Jenseits der zwei Geschlechter

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Impressum
Herausgeberin
Bündnis 90/Die Grünen
Bundestagsfraktion
Platz der Republik 1
11011 Berlin
www.gruene-bundestag.de
Verantwortlich
Monika Lazar, MdB
Sprecherin für Frauenpolitik und zuständige Abgeordnete für
Intersexualität
Bündnis 90/Die Grünen
Bundestagsfraktion
Platz der Republik 1
11011 Berlin
E-Mail: [email protected]
Redaktion
Jerzy M. Szczesny
Referent für Antidiskriminierungs- und Gesellschaftspolitik
[email protected]
Bezug
Bündnis 90/Die Grünen
Bundestagsfraktion
Info-Dienst
Platz der Republik 1
11011 Berlin
Fax: 030 / 227 56566
E-Mail: [email protected]
Schutzgebühr
€ 1,--
Redaktionsschluss
August 2011
Jenseits der zwei Geschlechter
Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion - 08/2011
Inhalt
Jenseits der zwei Geschlechter
- Wie kann die Situation intersexueller Menschen verbessert werden?
Vorwort ............................................................................................................................................. 3
Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen „Grundrechte von
intersexuellen Menschen wahren“ (BT-Drucksache 17/5528) ............................................. 4
Dokumentation des öffentlichen Fachgespräch vom 27. Mai 2009 in Berlin
Begrüßung und Einführung ........................................................................................................ 5
Vorstellung des Schattenberichts zum 6. Staatenbericht Deutschlands zum UNOÜbereinkommen zur Beseitigung jeder Form der
Diskriminierung der Frau (CEDAW) ......................................................................................... 7
Vorstellung der Hamburger Studie ......................................................................................... 13
Vorstellung der Klinischen Evaluationsstudie im Netzwerk Intersexualität ............... 18
Erfahrungen von Eltern mit der Intersexualität ihrer Kinder ........................................... 26
Wie soll eine psychotherapeutische Unterstützung der Intersexuellen und
ihrer Eltern gestaltet werden?.................................................................................................. 31
Wie kann die optimale Begleitung intersexueller Menschen aus medizinischer Sicht
sein? ................................................................................................................................................ 36
Rechtliche Aspekte der Intersexualität und
Handlungsspielräume des Gesetzgebers ............................................................................. 42
Anhang
Motion tabled by the Alliance 90/The Greens parliamentary group “Safeguarding
the rights of intersex people“ ................................................................................................... 52
Jenseits der zwei Geschlechter
Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion - 08/2011
Vorwort
Liebe Interessierte,
die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen setzt sich für die konsequente
Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Trans*-Personen, Bi- und Intersexuellen
ein. Wir verstehen uns als Sprachrohr dieser gesellschaftlichen Gruppen und kämpfen für eine konsequente Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitik.
Bündnisgrüner Politik ist es maßgeblich zu verdanken, dass unsere Gesellschaft
immer offener und pluralistischer geworden ist. Das Gesetz zur eingetragenen Lebenspartnerschaft hat etwa die Toleranz gegenüber Schwulen und Lesben erheblich
verstärkt. Damit sind wir aber noch lange nicht am Ziel.
In unserer Gesellschaft sind Trans*-Personen und intersexuelle Menschen in den
letzten Jahren immer sichtbarer und ihre Forderungen immer lauter geworden. Sie
und viele andere stellen zunehmend das polare Modell der starren Geschlechtszugehörigkeiten in Frage. Ihrem Mut und Engagement ist es zu verdanken, dass diese
Themen enttabuisiert und im öffentlichen Diskurs immer präsenter werden.
Als Bündnisgrüne stellen wir uns Ausgrenzung aktiv entgegen. Dazu bekämpfen wir
nicht nur alle Formen von Homo- und Transphobie, sondern fordern die Bundesregierung auch zu einem entschiedenen Vorgehen gegen Diskriminierungen von
Intersexuellen auf. Im Bundestag haben wir bereits mehrfach die Reform des veralteten Transsexuellengesetzes angemahnt und gesetzgeberische Möglichkeiten für
eine an den Bedürfnissen der Betroffenen orientierte Neufassung aufgezeigt.
Unter dem Titel "Jenseits der zwei Geschlechter – wie kann die Situation intersexueller Menschen verbessert werden?", lud die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen am
27. Mai 2009 zu einem Fachgespräch in den Deutschen Bundestag ein. Rund 80 Gäste
nutzten die Gelegenheit und diskutierten medizinische, psychologische und rechtliche Aspekte der Zwischengeschlechtlichkeit. An Politik und Gesellschaft wurden
klare Forderungen gestellt; diese sind in der vorliegenden Publikation dokumentiert.
Auf Grundlage dieses Fachgesprächs hat die Fraktion im April 2011 einen Antrag
mit dem Titel „Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren“ in den Deutschen
Bundestag eingebracht (Drucksache 17/5528). In diesem fordern wir unter anderem,
das Personenstandsgesetz so zu ändern, dass der Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde auch intersexuellen Menschen Rechnung tragen kann und medizinisch nicht notwendige Operationen an den Genitalien intersexueller Menschen
unterbleiben. Zudem fordern wir den Ausbau von Beratungs- und Betreuungseinrichtungen für Betroffene, deren Angehörige sowie für medizinisches Personal.
Ich wünsche Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre.
Monika Lazar, MdB
Sprecherin für Frauenpolitik und zuständige Abgeordnete für Intersexualität
Jenseits der zwei Geschlechter
Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion - 08/2011
Seite 3
Deutscher Bundestag
17. Wahlperiode
Drucksache
17/5528
13. 04. 2011
Antrag
der Abgeordneten Monika Lazar, Volker Beck (Köln), Kai Gehring, Kerstin Andreae,
Birgitt Bender, Katja Dörner, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, Sven-Christian Kindler,
Maria Klein-Schmeink, Tom Koenigs, Agnes Krumwiede, Jerzy Montag,
Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, Claudia Roth (Augsburg), Krista Sager,
Dr. Gerhard Schick, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Grundrechte von intersexuellen Menschen wahren
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Intersexuelle Menschen sollen als ein gleichberechtigter Teil unserer vielfältigen Gesellschaft anerkannt und dürfen in ihren Menschen- und Bürgerrechten
nicht eingeschränkt werden. Als intersexuell werden Menschen bezeichnet, bei
denen Chromosomen und innere oder äußere Geschlechtsorgane nicht übereinstimmend einem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden
können oder die in sich uneindeutig sind. Wissenschaftlichen Studien zufolge
werden in Deutschland etwa 150 bis 340 Kinder pro Jahr geboren, die als intersexuell klassifiziert werden können. Die Gesamtzahl der Betroffenen mit
schwerwiegenderen Abweichungen der Geschlechtsentwicklung liegt nach Angaben der Bundesregierung bei etwa 8 000 bis 10 000 (Bundestagsdrucksache
16/4786). Die Verbände der Intersexuellen sprechen allerdings von einer deutlich höheren Zahl der Betroffenen.
Trotz dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse ignoriert die deutsche Rechtsordnung die Existenz intersexueller Menschen, die sowohl juristisch als auch gesellschaftlich ausgegrenzt bleiben.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher dazu auf,
●
die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz so zu ändern, dass ein Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde auch der Existenz
von intersexuellen Menschen Rechnung tragen kann;
●
einen Gesetzentwurf vorzulegen, wonach die gesetzlichen Grundlagen für offizielle statistische Erhebung so geändert werden, dass bei der Angabe „Geschlecht“ nicht nur zwei Antworten möglich sind;
●
sicherzustellen, dass das prophylaktische Entfernen und Verändern von Genitalorganen auch bei intersexuellen Kindern unterbleiben soll;
●
gemeinsam mit den Ländern ein unabhängiges Beratungs- und Betreuungsangebot für betroffene Kinder, deren Eltern, betroffene Heranwachsende und
Erwachsene, zu schaffen und dabei die Beratungs- und Selbsthilfeeinrichtungen der Betroffenenverbände einzubeziehen;
Drucksache 17/5528
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
●
gemeinsam mit den Ländern eine Beratungsstelle für die Angehörigen der
beteiligten Gesundheitsberufe (Ärztinnen und Ärzte, Psychotherapeutinnen
und Psychotherapeuten, Hebammen etc.) zur medizinischen, psychologischen und gesellschaftlichen Aufklärung über das Thema Intersexualität einzurichten;
●
den Dialog mit den zuständigen Bundes- und Landeskammern der Ärzte und
Psychotherapeuten sowie der Hebammenverbände aufzunehmen mit dem
Ziel, dass Curricula in Ausbildungs- und Prüfungsordnungen um das Thema
Intersexualität, in den ebenso Perspektive der intersexuellen Menschen vorkommt, zu ergänzen und es verstärkt im Rahmen von Fort- und Weiterbildungsangeboten zu berücksichtigen;
●
bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass das Thema Intersexualität ein fester Bestandteil des Schulunterrichts, beispielsweise in den Fächern Biologie,
Sozialkunde oder Ethik wird;
●
bei den Ländern darauf hinzuwirken, dass die Fristen für die Aufbewahrung
der Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich auf 30 Jahre ab Volljährigkeit verlängert werden;
●
weitere wissenschaftliche interdisziplinäre Forschungen zum Thema Intersexualität mit einem interdisziplinären Ansatz und auch unter Beteiligung
von Kultur-, Gesellschaftswissenschaften wie der Betroffenenverbände zu
fördern.
Berlin, den 12. April 2011
Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion
Begründung
Intersexuelle Menschen, d. h. Menschen, bei denen geschlechtsdeterminierende
und geschlechtsdifferenzierende Merkmale des Körpers (zum Beispiel die Chromosomen, Gene, Hormonhaushalt, Keimdrüsen, innere und äußere Geschlechtsorgane) nicht übereinstimmend dem männlichen oder weiblichen Geschlecht
entsprechen oder einem Geschlecht klar zugeordnet werden können, sind ein
gleichberechtigter Teil unserer vielfältigen Gesellschaft. In Deutschland werden
etwa 150 bis 340 Kinder pro Jahr geboren (eine von 4 500 bis 2 000 Geburten),
die als intersexuell klassifiziert werden können (Woweries, Frühe Kindheit,
0310, S. 18). Die Verbände der intersexuellen Menschen sprechen allerdings
von einer deutlich höheren Zahl der Betroffenen.
Die Existenz intersexueller Menschen wird in der Wissenschaft seit Jahren anerkannt und untersucht. So zum Beispiel wird seit 2003 im Rahmen des Förderschwerpunkts „Netzwerke für seltene Erkrankungen“ ein nationales Forschungsnetzwerk zu „Störungen der somatosexuellen Differenzierung und Intersexualität“ mit insgesamt 3,4 Mio. Euro vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung gefördert. Auch der Deutsche Ethikrat befasste sich mit dem Thema
und veranstaltete am 23. Juni 2010 im Rahmen der Vortragsreihe im Forum
Bioethik ein Expertengespräch.
Ebenso wird das Phänomen auf der politischen internationalen Ebene diskutiert,
da immer öfter intersexuelle Menschen sich zu Wort melden und gegen bisherige Praktiken der Behandlung intersexueller Menschen im Kindesalter
protestieren. Auf der Ebene der Vereinten Nationen ist das 2008/2009 bei der
Berichterstattung zum „Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Dis-
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kriminierung der Frauen“ (CEDAW) ins Licht der Öffentlichkeit gekommen,
nachdem ein Schattenbericht vom Verein „Intersexuelle Menschen e. V.“ zum
offiziellen CEDAW-Bericht der Bundesregierung Menschenrechtsverletzungen
an Intersexuellen dargestellt hatte. Ebenso wurde vor Kurzem vom Verein „Intersexuelle Menschen e. V.“ und der Selbsthilfegruppe „XY-Frauen“ ein Schattenbericht zum Fünften offiziellen Staatenbericht der Bundesregierung an den
„UN-Ausschuss über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR)“
erstellt.
Trotz der biologischen und medizinischen Erkenntnisse wird Intersexualität im
deutschen Recht nur im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz berücksichtigt,
wobei sie lediglich im Begründungsteil zum Begriff „sexuelle Identität“ erwähnt
wird. Allerdings sah schon das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten vom 5. Februar 1794 die Existenz von „Zwitter“ (§§ 19 bis 23) vor. Ebenso
hat das Bundesverfassungsgericht 1978 in seinem Transsexuellenbeschluss die
Abgrenzung zwischen Trans- und Intersexualität deutlich gemacht (BVerfGE
49, 286, 304).
