ternen Einwirkungen und die durch Strategien des Peace building in Gang
gesetzten Dynamiken in den Einsatzländern beleuchtet. CIMIC erschließt
sich, so der Autor, aus der Verknüpfung dieser analytischen Ebenen. Das
Ergebnis, zu dem er gelangt, ist von wenig Optimismus geprägt: Je notwendiger CIMIC im Sinne eines Comprehensive Approach in einem Einsatzland sei, um den Diskrepanzen zwischen externer politischer Zielsetzung
und internen Widerständen und Hindernissen gerecht zu werden, desto
schwieriger sei es, dem damit verbundenen Anspruch gerecht zu werden,
weil die praktische Umsetzung des Konzepts die Möglichkeiten und Kapazitäten von Streitkräften überfordere.
Hamburg, im Juni 2011
Die Herausgeber
INHALTSVERZEICHNIS
1. Problemstellung...................................................................................... 9
2. CIMIC und Nato..................................................................................... 13
3. CIMIC-Doktrinen ................................................................................... 21
4. Zivil-militärisches Spannungsverhältnis................................................ 31
5. Fazit....................................................................................................... 37
6. Literaturverzeichnis .............................................................................. 41
1. Problemstellung und Untersuchungsrahmen
Seit den 1990er Jahren ist die so genannte zivil-militärische Zusammenarbeit (ZMZ oder auch civil-military cooperation=CIMIC1) inhärenter Bestandteil bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Zu unterscheiden ist
zwischen einer zivil-militärischen Zusammenarbeit im engeren und einer
solchen im weiteren Sinn. Erstere bezeichnet die Zusammenarbeit militärischer und ziviler Akteure im Einsatzgebiet, letzteres bezieht sich vorrangig auf inter-ministerielle und transnationale Kooperation auf strategischer Ebene. Dieses ursprünglich aus Strategiedebatten in der NATO resultierende Konzept versucht der Auffassung Rechnung zu tragen, dass in
Post-Kriegsgesellschaften2 oder in „gescheiterten Staaten“3 Entwicklung
ohne Sicherheit und Sicherheit ohne Entwicklung nicht möglich sei. Nahezu jede Armee des Bündnisses verfügt mittlerweile über ein solches Konzept, das die Beziehungen zwischen militärischen und zivilen Akteuren
regelt und darauf abzielt, sowohl einen sicherheits- als auch einen entwicklungspolitischen Mehrwert zu generieren. Dieser Zielsetzung versuchen die Bundeswehr, EU und NATO insbesondere in ihren drei größten
Einsatzgebieten – Afghanistan, Bosnien und Herzegowina sowie Kosovo –
gerecht zu werden. Inwiefern dabei Erfolge zu verzeichnen sind und wie
Kriterien für eine Bewertung generiert werden können, ist eine der die
nachfolgenden Überlegungen leitenden Fragestellungen.
Für die zivil-militärische Kooperation sind drei Sach- bzw. Analyseebenen
von Interesse: die operativ-taktische Ebene, die auf institutionelle, personelle, ressourcenbedingte etc. Gegebenheiten bei der Kooperation vor Ort
rekurriert; die strategische Ebene, die den Auftrag an die Streitkräfte im
1
2
3
Da sich selbst im Sprachgebrauch der Bundeswehr die durch die NATO geprägte
Bezeichnung ‚CIMIC’ durchgesetzt hat, wird sie auch in den folgenden Ausführungen
verwendet.
Dieser Begriff wird hier unabhängig davon verwendet, ob sich in solchen Gesellschaften – wie z. B. in Afghanistan – im weiteren Verlauf wieder kriegsartige
Zustände entwickeln oder nicht.
Zur kontroversen Debatte über Staatsversagen und –zerfall und deren sicherheitspolitische Implikationen für das westliche Sicherheitsverständnis und daraus
abgeleitete Strategien sowie für das Verhältnis zwischen westlichen und nichtwestlichen Staaten siehe z.B. Rotberg 2007; Schlichte 2005 sowie diverse Beiträge in
Beisheim/Schuppert (Hrsg.) 2007.
9
1. Problemstellung und Untersuchungsrahmen
Einsatzland insgesamt zu berücksichtigen hat; und schließlich die übergeordnete Ebene politischer Zielsetzung, die in Bezug auf das Einsatzland
verfolgt wird und den Streitkräfteeinsatz als ein unabdingbares Element
zur Realisierung dieser Ziele betrachtet. Auf der letztgenannten Ebene
sind die hier betrachteten Einsätze im Zusammenhang westlicher Bemühungen um erfolgreiches State building zu sehen, also die Konsolidierung
der Staatlichkeit in Afghanistan, Bosnien und Herzegowina und im Kosovo,
und zwar auf der Grundlage liberaler Gesellschaftsvorstellungen ausgehend von der Annahme, dass eine Gesellschaft nur dann „nachhaltig“
friedlich sein könne, wenn grundlegende Menschenrechts-, Rechtsstaatlichkeits- und Demokratie-Standards gewährleistet seien4. Dem entspricht
an der Schnittstelle von Politik und Militär ein Comprehensive Approach
(in einschlägigen Dokumenten der Bundeswehr und des deutschen Vereidigungsministeriums werden vielfach auch die Termini „vernetzte Sicherheit“ sowie „umfassender Sicherheitsbegriff“ und „umfassendes Sicherheitsverständnis“ verwendet), der darauf gerichtet ist, ein weites Spektrum von Akteuren – militärische und zivile, internationale und regionale
Organisationen, NGOs, private Partner und lokale Akteure – in die Bemühungen um Stabilität und Sicherheit einzubinden. Der Comprehensive
Approach geht davon aus, dass nachhaltige Kriegs- und Krisenbewältigung
nur durch koordiniertes Zusammenwirken aller beteiligten zivilen und
militärischen Akteure in den Bereichen Sicherheits-, Sozial- und Entwicklungspolitik erfolgreich sein könne. Dazu gehöre vor allem ein gemeinsames Problemverständnis und die Koordination gemeinsamen Handelns.
Comprehensive Approach heißt darüber hinaus, den Konnex von Sicherheitsherausforderungen wie Terrorismus, Energiesicherheit, Waffenproliferation, Staatszerfall usw. bei der auf das Einsatzland bezogenen Strategieentwicklung zu berücksichtigen. Je nach Spezifik der Einsatzländer werden dabei die politischen Vorgaben und die daraus resultierenden
4
State building ist ein theoretisch wie praktisch umstrittenes Konzept. Für den im
vorliegenden Beitrag verfolgten Zweck muss die vereinfachende Erklärung genügen,
dass damit ein mit einem Gewaltmonopol ausgestatteter Staat gemeint ist, dessen
institutionelles Gefüge den Funktionen gerecht werden müsse, Sicherheit und Ent–
wicklung der Gesellschaft zu gewährleisten, und dazu menschen-rechtlichen, rechts–
staatlichen und partizipatorischen Mindeststandards Rechnung zu tragen habe. Vgl
dazu z.B. Chandler 2009; Fukuyama 2004; Paris 2004.
10
1. Problemstellung und Untersuchungsrahmen
Implikationen für die zivil-militärische Zusammenarbeit abgeleitet (vgl.
z.B. NATO 2009; NATO 2010; UK Joint Delegation to NATO 2010).
Der vorliegende Aufsatz analysiert CIMIC in genau diesem Kontext – der
Begriff selbst hat durch eben diese seit den Bemühungen um ein State
building in Bosnien und Herzegowina vorgenommene Einbettung seine
spezifische inhaltliche Bedeutung gewonnen. Damit setzt sich das „neue“
CIMIC von der seit jeher in militärischen Auslandsmissionen verfolgten
Kooperation des Militärs mit zivilen Akteuren ab: CIMIC wird – in Deutschland stärker als anderswo – nicht nur als (z. B. für die Versorgung der
Truppe) notwendiges Beiwerk, sondern als zentrales Element eines auf die
Transformation der Verhältnisse im Einsatzland gerichteten Peace building
verstanden. Eine besondere Rolle spielt in diesem Kontext des Weiteren
der Begriff „Prävention“, der mit dem Inhalt „Sicherheit plus Entwicklung
plus Demokratie ist gleich Frieden“ und der Formel „Ohne Sicherheit keine
Entwicklung, und ohne Entwicklung keine Sicherheit“ gefüllt wird – Gleichungen, die Defizite in einem Bereich als Gefährdung aller anderen Bereiche und Zielsetzungen erscheinen lassen (vgl. etwa Auswärtiges Amt
2004).
Insofern bleiben nachfolgend Beispiele zivil-militärischer Zusammenarbeit
in Einsatzformen des Peace keeping (Blauhelmeinsätze auf Basis von Vereinbarungen, denen die Konfliktparteien zugestimmt haben) oder des
Peace enforcement (z. B. militärische Durchsetzung der Einrichtung von
Schutzzonen in umkämpfen Gebieten auch gegen den Willen einer oder
mehrerer Konfliktparteien) unberücksichtigt. CIMIC im Sinne einer Philosophie, wie sie in den neueren (post-bipolaren) Doktrinen der NATO Eingang gefunden hat, bezieht sich auf die genannte dritte Kategorie von
Einsätzen westlicher Streitkräfte im Ausland, nämlich auf Peace building,
deren Kern State und Institution building bzw. Nation building ist5. Eben
deshalb stellen Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Afghanistan die
Fallbeispiele für hier vorzunehmende Überlegungen dar. Der Irak, der
ebenfalls diesem Einsatztyp einzuordnen ist, wird ebenso wie Ost-Timor u.
a. Beispiele außen vor gelassen; der Fokus ist auf jene Einsatzgebiete gerichtet, in denen die NATO als Ganzes – und hier eingeschlossen die Bundeswehr – aktiv ist oder war.
5
Zum Konnex dieser Begriffe siehe eingehender Abschnitt 2.