Demgegenüber ignoriert das Personenstandsrecht diese Variante biologischer
Vielfalt. Zwar regelt § 21 des Personenstandsgesetzes die Aufnahme des Geschlechts des Kindes in das Geburtenregister (§ 59 in die Geburtsurkunde), ohne
diese Angabe zu präzisieren. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsrecht schreibt jedoch in Nummer 21.4.3 klar vor (und geht insoweit
über die vorher geltende Allgemeine Dienstanweisung für die Standesbeamten
und ihre Aufsichtsbehörden – DA hinaus): „Das Geschlecht des Kindes ist mit
‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ einzutragen“. Die Geschlechter werden jedoch nicht
definiert. Bisherige Versuche, einen intersexueller Geburtskonstitution entsprechenden Eintrag zu erreichen, wurden gerichtlich in zwei Instanzen abschlägig
beschieden (Amtsgericht München, FamRZ 2002, 955 bis 957 und Landgericht
München I, FamRZ 2004, 269 bis 271). Diese Gesetzeslücke führt im Ergebnis
dazu, dass Hebammen bzw. Ärztinnen und Ärzte zu kontrafaktischen Eintragungen gezwungen werden (Plett, Konstanze: Intersex und Menschenrechte. In:
Lohrenscheit, Claudia (Hg.) Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht.
Deutsches Institut für Menschenrechte. Nomos, 2009). Die Verfassungswidrigkeit dieser Regelung wurde kürzlich in einer juristischen Dissertation nachgewiesen (Angela Kolbe, Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungsrecht, 2010).
Ebenfalls bestehen bei offiziellen statistischen Erhebungen in der Rubrik „Geschlecht“ nur zwei Möglichkeiten. Damit missachten die geltenden Statistikgesetze die geschlechtliche Identität der Intersexuellen, die sich weder dem
männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen können, und zwingen
sie, ordnungswidrig falsche Auskünfte zu erteilen.
Darüber hinaus berichten intersexuelle Menschen, die in der Regel mehrfachen
Operationen insbesondere im Säuglings- und Kindesalter unterzogen wurden,
dass sie sich als Opfer von Verstümmelungen sehen und ihre Gefühle, Wut und
Hass sowie traumatische Erlebnisse noch Jahrzehnte lang und sehr intensiv erleben (Woweries, Frühe Kindheit, 0310, S. 20).
Auch wissenschaftliche Nachuntersuchungen zeigen ein bedrückendes Bild
(Schweizer, Katinka und Richter-Appelt, Hertha: Leben mit Intersexualität. Behandlungserfahrungen, Geschlechtsidentität und Lebensqualität Psychotherapie
im Dialog, 10. 2009(1): 19 bis 24). Weit über die Hälfte der an der sog. Hamburger Studie Teilnehmenden zeigte klinisch relevanten Leidensdruck; 47 Prozent
hatten Suizidgedanken; 13,5 Prozent berichteten über zurückliegenden Selbstverletzungen. Ein großer Teil gibt eine asexuelle Orientierung an, welche auf
traumatisierende Operations- und Behandlungserfahrungen zurückgeführt wird,
durch die sie jedes sexuelle Interesse und die Fähigkeit, sich zu verlieben, ver-
Drucksache 17/5528
Drucksache 17/5528
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loren haben. Ebenfalls ist die Eltern-Kind-Beziehung hohen Bindungsbelastungen ausgesetzt.
Eine andere 2008 durchgeführte klinische Evaluationsstudie im Netzwerk Intersexualität ergab ebenfalls eine sehr hohe Unzufriedenheit der Betroffenen mit
den operativen und hormonellen Eingriffen (www.netzwerk-dsd.uk-sh.de). Vor
allem Erwachsene waren mit den massiven psychischen und physischen Folgen
der genitalen Operationen sehr unzufrieden. Bei 25 Prozent aller operierten
Studienteilnehmenden kam es zu Komplikationen. 28 Prozent aller Erwachsenen beklagten, dass es für sie schwierig ist, eine spezialisierte Behandlung der
nachfolgenden Probleme zu finden. Bei den untersuchten Erwachsenen haben
45 Prozent in der psychischen Gesundheit deutlich schlechtere Werte als eine
Vergleichsgruppe. Und auch die teilnehmenden Kinder geben Einschränkungen
in der Lebensqualität in fast allen Bereichen an. Daher sollte das prophylaktische Entfernen und verändern von Genitalorganen auch bei intersexuellen Kindern unterbleiben und nur bei einer anerkannten medizinischen Indikation
durchgeführt werden.
Ebenso ist es dringend notwendig, ein unabhängiges Beratungs- und Betreuungsangebot für betroffene Kinder, derer Eltern, betroffene Heranwachsende und Erwachsene, einschließlich Unterstützung ihrer Beratungs- und Selbsthilfeeinrichtungen, zu schaffen.
Ferner beklagen intersexuelle Menschen, dass ihnen der Zugang zu Krankenakten verwehrt bleibt. Oft erfahren sie über an ihnen im Säuglings- und Kindesalter durchgeführten Operationen erst im Erwachsenalter, wenn die ganze medizinische Dokumentation nicht mehr existiert. Deshalb ist es notwendig, eine
Sonderregelung zu schaffen, nach der die Fristen für die Aufbewahrung von
Krankenakten bei Operationen im Genitalbereich auf 30 Jahre ab Volljährigkeit
verlängert werden (vgl. Ethische Grundsätze und Empfehlungen bei DSD. –
Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität: „Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung“. Monatsschrift für Kinderheilkunde, 2008 (156), S. 245).
Schließlich soll das bisher tabuisierte Thema Intersexualität in Fort- und Weiterbildungsangeboten für die Angehörigen der beteiligten Gesundheitsberufe integriert werden. Ebenfalls soll das Thema ein fester Bestandteil des Schulunterrichts, beispielsweise in den Fächern Biologie, Sozialkunde oder Ethik sein, da
schon in der Schule Vorurteile entstehen und Stigmatisierung intersexueller
Menschen beginnt. Darüber hinaus soll es weiter möglichst interdisziplinär unter Beteiligung von Kultur-, Gesellschaftswissenschaften wie der Betroffenenverbände erforscht werden, da Intersexualität kein rein medizinisches Phänomen ist, sondern die gesamte Gesellschaft dazu auffordert, sich mit dieser Form
der Vielfalt auseinanderzusetzen, anstatt intersexuelle Menschen durch die
Medizin in ein System starrer Zweigeschlechtlichkeit einzupassen.
Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de
Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de
ISSN 0722-8333
Dokumentation des öffentlichen Fachgesprächs
vom 27. Mai 2009 in Berlin
„JENSEITS DER ZWEI GESCHLECHTER –
WIE KANN DIE SITUATION INTERSEXUELLER MENSCHEN VERBESSERT WERDEN?“
Begrüßung und Einführung
Irmingard Schewe-Gerigk, MdB
Parlamentarische Geschäftsführerin und Frauenpolitische
Sprecherin in der 16. Legislaturperiode
Guten Tag, liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Gäste, ich freue mich,
dass ich Sie so zahlreich zu unserer Veranstaltung "Jenseits der zwei Geschlechter Wie kann die Situation intersexueller Menschen verbessert werden" begrüßen kann.
In letzter Zeit können wir erfreulicherweise feststellen, dass das Thema Intersexualität immer öfter auch ans Licht der Öffentlichkeit gekommen ist. Dies ist sehr couragierten Menschen zu verdanken, die den Mut hatten sich zu outen, auch oft mit
sehr tragischen Schicksalen. Sie riskierten damit eine gesellschaftliche Stigmatisierung, indem sie sich für die Rechte intersexueller Menschen einsetzten, und verdienen unser aller Respekt.
Dank des zivilgesellschaftlichen Engagements der intersexuellen Menschen wurde
2002 das erste Fachgespräch von Bündnis 90/ Die Grünen veranstaltet. Damals haben wir im Dialog mit Betroffenen und Fachleuten die grundsätzlichen Probleme
diskutiert. Wir sind damals zu dem Ergebnis gekommen, dass die irreversible Entscheidung, die die Eltern, aber auch Ärztinnen und Ärzte für Kinder treffen, ethische
Fragen aufwerfen, denen sich weder die Politik, noch die Medizin entziehen darf.
Die Idee, einen Runden Tisch zur Intergeschlechtlichkeit zu organisieren, kam ebenfalls von den Vertreter_Innen der intersexuellen Bewegung, nämlich von der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen. Vielleicht ist das heute so
etwas wie ein Auftakt für einen Runden Tisch, dass wir miteinander ins Gespräch
kommen, das dann auch weitergeführt wird. Wir wollen als Politiker und Politikerinnen wissen: Gibt es einen politischen Handlungsbedarf? Die Antwort ist klar: Ja.
Darum haben wir dieses Treffen organisiert. Ich bin auch sehr froh, dass zwei Aktivist_Innen der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen, bei
unserer Veranstaltung dabei sind.
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Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion - 08/2011
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Liebe Gäste, seit ein paar Jahren werden wissenschaftliche Studien durchgeführt,
die sich dem Thema Intersexualität widmen. Lassen Sie mich die Studie von Prof.
Hertha Richter-Appelt erwähnen, die uns ihre Resultate gleich präsentieren wird.
Auch Ihnen ein herzlichen Willkommen.
Im Anschluss werden wir die Ergebnisse der klinischen Evaluationsstudie im Netzwerk Intersexualität von Frau Dr. Martina Jürgensen und Frau Eva Kleinemeier vorgestellt bekommen. Auch Ihnen noch einmal ein herzliches Willkommen.
Zurzeit wird auch auf der europäischen Ebene an wissenschaftlichen Analysen gearbeitet, die von Herrn Prof. Hiort koordiniert werden. Herr Prof. Hiort kann heute
nicht teilnehmen, erklärte sich aber bereit, uns zukünftig bei fachlichen Fragen zur
Verfügung zu stehen.
Auf der politischen Ebene hat das Thema Intersexualität 2008 bei der Berichterstattung zum Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung von
Frauen, das so genannte CEDAW-Abkommen, an Bedeutung gewonnen. Es gibt einen Schattenbericht vom Verein Intersexuelle Menschen e.V. zu dem offiziellen
CEDAW-Bericht der Bundesregierung. Hier wurden Menschenrechtsverletzungen an
Intersexuellen angeprangert. Die Bundesregierung hält sich aber immer noch sehr
zurück und hat nicht das Gefühl, dass da etwas verändert werden muss.
Darum möchte ich an dieser Stelle die Autorinnen dieses Schattenberichtes Lucie
Veith und Sarah Luzia Hassel-Reusing und Claudia Kreuzer hier bei uns ganz herzlich begrüßen.
Bei unserem Treffen 2002 wurde deutlich, dass auch die Eltern von intersexuellen
Menschen unsere Unterstützung brauchen. Aus diesem Grunde haben wir uns an
die Organisation von Eltern intersexueller Kinder gewandt, um auch mit ihren Vertretern und Vertreterinnen diskutieren zu können. Ich möchte daher Frau Ursula R.
ganz herzlich danken, dass sie zu unserer Fachtagung gekommen ist und gleich zu
ihren Erfahrungen sprechen wird. Auch Ihnen ein herzliches Willkommen.
Wir haben für die heutige Tagung ein Ziel, nämlich die Fragestellung: Wie kann die
Situation der intersexuellen Menschen verbessert werden? Auf diese Frage werden
wir gemeinsam Antworten suchen. Darum freue ich mich auch auf die Referate von
Frau Prof. Annette Grüters-Kieslich und Frau Prof. Konstanze Plett, die uns sowohl
aus der medizinischen als auch aus der juristischen Sicht Impulse für konstruktive
Gespräche geben. Ich begrüße Sie recht herzlich.
Wir haben fast die Hälfte unserer Zeit dafür vorgesehen, dass die politischen Vorschläge und Forderungen im Dialog mit Ihnen, mit den Betroffenen, mit den Eltern,
Expertinnen und Experten sowie denjenigen, die sich mit der Situation von intersexuellen Menschen auseinandersetzen und Lösungen suchen, dass wir das erarbeiten können. Wir sind also hier an einem so genannten Runden Tisch, wo wir nicht
Vorträge hören und dann wieder nach Hause gehen, sondern wir wollen mit Ihnen,
mit den ExpertInnen formulieren, wo der Handlungsbedarf ist und wo wir Sie als
Politik unterstützen können, wo aber auch die Gesellschaft ihren Anteil dazu beitragen muss.
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Jenseits der zwei Geschlechter
Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion - 08/2011
Vorstellung des Schattenberichts zum 6. Staatenbericht
Deutschlands zum UNO-Übereinkommen zur Beseitigung
jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW )
Erste Vorsitzende Intersexuelle Menschen e.V.
Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Hermaphroditen, liebe Freunde, zunächst danke ich ganz herzlich für die Einladung. Mein Name ist Lucie Veith. Ich
wurde vor 53 Jahren als intersexueller Mensch geboren und bin Überlebende eines
Menschenversuchs, der mich zum Schwerbehinderten mit derzeit GDB 80 gemacht
hat. Ich habe einen Pass, der mich trotz meiner XY-Chromosomen als weiblich ausweist. Ich bin seit 32 Jahren verheiratet, gehöre der Selbsthilfegruppe XY-Frauen an
und bin seit vier Jahren ehrenamtliche Onlineberaterin für die Selbsthilfe und ehrenamtlich seit April 2009 1. Bundesvorsitzende des Vereins Intersexuelle Menschen
e.V. und 1. Vorsitzende des Landesverbands Niedersachsen.
Wir haben den Schattenbericht gemeinsam mit der Allianz der Frauenorganisation
in Deutschland im August 2008 in New York eingereicht. Ende Januar 2009 wurde er
vom CEDAW -Ausschuss verhandelt.
Am 02.02.2009 wurden der Schattenbericht und der Staatenbericht in Genf verhandelt. Bis zum heutigen Tag hat sich noch kein Ministerium mit uns in Verbindung
gesetzt. Die Unsichtbarmachung findet ihre Fortsetzung.
Hier geht es um die Situation intersexueller Menschen derzeit in Deutschland.
Physische, psychische Anlagen machen uns zu dem, was wir sind - intersexuelle
Menschen, eine Variante der Natur, die nicht eindeutig in die bipolare
Konstruktwelt passt.
Der medizinische Betrieb stellt den genetischen und hormonellen, auch den physischen Zustand fest und erklärt den Zustand zum Syndrom. Wir kommen also nach
der Geburt meist schon das erste Mal mit der Medizin sehr eng zusammen, und zwar
nur deshalb, weil wir nicht typisch Mann oder Frau werden. Die Medizin greift oft
schon unmittelbar nach der Geburt entscheidend in das Leben eines Menschen ein.
Die Eintragung und Feststellung des Geschlechts erfolgt durch die Hebamme, durch
den Arzt.
Die Medizin stellt aber nicht nur fest, sondern sie greift ein in den Regelkreis des
Lebens und auch unserer persönlichen Entwicklung - und dies schon oft im Säuglingsalter.
Neben den ererbten Anlagen bestimmen die Rechte, die wir durch die Geburt erwerben, und das soziale Leben unsere Entwicklung. Doch auch in diesem Bereich
wird durch den medizinischen Betrieb aktiv in unser Selbstbestimmungsrecht und
in eine Vielfalt von Rechten intersexueller Menschen eingegriffen.
Durch die Praxis, den Eltern die Verantwortung für das medizinische Tun aufzubürden, greift die Medizin auch aktiv in das Eltern-Kind-Verhältnis ein.
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Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion - 08/2011
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Einen Schutz bietet nach unserer Rechtsauffassung die Anwendung der Menschenrechte der UN, die wir jetzt auch vehement einfordern werden. Wir werden nicht
nachlassen darauf zu drängen, dass diese UN-Verträge auch tatsächlich in das persönliche Recht eines jeden umgesetzt werden.
In Deutschland leben nach offiziellen Angeben 80- bis 120.000 Menschen, die von der
Medizin als intersexuelle Menschen oder seit 2005 als Männer oder Frauen mit DSD
klassifiziert werden. 95 % erleiden in ihrem Leben medizinische Eingriffe, für die es
keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt - Evidenzklasse 5. Die Menschen werden in der überwiegenden Zahl nicht über den Menschenversuch - und
wenn kein Standard vorliegt, ist es ein Menschenversuch - aufgeklärt, weder über
den Menschenversuch selbst, noch über die Folgen.
85 % dieser Menschen werden dem weiblichen Geschlecht zugewiesen. Diese Zuweisung geschieht in der überwiegenden Mehrzahl ohne umfassende Aufklärung
und ohne ihre rechtsgültige Zustimmung. Niemanden scheint das zu stören. Die
überwiegende Anzahl dieser Menschen sind über ihr Sein nicht informiert. Akten
werden ihnen vorenthalten. Die Rekonstruktion ihrer Biographie wird ihnen später
unmöglich gemacht.
Intersexuelle wurden früher auch als Zwitter oder Hermaphroditen bezeichnet. Seit
1937 ist der Zusatz "zwittrig" nicht mehr möglich. Der Eintrag einer Geburt ohne Geschlecht mit neutralem Vornamen ist in der Bundesrepublik ebenfalls nicht möglich.
Die Wahrheit wird somit unmöglich gemacht. Die Bundesregierung, die Vertreter
der Länder und eine Reihe von Organisationen verschließen sich dem Thema nach
wie vor und erkennen die Menschenrechte intersexueller Menschen nicht an.
Nun zu den Rechten aus dem CEDAW, die wir bearbeitet haben oder die ich heute
ansprechen möchte:
Artikel 1 ist allgemein bekannt. Er regelt die Würde und die Gleichheit vor dem Gesetz. In ähnlicher Form haben wir ihn im Grundgesetz. Da wird auch davon gesprochen, dass alle Menschen gleich sind und dass das Geschlecht nicht entscheidend
ist.
Nach der Rechtsauffassung der Berichterstatterin erfüllen intersexuelle Menschen
in besonderem Maße die Voraussetzungen, um unter dem Begriff Diskriminierung
der Frau Schutz zu finden. Das klingt jetzt ein bisschen komisch, aber dieser Vertrag
gibt das nach unserer Rechtsauffassung sehr gut her, weil jede Diskriminierung
wegen des Geschlechtes damit ausgeschlossen ist.
Intersexuelle Menschen werden infolge der in der Medizin immer noch begründeten
Geschlechtsstereotypen wegen ihres Geschlechtes vielfältig medizinischen Eingriffen zur Veränderung ihrer natürlichen geschlechtlichen Persönlichkeit unterworfen.
Dadurch werden die davon Betroffenen durch fremden Willen zu gerade nicht die
ihnen angeborene Geschlechtlichkeit bestimmt. Ihnen wird damit verwehrt, die in
dem Prinzip der Gleichberechtigung von Mann und Frau begründeten Anerkennung, Inanspruchnahme und Ausübung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten in allen Bereichen wahrnehmen zu können.
Im Artikel 3 heißt es: "Die Vertragsstaaten treffen auf allen Gebieten, insbesondere
auf politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellem Gebiet, alle geeigneten
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Jenseits der zwei Geschlechter
Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion - 08/2011
Maßnahmen, einschließlich gesetzgeberischer Maßnahmen, zur Sicherung der vollen Entfaltung und Förderung der Frau, damit gewährleistet wird, dass sie die Menschenrechte und Grundfreiheiten gleichberechtigt mit dem Mann ausüben kann."
Hier wird deutlich, es darf keine Diskriminierung wegen des Geschlechtes stattfinden. Auch einer Frau darf man keine Gonaden entfernen und man muss sie gleichstellen mit einem Mann. Und wenn man einem intersexuellen Menschen die Gonaden entfernt, den man vorher weiblich zugewiesen hat, dann würde man auch in
dem jetzigen System sagen: Dieser Frau ist Unrecht getan worden.
CEDAW, Art. 12 sagt: "Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen im
Bereich des Gesundheitswesens, um der Frau gleichberechtigt mit dem Mann Zugang zu den Gesundheitsdiensten, einschließlich derjenigen im Zusammenhang
mit der Familienplanung, zu gewährleisten."
Nach Rechtsauffassung der Berichterstatter_innen liegt hier das große Potenzial,
die Chance für die größtmögliche Verbesserung für die intersexuellen Menschen, da
bisher keine erkennbaren Vorsorgemaßnahmen für intersexuelle Menschen im
Gesundheitswesen erkennbar sind, sondern da geht es um die reine Normierung.
Die Liste der Menschenrechtsverletzungen ist lang. Wegen des fehlenden Standards
ist Vorsorge, Gesundheitsvorsorge bei Intersexuellen Fehlanzeige.
Bei den Menschenrechtsverletzungen haben wir einmal die Menschenversuche,
weil dort operiert wird ohne Standard und ohne die freie, informierte Zustimmung
der betroffenen Menschen selbst. Die Kastration auch bei Kindern, die generell verboten ist in der Bundesrepublik, Genitalamputationen, Genitalbeschneidung, auch
an Säuglingen und Kindern, Neovagina, etc. Diese Neovagina wird auch bei XYchromosonalen Kindern angelegt und dient einzig und allein dazu, um später die
Penetration möglich zu machen, das heißt, Penetration durch einen Mann. Dafür
müssen diese Kinder herhalten.
Und dann haben wir natürlich das Problem mit Medikamenten. Es gibt kein zugelassenes Hormon in der Bundesrepublik Deutschland für intersexuelle Menschen.
Auch das Östrogen, das allen verabreicht wird, ist nicht zugelassen. Das haben wir
schriftlich von der Medikamentenprüfstelle, von der Bundesbehörde für Medikamentenzulassung.
Die Liste der Menschenrechtsverletzungen ist lang und umfasst die Seiten 11-16 in
unserem Schattenbericht.
Artikel 13: "Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung
der Diskriminierung der Frau in anderen Bereichen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, um der Frau nach dem Gleichstellungsgrundsatz die gleichen Rechte
wie dem Mann zu gewährleisten, insbesondere das Recht auf Familienbeihilfen,
das Recht, Bankdarlehen, Hypotheken und andere Finanzkredite aufzunehmen, das
Recht auf Teilnahme an Freizeitbeschäftigungen, Sport und allen Aspekten des kulturellen Lebens."
Wer mich jetzt fragt, was das jetzt soll, den möchte ich nur daran erinnern, dass
intersexuelle Menschen bis zum heutigen Tage bei Sportwettkämpfen auch heute
noch diskriminiert und nicht zugelassen werden.
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Was erwarten wir? Die Unmittelbare Umsetzung aller Rechte aus dem CEDAW für
alle Menschen ohne Einschränkung. Denn das steht in dem Vertrag und so möchten
wir es und nicht anders.
Nach unserer Rechtsauffassung stellt das Ausgrenzen einzelner Personen eine Diskriminierung dar und ist daher abzulehnen und zu ändern.
Zweitens: Die Einklagbarkeit der Rechte für alle Menschen, unabhängig von ihrem
Geschlecht. So steht es auch im Vertrag.
Drittens: fordern wir den sofortigen Stopp von medizinischen Humanversuchen an
intersexuellen Menschen ohne deren freie, aufgeklärte Zustimmung.
Viertens: Kosmetische Eingriffe nur mit ausdrücklichem der intersexuellen Betroffenen unter vollständiger zu dokumentierender schriftlicher Aufklärung.
Fünftes: Sofortige Aufnahme der notwendigen Hilfsprogramme für intersexuelle
Menschen, wie im Schattenbericht Seite 19 und 20 beschrieben.
Kein Mensch darf wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden. Stoppen Sie
jetzt die Menschenversuche an intersexuellen Kindern und erkennen Sie die Rechte
der Überlebenden an. Denn bis heute sind diese Rechte und dieses Unrecht öffentlich nicht anerkannt worden. Die Bundesrepublik Deutschland weiß das, sieht es
und handelt nicht.
Ich war in der glücklichen Lage, während der gesamten CEDAW-Session dabei zu
sein und habe fleißig mitgeschrieben.
Das hat mich sehr glücklich gemacht, dass in der öffentlichen Verhandlung am 2.2.