11
1. Problemstellung und Untersuchungsrahmen
Jeder der drei hier berücksichtigten Fälle stellt eine spezifische Variante
von State bzw. Nation building dar, in der das Prinzip der „vernetzten Sicherheit“ und solcherart auch eine ausgedehnte zivil-militärische Zusammenarbeit impliziert wird. Was dies aber konzeptionell und erst recht
praktisch heißt, ist unklar und umstritten sowie Anpassungen und Veränderungen unterworfen. Ein wesentlicher Teil unterschiedlicher und konkurrierender, sich partiell widersprechender Definitionen von CIMIC liegt
in politischen Zielsetzungsdivergenzen (auf der Ebene der außenpolitischen Eliten der an Einsätzen beteiligten Staaten), in Interessendivergenzen zwischen politischer und militärischer Ebene (State building einerseits
und andererseits militärische Auftragserfüllung, welche durch das politische Ziel determiniert, aber keineswegs identisch ist) und in Differenzen
über die Kooperation vor Ort (Parteilichkeit militärischer, Neutralitätsanspruch ziviler Kräfte) begründet.
Für die Analyse zivil-militärischer Zusammenarbeit heißt dies, dass Erfolgsbewertungen und daraus resultierende Empfehlungen in Einzelbereichen möglich, aber letztlich nur unter Berücksichtigung der Interdependenz aller drei Ebenen sinnvoll sind. Um die Idee zivil-militärischer Zusammenarbeit und ihre aktuelle Entwicklung und zunehmende Bedeutung
zu erklären, sind also methodisch einerseits Konzepte und Deklarationen
(d.h. die policy) in den Kontext zeitgeschichtlicher Entwicklung und westlicher post-bipolarer, auf Peace building (als Teilbereich internationalen
Konfliktmanagements) abzielender Ordnungspolitik zu stellen. Andererseits ist die zivil-militärische Kooperation zwischen diversen Ebenen auf
der vertikalen Hierarchieachse sowie auf diversen Ebenen horizontal zu
untersuchen. Drittens ist aber auch noch der Zusammenhang zwischen
externen Einwirkungen und die durch Strategien des Peace building in
Gang gesetzten Dynamiken in den Einsatzländern zu beleuchten. CIMIC
erschließt sich aus der Verknüpfung dieser analytischen Ebenen.
12
2. CIMIC als Element der NATO-Neuausrichtung nach dem Kalten Krieg
Nicht nur divergierende und mit Bezug auf das Ziel Peace building bloß im
Grundsatz (und hinsichtlich Strategie und Taktik bloß eingeschränkt) gemeinschaftlich verfolgte Ansichten sind der Grund dafür, dass es keine
gemeinsame CIMIC-Doktrin der an den genannten Militäreinsätzen beteiligten Nationen gibt. Sondern auch die unterschiedlichen institutionellen
Vorgaben für die nationalen Komponenten der multilateralen Einsätze
implizieren ein unterschiedliches Verständnis und unterschiedliche Festlegungen zur zivil-militärischen Zusammenarbeit. Dies liegt schon in der
Logik des nationalen Entscheidungsvorbehalts: Aus demokratiepolitischen
wie juristischen Gründen (etwa Zustimmungsbedürftigkeit des Bundestags
in allen wesentlichen Fragen des Umfangs, der Aufgabenstellung, der Qualität und der Dauer des Einsatzes, also der Mandatierung sowie der Einsatzregeln) ist die Bindung an den jeweiligen nationalen politischen
Kontext (und damit auch an die je nationale und strategische Kultur) gegeben. Es gibt zwar eine CIMIC-Doktrin der NATO, an die sich die nationalen Doktrinen wie auch (und vor allem) die CIMIC-Doktrin der Europäischen Union anlehnen. Die NATO-Doktrin ist aber so allgemein, dass sie
die nationalen Doktrinen so wenig ersetzt wie sie den Interpretationsspielraum dessen, was CIMIC bedeutet, einengt.
Alle CIMIC-Doktrinen definieren „Civil-Military Liaison“, „Support to the
Civil Envorinment“ und „Support to the Force” als „Kernaufgaben“, wobei
die aus militärischer Sicht geschriebenen Dokumente den Schutz der Soldaten als das primäre Ziel aller CIMIC-Maßnahmen herausstellen, auch
wenn in den jeweiligen Konzepten Sicherheits- mit Entwicklungszielen
gekoppelt werden. Diese Aufgabenstellungen und ihr Verhältnis zueinander können unterschiedlich definiert werden und werden es auch. Am
eindeutigsten bestimmt und gestaltet ist CIMIC auf der lokalen Ebene,
aber nur deswegen, weil es dort weniger um die Aufgabe der Verknüpfung
unterschiedlichster Bereiche, Institutionen, Akteure, Mittel, Interessen
und Motive im Prozess des State und Nation building geht, sondern um die
Bewältigung unmittelbarer praktischer Aufgaben, die vorrangig aus militärischer Perspektive definiert werden6. Ein Provincial Reconstruction Team
6
D. h. nicht, dass auf dieser operativen Ebene von den Verantwortlichen unter CIMIC
das Gleiche verstanden würde. Aber hier hängt es im Wesentlichen vom Komman-
13
2. CIMIC als Element der NATO-Neuausrichtung
(PRT), das in Afghanistan die operative und taktische Umsetzung von
CIMIC ermöglichen soll, ist nicht nur geografisch, sondern auch praktischpolitisch in großer Distanz zu generellen Vorgaben, die den Einsatz der
Bundeswehr determinieren. Vor Ort geht es vor allem um eine Verbesserung der Sicherheitslage für die Streitkräfte, und zwar umso mehr, je prekärer sich diese Lage darstellt.
Die CIMIC-Doktrinen erfüllen verschiedene Funktionen. Erstens geht es
darum, die militärischen Aktivitäten auf die neuen Aufgabenstellungen
auszurichten, derer sich die politischen Eliten der NATO-Länder nach dem
Ende des Kalten Krieges angenommen haben. Aus dem Entschluss militärischen Eingreifens in die Bürgerkriege auf dem Gebiet des ehemaligen
Jugoslawien geboren, erwuchsen aus Konsequenzen, die die politischen
Führungen der NATO-Länder zogen, „komplexe Aufgaben“. Bosnien und
Herzegowina sollte nicht, wie es im Prinzip ab Mitte 1991 entlang der
Republiksgrenzen in Jugoslawien geschah, in ethnische Bestandteile zerfallen, sondern weiterhin in seinen Grenzen als jetzt unabhängiger, multiethnischer Staat bestehen bleiben. Da Serben und Kroaten – also die Mehrheit der Bevölkerung auf dem Gebiet Bosniens und Herzegowinas – diesem Plan wenig abgewinnen konnten, wurden sie dazu durch externen
politischen und militärischen Druck gezwungen. Seinen vertraglichen Niederschlag fand dieses Vorgehen im Abkommen von Dayton vom Dezember
1995. Dieses Abkommen implizierte aufgrund der genannten Vorgaben
zweierlei: die fortgesetzte Stationierung auswärtiger (vor allem NATO-)
Streitkräfte, um die zentrifugalen Kräfte einzudämmen, sowie Bemühungen, eine Staatlichkeit zu etablieren, die den Dayton-Zielsetzungen (vgl.
Dayton Peace Accords 1995) entsprach bzw. mit dem Ziel der Stärkung
gesamtstaatlicher Strukturen über dieses Abkommen hinausging.
Für dieses Bemühen wurden in einer bislang präzedenzlosen Weise die
unterschiedlichsten Akteure und die unterschiedlichsten Mittel eingesetzt.
Internationale Organisationen, NGOs, nationale Institutionen und private
Akteure, personelle, finanzielle und materielle Mittel großen Ausmaßes
sowie eben auch zur Absicherung dieser Aktivitäten militärische Kräfte aus
einer Zahl von Ländern wurden mobilisiert, um die politische Absicht umdeur des Kontingents sowie von der personellen Zusammensetzung der CIMICEinheit ab, wie die praktischen Aufgaben festgelegt und durchgeführt werden.
14
2. CIMIC als Element der NATO-Neuausrichtung
zusetzen. Dieser Absicht ideologisch unterlegt war ein Staatsmodell, das
aus der schon angedeuteten liberalen Tradition westlicher Entwicklung
stammt: Bosnien und Herzegowina sollte ein nach marktwirtschaftlichen
und demokratischen Prinzipien funktionierender Organismus mit föderaler
Struktur und einer gesamtstaatlichen Identität werden. Die Aufgabe, die
sich stellte, war also die eines State und Nation building.
Nach Beendigung des Krieges gegen Jugoslawien im Juni 1999 stellte sich
eine ganz ähnliche Aufgabe für das Kosovo. Aus einem zerstörten, von
ökonomischer Rückständigkeit gekennzeichneten (bei Weitem niedrigstes
BSP pro Kopf im ehemaligen Jugoslawien, mit zunehmender Vergrößerung
des Abstands zu den entwickelteren Republiken), tiefen ethnischen Gräben durchzogenen, vorwiegend von traditionell-muslimischer Lebensweise und Clanstrukturen geprägten Land sollte ein funktionierendes, demokratisches und multiethnisches Gemeinwesen werden. Die durch die externe Intervention in Gang gesetzte innere Dynamik bewirkte hier
ebenfalls – aber anders als in Bosnien und Herzegowina, wo der größere
Teil der politischen Eliten einen Bremsfaktor darstellte – eine Ausweitung
der politischen Zielsetzung. Der ursprünglich als „substanzielle Autonomie“ im Rahmen der Bundesrepublik Jugoslawien gedachte und vereinbarte Status mutierte unter dem Druck der kosovo-albanischen Eliten in ein
formidables State und Nation building-Projekt.