2010 folgende Forderung von den UN-Experten gekommen ist: Sie möchten Anmerkungen zu intersexuellen Menschen von der Regierung hören. Sie möchten hören,
was die Regierung hier bei diesen wichtigen Belangen hier tut. Und sie wünschen
zu hören, dass die Bundesregierung diesen Aspekten größere Aufmerksamkeit
schenken und dafür sorgen wird, dass auch die transsexuellen und intersexuellen
Menschen die vollen Menschenrechte bekommen. Die vorgelegten Studien und ihre
Ergebnisse zu den Menschen mit nicht eindeutigem Geschlechtsstatus zeigen, dass
es hier zu wenig Gestaltungsspielraum für diese intersexuellen Menschen gibt.
Es gibt offenbar keine Möglichkeit, ein Zwischengeschlecht zu leben. Wir möchten
hören - Zitat - "dass niemals eine Intersexperson gezwungen werden sollte, ohne die
freie informierte Aufklärung, sich einer medizinischen Behandlung unterziehen zu
müssen. Vor allem sollte niemand in eine Rolle gezwungen werden, wenn die Person eigene Erfahrungen gemacht hat." Diese eigenen Erfahrungen enthalten wir
jedem Kind vor, das wir sehr früh operieren. Sie können nicht mehr wählen.
Leider hat dies die Regierungsdelegation bis heute
Schelm, wer Böses dabei denkt.
nicht veröffentlicht - ein
Welche Verbesserungen wären möglich, wenn hier ein politischer Wille erkennbar
wäre:
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1. Für intersexuelle Kinder, die künftig geboren werden, mit dem Ziel, ihnen die
bestmögliche Entwicklung in ihrem eigenen Interesse zu gewährleisten und ihnen
ihre Rechte auf Würde und Selbstbestimmung zu sichern,
2. Für intersexuelle Kinder, an denen bereits medizinische Interventionen ohne ihre
freie informierte Willenserklärung vorgenommen wurden, um ihnen deren Gesundheit, soweit es möglich ist, zu erhalten oder auch wieder herzustellen und ihnen die
ihnen zustehenden Rechte zuzusichern, soweit dies noch möglich ist - Sicherung der
Ansprüche.
3. Für die intersexuell geborenen Überlebenden der Intervention der Zeit bis 2002,
um die Gesundheit bestmöglich zu erhalten, wieder herzustellen und das erschwerte Leben zu erleichtern, einen Ausgleich für die entgangenen Rechte zu schaffen.
Was sollte und könnte nun sofort passieren?
- Die öffentliche Nennung und Sichtbarmachung der intersexuellen Menschen
durch staatliche Stellen und deren Volksvertreter, somit die Beendigung des Tabus
in diesem Staat mit dem erklärten Ziel, diese Minderheit schützen zu wollen und die
Würde zu garantieren.
- Sofortiger Stopp von medizinischen Interventionen an intersexuellen Menschen Ausnahme, wenn eine lebensbedrohliche Situation vorliegt oder eine freie informierte Zustimmung des intersexuellen Menschen selbst vorliegt.
- Anwendung nationalen Rechts und die Verfolgung von staatlicher Stelle fordern
wir sofort. Es gibt genug Rechte, die heute nur nicht verfolgt werden. Da könnte man
z.B. über eine Verordnung nachdenken, dass das noch mal auch in den verschiedenen Ministerien überprüft wird.
- Die sofortige Aufnahme aller intersexuellen Menschen in die Chronikerregelung.
Denn nach wie vor zahlen intersexuelle Menschen, die uneingewilligt in irgendwelche Interventionen geraten sind, viel Geld dafür, dass sie sich heute einigermaßen
gesund halten.
- Die sofortige Aufstockung des Anspruches auf psychosoziale Unterstützung und
Kostenübernahme von Therapien. Viele müssen leider ihre Therapien schwer beantragen. Sie haben nur Anspruch auf 60 Stunden. Für einen schwer traumatisierten
Menschen ist das einfach unzumutbar.
- Die Einrichtung einer Bundesberatungsstelle für intersexuelle Menschen und deren Angehörige. Diese Stelle würde die Anliegen aufnehmen und sollte den Auftrag
erhalten, diese Anliegen direkt mit den Ministerien, mit den Behörden zu klären und
die Hilfestellung geben. Besetzt sein sollte diese Stelle mit mindestens zwei dafür
geeigneten intersexuellen Menschen und einem Beirat.
- Ein bundesweites Aktenvernichtungsverbot von Patientenunterlagen, in denen
Eingriffe in die Gonaden oder am oder im äußeren Genital vorgenommen wurden.
- Den Hinweis an alle Krankenhäuser und Ärzte, dass all prophylaktischen Keimdrüsenentfernungen, einer Kastration, entsprechen und somit meldepflichtig sind
und auch dem Deutschen Krebsregister gemeldet werden müssen, wenn da ein
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Krebsverdacht besteht. Damit hätte man gleich eine Erfassung sämtlicher Operationen.
- Die Aufsichtsbehörden müssen angewiesen werden, das Kastrationsverbot zu
überwachen und das geltende Recht durchzusetzen.
- Der Aufbau der Wahrheitskommission, wie gefordert, zu erarbeiten und zu installieren, die Selbsthilfe und deren Verbände durch Zuschüsse zu stärken und mit Finanzmitteln so auszustatten und nicht abzuspeisen wie derzeit. Wir bekommen derzeit für unseren Verein 8.000 Euro im Jahr.
- Die Aufnahme von Publikationen des Vereins in die Onlineverteiler der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, z.B. das Aufklärungsbuch "Lila-oder was
ist Intersexualität". Die haben wir erstellt in einer Arbeitgruppe.
- Und die Umsetzung des Forderungskatalogs von Intersexuelle Menschen e.V. und
anderen Intersex- Organisationen.
Intersexuelle Menschen sind auch Bürger dieses Staates. Stoppen Sie bitte diese
Menschenrechtsverletzungen in diesem Staat. So darf es nicht weitergehen. Vielen
Dank.
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Vorstellung der Hamburger Studie
Hertha Richter-Appelt, Professorin für Psychotherapie und Sexualwissenschaften, Hamburger Forschergruppe Intersex, Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf
Vielen Dank für die Möglichkeit, hier über unsere Hamburger Studie zu sprechen.
Ich möchte zuvor aber eine kleine Einführung geben, weil ich den Eindruck habe,
wenn man sich mit dem Thema nicht beschäftig hat, hat man vielleicht das eine
oder andere, was Lucie Veith hier vorgetragen hat, auch nicht so ganz verstanden.
Und ich möchte ein bisschen was an Hintergrundinformationen bringen.
Der erste Punkt, der auch in Hamburg bei so einer Anhörung auftauchte, war die
sprachliche Verwirrung, was der Unterschied zwischen Transsexualität und Intersexualität ist. Bei Transsexualität handelt es sich um Personen, die biologisch völlig
unauffällig sind und für sich psychisch das Gefühl haben, dass sie einen falschen
Körper haben und der müsste geändert werden.
Bei Intersexualität handelt es sich um Personen, wo körperliche Auffälligkeiten da
sind in dem Sinn, dass der Chromosomensatz, die Keimdrüsen, Gonaden oder das
äußere Erscheinungsbild nicht ganz einem Geschlecht entsprechen bzw. in Richtung des anderen Geschlechtes gehen. Es gibt hier verschiedene Varianten. Es gibt
einmal die Möglichkeit, dass eine Person einen normalen weiblichen Chromosomensatz von 46 XX hat und aufgrund einer Hormonstörung virilisiert, das heißt, ein
äußeres männliches Erscheinungsbild vor allem im Genitalbereich zeigen kann. Es
gibt eine andere Variante von Personen mit dem 46 XY-Chromosomensatz, also
männlichen Chromosomensatz, wo es entweder aufgrund einer Störung der Entwicklung es dazu kommt, dass eine Person - obwohl sie einen männlichen Chromosomensatz hat - vom äußeren Erscheinungsbild bei der Geburt völlig weiblich aussieht. Oder, was auch vorkommen kann, ist, dass das Personen sind, wo man bei der
Geburt nicht erkennt, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelt.
Ein weiterer Punkt, der mir wichtig erscheint: Es wird immer viel über die Situation
unmittelbar nach der Geburt gesprochen. Es gibt aber auch Erscheinungsformen,
die erst mal bis zur Pubertät völlig unauffällig verlaufen, so dass erst in der Pubertät überhaupt gemerkt wird, dass irgendetwas in der Entwicklung anders ist als bei
anderen Mädchen oder Jungs, in dem Sinn, dass z.B. ein Kind als Mädchen aufgewachsen ist und in der Pubertät virilisiert, das heißt, eine tiefe Stimme bekommt,
Bartwuchs bekommt, Geschlechtsteile ändern sich und dann untersucht wird. Und
plötzlich entdeckt man, das ist ein Mädchen, das einen männlichen Chromosomensatz hat.
Es gibt diese verschiedenen Formen, entweder bei der Geburt schon irgendwie auffällig oder erst in der Pubertät.
Wenn wir uns die Traumatisierungen von Personen mit Intersexualität anschauen,
können wir drei Bereiche abgrenzen. Das eine, was sicherlich für gerade die Kinder,
die in der Pubertät plötzlich untypische Veränderungen am Körper beobachten, sind
sicherlich diese untypischen körperlichen Veränderungen. Sie können sich vorstellen, dass - wenn ein Mädchen bis zur Pubertät als Mädchen aufgewachsen ist und
plötzlich Bartwuchs, eine tiefere Stimme bekommt und die Klitoris wächst - dies zu
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einer enormen Verunsicherung führen kann und dass es ganz wichtig ist, dass dieses Kind eine Vertrauensperson hat, mit der es darüber reden kann.
Ich glaube, wir können nicht verschweigen, dass auch medizinische Maßnahmen zu
Traumatisierungen führen können, aber unsere Studie hat gezeigt, dass sie es nicht
müssen. Ich glaube, das ist auch wichtig.
Der letzte Punkt: Leider haben wir in unserer Studie auch relativ viele Personen gehabt, wo die Eltern die Kinder in einem Ausmaß stigmatisiert haben, dass es nicht
nur die Ärzte oder die Umwelt war, sondern auch der Umgang der Eltern mit diesen
Kindern so war, dass man sagen kann, diese Kinder mussten in irgendeiner Form
Probleme in ihrem Leben entwickeln, weil sie so von den Eltern abgelehnt waren.
Das ist ein Aspekt, den darf man bei der ganzen Diskussion nicht vergessen.
Behandlungsmaßnahmen:
Ende des letzten Jahrhunderts galten ein paar Regeln, die bei der Behandlung eine
Rolle gespielt haben. Teilweise wurden die schon angesprochen. Das eine war: Man
sollte bei einem Kind, das nicht eindeutig aussieht oder nicht eindeutig ist, möglichst einen eindeutigen Körper herstellen. Man ist davon ausgegangen, und das
war eine Fehlannahme, wo man heute weiß, dass das nicht so ist, wenn ein Kind
einen eindeutigen Körper hat, dann kann man davon ausgehen, dass es auch eine
eindeutige Psyche im Sinn einer eindeutigen Geschlechtsidentität entwickeln wird.
Das heißt, man erspart dem Kind Probleme in dem Sinn, dass es vielleicht nicht
weiß, was es ist, wenn man ihm nur einen eindeutigen Körper - und das heißt in der
Regel eindeutige Geschlechtsteile - verpasst. Da wissen wir heute, dass das leider
nicht so einfach ist.
Eine weitere Annahme war: Ein Kind sollte möglichst früh funktionsfähige Genitale
haben, etwas, was man heute auch teilweise anders sieht, dass man Kindern möglichst früh eine Vagina gebaut oder konstruiert hat, wenn sie keine Vagina hatte, in
der Annahme, dass sich das auch auf die psychosexuelle Entwicklung eines Kindes,
wenn es als Mädchen aufwachsen soll, negativ auswirkt, wenn es keine Scheide
hat. Und es wurde unterschätzt, was es für so ein Kind bedeutet, wenn diese Scheide
- ich sage das jetzt ganz salopp - benutzt wird bereits in einem Alter, bei dem üblicherweise nichts in eine Scheide eingeführt, das aber bei diesen Kindern aus medizinischen Gründen gemacht werden musste.
Bis 2002 gab es in Deutschland bis auf eine Gruppe, nämlich die mit
Adrenogenitalem Syndrom, praktisch keine Studie bei erwachsenen Personen zu
Intersexualität. Wir haben zunächst zusammen mit Lübeck eine Forschergruppe bei
der DFG bewilligt bekommen, wo auf der einen Seite Grundlagenforschung gemacht wurde und auf der anderen Seite aber auch klinische Fragestellungen behandelt wurden. Die Hamburger Gruppe hat von Anfang an die Erwachsenen ins
Zentrum der Forschung gestellt.
Wir haben in den Jahren seit 2002 insgesamt 78 Personen untersucht. Von diesen 78
Personen haben wir aber in unsere endgültige Auswertung nur 69 hineingenommen.
Wir haben diejenigen herausgenommen, wo wir nicht eindeutig eine Diagnose von
medizinischer Seite hatten bzw. es von der Diagnose her nicht wirklich eine Intersexualität war - wenn z.B. die Chromosomen auffällig waren, aber es gar nicht eine
wirkliche Intersexualität war.
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Ich spreche also jetzt über eine Gruppe von 69 Personen, die wir sehr ausführlich einerseits in Gesprächen, aber andererseits über einen Fragebogen - untersucht
haben. Manchmal wird uns vorgeworfen, wir hätten in unserer Studie so viele Leute
aus der Selbsthilfegruppe gehabt. Dem will ich gleich widersprechen. Von den Leuten, die wir untersucht haben, waren 11 von einer Selbsthilfegruppe zu uns gestoßen, 27 über Ärzte und 21 übers Internet. Das Internet ist heutzutage für diese Studien nicht zu unterschätzen.
Von den Personen, die wir untersucht haben, waren 54 % bei der Geburt mit einem
eindeutig weiblich aussehenden Genitale, obwohl einige von denen durchaus einen Y-Chromosomensatz hatten. Und immerhin 43 % der Personen sind bei der Geburt nicht eindeutig gewesen, so dass erst einmal eine Diagnostik gemacht wurde,
um festzustellen, welcher der vielen Gruppen von Intersexualität diese Personen
zugeordnet werden können.
Damit Sie eine Idee zu den Behandlungen bekommen: 96 % der Personen, die wir
untersucht haben, hatten eine Hormontherapie. Die meisten Personen müssen, aus
welchen Gründen auch immer, in der Regel lebenslang Hormone einnehmen.
Fast allen Personen, die mit einem männlichen Chromosomensatz in der weiblichen
Rolle leben, wurden die Keimdrüsen entfernt. 55 %, also mehr als die Hälfte, hat Genitaloperationen hinter sich - nur dass Sie wissen, es ist wirklich so, dass die alle
am Genitale operiert werden. Einerseits wurde bei über einem Drittel die Klitoris
reduziert bzw. völlig entfernt. 33 % haben eine Vaginalplastik bekommen oder eine
Vagina verabreicht. Und einige hatten auch noch eine Harnröhrenkonstruktion bzw.
Rekonstruktion. Das zum Hintergrund.
Es wird oft gesagt, dass die Patienten mit den Operationen so unzufrieden sind. Ich
muss sagen, bei uns war es ungefähr Halbe-Halbe. Die Hälfte der Patienten geben
an, dass sie durchaus mit ihrer Behandlung zufrieden sind. Aber 46 % sind unzufrieden mit der Behandlung, und zwar mit der Behandlung, was die Operationen angeht. Man müsste sich das jetzt genau anschauen, welche Operation das war, aber
das würde zu sehr ins Detail führen.
Ganz kurz zu anderen, vor allem psychologischen Aspekten, die wir untersucht haben.
Ein Viertel der Patienten geben an, dass sie sich von ihren Eltern vernachlässigt
und nicht unterstützt gefühlt haben. Zwei Drittel der Patienten waren immerhin psychologisch oder psychisch beeinträchtigt, entweder depressiv oder hatten andere
Probleme, was eine sehr große Gruppe ist. Das ist immer im Vergleich zu einer gesunden Gruppe festgestellt worden.
In letzter Zeit ist immer wieder die Idee von Selbstmordgedanken, Selbstmordversuchen aufgegriffen worden. Da muss man wirklich sehr genau differenzieren, wovon
man spricht. Ich habe wieder irgendein Papier in die Hand gekriegt, wo drin stand,
dass ein, zwei Drittel intersexueller Personen sich umbringen. Wir wissen das ja gar
nicht. Das ist eine Zahl, die sicher in der Form nicht stimmt, weil wir gar nicht wissen, wer von den Menschen, die sich umbringen, intersexuell ist. Das wird ja nicht
gemeldet und auch nicht untersucht.
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Was aber wirklich stimmt und auch ernst zu nehmen ist, ist, dass Selbstmordgedanken bei Personen mit Intersexualität durchaus eine sehr wichtige Rolle spielen. Wir
haben das mit Personen verglichen, die sexuell missbraucht oder körperlich misshandelt worden sind. Es ist durchaus mit diesen Gruppen vergleichbar.
Mit dem körperlichen Erscheinungsbild ist weit mehr als die Hälfte unzufrieden. Das
scheint mir deswegen wichtig, weil wir nicht nur nach dem Genitale gefragt haben.
Die Diskussion konzentriert sich immer auf das Genitale. Wir haben aber sehr genau auch körperliche Auffälligkeiten untersucht, wie z.B. Körpergröße, Körpergewicht, Schulterbreite usw. Die ganze Diskussion konzentriert sich aber immer auf
das Genitale. Das ist aber nicht alles, was von denen als negativ erlebt wird.
Ein Punkt, der uns ganz wichtig erscheint:
Ich habe in der Einleitung gesagt, dass die Idee bei der Behandlung von Personen
mit Intersexualität war, dass die als Behandlungsziel eine möglichst eindeutige
Geschlechtsidentität entwickeln sollten. Ich glaube, von der Idee, dass die Korrektur
des Genitales dazu führt, dass eine Person, wenn sie dann auch noch Hormone
nimmt, zu einer eindeutigen Geschlechtsidentität gelangt, müssen wir uns verabschieden. Es ist so, dass relativ viele Personen, und zwar ungefähr die Hälfte, sagen,
sie sind verunsichert, was ihre Geschlechtsidentität angeht bzw. erleben sich dazwischen. Das ist etwas, worüber man sicherlich lange diskutieren kann.
Wir haben noch ein paar Zusammenhänge untersucht. Einmal haben wir geschaut,
ob die Personen, bei denen die Gonaden entfernt worden sind, mehr psychische
Auffälligkeiten zeigen. Es besteht ein eindeutiger Zusammenhang zu Suizidgedanken. Das ist nicht ganz verwunderlich, weil man von Männern weiß, wenn man denen die Gonaden entfernt, werden viele depressiv. Also, die Entfernung von Testosteron führt zu Depressionen. Das ist allgemein bekannt, wird aber auf die Gruppe
der Intersexuellen nicht unbedingt übertragen.
Diejenigen, die am Genitale operiert worden sind, sind generell auch unzufriedener
mit ihrer Gesamterscheinung. Da muss man aber vorsichtig sein, das kann nämlich
auch mit der Diagnose zu tun haben, dass die einfach mehr körperliche Auffälligkeiten haben. Da gehört eben auch das Genitale dazu.
In allen Variablen spielt die elterliche Zuwendung eine ganz wichtige Rolle. Wenn
die positiv war, geht es den Personen in der Regel besser.
Abschließend noch etwas zur Psychotherapie. Vorhin wurde gesagt, maximal 60
Stunden. Das stimmt nicht ganz, Frau Veith. Das kommt darauf an, welche Therapie
sie machen. Wenn Sie eine tiefenpsychologisch orientierte machen, können sie
durchaus 100 Stunden und, wenn es sein muss, sogar mehr bekommen.
Was kann Aufgabe einer Psychotherapie sein? Wir können sagen, es haben eine
ganze Reihe von Personen Psychotherapie gemacht. Das sind aber nicht unbedingt
diejenigen, denen es jetzt besser geht. Wir müssen auch sagen, das sind wahrscheinlich diejenigen, denen es besonders schlecht ging. Da muss man sich ja immer die Ausgangssituation anschauen. Was sicherlich Gegenstand der Psychotherapie ist, ist die Auseinandersetzung mit dem Anderssein, also auch so was zu vermitteln, dass Anderssein auch etwas Besonderes sein kann und nicht Stigmatisierung sein muss.
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Das Misstrauen, was Beziehungen angeht, da haben wir z.B. auch herausgefunden,
dass es keineswegs so ist, dass Betroffene nur Angst vor Sexualität haben, sondern
viele von denen haben Angst vor Sozialkontakten, wenn man so will, ein Schritt bevor es überhaupt zu einer Sexualität kommen kann. Im Bereich der Sexualität haben
relativ viele der Betroffenen Probleme, und zwar sowohl Probleme erregt zu werden,
wie auch Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Aber man muss sagen, die sozialen
Ängste waren fast noch mehr im Vordergrund als die sexuellen Ängste, wenn es um
Interaktionen ging.
Vielleicht kann ich noch erwähnen, dass von den Leuten, die wir untersucht haben,
zu dem Zeitpunkt der Untersuchung 51 % in einer Partnerschaft lebten. Da kann man
sagen, das ist viel. Man kann aber auch sagen, das ist wenig. Da können Sie sich
selber ihre Meinung dazu bilden. Also, es gibt durchaus Leute, die verheiratet sind,
in einer festen Partnerschaft leben. Diese Partnerschaft kann - in Anführungsstrichen - entweder homo, hetero, bi oder auch intersexuell sein. Auf die Diskussion,
was jetzt Homosexualität in dem Zusammenhang bedeutet, will ich jetzt nicht eingehen, weil eigentlich ist eine Homosexualität, wenn ein Intersexueller einen Intersexuellen liebt - nur um das Denken in diese Richtung zu lenken.
Schließlich geht es bei der Psychotherapie dieser Patienten in vielen, vielen Fällen
um die Aufarbeitung von Traumata. Das mögen Traumata sein, die etwas mit dem
sozialen Umfeld zu tun haben, aber eben auch Traumata im Zusammenhang mit
medizinischen Behandlungsmaßnahmen.
Ich möchte abschließend ein Beispiel berichten, das immer wieder erwähnt wurde,
dass man diesen Patienten ja gesagt hat, sie sollen niemandem erzählen, was mit
ihnen los ist, also die Geheimhaltung ihrer Diagnose im Alltag. Dem stand gegenüber, dass sie in die Kliniken kamen und, wenn sie in der Klinik waren, die Klinik
zusammengetrommelt wurde und junge Ärzte dieses Phänomen kennen lernen sollten. Das ist heute nicht mehr so, das weiß ich, aber Sie können sich vorstellen, was
das für ein 8-, 9-, 10-jähriges Kind bedeutet, das zu Hause, in der Schule und nirgends mit den Verwandten über diese Problematik reden darf. Und dann kommt es
in die Klinik und muss sich nackt ausziehen und wird von allen betrachtet bzw. fotografiert. Dass das natürlich schwere Traumata mit sich bringt, liegt ziemlich auf
der Hand.
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Vorstellung der Klinischen Evaluationsstudie im Netzwerk
Intersexualität
Dr. Martina Jürgensen
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum
Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Ich bin eingeladen, um die zentralen Ergebnisse unserer klinischen Evaluationsstudie vorzustellen. Die Studie hat bundesweit im Rahmen des Netzwerkes DSD, Intersexualität, stattgefunden. Die Befragung fand in den Jahren 2005 bis Ende 2007 statt,
im letzten Jahr dann auch noch in der deutschsprachigen Schweiz und in Österreich.
Ich möchte kurz auf unsere Fragestellung eingehen und was es für eine Art von Studie war.
Es hat sich bei der klinischen Evaluationsstudie um eine Multizenterstudie gehandelt, um eine naturalistische Studie. Das heißt, wir haben nicht Teilnehmende vorher ausgesucht, sondern alle, die bereit waren, konnten mitmachen. Es ist eine Studie, die deskriptiv angelegt war. Das hauptsächliche Ziel war erst mal die Beschreibung eines Ist-Zustandes, die Beschreibung von Behandlungsverläufen, von somatischen und psychosozialen Outcomes bei Menschen mit einer besonderen Geschlechtsentwicklung.