Nicht einmal drei Jahre später wurde im Prinzip die gleiche politische Vorgabe für die „Transformation“ Afghanistans in ein „modernes Gemeinwesen“ gemacht, wobei die Ambitionen, die nach dem Krieg auf der Petersberg Konferenz Anfang Dezember 2001 formuliert wurden, mit Blick auf
die gesellschaftlichen Realitäten noch erheblich weiter gingen als in den
vorgenannten Fällen. Bosnien und Herzegowina und Kosovo gehören dem
europäischen Kulturkreis an; die militärischen Auseinandersetzungen, die
die bosnisch-muslimischen und die kosovo-albanischen Eliten geführt
hatten, hatten auf ein Nation building abgezielt, wenn auch anderer Art
als die Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen und die Mitglieder der NATO sich das gewünscht hatten. Darüber hinaus gab es nach
dem Krieg verbreitete Stimmungen und Bestrebungen, endlich ein „normales“ europäisches Land zu werden. D. h. es gab Schnittmengen in den
Ambitionen, Interessen und Mentalitäten, die die externen Akteure und
Teile der lokalen Eliten verbanden. In Afghanistan gab es nur eine winzige,
15
2. CIMIC als Element der NATO-Neuausrichtung
vielfach aus Emigranten rekrutierte westlich-orientierte Gruppierung, die
mit den Zielen der Petersberg-Protagonisten übereinstimmte. Die Diskrepanz zwischen externen politischen Vorgaben, einen „demokratischen
Leuchtturm“ im Mittleren Osten errichten zu wollen, und den afghanischen Realitäten eines auf Clanstrukturen und traditionellster Religiosität
beruhenden Gemeinwesens hätten nicht größer sein können. Und diese
Diskrepanz bekam zusätzlich eine das Umfeld Afghanistans inkludierende
Dimension, da die Idee des „Leuchtturmprojekts“ auf eine Veränderung
der politischen Verhältnisse in der gesamten Region zielte. Auch für dieses
politische Ziel wurden in zuvor nicht gekannter Weise eine gigantische
Zahl unterschiedlichster Akteure aus den unterschiedlichsten Bereichen
und Ebenen mobilisiert – wennschon im territorialen und demographischen Vergleich viel weniger als in Bosnien und Herzegowina und Kosovo.
Vor dem Hintergrund dieser ordnungspolitischen und geostrategischen
Zielsetzungen erweiterten und veränderten sich die Aufgaben militärischen Eingreifens und militärischer Stabilisierung und Absicherung erheblich. „Zivil-militärische Zusammenarbeit“ wurde das Kürzel für die perzipierten Koordinations- und Kooperationsnotwendigkeiten, die die Vielzahl
von mobilisierten bzw. zu mobilisierenden Akteuren (inklusive lokale Eliten
und ethnische Gruppierungen) verlangten. Aus politischer wie aus militärischer Sicht erforderte diese neue Aufgabenstellung auch eine formelle
Festlegung und Kodifikation. Erstens sollte das „außenpolitische Instrument“ Militär auf die „umfassendere Aufgabenstellung“ eingestellt und
zivil-militärische Zusammenarbeit gleichsam zum festen Bestandteil des
militärischen Auftrags gemacht werden. Zweitens sollten damit entsprechende organisatorische Umstellungen in den militärischen Apparaten wie
in ihrem Verhältnis zur Außenwelt in systematischerer und koordinierterer
Weise als bisher in die Wege geleitet werden. Zivil-militärische Zusammenarbeit stellte sich vor dem Hintergrund politischer Vorgaben als eine
weitreichende, komplexe und neu zu regelnde Aufgabe dar. Sie reichte von
der Sprachvorbereitung des Soldaten, der am Einsatzort mit zivilen Personen und Stellen zu tun hat, über den Informationsaustausch und die Koordination mit zivilen und anderen militärischen Stellen vor Ort, die interministerielle Kooperation auf nationaler, transnationaler und internationaler
Ebene, bis hin zur Einrichtung von NATO CIMIC Centres of Excellence, die
unter Auswertung empirischer Daten und Informationen über all diese
16
2. CIMIC als Element der NATO-Neuausrichtung
Prozesse mit wissenschaftlicher Expertise konzeptionelle und einsatzbezogene Strategien generieren sollte.
Entwickelt hatte sich zivil-militärische Zusammenarbeit in dem hier beschriebenen Sinne also eher spontan und ungeregelt, als mit dem Abkommen von Dayton im Dezember 1995 erstmalig für die NATO die militärische Stabilisierungsaufgabe zu einem Bestandteil eines auf Nation building abzielenden Prozesses mutierte. Diese Spontaneität hatte in der Sicht
von Militärs wie von Politikern einen schon bald kritisierten „Wildwuchs“
zur Folge. Diejenigen, die die CIMIC core function „support to the civil
environment“ als Aufgabe auslegten, selbst einen Beitrag zum zivilen Wiederaufbau zu leisten (z.B. Hilfe bei der Wiedererrichtung zerstörter Schulen), wurden von anderen als „Dachlattensoldaten“ geschmäht. Diese und
andere Diskussionen über die Interpretation zivil-militärischer Zusammenarbeit reichten von der untersten bis zur obersten Ebene militärischer
und politischer Entscheidungsträger. Dabei ging es nicht nur um die Frage,
inwieweit Streitkräfte humanitäre Projekte und zivile Wiederaufbauaufgaben durchführen bzw. praktisch unterstützen sollen. Vielmehr standen
auch andere mit dem „support to the civil environment“ verbundene Zielsetzungen zur Disposition, z.B. inwieweit tatsächlich durch solche Dienstleistungen das Vertrauen in der Bevölkerung gegenüber den ausländischen Streitkräften erhöht und die Informationsgewinnung aus der Bevölkerung verbessert würde. Mit Misstrauen wurden von manchen auch der
Versuch betrachtet, die auf Zivilprojekte gerichtete Tätigkeit von Streitkräften zuhause, in den „Entsendeländern“, zur Erhöhung der Legitimation
militärischer Einsätze zu nutzen, indem die Streitkräfte in den Medien als
„Entwicklungshelfer in Uniform“ dargestellt wurden.
Die unterschiedliche Handhabung der Streitkräfteausrichtung auf zivilmilitärische Zusammenarbeit und die Debatte über damit zusammenhängende Aufgaben des Militärs forderten also ebenfalls eine Verregelung
dessen heraus, was unter CIMIC zu verstehen sei. Simultan wuchs in den
Streitkräften das Bedürfnis, zivil-militärische Zusammenarbeit aus militärischer (und nicht in erster Linie aus ziviler) Perspektive zu definieren und
im Diskurs darüber, was Militär zu leisten habe und was nicht, wieder Definitionsmacht zu erlangen. CIMIC – durchgeführt von Militärs – sollte in
dieser Sicht an erster Stelle der Erfüllung des militärischen Auftrags und
nicht – jedenfalls nicht gleichberechtigt – sonstigen Zielen dienen. Damit
17
2. CIMIC als Element der NATO-Neuausrichtung
sollte auch dem Herantragen als fachfremd empfundener Aufgaben an die
Streitkräfte ein Riegel vorgeschoben und der militärischen Führung die
Suprematie bei der Festlegung mit CIMIC verbundener Aufgaben gesichert
werden.
In seiner offensivsten Version war das politische Ziel eines State und Nation building, das mit militärischen Mitteln durchgesetzt werden könne
(durch Regimewechsel in Afghanistan und im Irak7), eine vor allem USamerikanische Idee, die allerdings von europäischen Politikern wie Tony
Blair, Silvio Berlusconi und José María Aznar geteilt wurde. Dass sie im USamerikanischen politischen Entscheidungsprozess parteiübergreifend
Wirkung entfalten konnte, lag an einer spezifischen historischen, politischen und psychischen Konstellation, die eine besondere Art der Sekurisation8 ermöglichte. Nach dem Kalten Krieg und der Auflösung der Sowjetunion als counter-balancing actor ergab sich für die USA als einzig verbliebener Supermacht die Möglichkeit einer Erweiterung über die bisherigen
Einflusssphären hinaus, und in dieser Lage gingen zwei in außenpolitischen Fragen vielfach divergierende Lager gemeinsam in die Offensive,
nämlich – stark vereinfacht – das neo-konservativ-republikanische Lager
(für die „pro-aktive“ Ausbreitung US-amerikanischer Macht) und das demokratisch-internationalistische Lager (für die „pro-aktive“ Ausbreitung
amerikanischer Demokratie). Eine für die Zustimmung zu den Interventionen hinreichende Amalgamation dieser Lager gab es dennoch nur unter
ganz spezifischen Umständen – nämlich „9/11“ und die unter diesem Eindruck erfolgreiche Täuschung der Öffentlichkeit über nicht vorhandene
Massenvernichtungswaffen eines Diktators im Nahen Osten und seine den
Westen angeblich existenzbedrohenden Absichten.
Wesentlich für die neue zivil-militärische Aufgabenstellung bei den Streitkräften war also, dass militärische Eingriffe nur als wirksam perzipiert oder
propagiert wurden, wenn sie mit einer Umwälzung der Gegebenheiten
7
8
Darüber hinaus war ein solches Vorgehen ursprünglich auch für den Iran und NordKorea, die beiden anderen auf der von Präsident George W. Bush 2002 auf der
„Achse des Bösen“ verorteten Länder, geplant.
Ein Grundgedanke der These zunehmender Sekurisation („Versicherheitlichung“) von
Sachverhalten ist, dass damit die mögliche Problemlösung in die Dimension außerordentlichen staatlichen Handelns, u.a. mit militärischen Mitteln, gehoben werde
(vgl. Waever1995).
18
2. CIMIC als Element der NATO-Neuausrichtung
einhergingen, derentwegen die Eingriffe notwendig geworden oder jedenfalls als notwendig dargestellt worden waren. Dem entsprach ein weiterer
Schlüsselbegriff, der ins außenpolitische Vokabular der NATO kooptiert
wurde, nämlich „Nachhaltigkeit“: Ein „nachhaltiger“, also dauerhafter
Friede sei nur erreichbar, wenn drei zugehörige Bedingungen erfüllt seien:
Sicherheit, Wohlfahrt, Demokratie.