Das Ganze soll dazu dienen, wirklich zu evidenzbasierteren Behandlungsempfehlungen zu kommen. Wie schon anklang, gibt es bisher keine Evidenzen für die Behandlungen, die durchgeführt werden.
Teilnehmen konnten an dieser Studie alle Menschen mit einer klinischen Diagnose
von Intersexualität, in diesem Fall von uns definiert als eine Diskrepanz zwischen
chromosomalen, gonadalen, hormonellen und phenotypischem Geschlecht. Einbezogen wurden Menschen aller Alterstufen, vom Neugeborenen bis zum Erwachsenen. Die Rekrutierung verlief auf verschiedenen Wegen, zu einem großen Teil über
Studienzentren, die in der Bundesrepublik verteilt waren, über Kooperationspartner
in verschiedenen Bereichen, über Selbsthilfegruppen, Eltern- und Patienteninitiativen und auch übers Internet.
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Beschreibung des Samples
Diagnose
Altersgruppen
200
120
110
180
172
160
100
74
80
80
86
140
66
120
100
60
80
40
60
23
40
20
70
54
31
20
30
23
22
15
15
7
0
0
Neugeborene
6 Monate-3 Jahre
4-7 Jahre
8-12 Jahre
Jugendliche
Erwachsene
Adrenogenitales Syndrom
Gonadendysgenesie (partiell/ gemischt)
schwere Hypospadie
Störungen der Androgenbiosynthese
Androgeninsensivität (partiell)
Androgeninsensitivität (komplett)
andere (u.a. syndromale Störungen)
Gonadendysgenesie (komplett)
unklar
Hermaphrotitismus verus
Sie sehen die Altersgruppenverteilung. Die kleinste Gruppe ist die mit Neugeborenen. Da sind nur 23 Familien bereit gewesen teilzunehmen, was sich aber letztendlich dadurch erklären lässt, dass das eine Phase ist, in der die Familien erst mal
verarbeiten müssen, was ihnen geschieht, wo einfach relativ viel Unruhe in der Familie ist, wie sowieso Geburt schon ein besonderes Ereignis für eine Familie ist. Die
Bereitschaft, in so einer Phase an einer Studie teilzunehmen, war gering.
Wir haben insgesamt 439 Teilnehmende in unserer Studie, bisher weltweit die größte Studie zu dem Thema. Wir sehen außer den Neugeborenen eine relativ gute Altersverteilung. Wir kommen in allen Altersstufen auf Gruppen, mit denen man auch
statistische Auswertungen machen kann.
Uns hat sehr gefreut, dass 66 Jugendliche an der Studie teilgenommen haben. Bisher
gibt es sehr, sehr wenig Erkenntnisse darüber, wie es Menschen mit Intersexualität
in der Jugend geht. Da ist auch einfach eine Klientel, die scher zugänglich ist, weil
sie einfach sehr viel mit sich zu tun hat und abmacht. Wir konnten immerhin 66 Jugendliche gewinnen, worauf wir sehr stolz sind.
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Gesamtstichprobe/Gruppeneinteilung
1. DSD-XX
2. DSD-XY-P-F
3. DSD-XY-C-F
4. DSD-XY-P-M
Frauen/Mädchen
mit einer DSD &
Virilisierung
Frauen/Mädchen
mit einer DSD &
Virilisierung
Frauen/Mädchen
mit einer DSD
ohne Virilisierung
Männer/Jungen mit
einer DSD &
Virilisierungsdefizit
Karyotyp
46,XX
46,XY & Mosaike
46,XY & Mosaike
46,XY & Mosaike,
46,XX
Androgenwirkungen
Ja
Ja
Nein
Ja
Diagnose
(ärztl.
Angaben)
AGS,
Aromatasedefekt,
andere, unbekannt
partielle/gemischte
GD, Störungen der
Androgenbiosynthese,
pAIS, wahrer Hermaphroditismus, andere,
unbekannt
cAIS, komplette GD,
andere, unbekannt
schwere Hypospadie,
partielle/gemischte
GD, Androgenbiosynthesestörung,
pAIS, wahrer
Hermaphroditismus,
XX-male, andere,
unbekannt
0-3
N=37
N=11
N=2
N=46
4-16
N=95
N=55
N=20
N=62
ab 17
N=46
N=30
N=17
N=13
Total
(N=434)
N=178
N=96
N=39
N=121
Die Diagnoseverteilung: Die häufigste Diagnose war das AGS, was nicht weiter
verwunderlich ist, weil das insgesamt einfach auch die Mehrheit mit Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung ausmacht.
Ich zeige das, damit Sie sehen, dass wir trotz der relativ großen Gesamtzahl - da
sehr unterschiedliche Diagnosen einbezogen sind - immer noch auf recht kleine
Gruppen um die 30 kommen, was statistische Auswertung insgesamt erschwert.
Wir haben uns deshalb auch entschlossen nicht für jede einzelne Diagnose zu machen. Denn wenn man in der Diagnosegruppe auch noch die Altersstufen unterteilt,
ist man bei Einzelfallbeschreibungen. Wir haben deshalb in Gruppen eingeteilt, die
wir statistisch noch auswerten können. Wir haben vier große Gruppen gebildet.
Die erste Gruppe sind Personen mit XX Karyotyp, bei denen eine Verilisierung, also
Vermännlichungserscheinungen, auftreten. Das ist zum größten Teil die Gruppe der
Personen mit (AGS?). Die zweite Gruppe sind Menschen mit einem XY Karyotyp, bei
denen auch Androgeneffekte sichtbar sind und die als Mächen oder Frauen leben.
Darunter fallen z.B. partielle oder gemischt Gonaden Dyskinesien oder partielle
Androgeninsuffizienz. Die dritte Gruppe sind Personen mit XY Karyotyp, bei denen
keinerlei Androgeneffekte vorlagen, die auch als Frau leben. Das ist typischerweise
die Gruppe von kompletter Androgeninsuffizienz. Die vierte Gruppe sind Menschen
mit XY Karyotyp, bei denen partielle Androgeneffekte auftreten und die als Männer
leben.
Seite 20
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Beschreibung des Samples
Operationen nach Altersgruppen:
keine OP
1 OP
2 OPs
>2 OPs
Kinder 0-3 J.:
42 %
34 %
12 %
7%
Kinder 4-12 J.:
13 %
47 %
19 %
17 %
Jugendliche:
9%
50 %
17 %
20 %
Erwachsene:
10 %
32 %
24 %
24 %
Wenn wir uns die Teilnehmergruppe nach der Frage angucken, was an Operationen
durchgeführt wurde, dann sehen wir, dass in der Altersgruppe von 0 bis 3 Jahren,
Säuglinge bis Kleinstkinder, über die Hälfte bisher operiert wurde. Nur 42 % dieser
Kinder hat noch keinerlei Operationen hinter sich. Das zeigt das, was schon gesagt
wurde, dass viele Operationen wirklich sehr, sehr früh vorgenommen werden.
Sie sehen, die Zahl derjenigen, die keine Operation hinter sich haben, wir schnell
noch geringer. Im Alter von 4-12 Jahren sind es nur 13 % der Kinder, die gar nicht
operiert sind. 12 Jahre ist die magische Grenze, wo es dann in die Pubertät geht, wo
dann noch mal offenbar Entscheidungen in einigen Fällen gefällt werden und dann
vielleicht gonadektomiert wird.
Es fällt auch auf, dass häufig relativ viele Operationen gemacht werden. Wir haben
da einen Cut gesetzt bei mehr als zwei. Schon im Alter von 4-12 Jahren haben 17 %
der Kinder mehr als zwei Operationen.
Wenn wir uns anschauen, wie oft das Geschlecht geändert wurde, die Zuteilung, die
offizielle Benennung, in welches Kästchen reingetan wird, ganz abgesehen, was
dann daraus folgt, dann sehen wir, dass insgesamt bei 9 % der Befragten eine Geschlechtsänderung überhaupt vorgenommen wurde. Wenn wir dann gucken, in welchem Alter das geschieht, fällt ganz, ganz klar auf, dass diese Geschlechtsänderungen im ersten Lebensjahr vollzogen werden. Wir haben noch differenzierter geguckt.
Die häufigsten Änderungen sind in den ersten vier Lebenswochen, was sich einfach
dadurch erklärt, dass Kinder geboren werden und im Kreissaal relativ schnell gesagt wird, das ist ein Junge, das ist ein Mädchen, von oft auch nicht fachkundigen
Menschen. Und dann fällt auf, irgendwas stimmt da doch nicht so ganz überein, wir
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gucken mal weiter. Und es wird eine Diagnostik gemacht, die oft innerhalb des ersten Jahres dann auch zum Abschluss kommt, so dass die initiale Zuweisung häufig
doch noch geändert wird.
Beschreibung des Samples
Änderungen des Geschlechts:
- bei insgesamt 9 % der Befragten
Zeitpunkt der Geschlechtsänderung:
im Alter von
1. Lj.
(% von Geschlechtsänd.)
68 %
1-3 J.
24 %
4-12 J.
13-16 J.
0
0
>16 J.
8%
Änderungen des Geschlechts (nach Diagnosegruppen):
DSD-XX-P-F:
9%
DSD-XY-P-F:
12 %
DSD-XY-C-F:
0%
DSD-XY-P-M:
9%
Auch zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr sehen wir noch relativ viele Geschlechtsänderungen, wobei sich diese Prozentzahlen bei dem Alter jeweils auf die 9 % beziehen, wo überhaupt ein Wechsel stattfindet. Das erklärt sich einfach daraus, dass
Diagnostik oft lange dauert und insofern diese Entscheidungen oft erst später getroffen werden können.
Interessant ist, dass zwischen 4. Lebensjahr und Ende der Pubertät, also 16 Jahren,
nicht ein Geschlechtswechsel in unserer Studiengruppe aufgetaucht ist, quasi kein
vom Kind selbst indizierter Geschlechtswechsel, also dass ein Kind, das als Mädchen aufwächst und sagt, ich würde aber lieber ein Junge sein oder umgedreht, und
darauf reagiert wird, stattgefunden hat. Die Geschlechtswechsel sind später im Erwachsenenalter von den Erwachsenen selbst vorgenommen.
Wir haben auch in Bezug auf Geschlechtswechsel geguckt, ob die Änderung des
Geschlechts diagnosespezifisch sind oder gruppenspezifisch sind. Da zeigte sich,
dass das eigentlich gleichmäßig über die Gruppen verteilt ist. Einzige Ausnahme
sind die Mädchen oder Frauen mit XY Karyotyp, die keinerlei androgene Einflüsse
haben. Da haben wir nicht einmal gesehen, dass ein Geschlechtswechsel vollzogen
wurde. Es ist aus der Literatur durchaus bekannt, dass es vor kommt, aber es ist
insgesamt in dieser Gruppe sehr selten.
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Jenseits der zwei Geschlechter
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Ich komme zu den zentralen Ergebnissen. Das ist alles sehr pauschal, wir machen
da viel detailliertere Analysen und Darstellungen. Aus Zeitgründen nehme ich die
ganz zentralen Ergebnisse.
Es geht einmal um die Lebensqualität von Kindern. Das wird mit standardisierten
Fragebögen erhoben, wobei sowohl die Kinder selbst als auch die Eltern befragt
wurden. Wir sehen in den Ergebnissen, dass die Kinder selbst Einschränkungen in
der Lebensqualität in fast allen Bereichen angeben. Wenn man die Eltern fragt,
dann schätzen sie die Lebensqualität ihrer Kinder als nicht beeinträchtigt, in einigen Bereichen sogar als besser an, als die Kontrolldaten das hergeben.
Wir sehen keine Unterschiede zwischen den Diagnosegruppen. Das scheint keinen
Einfluss auf die Lebensqualität zu haben. Wir sehen eine bessere Lebensqualität in
einem Teilbereich, im Teilbereich Selbstwert bei nicht operierten Kindern. Wir sehen eine bessere Lebensqualität im Bereich Körper bei operierten Kindern. Das ist
allerdings eine Aussage der Eltern. Wir sehen bessere Lebensqualität im Bereich
Freunde bei Kindern mit Genitaloperationen. Das sagen die Kinder selbst. Und wir
finden insgesamt keine Unterschiede in der generellen Lebensqualität - das ist ein
Gesamtwert, der berechnet wird, je nach dem, welche medizinischen Interventionen
vorgenommen wurden oder nicht.
Die Jungendlichen berichten keine Einschränkung in ihrer eigenen Lebensqualität,
jugendliche Mädchen im Bereich Körper sogar höhere Lebensqualität als die Mädchen aus der Kontrollgruppe. Die Eltern schätzen die Lebensqualität ihrer jugendlichen Kinder insgesamt als nicht beeinträchtigt ein. Eine Ausnahme ist der Bereich
Psyche, wo sie von deutlichen Beeinträchtigungen ihrer Kinder berichten. Es gibt
auch hier keine Unterschiede zwischen den Diagnosegruppen. Und es gibt keine
Unterschiede im generellen Wert, im Gesamtwert, bei unterschiedlichen Interventionen.
Bei den Ergebnissen für Erwachsene sehen wir, dass erwachsene Männer keinerlei
Beeinträchtigungen berichten, erwachsene Frauen berichten eine deutlich bessere
Lebensqualität im Bereich körperlicher Gesundheit und eine deutlich schlechtere
Lebensqualität im Bereich psychische Gesundheit als Kontrolldaten. Der Vergleich
ist immer mit Kontrolldaten.
Wir sehen auch bei den Erwachsenen keine Unterschiede zwischen den Diagnosegruppen und wir sehen keine Unterschiede zwischen operierten und nicht operierten Personen.
Im Bereich psychischer Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sehen wir, dass
Kinder mit Intersexualität keine Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit aufzeigen. Auch Jugendliche berichten selber von keinen Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit. Die Eltern berichten allerdings von vermehrten Verhaltensproblemen in Bezug auf Peers bei Mädchen mit Intersexualität. Es gibt auch hier
keine Unterschiede zwischen operierten und nicht operierten Kindern und Jugendlichen.
Bei den Erwachsenen finden wir bei Intersexuellen, die als Männer leben, auch
wieder keine Beeinträchtigungen. Wir sehen aber bei Frauen auf fast allen Skalen
und im Gesamtwert deutlich erhöhte psychische Belastungen im Vergleich zur Kontrollgruppe, wobei die Frauen ohne Androgeneinfluss bessere Werte haben, aber
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immer noch Beeinträchtigungen zeigen. Das entspricht eigentlich auch den Ergebnissen aus der Hamburger Studie, dass da massive psychische Belastungen sind.
Wir finden auch hier keine Unterschiede zwischen den Diagnosegruppen. Und wir
finden keine Unterschiede zwischen operierten und nicht operierten Erwachsenen
mit DSD, was auch letztendlich auch dem entspricht, was Frau Richter-Appelt sagte.
Es scheint nicht nur auf die medizinischen Interventionen anzukommen, sondern es
sind viele andere Aspekte für das Wohlbefinden und die Entwicklung wichtig.
Die psychosexuelle Entwicklung war auch ein wichtiges outcome. Wir sehen bei
den Kindern, dass sich die Jungen mit DSD hinsichtlich ihres Geschlechtsrollenverhaltens nicht von den Jungen der Kontrollgruppe unterscheiden. Mädchen ohne
Androgeneffekte zeigen typisch mädchenhafte Verhaltensweisen. Mädchen mit
Androgeneffekten zeigen deutlich mehr jungentypische Verhaltensweisen, woraus
sich allerdings nicht schließen lässt, dass sie sich hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität nicht sicher sind.
Wir sehen, dass bei den Kindern mit DSD insgesamt keine Hinweise auf Verunsicherung hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität zu finden sind. Mädchen mit androgenen Einflüssen haben allerdings eine leicht erhöhte Tendenz zu Cross-GenderVerhalten.
Auch hier finden wir keine Unterschiede zwischen operierten und nicht operierten
Kindern.
Bei den Jugendlichen konnte insgesamt keine Verunsicherung hinsichtlich ihrer
Geschlechtsidentität nachgewiesen werden. Es zeigt sich aber in ganz anderen Bereichen, dass es offenbar Schwierigkeiten gibt. Wir haben nach sexuellen Erfahrungen, nach Verlieben, nach Beziehungen gefragt, was in der Jugend wichtig wird, und
sehen, dass Jugendliche viel seltener verlieben und viel seltener eine Liebesbeziehung als Jugendliche ohne Intersexualität haben. Bei Mädchen mit Intersexualität
und Androgeneffekten sehen wir, dass sie gegenüber Liebesbeziehungen zu anderen Mädchen oder Frauen offener eingestellt sind als Mädchen ohne
Androgeneffekte oder aus der Kontrollgruppe.
Bei den Erwachsenen zeigt sich, dass sich Männer mit Intersexualität hinsichtlich
ihrer Geschlechtsidentität nicht von Männern der Kontrollgruppe unterscheiden. Bei
Frauen sehen wir insgesamt auch keinen Unterschied. Wir finden allerdings Abweichungen oder Besonderheiten bei XY-Frauen mit Androgeneffekten. Sie zeigen
eine weniger stark ausgeprägte feminine Geschlechtsidentität.
Wir finden allerdings weder bei Frauen, noch bei Männern der Untersuchungsgruppe verstärkte Trans-Gender-Identifikationen oder vermehrte Unsicherheiten
hinsichtlich ihrer Geschlechtsidentität.
Auch wieder der Bereich, der schon bei Jugendlichen problematisch war: Männer
mit DSD leben deutlich seltener in einer Partnerschaft als Frauen mit DSD. Insgesamt gibt ein Viertel aller Erwachsenen mit DSD an, noch nie in einer Partnerschaft
gelebt zu haben. Das ist wirklich sehr auffällig.
Frauen mit DSD und Androgeneffekten scheinen dann auch, wie bei den Jugendlichen, aufgeschlossener zu sein, Liebesbeziehungen zu anderen Frauen einzugehen.
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Jenseits der zwei Geschlechter
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Schlussfolgerung:
Es sieht so aus, als ob die Art der Diagnose oder die Frage nach operativen Eingriffen kaum Einfluss auf das psychosoziale Wohlbefinden von Menschen mit Intersexualität zu haben scheint. Es zeigen sich insgesamt einige Beeinträchtigungen in
der Lebensqualität bei Menschen mit DSD, wo offenbar wird, dass konkrete lebenspraktische Unterstützung notwendig scheint - also, die Aufklärung über die Diagnose, auch Elternschulung zur Aufklärung der Kinder, zum Umgang mit der DSD, die
Frage, wem erzähle ich was und wie tue ich das, der Umgang mit eigenen Schuldgefühlen, mit Schamgefühlen, was wir bei Eltern relativ oft finden.
Wir finden - zusammenfassend gesagt - keine psychopathologischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen, aber wir finden vermehrte psychologische Probleme bei erwachsenen Frauen mit Intersexualität, worauf auch ein besondere Augenmerk in der Betreuung gelegt werden sollte.
Wir finden bei Mädchen mit Androgeneinflüssen vermehrt jungenhafte Verhaltensweisen, aber insgesamt keine Hinweise auf Verunsicherung hinsichtlich der Geschlechtsidentität.
Und wir finden als großen Problembereich, wo die Betreuung viel mehr ein Augenmerk drauf haben sollte, bei Jugendlichen und Erwachsenen den Bereich Partnerschaft und Sexualität, wo es offensichtlich ist, dass mehr Beratung und mehr Unterstützung vorhanden sein muss.
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Erfahrungen von Eltern mit der Intersexualität ihrer Kinder
Bericht einer Mutter
Ich habe kein Problem damit, mich als Mutter einer Intersexuellen zu outen, aber ich
spreche hier natürlich auch für meine Tochter und möchte bitten, die Privatsphäre
meiner Tochter insofern zu achten: Wenn Sie meinen Namen verwenden, dann bitte
ohne Angabe von Ortsbestimmungen. Meine Tochter hat meinem Auftritt hier zugestimmt. Ich zeige auch ein Bild von ihr. Da ist sie noch sehr klein. Dem hat sie auch
zugestimmt, dass ich Ihnen das zeigen darf.
Unter den Titel "Erfahrungen von Eltern mit der Intersexualität ihrer Kinder" habe
ich geschrieben: "Bericht einer Mutter". Denn ich bin nicht "Eltern", ich kann über
meine Erfahrungen sprechen, die sich deutlich von den Erfahrungen anderer Eltern
unterscheiden können. Das Thema ist sehr persönlich. Es ist tabuisiert. Sie können
sich vorstellen, dass man nicht mit allen möglichen Leuten über das Genitale des
eigenen Kindes spricht, obwohl ich es hier zum Teil tun werde. Es gibt nur wenig
Kontakt zu anderen Eltern.
Erfahrungen einer Mutter: Ich bin alleinerziehend, und zwar von Geburt an. Die Erfahrungen einiger anderer Mütter konnte ich mit einfließen lassen. Über die Väter
und deren Empfindungen kann ich gar nichts oder fast nichts sagen. Es ist auch hier
wieder auffällig, dass relativ viele Frauen da sind und dass bei den Referenten nur
Frauen vertreten sind, die über dieses Thema sprechen.
Es gibt verschiedene Stationen in der Mutter-Kind-Beziehung. Über einige kann ich
etwas sagen, es anreißen.
Geburt, Ankommen zu Hause, in der Familie, im Freundeskreis - der Kindergarten
ist so eine Station, die Grundschule, die weiterführende Schule und irgendwann
auch da drin die Pubertät. Diese Stationen habe ich mit meiner Tochter jetzt fast alle
durchlaufen. In der Pubertät sind wir drin.
Zur Geburt: Die Mutter-Kind-Beziehung beginnt schon in der Schwangerschaft. Man
freut sich auf sein Kind, dass es zur Welt kommt. Mütter sind in aller Regel bereit ich glaube, Väter auch -, ihr Kind nach der Geburt so anzunehmen, wie es ist.
Manchmal braucht das ein bisschen Zeit. Da meine Tochter sehr lange im Krankenhaus war, habe ich viele Eltern von Problemkindern gesehen, die ihr Kind trotz aller
Probleme, die da waren, sehr geliebt haben.
Besonderheiten eines Neugeborenen, selbst wenn sie sehr offensichtlich sind, wie
z.B. Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalten, stehen nicht zwingend im Vordergrund. Ich
glaube, das ist eine ganz, ganz wichtige Sache.
Zur Geburt eines intersexuellen Kindes:
Früher wurde das immer - ich habe das selber mal auf einer Tagung erlebt - als medizinischer Notfall bezeichnet. Als mein Kind geboren wurde, war es ein medizinischer Notfall. Da war sie zwei Tage alt und über Intersexualität wusste ich noch gar
nichts. Ich hatte in der Geburtsnacht erlebt, dass ich das Gefühl hatte, dass mir alle
herzliches Beileid sagen wollen. Niemand hat mir gratuliert, obwohl ich Mutter geSeite 26
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worden war. Erst am nächsten Tag hat mich dann ein Arzt in den Arm genommen
und hat angesichts dieses Bildes gesagt, haben Sie nicht ein hübsches Baby? Und
genauso habe ich empfunden. Ich habe nicht empfunden, oh Gott, wie schrecklich.
Das sind meine persönlichen Erfahrungen, dass es mir gut getan hat, dass jemand
einfach gesehen hat, das ist mein Kind.
Die Information durch die Ärzte, vor allem über Intersexualität, kamen dann später.
Die Ärzte haben das anfangs auch nicht gewusst. Sie sah anders aus, aber das hat
man zunächst mal auf eine Frühgeburtlichkeit geschoben. Es ist durch Chromosomenanalysen dann rausgekommen, 46 XY. Die haben das zweimal machen lassen,
weil sie es erst nicht glauben wollten, und haben es mir dann mitgeteilt.
Meine Gefühle und Empfindungen an dem Tag, als ich das erfahren habe, weiß ich
noch sehr gut. Ich bin dann zunächst mal fassungslos gewesen, bin in die Stadt gegangen, habe dort ein Pärchen gesehen, was eng umschlungen ging, und habe gedacht, das wird meine Tochter nie haben. Dann war aber schon kurze Zeit später der
Gedanke da: Du bist so bescheuert! Dein Kind ist ein paar Tage, 14 Tage alt und du
denkst darüber nach, was sein wird, wenn sie 16 oder 17 ist. Ich habe das dann wieder weg gepackt und es war einfach kein Problem.