Die Legitimation der Streitkräfte der NATO und ihrer militärischen Missionen out of area erlangten solcherart eine völlig neue Dimension. Mit der
Formel „out of area or out of business“, die pointiert besagte, dass die
NATO, wäre sie auch unter den neuen, post-bipolaren Gegebenheiten auf
das im Washingtoner Vertrag von 1949 als Tätigkeitsbereich definierte
Gebiet im nordatlantischen Raum beschränkt9, irrelevant würde, war die
Frage aufgeworfen, was die Allianz out of area bewerkstelligen sollte. Der
Irak-Krieg 1990/91, die Intervention in Somalia 1992 bis 1995, die Kriege in
Ex-Jugoslawien 1991 bis 1999 und dann vor allem „9/11“ beförderten
Perzeptionen und Absichten, die NATO für Aufgaben zu mobilisieren, die
im oben genannten Sinne „nachhaltigen Frieden“ zu schaffen versprachen;
zugleich bedeutete dies eine positive Legitimierung der Organisation. Auf
der semantischen Ebene spiegelte sich diese Umorientierung in der Forderung, die NATO von einem „reinen Verteidigungsbündnis“ zu einer „umfassenden Sicherheitsorganisation“ zu transformieren, die in entfernten
Weltgegenden zu solchen Einsätzen in der Lage sein müsse10. Die Behauptung der Notwendigkeit dieser Transformation und der „umfassenden
Sicherheitsvorsorge“ inklusive Nation und State building wurde dadurch
unterstrichen, dass im Diskurs ein direkter und als untrennbar deklarierter
Konnex zwischen der „Nachhaltigkeit“ der Sicherheit (und damit dem
Nation und State building) auf dem Balkan, in Afghanistan oder im Irak
und der Sicherheit in den westlichen Ländern hergestellt wurde. Es handelte sich um eine doppelte Sekurisation: erstens der Beziehung und des
Umgangs „des Westens“ mit diesen Ländern, bei denen im eigenen (west9
Siehe Präambel und Art. 6 des Vertrags (NATO 1949). – Der republikanische Senator
Richard Lugar hatte 1993 pointiert formuliert, die NATO müsse "out of area" gehen,
wenn sie nicht "out of business" gehen wolle.
10
Auf der nationalen Ebene reflektierte dies die Formel, die Bundeswehr müsse die
Transformation von einer „reinen Verteidigungsarmee“ zu einer „Armee in Einsatz“
vollziehen.
19
2. CIMIC als Element der NATO-Neuausrichtung
lichen) Interesse die Bedingungen für „nachhaltige Sicherheit“ durchgesetzt werden müssten, und zweitens der Ökonomie und des politischen
Systems anderer Nationen, die nur dann sicher seien, wenn sie auch dem
westlichen liberalen Modell entsprächen
20
3. CIMIC-Doktrinen
Die vor allem seit dem Kosovo-Krieg 1999 entwickelten CIMIC-Doktrinen
spiegeln die oben aufgezeigten Überzeugungen, Interessen und politischen Absichten wider und versuchen, sie zusammenzuführen und in eine
möglichst widerspruchsfreie Form zu gießen, die als Anleitung zur zivilmilitärischen Zusammenarbeit tauglich sein soll. Da aber die Überzeugungen, Interessen und politischen Absichten nicht kohärent sind, sind es
auch die darauf fußenden Doktrinen nur beschränkt. Zusammengefasst
spiegelt die den nationalen Doktrinen nicht übergeordnete, aber zumindest einen generellen Konsens der beteiligten Nationen repräsentierende
NATO-Doktrin von 2001 bzw. 2003 (NATO/EACP/PFP 2001, NATO 2003)
folgende politische und militärpolitische Veränderungen wider:
Globalisierung und sachliche Ausweitung von Sicherheitspolitik: In der
NATO Civil-Military Co-operation (CIMIC) Doctrine (Fassung 2003) wird
gleich zu Beginn die Aktivität der Organisation außerhalb ihrer Grenzen
betont, auf Territorien, denen es an „fully functioning civil institutions or
effective infrastructure“ fehle (AJP-9 2003: 1-1). Dies bedinge „different
and more complex challenges“, vor denen die Allianz stehe, wobei man es
– mit Hinweis auf das Strategische Konzept der NATO von 1999 (NATO
1999) – nunmehr mit „a much wider range of threats to international
security than existed hitherto“ zu tun habe (AJP-9 2003: 3-6). Zeitlich ist als
Hintergrund vor allem der Kosovo-Einsatz ab 1999 und der Auftrag in Afghanistan seit Ende 2001 zu erkennen. Bezüglich der Autorisierung wird in
Abschnitt 3 die Frage nach politischer Legitimität für Nicht-Artikel 5Einsätze aufgeworfen und im Sinne eines Primats internationaler Organisationen wie Vereinte Nationen und OSZE beantwortet (AJP-9 2003: 3-7).
Allerdings wird dieser Primat, der auch in der Sicherheitsstrategie von
1999 angemerkt ist, nicht als Ausschließlichkeit und als vollständige Absage an Aktivitäten interpretiert, die nicht von den VN oder der OSZE mandatiert sind: Auch „regionale Organisationen“, die „nachträglich“ eine
Autorisierung durch die Vereinten Nationen einholen, werden in diesem
Zusammenhang aufgezählt11.
11
Im Strategischen Konzept von 1999 wird explizit ein Recht beansprucht, bei schwer-
21
3. CIMIC-Doktrinen
Neue Aufgabenstellung in internationalen Einsätzen im Sinne von Ordnungspolitik: Die Interaktion zwischen den Streitkräften der Allianz und
dem zivilen Umfeld wird als „crucial“ für den Erfolg der Missionen benannt (AJP-9 2003: 1-1). CIMIC-Aktivitäten seien demnach „integral part of
the Joint Force Commander’s (JFC) plan“, würden zur Unterstützung der
Mission durchgeführt und seien bezogen darauf, „the overall strategy“ zu
implementieren und „a stable and sustainable end-state “ zu erreichen,
mit Blick auf eine „timely transition of those functions to the appropriate
civilian organisations or authorities“ (AJP-9 2003: 1-2)12. Ein Bezug zum
eigentlich für Aktivitäten der NATO maßgeblichen Grunddokument, dem
NATO-Vertrag von 1949, wird insofern hergestellt, als CIMIC als anwendbar sowohl in Artikel 5-Operationen (kollektive Selbstverteidigung) als
auch in Nicht-Artikel 5-Operationen (Krisenreaktionsoperationen, Crisis
Response Operations – CRO) deklariert wird (AJP-9 2003: 3-4). In beiden
Szenarios seien die Kommandeure zunehmend gefordert, „social, political,
cultural, religious, economic, environmental and humanitarian factors“ bei
der Planung und Durchführung militärischer Operationen in Rechnung zu
stellen. In CRO sei der Fokus von CIMIC „broader and more complex“ und
stelle sich als „a composite, multi-functional approach to a complex political emergency“ dar (AJP-9 2003: 1-2). Kurzfristig soll CIMIC die „full cooperation of the NATO commander and the civilian authorities“ ermöglichen. Langfristig bestehe das Ziel darin, „to help create and sustain
conditions that will support the achievement of Alliance objectives in operations“ (AJP-9 2003: 1-3).
Prinzipien, Anwendungen, Organisation und Entscheidungsfindung von
CIMIC: Die Doktrin stellt als die drei Kernfunktionen von CIMIC „CivilMilitary Liaison“, „Support to the Civil Environment“ sowie „Support to the
Force“ heraus (AJP-9 2003: 1-3f.) dar, um in den nachfolgenden Kapiteln
zivil-militärische Zusammenarbeit mit Blick auf diverse Einsatzszenarien,
die Koordination und den Gebrauch ziviler Ressourcen, die Organisation,
die Führungsstruktur und die Kontrolle von CIMIC-Einheiten sowie die
Entscheidungsverfahren zu definieren und zu differenzieren. Dabei wird
wiegenden Menschenrechtsverletzungen oder einer Beeinträchtigung vitaler
Interessen auch „eigenständig“ zu handeln (vgl. NATO 1999).
12
Als „end state“ wird definiert die „political and/or military situation to be attained at
the end of an operation“ (AJP-9 2003: B-3).
22
3. CIMIC-Doktrinen
zugleich klargestellt, dass „support to the mission“, begriffen als militärische Zielerreichung, zentral für CIMIC und CIMIC der militärischen Mission
untergeordnet sei. Unter der Überschrift „Mission Primacy“ wird klargestellt: „NATO conducts CIMIC in support of a military mission“ (AJP-9 2003:
2-1).
Zugleich ist eben Funktion der ausdifferenzierten Beschreibung und Systematisierung von CIMIC, das Militär auf die zivilen Komponenten und
Verflechtungen des Einsatzes einzustellen und zu sensibilisieren, weil unter den ausgeweiteten politischen Vorgaben und dem erweiterten Einsatzspektrum anders auch die militärischen Zielsetzungen nicht zu erreichen
seien. So wird etwa mit Blick auf die operative Planung die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, bei der Informationsgewinnung auf diejenigen Faktoren zu achten, die mit der „zivilen Dimension“ zusammenhängen (AJP-9
2003: 3-2). Die Ausführungen verdeutlichen in diesem Zusammenhang
auch das Bemühen, bei Kommandeuren und Einheiten das Bewusstsein
für eine Rücksichtnahme bei der Verfolgung militärischer Ziele gegenüber
der Zivilbevölkerung, zivilen Stellen und nichtmilitärischen Akteuren zu
erhöhen (AJP-9 2003: 2-2).
Die ein Jahr nach der ersten Version der NATO-Doktrin erstellte CivilMilitary Co-operation (CIMIC) Concept for EU-led Crisis Management Operations der Europäischen Union (EUMS 2002) unterscheidet sich nicht
wesentlich von der der Allianz. Auch hier geht es um die Bestimmung des
„interface“ als CIMIC-Aufgabe bei militärischen Einsätzen, und zwar gerade
mit Blick auf „komplexe Einsätze“ – also solche, die über Nothilfe hinausgehend auf die Veränderung der politischen, ökonomischen und institutionellen Voraussetzungen für „emergencies“ abzielen –, die „komplexe
Antworten“ und Instrumente erforderten und eine entsprechende Zusammenarbeit zwischen militärischen und zivilen Akteuren notwendig
machten. Auch in der EU-Doktrin geht es gleichzeitig um die Klarstellung,
dass bei CIMIC-Aktivitäten die Fokussierung auf den militärischen Auftrag
im Vordergrund stehe (vgl. EUMS 2002: 8, 12), und wie in der NATODoktrin wird auch hier nicht die theoretische und praktische Widersprüchlichkeit aufgehoben, die sich aus der Parallelität der Definition von CIMICAufgaben aus übergeordneten politischen Zielsetzungen einerseits und
aus der operativen militärischen Auftragserfüllung andererseits ergibt (vgl.
EUMS 2002: 7).
23
3. CIMIC-Doktrinen
Es gibt aber einige Spezifika, die die EU-Doktrin auszeichnen. Auffällig ist
einerseits die Betonung der eigenständigen militärischen Fähigkeiten (und
die sich hier einfügende Aufgabenstellung von CIMIC), das „gesamte
Spektrum der Petersberg-Aufgaben“, wie sie im Maastricht-Vertrag formuliert werden, abdecken zu können, nämlich a. „Humanitarian und rescue
tasks“, b. „Peacekeeping tasks“ und c. „Tasks of combat forces in crisis
management, including peacemaking“ (EUMS 2002: 6). Andererseits wird
die Bedeutung und die Absicht hervorgehoben, mit der NATO-CIMICDoktrin „kompatibel“ und in höchstmöglicher Übereinstimmung zu agieren (vgl. EUMS 2002: 7). Dies entspricht – wie in einer Reihe anderer, die
Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP bzw. ESVP) betreffender Festlegungen und Dokumente – der nicht widerspruchsfreien Praxis, die Bemühungen um einen höheren Grad an militärischer Stärkung und Autonomie mit dem Anliegen in Übereinstimmung zu bringen, nicht in Konkurrenz oder Antagonismus zur Allianz zu geraten und den unterschiedlich
ausgeprägten transatlantischen Neigungen und Überzeugungen im EURaum sowie dem Misstrauen von Teilen der US-amerikanischen außenpolitischen Eliten Rechnung zu tragen. Zugleich spielen die Erfahrungen und
Bemühungen eine Rolle, insbesondere im europäischen Raum die Verantwortung für die auf dem Petersberg formulierten Aufgaben übernehmen
zu können und dabei nicht von Washington abhängig zu sein. Bezeichnend
erscheint außerdem, dass schon in der Einleitung zur Doktrin die beabsichtigte Stärkung des Beitrags der Europäischen Union zur Erhaltung und
Schaffung internationalen Friedens und Sicherheit die „Übereinstimmung
mit den Prinzipien der Vereinten Nationen“ (EUMS 2002: 6) betont wird.
Außerdem wird noch expliziter als in der NATO-Doktrin von der EU die
Erhöhung der Legitimität der Operation bei der Zivilbevölkerung im
Einsatzland als Aufgabe von CIMIC hervorgehoben, also die Erzielung von
„civil support by encouraging the population to perceive the legitimacy of
the EU-led CMO and its acting in the best interest of the population“
(EUMS 2002: 10).
Eine klare Trennlinie wird in der Doktrin zwischen CIMIC und der ZivilMilitärischen Koordination gezogen (EUMS 2002: 7). Erstere decke die
Kooperation zwischen EU-geführten Streitkräften und unabhängigen externen zivilen Organisationen (internationalen Organisationen sowie
NGOs) ab. Letztere betreffe die Koordination der zivilen und militärischen
24
3. CIMIC-Doktrinen
Instrumente des Krisenmanagements der EU, die unter der Verantwortung
des Rats der EU durchzuführen sei (vgl. Ehrhart 2007: iii).
Das Verständnis des Ineinandergreifens sicherheits- und entwicklungspolitischer Aufgaben spiegelt sich auch auf der Seite derer wider, die vorrangig
den zivilen Teil der Kooperation bzw. die Komponente des Aufbaus und
Wiederaufbaus abdecken sollen. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) veröffentlichte im Jahre
2004 ein Diskussionspapier Zum Verhältnis von entwicklungspolitischen
und militärischen Antworten auf neue sicherheitspolitische Herausforderungen (BMZ 2004). Dieses Papier war eine Reaktion auf die Veränderungen internationalen Agierens und bundesrepublikanischer Außenpolitik in
dreifacher Hinsicht. Es reflektiert die Anforderungen, die seit dem Abkommen von Dayton beim State und Nation building von der Politik an
zivile Akteure herangetragen werden. Es widerspiegelt den allgemeinen
Trend der Sekurisation von (in außerhalb der westlichen Welt festgestellten) Defiziten in der „Staatlichkeit“ von Gesellschaften. Und es leitet aus
dieser Sekurisation als notwendig dargestellte Eingriffe in jene Länder ab,
die als „besonders gefährdet“ oder als „besondere Gefährdung“ eingestuft
werden.
Der gedankliche Ausgangspunkt ist eine Sekurisation entwicklungspolitischer Rahmenbedingungen: „Staatsversagen und Staatsverfall“ sei
„für die betroffenen Menschen, die jeweiligen Regionen und die Staatengemeinschaft ein massives Problem, weil interne und externe, menschliche und globale Sicherheit gefährdet“ würden. Daher sei es „in unser aller
Interesse“, „Staatsversagen und –zerfall möglichst frühzeitig zu verhindern“ (BMZ 2004: 7). Die Schlussfolgerung für die Außenpolitik wie die
Anforderung für die Entwicklungspolitik erscheinen so als logischer Sachverhalt, nämlich dass „militärische Interventionen zur Stabilisierung oder
Transformation von Staaten in den letzten Jahren eine erhebliche Ausweitung erfahren“ haben und sich die Frage stelle, „wie und unter welchen
Voraussetzungen Entwicklungszusammenarbeit und militärische Interventionen bei der Mitgestaltung der Verhältnisse in anderen Ländern zusammen wirken können und müssen“. Zwar trage einerseits „Entwicklungspolitik dazu bei, den Frieden zu sichern und die internen Rahmenbedingungen
in den Partnerländern zu verbessern, damit militärische Interventionen
nicht notwendig“ würden. Andererseits aber könnten „militärische Inter-
25
3. CIMIC-Doktrinen
ventionen unvermeidbar sein und erst die Voraussetzung für entwicklungspolitisches Handeln schaffen“ (BMZ 2004: 5).
Als theoretische Referenzpunkte für außenpolitisches Handeln in diesem
Kontext wurden auch hier liberale Staatlichkeit und die Zusammengehörigkeit und wechselseitige Bedingtheit von Demokratie, Staatlichkeit, Sicherheit und Entwicklung postuliert: Da „leistungsfähige demokratische
Staatlichkeit für die Sicherheitsinteressen der Menschen in Nord und Süd
zentral“ sei, „müssen wir ihre Entwicklung und Stärkung in den Mittelpunkt internationaler Politik stellen“ (BMZ 2004: 7). Dazu stünden drei
Instrumente zur Verfügung: „a) Partnerschaftliche Zusammenarbeit bei
der Stabilisierung und Legitimierung, bei Reform und Wiederaufbau von
Staat und Gesellschaft; b) Internationale Überwachung und Kontrolle von
Staaten von der Wahlbeobachtung bis hin zu Waffenkontrollen; c) Teilweise oder vollständige Übernahme hoheitlicher Kontrolle in der Regel in
einer Kombination von ziviler internationaler Übergangsverwaltung und
einer militärischen Sicherheitskomponente“ (BMZ 2004: 7f.). Zwar gebe es
einen „Primat für Prävention und Partnerschaft“ (BMZ 2004: 8). Ebenso
bestehe aber „ein weitgehender internationaler Konsens, dass militärische
Interventionen bei Vorliegen einer massiven Verletzung der staatlichen
Schutzverpflichtung gegenüber der eigenen Bevölkerung als legitim gelten
können“ (BMZ 2004: 10)13.
Im Gegensatz zu den militärischen Doktrinen werden allerdings eine Reihe
von Bedingungen genannt, unter denen eine Intervention gerechtfertigt
und eine entwicklungspolitische Zusammenarbeit bzw. zivil-militärische
Kooperation sinnvoll sei. Militärische Interventionen seien legitim, „wenn
sie in richtiger Absicht, mit multilateraler Beteiligung, unter VN-Mandat
und als letztes Mittel erfolgen sowie verhältnismäßig und aussichtsreich
gestaltet“ würden14. Da es dabei „aber immer um politische und Bewer13
Diese Aussage lehnt sich offenkundig an den in 2001 bzw. 2002 veröffentlichten
Report „Responsibility to Protect“ an, das nicht nur ein Recht, sondern sogar eine
Verpflichtung zur Intervention dort postuliert, wo ein Staat nicht in der Lage sei,
seiner „Schutzverantwortung“ gegenüber der eigenen Bevölkerung, wenn diese
unter massiven Menschenrechtsverletzungen zu leiden habe, nachzukommen (ICISS
2001).
14
Hier werden Argumentationsmuster aufgegriffen, die aus der Debatte über
„humanitäre Interventionen“ insbesondere nach dem Eingreifen der NATO im Kosovo 1999 bekannt sind.
26
3. CIMIC-Doktrinen
tungsfragen“ gehe, komme es „entscheidend darauf an, diese im Rahmen
der bestehenden völkerrechtlichen Instrumente und Institutionen zu behandeln und grundsätzlich von der Autorisierung durch den VNSicherheitsrat abhängig zu machen“. Wo „Besatzungskräfte außerhalb des
Völkerrechts ein Land“ okkupierten, sei „eine entwicklungspolitische Zusammenarbeit, die zu ihrer Rolle und ihren Prinzipen steht, nahezu unmöglich“ (BMZ 2004: 10f.). Mit Blick auf das Verhältnis zwischen militärischen und entwicklungspolitischen Bereichen wird gefordert, dass wenn
eine militärische Absicherung der Stabilisierungs- bzw. Transformationsabsicht erfolge, eine gleichberechtigte Zusammenarbeit, eine gemeinsame
Festlegung der Strategie, aber eine eigenverantwortliche Steuerung im
jeweiligen Zuständigkeitsbereich gewährleistet sein müsse (BMZ 2004:
11f.). Im Rahmen von CIMIC dürfe die Wahrnehmung ziviler Aufgaben
durch das Militär höchstens subsidiär erfolgen, d.h. wenn zivile Stellen in
Notfällen dazu nicht in der Lage seien (BMZ 2004: 14).
Diese im BMZ angestellten Überlegungen begründeten keine formale
Doktrin zivil-militärischen Handelns von entwicklungspolitischer Seite,
sondern reflektierten den Rahmen, innerhalb dessen zivil-militärische
Kooperation als sinnvoll und notwendig erachtet wurde. Vor allem aber
spiegelten sie den Trend der Einbeziehung immer weiterer Bereiche westlicher Außenpolitik in die Sekurisation außenpolitischer und globaler Gegebenheiten und in das Bemühen wider, vorhandene Kapazitäten und
Ressourcen auf eine Transformation dieser Gegebenheiten nach den Vorgaben liberaler Staatlichkeit zu mobilisieren. Der Comprehensive Approach, der solcherart im außenpolitischen Agieren Realität werden sollte,
bezog sich – soweit die externen Akteure betroffen waren – gerade auf
diese entwicklungspolitischen Institutionen und Instrumente. Dieser Diskurs – die theoretische und praktische Zusammenführung sicherheits- und
entwicklungspolitischer Komponenten, Akteure und Ressourcen – , erfasste beide zuvor sich eher distanziert gegenüber stehende (nämlich sowohl
militärische als auch entwicklungspolitische) communities. Er stellte sie
vor eine gemeinsame, als sowohl sicherheits- als auch entwicklungspolitisch notwendig deklarierte Aufgabe und setzte solcherart wichtige Impulse für die als nunmehr sinnvoll, logisch und dringend notwendig empfundene Ausgestaltung zivil-militärischer Kooperation.
27
3. CIMIC-Doktrinen
Diese insbesondere in Deutschland geführte Debatte hatte – vor dem
Hintergrund einer sich stärker als anderswo als „Zivilmacht“ definierenden
außenpolitischen Kultur – auch Auswirkungen auf die militärische Doktrinbildung, die im Bundesministerium der Verteidigung vorgenommen
wurden. Die Teilkonzeption Zivil-Militärische Zusammenarbeit der Bundeswehr von 2009 (TK ZMZBw 2009; sie löste die Konzeption von 2007
ab) weist insofern eine Besonderheit auf, als der politische Kontext, in
dem sich CIMIC zu bewegen habe, erheblich nachdrücklicher betont wird
als in den vorgenannten Doktrinen. Konfliktverhütung und Krisenbewältigung im multilateralen Zusammenwirken werden als der „Rahmen“ beschrieben, in dem CIMIC zur Wirkung gelange (TK ZMZBw 2009: 1). Der
Präventionsgedanke und Vorstellungen von einem Comprehensive Approach finden vielfachen Niederschlag. Krisenprävention sei „eine breit angelegte, ressortübergreifende Aufgabe“, die „zunehmend auch andere Politikbereiche, vor allem die Wirtschafts-, Umwelt-, Finanz-, Bildungs-, Kultur- und Sozialpolitik“, umfasse. Die Bundeswehr leiste mit der zivilmilitärischen Zusammenarbeit „einen bedeutenden Beitrag zu einer ressortübergreifend angelegten gesamtstaatlichen Sicherheitsvorsorge“ (TK
ZMZBw 2009: 1). Demgemäß wird ZMZBw umfassender und stärker in
seinem Schnittstellencharakter definiert. ZMZBw umfasse „alle Vereinbarungen und Maßnahmen, Kräfte, Mittel und Leistungen, welche die Beziehungen zwischen Dienststellen der Bundeswehr und zivilen Behörden und
Kräften sowie der Zivilbevölkerung regeln, koordinieren, unterstützen,
erleichtern und fördern“. Dies schließe „die Zusammenarbeit mit staatlichen/nicht-staatlichen und inter- /supranationalen Organisationen ein“
(TK ZMZBw 2009: 3). Als Kernaufgaben werden „Gestalten der zivilmilitärischen Beziehungen“, „Informieren, Beraten und Unterstützen ziviler Stellen und Akteure“ sowie „Beitragen zum Führungsprozess und Mitwirken in der Operation“ genannt (TK ZMZBw 2009: 3). Auftrag der
ZMZBw sei demgemäß, „auf der Grundlage politischer Vorgaben die Interessen und Absichten unterschiedlicher ziviler Stellen und Akteure sowie
Kräften der Bundeswehr (sowohl aus dem Bereich der Streitkräfte als auch
der Bundeswehrverwaltung) aufzuzeigen, abzustimmen und möglichst
anzugleichen“ (TK ZMZBw 2009: 3).
In diesem Sinne wird von einer „neuen Qualität“ militärischen Handelns
gesprochen (TK ZMZBw 2009: 3) und die politischen Zielsetzungen, die mit
Einsätzen verfolgt werden, mit den Aufgaben der Bundeswehr als „Exeku-
28
3. CIMIC-Doktrinen
tivorgan“ für „staatliche Sicherheitsvorsorge“ verbunden (TK ZMZBw 2009:
5). ZMZBw sei „in allen Phasen der Planung und Führung als integrierendes und gestaltendes Element zu berücksichtigen“ (TK ZMZBw 2009: 5).
ZMZ Ausland leiste „einen übergreifenden Beitrag zur Realisierung einer
politisch gebilligten Gesamtstrategie“ und sei „integraler Bestandteil militärischer Operationsplanung und –führung“ (TK ZMZBw 2009: 7; Hervorhebung im Original). Dabei wird unterschieden zwischen Einsätzen mit
hoher Intensität zur Friedenserzwingung und solchen mittlerer und niedriger Intensität mit dem Ziel der Friedensstabilisierung. In keiner sonstigen
Doktrin werden die „komplexen Aufgaben“, die mit den Einsätzen verfolgt
würden, und die daraus für CIMIC folgenden Anforderungen politisch so
weitgehend – bis hin zum explizit benannten „Nation building“ – beschrieben (TK ZMZBw 2009: 5). In diesen Formulierungen kommen in besonderem Maße einerseits die politischen Vorgaben, die für die Bundeswehreinsätze in Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Afghanistan maßgeblich sind oder waren, andererseits auch der optimistische Idealismus
zum Ausdruck, von dem die politischen Entscheidungen über Bundeswehreinsätze in diesen Fällen geprägt war.
Wesentlich mit Blick auf Fragen der Multilateralität bei Streitkräfteeinsätzen ist, dass es keine einheitliche CIMIC-Auffassung und –Festlegung z.B.
unter den NATO-Partnern gibt, weil die nationalen Konzepte nicht durch
die gemeinsame NATO-Doktrin ersetzt werden; diese stellt, wie schon
erwähnt, einen Konsens im Grundsätzlichen und damit einen Orientierungspunkt, aber keine klare Maßgabe für die Erstellung der nationalen
Doktrinen dar. So sagt z.B. die TK ZMZBw in aller Eindeutigkeit im Abschnitt „Grundlagen“ aus, dass die Teilkonzeption nicht nur „das grundlegende Dokument für die Gestaltung der ZMZ innerhalb der Bundeswehr“
sei, sondern auch „Grundlage für die Vertretung der Interessen des BMVg
sowohl gegenüber zivilen Behörden, Organisationen und Einrichtungen
sowie VN, OSZE, NATO, EU als auch gegenüber anderen Staaten“ (TK
ZMZBw 2009: 2). Auch zivil-militärische Aktivitäten im Rahmen der Vereinten Nationen sind also nicht allein oder vorrangig von der VN-eigenen
Doktrin abgedeckt, sondern werden durch – letztlich für die zivilmilitärische Kooperation entscheidenden – nationale Doktrinen ergänzt.
Konzeptuell und inhaltlich liegt jene Doktrin, die zivil-militärische Aktivitäten im Rahmen von Missionen der Vereinten Nationen regeln soll, unweit
29
3. CIMIC-Doktrinen
von den bisher erörterten. In den VN wird der Begriff UN Humanitarian
Civil-Military Coordination (UN CMCoord) in Abgrenzung von dem von der
NATO besetzten Begriff CIMIC verwendet, allerdings keineswegs einheitlich und abhängig von Missionen. Die Abteilung für Peacekeeping Operations bei den Vereinten Nationen verwendet die Abkürzung CIMIC in vielen
Operationsplänen. Gemeint ist bei den Vereinten Nationen sowohl die
Koordination als auch die Kooperation zwischen militärischen und zivilen
Stellen. Auch die VN-Doktrin steht im Zeichen der post-bipolaren Ausweitung über humanitäre Hilfeleistungen und Peacekeeping Operations hinaus, nämlich des Peace building in der Konfliktnachsorge, das auf Veränderungen in einer Reihe gesellschaftlicher Sektoren in den Einsatzländern
abzielt.
Seinen Niederschlag fand das gemeinsame bzw. sich überlappende Anliegen, in der Phase der „Konfliktnachsorge“ eine „nachhaltige Politik“ zu
betreiben, die sich auf strukturelle Verbesserungen für die Friedenswahrung richtet, etwa im „Civil-Military Coordination Officer Field Handbook“
der Vereinten Nationen, das gemeinsam von UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs und der European Commission Directorate
General für Humanitarian Aid – ECHO im Jahre 2007 erstellt und 2008
herausgegeben wurde (United Nations 2008). Dort werden bis in kleine
Details gehend Prinzipien, Richtlinien, institutionelle Formen und politische Optionen zivil-militärischer Koordination und Kooperation dargelegt.
30
4. Zivil-militärisches Spannungsverhältnis
In dem insgesamt noch wenig ausgeleuchteten Untersuchungsgebiet
CIMIC gibt es bezüglich der Zusammenarbeit auf der operativen Ebene
einzelne Studien, die aufschlussreich sind und für weitere Untersuchungen
Anregungen vermitteln (vgl. Brzoska/Ehrhart 2008; Braunstein/Meyer/Vogt 2001; Ehrhart 2007; Hofmann 2008; Jaberg/Biel/Mohrmann/Tomforde 2009; Tomforde 2009). Für die konzeptionellen wie für die praktischen Schwierigkeiten von CIMIC auf operativer Ebene werden in der
Regel drei Gründe angeführt. Der erste bezieht sich auf das Verhältnis
zwischen militärischen und zivilen Akteuren, das im Zentrum des CIMICKonzepts steht. Aufgrund unterschiedlicher Sozialisationshintergründe,
ungleicher Zielsetzungen und differenter Handlungs- sowie Organisationslogiken sei eine erfolgreiche Zusammenarbeit dieser Gruppen weder in
Afghanistan noch in Bosnien und Herzegowina oder im Kosovo in ausreichendem Maße möglich. Zweitens wird auf eine unzureichende materielle
und personelle Ausstattung verwiesen. Insbesondere der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan (und damit auch der Umfang von CIMIC) wird
häufig als zu klein kritisiert. Drittens wird die schon erwähnte Unterschiedlichkeit und Inkohärenz von CIMIC-Konzeptionen und –Interpretation angeführt, und zwar sowohl zwischen den an Auslandseinsätzen beteiligten
Nationen bzw. militärischen Führungen als auch innerhalb der beteiligten
Länder.
Insbesondere für größere Teile der unmittelbar am Einsatzort als zivile
Komponente – humanitäre Hilfe, Entwicklungspolitik und Zivilgesellschaft
– fungierenden Akteure ist CIMIC ein umstrittenes und fragwürdiges Konzept. Dies gilt vorrangig dort, wo die Sicherheitslage prekär ist. Da dies für
die Bundeswehr und die NATO insbesondere in Afghanistan der Fall ist, hat
sich hieraus eine lebhafte Debatte und eine zunehmende Diskrepanz zwischen der militärischen auf der einen und der zivilen und der humanitären
Dimension des Einsatzes auf der anderen Seite entwickelt. Viele zivile
Akteure (Hilfsorganisationen und NGOs) lehnen das Konzept zivilmilitärischer Zusammenarbeit ab, weil sie sich im Sinne der militärischen
Hauptaufgabe von CIMIC – Force Protection – instrumentalisiert sehen
oder eine Instrumentalisierung befürchten und damit zusammenhängend
ihre Neutralität und solcherart auch die Akzeptanz bei der Bevölkerung
und den politischen Akteuren vor Ort, von deren Wohlwollen und Koope-
31
4. Zivil-militärisches Spannungsverhältnis
ration die Tätigkeit von Hilfsorganisationen abhängig ist, in Gefahr sehen.
Viele Hilfsorganisationen kommen sogar zu dem Schluss, dass zivilmilitärische Zusammenarbeit für die Tätigkeit und die Sicherheit der Nichtregierungsorganisationen nicht nur abträglich ist, sondern sich auch kontraproduktiv auf die humanitären und entwicklungspolitischen Ziele auswirkt, die im Einsatzland verfolgt werden.
CIMIC wird als Teil einer Politik, Strategie und Taktik abgelehnt, die den
Bedürfnissen der dort lebenden Menschen nicht gerecht werde. Insbesondere wird herausgestellt, dass seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 der Widerspruch zwischen Anforderungen der landesspezifischen Armutsbekämpfung und den vorrangigen Zielen externer Akteure
noch größer geworden sei. Die externen Akteure engagierten sich vorrangig mit dem Ziel, ihre eigene Sicherheit zu verbessern. Das bestimme nicht
nur die Auswahl der Länder und Zonen, in denen man sich engagiere,
sondern auch die Zieldefinition und die Methoden und Praktiken, die in
den Zielländern angewandt würden. Humanitäre Fakten und Begründungen würden vorrangig zur besseren Legitimation der Durchführung militärischer Aktivitäten vorgebracht, die in Wirklichkeit zuallererst den Interessen der Intervenierenden zu dienen hätten. Unter dem Gesichtspunkt der
Bedürfnisse der Menschen vor Ort handele es sich vielfach um einen verfehlten Mittel- und Ressourceneinsatz. CIMIC als Teil der extern unter den
genannten Gesichtspunkten formulierten Strategie sei daher wirkungslos15.
Zumindest für Afghanistan war die immer weitgehendere Koppelung von
Hilfe, Entwicklung und Sicherheit sowie dem entsprechender organisatorischer Verknüpfung evident. Die Diskrepanz wurde durch die im Jahre 2010
eingeschlagene „neue Afghanistanstrategie“ der Bundesregierung, die
zugleich NATO-Konsens darstellte und die Ergebnisse der Londoner Konferenz vom Februar 2010 widerspiegelte, noch intensiviert. In London wurde
ein Strategiewechsel insofern vorgenommen, als verstärkte Aufstandsbe15
Vgl. etwa die Stellungnahmen in der Öffentlichen Anhörung zum Thema „Zivilmilitärische Zusammenarbeit“ im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung des Deutschen Bundestages am 25. Oktober 2006 (Deutscher Bundestag
2006). Des Weiteren die Studie von Mark Duffield über die Vernetzung von Entwicklung und Sicherheit im Zeichen des Kampfes gegen den internationalen
Terrorismus (Duffield 2006).
32
4. Zivil-militärisches Spannungsverhältnis
kämpfung, Rückeroberung und Halten von Schlüsselzonen, die zuvor von
Aufständischen besetzt worden waren, ziviler Aufbau in diesen Zonen und
verstärkte Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte, an die sukzessive die
Verantwortung für diese Gebiete übergeben werden soll, sowie eine
Machtteilung mit „moderaten Taliban“ als zentrale Elemente mit Blick auf
einen anvisierten Abzug externer Streitkräfte aus Afghanistan bis 2015
fixiert wurden. Für die deutschen Streitkräfte und die zivil-militärische
Zusammenarbeit in ihrem Verantwortungsbereich zog die Bundesregierung die Konsequenz, eine noch stärkere Verzahnung ziviler und militärischer Aktivitäten und eine Konzentration ziviler Aktivitäten dort vorzunehmen, wo durch militärische Kräfte im Zuge von Aufstandsbekämpfung
und militärischer Absicherung ein „sicheres Umfeld“ für Entwicklungsmaßnahmen geschaffen würde. Dies bedeutete tatsächlich nicht nur eine
höhere finanzielle Konzentration auf mit der Bundeswehr und ihrer Tätigkeit in Afghanistan verbundene Projekte, sondern auch eine stärkere Unterordnung und Einordnung ziviler Tätigkeit und Organisationen in einen
durch Sicherheitsmaßnahmen bestimmten Kontext (Das Parlament 2010).
Auch wenn von Teilen des Militärs die Skepsis ziviler Akteure und Organisationen bezüglich der Erfolgsaussichten, Afghanistan im Sinne ursprünglicher Interventionsabsichten zu stabilisieren, geteilt wird, bedeutet dies
freilich aus militärischer Perspektive nicht, dass CIMIC nicht sinnvoll wäre,
im Gegenteil: CIMIC ist in dieser Sicht der umso notwendigere Versuch,
um force protection zu verbessern und unter schwierigen Rahmenbedingungen wenigstens in Teilbereichen Erfolge zu erzielen, die grundsätzlich
vom Zusammenwirken militärischer und ziviler Aktivitäten abhängig sind.
Resümieren lässt sich, dass - über den Zeitraum der vergangenen zwei
Jahrzehnte hinweg betrachtet – CIMIC je nach Entwicklung an den
Einsatzorten einer Transformation unterlag. In Bosnien und Herzegowina
gibt es mittlerweile genügend interne und externe zivile Stellen, die das
übergeordnete politische Ziel, den Wiederaufbau und das State und Institution building, abdecken. Die CIMIC-Funktion in der unmittelbaren Nachkriegszeit – also nach dem Abkommen von Dayton im Dezember 1995 –
hat sich mit dem „Kalten Frieden“ zwischen den beiden „Entitäten“ und
der Konsolidierung der Nachkriegsverhältnisse weitgehend auf – die erreichte „Zivilität“ der Lage widerspiegelnd – Kommunikations-, Koordinations- und Aufklärungsaufgaben reduziert. Ähnliches gilt für CIMIC in Ko-
33
4. Zivil-militärisches Spannungsverhältnis
sovo, wo die speziellen Einheiten für zivil-militärische Zusammenarbeit
ebenfalls aufgelöst und neu zugeordnet wurden. In Afghanistan entwickeln
sich die Dinge in eine ganze andere, gegenteilige Richtung, und die Beschränkung und Verengung der CIMIC-Definition und die Reduzierung der
CIMIC-Aufgaben dort reflektieren nicht eine Zivilisierung, sondern eine
Militarisierung des Einsatzes.
Die Einsätze westlicher und internationaler Streitkräfte in Bosnien und
Herzegowina und im Kosovo stehen unter dem Vorzeichen von Friedenserhaltung und Konfliktnachsorge, wobei das externe Ziel eines von außen
definierten State und Nation building auf interne Widerstände stößt, andererseits aber auch mit dem Wunsch weiterer Bevölkerungskreise korrespondiert, „normale europäische Länder“ zu werden. Auf der operativen
Ebene wird die Eigenständigkeit ziviler und militärischer Akteure kaum
berührt. Latente Konkurrenz, Abstimmungs- und Kommunikationsprobleme, Kompetenzrangeleien usw. führen zwar zu Effizienzverlusten, aber
zivil-militärische Zusammenarbeit kann in seiner über die Jahre transformierten Bestimmung funktional wie institutionell ohne wesentliche Beeinträchtigung agieren. Freilich zeigen sich auch in Bosnien und Herzegowina
und in Kosovo die Grenzen und Widersprüchlichkeiten westlich-liberaler
Interventionslogik einerseits und gesellschaftlicher Realität in den Interventionsländern andererseits.
In Afghanistan wird die Einsatzrealität von der Gleichzeitigkeit von Wiederaufbau und Aufstandsbekämpfung bestimmt, mit zunehmender Bedeutung des zweitgenannten Elements. Für CIMIC bedeutet dies nicht nur
eine größere Abhängigkeit ziviler von militärischen Stellen und umgekehrt,
sondern auch ein zunehmender Trend zur Militarisierung und zur Aufhebung der Trennung zwischen zivilen und militärischen Maßnahmen. In
Afghanistan ist die Bundeswehr selbst Kriegspartei und daher nicht neutral. Der zunehmend strategische Fokus auf Kriegsführung bewirkt eine
entsprechende Reinterpretation und Instrumentalisierung von CIMIC. Die
Erfolge von CIMIC sind umso begrenzter, je schwieriger die Einsatzbedingungen werden und je stärker gleichzeitig die aufgezeigten Widersprüchlichkeiten des Konzepts, die mangelhafte Umsetzung des Konzepts und die
Inkompatibilität des Konzepts mit den Verhältnissen vor Ort zur Wirkung
gelangen.
34
4. Zivil-militärisches Spannungsverhältnis
Der Misserfolg von ISAF, NATO und nachgeordnet CIMIC in Afghanistan ist
demnach keineswegs nur auf unzureichenden Ressourceneinsatz oder
mangelnde Koordination ziviler und militärischer Akteure, sondern grundlegender auf die Diskrepanz zwischen den von den Interventen an die
afghanische Gesellschaft herangetragenen Transformationsvorstellungen
und den diesen Vorstellungen widersprechenden und sie konterkarierenden Verhältnissen im Land zurückzuführen. Die zentralstaatszentrierte
Interventionslogik widerspricht den realen sozialen und politischen Verhältnissen und Traditionen.
Auch in Afghanistan bestätigt sich die Erfahrung, dass interventionistische
Maßnahmen vielfach nicht die von den Interventen erwarteten Folgen
zeitigen, sondern mit der Intervention verbundene Maßnahmen selbst je
nach lokalen Verhältnissen adaptiert und transformiert werden, was dann
zu anderen Ergebnissen und Konsequenzen oder sogar zum Gegenteil
dessen führt, was mit dem externen Eingriff beabsichtigt war. In diesem
Dilemma liegt hauptsächlich begründet, dass CIMIC immer weniger einen
produktiven Beitrag zur Stabilisierung in Afghanistan zu leisten vermag.
35
36
5. Fazit
Als übergreifendes Resümee lässt sich also zweierlei festhalten. CIMIC war
nach dem Kalten Krieg von der Ambivalenz geprägt, die das außenpolitische Denken und Handeln der westlichen Länder seit dem weltpolitischen
Umbruch Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts generell kennzeichnete. Einerseits signalisierte die
Erweiterung des Begriffs Sicherheit die Bereitschaft und den Willen, in
einem höheren Maße als zuvor humanitären Grundsätzen und Anliegen
gerecht zu werden. Andererseits mutierte der „Sieg im Kalten Krieg“ zu
einer neuen Macht- und Ordnungspolitik mit einer offensiven Projektion
eigener Wert- und Systemvorstellungen, die in den zwei darauf folgenden
Jahrzehnten auf eine realitätsgerechte Wahrnehmung und realitätsgerechte Strategien im Verhältnis zur Umwelt zumindest partiell verzichten zu
können glaubte. Dazu kam eine Instrumentalisierung humanitärer Anliegen, um der eigenen Interessendurchsetzung größere Legitimität zu verleihen.
In den beiden ersten Jahrzehnten der post-bipolaren Ära bestimmte ein
nachgerade revolutionärer Impetus die Außen-, Sicherheits- und internationalen Ordnungspolitik westlicher Staaten. Die „Peace, State and Nation
Building (PSNB)-Philosophie“ (Schmunk 2008: 266) wurde Bestandteil
praktisch aller außenpolitischen, sicherheitspolitischen und entwicklungspolitischen Doktrinen. Institutionell bemächtigte sie sich der Außenministerien unterschiedlichster westlicher Länder und der Leitungsorgane regionaler Einrichtungen, transnationaler Gremien, internationaler Regierungsorganisationen, transnationaler privater Akteure und NGOs. Diese
„Philosophie“ hat eine neue Branche von internationalem Personal geschaffen, die von den Vereinten Nationen (Einrichtung einer Peacebuilding
Commission, eines Peacebuilding Support Office und eines Peacebuilding
Fund) über multilaterale regionale Einrichtungen (EU: Conflict Prevention
and Civilian Crisis Management; NATO: diverse Krisenmanagementeinrichtungen), weiter über die nationalen Außenämter (Berlin: Arbeitsstab des
Beauftragten für Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung; London: Post-Reconstruction Unit (PCRU), vorher bereits diverse Conflict Prevention Pools; Ottawa: Stabilization and Reconstruction
Task Force (START); Washington: Office of the Coordinator for Reconstruction and Stabilization usw. usf.) bis hinunter zu den Schulungseinrichtun-
37
5. Fazit
gen für Zivil-Militärische Zusammenarbeit bei den nationalen Streitkräften
reicht. Von den Befürwortern dieser Philosophie und selbstredend von
denjenigen, die in diesen Einrichtungen arbeiten und beschäftigt werden
wollen, wird noch immer mehr gefordert und kritisiert, dass es ihnen an
formalisierten Verfahren, an Personal und an finanziellen Ressourcen wie
auch an politischer Unterstützung fehle, um ihre Aufgaben erfüllen zu
können (Schmunk 2008: 269).
State und Nation building schien in der Zeit nach der Bipolarität (zusammen mit der Bekämpfung des internationalen Terrorismus) zur großen
transatlantischen Aufgabe und Herausforderung zu werden. Doch schon
die wenigen Nation und State building- Projekte, die in Angriff genommen
wurden, überforderten ihre Promotoren und Manager. Zugleich führte die
Bindung von Ressourcen vor allem im Irak und in Afghanistan zu Einschränkungen möglicher und sinnvollerer Hilfestellungen dort, wo eventuell erfolgreicher ein Beitrag zur Stabilisierung geleistet werden könnte.
International fehlten zunehmend Peacekeeping-Personal, Diplomaten,
Entwicklungsexperten, Polizei- und Armeeausbilder sowie finanzielle Mittel.
Diese Entwicklung hing nicht zuletzt mit der Einordnung von CIMIC als
Bestandteil und Instrument des schon weiter oben definierten Comprehensive Approach zusammen, der Prämisse also, dass „nachhaltiger Frieden“ nur durch die Etablierung eines gesellschaftlich-politischen Gesamtkomplexes – Sicherheit, humanitäre Hilfe, Wiederaufbau, Entwicklung,
governance und Rechtsstaatlichkeit – in konzertierter Aktion durch die an
dem gemeinsamen Ziel orientierten und beteiligten Akteure erreicht werden könne. Umgekehrt spielte CIMIC in diesem Diskurs über neue Grundlagen und Strategien westlicher Außenpolitik nicht nur eine operativinstrumentelle, sondern auch eine auf die Ausgestaltung wie die Verankerung des Comprehensive Approach dynamisierende Rolle. In einem Report
des Danish Institute for International Studies (DIIS) von 2008 kommt der
Autor, der in dieser Analyse „NATO’s Comprehensive Approach to Crisis
Response Operations“ bewertet, zu dem Schluss, die Allianz habe unter
der Drohung, in Afghanistan zu scheitern, in Theorie und Praxis des
Comprehensive Approach Fortschritte erzielt. Jedoch würden diese
Fortschritte vor allem wegen unterschiedlicher Ansichten der Mitglieder
der Allianz über die Rolle, die Ziele und das Vorgehen der NATO behindert.
38
5. Fazit
Gerade CIMIC und vor allem CIMIC in Afghanistan stelle einen entscheidenden Schritt dar, um den Comprehensive Approach in der NATO zu verankern, der aber ebenfalls von unterschiedlichen Restriktionen (divergierende Zielsetzungen bis divergierende Einsatzregeln und Fokussierung von
CIMIC als militärische Unterstützungsfunktion) eingeschränkt werde (Jacobsen 2008: 19).
Das Problem von Comprehensive Approach und CIMIC besteht jedoch
darin, dass der damit formulierte Anspruch kaum einlösbar ist. Schon auf
der nationalen Ebene (und damit in den nationalen Kontingenten am Einsatzort) ist unklar und umstritten, wie State bzw. Nation building betrieben werden soll. Die bis 2010 gültige „Afghanistan-Strategie“ der Bundesregierung war ohnehin mehr Wunschvorstellung als Strategie. Ihre Operationalisierung im Sinne eines Comprehensive Approach ließ sich von ganz
oben – Verzahnung beteiligter nationaler staatlicher Institutionen wie
Bundesregierung und der Ministerien für Auswärtiges, Inneres, Verteidigung und Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung untereinander sowie im multilateralen NATO- und internationalen VN-, IGO- und
NGO-Rahmen – bis ganz unten – Kooperation der Einsatzkräfte, der PRTs,
der staatlichen Aufbauaktivitäten und der etwa 1.000 NGOs, die in Afghanistan tätig sind, – höchstens partiell, sehr widersprüchlich und oftmals
gar nicht realisieren. Schon vom Anspruch her, vor allem aber in der praktischen Umsetzung ist der Comprehensive Approach eine Überforderung
und eine Unmöglichkeit.
Es gibt eine Reihe von Indizien, dass vor dem Hintergrund der negativen
Erfahrungen in Afghanistan und im Irak zumindest in Teilen von Politik und
Wissenschaft ein Mentalitätswandel in Gang gesetzt wurde. Die Pläne
eines ausgedehnten State und Nation building gerieten, angesichts von
Misserfolgen, Rückschlägen und ausufernden Kosten in die Krise. CIMIC
wurde von Teilen der damit befassten Politiker, Militärs und Experten wieder stärker auf die militärische – in Abgrenzung zu einer umfassend politischen – Auftragserfüllung bezogen. Der Diskurs hat sich verändert, und die
Generation, die die post-bipolare Ära des State and Nation building by
Design und von CIMIC als Bestandteil und Dynamik eines Comprehensive
Approach geprägt hat, wird von Pragmatikern in Frage gestellt, die wieder
stärker Kosten-Nutzen-Erwägungen in den Vordergrund stellen.
39
5. Fazit
Was die bisherigen Erfahrungen vermitteln, ist, dass die Erfolgschancen
von CIMIC unter dem Aspekt angepeilter Transformationsziele beim Einsatz in Post-Kriegsgesellschaften maßgeblich von den Schnittmengen einerseits endogener Voraussetzungen und Dynamiken und andererseits
exogener Strategieentwicklung, Ressourcen-Allokation, vor allem aber
politischer Zielsetzung, determiniert werden.
Als Schlussfolgerung kann eine paradoxe Faustregel formuliert werden.
CIMIC ist bei Auslandseinsätzen als zentrales Element der Realisierung
extern induzierter State und Nation building–Prozesse umso erfolgreicher,
je weniger es gebraucht wird. Gleichzeitig: Je kleiner die vorgenannten
Schnittmengen endogener Voraussetzungen und exogener Transformationsabsichten, desto notwendiger ist CIMIC im Sinne eines Comprehensive
Approach, um den Diskrepanzen zwischen externer politischer Zielsetzung
und internen Widerständen und Hindernissen gerecht zu werden. Je größer aber diese Diskrepanz und je notwendiger CIMIC und der Comprehensive Approach sind, von diese zu überwinden, desto mehr wird CIMIC zu
einer mission impossible – siehe Afghanistan.
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