Die Erfahrungen anderer Mütter sind so ähnlich. Es haben mir einige gesagt, es hat
uns gestört, dass dieses Intersexuelle gleich so hoch gehängt wurde. Warum lässt
man uns nicht erst mal unser Kind annehmen, auch wenn wir wissen, das ist im
Moment noch nicht ganz klar, was es eigentlich ist oder werden will oder werden
soll? - Also, zunächst mal diese Mutter- oder Eltern-Kind-Beziehung zulassen, ohne
es gleich zum medizinischen Fall zu machen.
Aussagen aus der Literatur brauche ich Ihnen nicht vorzustellen. Die sind nachzulesen. Ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben: All das lässt Angst in dir hochkommen, es könnte etwas mit deinem Kind nicht stimmen oder es könnte deinem Kind
nicht gut gehen. Dabei ist es doch nur intersexuell.
Der nächste Punkt, ganz wichtig, Ankommen zu Hause, in der Familie, im Freundeskreis. Darf ich das erzählen? Mir wurde gesagt, das dürfen Sie niemals jemandem
erzählen, nicht einmal Ihren Eltern und Geschwistern. Und wenn Sie das nicht aushalten, kommen Sie zu uns. Ich habe mich nicht dran gehalten. Ich habe es gleich
am nächsten Tag meiner Freundin erzählt. Es wissen inzwischen auch viele.
Wem darf ich das erzählen? Ich erzähle es nicht jedem. Ich kann da besser bei Leuten drüber reden, die ich nicht kenne, aber im Bekanntenkreis passe ich schon ein
bisschen auf. Wie gehe ich mit ungewöhnlichen Reaktionen um? Der Mann meiner
Freundin hat gesagt, oh, solche Kinder wurden früher auf dem Jahrmarkt gezeigt. Da
musste ich erst mal schlucken. Und wie reagiere ich auf unterschwellige Vorwürfe?
Wenn man mit 14 ein Kind kriegt, muss man damit rechnen, dass es ein behindertes
ist. Das muss man aber im Prinzip immer, auch wenn man mit 20 eins kriegt.
Die alles entscheidende Frage ist: Wie gehe ich damit um, dass mein Kind nicht in
das binäre Schema der Geschlechter passt? Da gibt es mögliche Antworten.
Die erste ist, möglichst gleich, noch im Babyalter geschlechtsangleichend operieren
- Normalität um jeden Preis. Das ist eine Antwort, die haben auch Eltern früher sehr
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gerne angenommen. Die zweite wäre erst mal Abwarten, unauffällig bleiben, operieren bei Bedarf. Und es bleibt zu hoffen, dass man dann auch sagt, nur wenn das
Kind es will.
Die dritte Möglichkeit wäre zu sagen, mein Kind bleibt, wie es ist. Wenn sich hier
jemand ändern muss, dann ist es unsere Gesellschaft.
Ich komme zur geschlechtsangleichende Operation solange noch die Windeln dran
sind. Es wurde mir von einer Ärztin auch empfohlen. Das sei dringend notwendig
wegen der Identifikation als Mädchen. Wir wissen, das Ergebnis sind operierte
Intersexuelle. Die Erfahrung haben wir gerade gehört. Intersexualität kann man
nicht weg operieren.
Erst mal abwarten, ist die zweite Möglichkeit. Das muss man differenzieren. Auch
das haben wir schon gehört, Verkleinerung der Klitoris, wenn sie denn allzu groß
erscheint, Anlegen einer Neo-Vagina mit den entsprechenden zusätzlichen Eingriffen, Gonadektomie.
Meine Erfahrung dazu: Am Anfang ist meine Tochter einfach aufgewachsen, wie
jedes andere Kind, bis sie dann im Kindergarten massiv Ärgereien der anderen Kinder ausgesetzt war, nach Hause kam, die sagen, ich habe einen Penis. Da hatte ich
dann schon das Gespräch mit einer Ärztin, die mir empfohlen hatte, mein Kind möglichst gleich operieren zu lassen. Ich habe meiner Tochter gesagt, wenn du willst,
können wir die Klitoris verkleinern. Sie wollte es. Weil ich mich inzwischen schlau
gemacht hatte, dass Neo-Vagina bougieren bedeuten würde, habe ich mich dagegen entschieden. Außerdem wusste sie - da war sie knapp 7 - überhaupt noch nicht,
was eine Scheide eigentlich ist. Das ist der Spalt zwischen den Schamlippen für ein
siebenjähriges Mädchen. Darauf habe ich verzichtet. Die Ärztin hat dann auf die OP
verzichtet. Wir sind in eine andere Klinik gegangen.
Als sie 13/14 war, trat plötzlich Verilisierung auf. Sie wusste, dass sie anders ist. Sie
wusste, dass sie intersexuell ist, was immer ihr das zu dem Zeitpunkt auch gesagt
hat. Sie wusste nicht, dass sie einen Hoden hat. Sie bekam einen Bart, was sie sehr
verunsicherte. Und sie bekam Stimmbruch. Und als sie dann hörte, dass sie einen
Hoden hat, habe ich sie gebeten, die Entscheidung selbst zu treffen. Ich habe ihr
erzählt, was es bedeuten würde, wenn er drin bleibt. Sie hat sich dafür entschieden,
dass er rausgenommen werden sollte.
Probleme? Heute würde ich schon bei ersten Problemen versuchen dagegen zu halten und zu sagen: Dann wehr dich, wenn die dich ärgern wegen deiner großen Klitoris. Das habe ich damals noch nicht gekonnt. Das ist jetzt 10 Jahre her.
Erfahrungen anderer Mütter sind sehr unterschiedlich. Ich kenne Mütter, die unterschiedlich beraten werden, je nach Arzt. Wenn man bei drei verschiedenen Ärzten
war, hat man drei verschiedene Meinungen gehört. Das verunsichert Eltern natürlich. Zu wenig psychologische Betreuung, man wird häufig mit diesem Problem alleingelassen. Schuldgefühle bei Eltern, die einer Gonadektomie zugestimmt hatten
und dann auf einer Tagung oder bei der Selbsthilfe plötzlich erfahren, es gibt andere, die sagen, um Gottes Willen, lasse das nicht machen bei deinem Kind. Und dann
stehen die da und sagen, ich habe es doch schon machen lassen. Was ist denn jetzt?
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Negative Erfahrungen mit schlechten OP-Ergebnissen gibt es auch. Ich kann immer
nur für ein paar sprechen.
Die dritte Möglichkeit: Mein Kind bleibt wie es ist - Traum vieler Eltern intersexueller Kinder. Es gibt bereits Eltern, die diesen Weg gehen. Ich kenne einige, aber wenige. Ich glaube, es kostet sehr viel Mut, von Anfang an offen mit der Intersexualität
des Kindes umzugehen. Es fordert vor allem viel Mut und ganz viel Kraft von den
Kindern und dann den Jugendlichen, ihre Intersexualität anzunehmen, wenn die
Gesellschaft das noch gar nicht getan hat.
Deswegen stehe ich einfach hier und fordere von unserer Gesellschaft:
Ärzte und Hebammen müssen einfühlsam mit Eltern intersexueller Kinder umgehen
können. In der Betreuung intersexueller Kinder und Eltern müssen Psychologen von
Beginn an integriert sein. Es gibt hier in Berlin ein Modell, da wird das schon so
gemacht. Die Gesetzgebung muss eine geschlechtsneutrale Namensgebung zulassen. Das wollte ich eigentlich anders formulieren. Ich wollte sagen: Die Gesetzgebung muss es zulassen, dass das erst mal offen gelassen wird, was es für ein Geschlecht ist. Und das ist mit dem geschlechtsneutralen Namen verbunden.
Erziehungspersonal in Kindergärten und Schulen muss informiert sein. Es kann
nicht angehen, dass Eltern das übernehmen müssen, aber das ist so im Moment.
Das Thema Intersexualität muss fester Bestandteil des Sexualkundeunterrichts aller Schulen werden, denn da sitzen Kinder, die hören, so sieht ein Junge aus und so
sieht ein Mädchen aus. Und sie wissen, ich sehe aber anders aus. Also, ich denke,
so einen Zwei- oder Dreizeiler im Schulbuch sollte das eigentlich mindestens wert
sein.
Gonadektomien dürfen nur nach sorgfältiger medizinischer Abwägung durchgeführt werden. Die Zustimmung der Intersexuellen muss vorliegen. Das schließt frühkindliche Operationen aus. Die Einbeziehung betroffener Eltern in gesellschaftlichen und medizinischen Entscheidungsgremien muss zunehmen. Ich finde, das ist
hier schon ein guter Ansatz.
Für intersexuelle Kinder und Jugendliche muss wohnortnah psychologische Betreuung angeboten werden. Es kann nicht angehen, dass ich aus der Nähe von Braunschweig die Entscheidung treffen kann, fahre ich zweieinhalb Stunden nach Hamburg oder fahre ich zwei oder zweieinhalb Stunden nach Berlin?
Die Gesellschaft muss aufhören, Intersexualität als krankhafte Abweichung von der
Normalität zu betrachten.
Ich habe gedacht, bei einer Veranstaltung der Grünen kann ich das einfach auch
mal so formulieren: Das langfristige Ziel muss die Aufhebung des binären Geschlechterbildes in unserer Gesellschaft sein.
Aber ich muss das gleich einschränken: Ich glaube nicht, dass die Lösung ein drittes Geschlecht ist. Ich glaube, die Lösung liegt darin, dass man einfach sagt: Es gibt
zwei Extreme und alles Mögliche dazwischen und es ist gleichberechtigt.
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Nur ein Traum: Ich habe gedacht, vor 20, 30 Jahren haben hier Lesben oder Schwule
gestanden und haben für ihre Rechte gekämpft. Wenn einer allein träumt, bleibt es
ein Traum. Wenn viele gemeinsam träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit. In diesem Sinne danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.
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Wie soll eine psychotherapeutische Unterstützung der Intersexuellen und ihrer Eltern gestaltet werden?
Dipl.-Psych. Eva Kleinemeier, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Ich freue mich sehr, dass ich heute über die psychosoziale Betreuung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen und deren Eltern reden darf, weil das ein Thema ist, das mir als Psychologin und Psychotherapeutin am Herzen liegt.
Wie sieht die Situation der psychosozialen Versorgung aktuell in Deutschland aus?
Bitte geben Sie an, ob und in welchem Umfang Sie psychologische
Beratung/Psychotherapie erhalten haben, ob Ihr Kind diese
Leistungen Ihrer Meinung nach braucht oder ob es sie nicht
benötigt
70%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%
59,6%
21,1%
9,1%
10,1%
Ja, bekommen
Ja, teilweise
nein, brauchen wir auch nicht
nein, würden wir aber benötigen
Das sind Ergebnisse, die auch Frau Jürgensen in ihrer Studie vorstellt hat. Wir haben die Eltern gefragt, ob und in welchem Umfang sie psychologische Beratung,
Psychotherapie erhalten haben. Über 80 % der Eltern haben angegeben, dass sie
das nicht bekommen haben, was eine sehr große Zahl ist und zeigt, dass es da ein
sehr deutliches Versorgungsdefizit gibt. Es ist für Eltern und Kinder mit DSD kein
Standard, psychologische Unterstützung zu bekommen.
In der Chicago-Consensus-Konferenz wurden vor drei, vier Jahren gewisse Anforderungen veröffentlicht. Dies ist nicht der Ist-Zustand. In diesem Consensusbericht
steht u.a., dass keine Geschlechtszuweisung ohne die Einbeziehung von Experten
aus Medizin und Psychologie erfolgen und eine Diagnostik und Langzeitbetreuung
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in einem Zentrum mit einem multidisziplinären Team erfolgen sollte. Die Vorstellung bei einem pädiatrischen Endokrinologen genügt nicht, es soll ein Team aus
verschiedenen Fachdisziplinen sein.
In der Chicago-Konferenz wird auch gefordert, dass es bei allen Kindern eine Geschlechtszuweisung geben sollte. Es soll mit den Eltern und den Patienten offen
kommuniziert werden, keine Informationen verheimlicht werden. Patienten und Eltern sind in Entscheidungsprozesse einzubeziehen, Befürchtungen sollen und auch
andere Meinungen respektiert werden. Es kann ja durchaus auch sein, dass Eltern
anderer Meinung als die Ärzte sind, was auch zu respektieren wäre.
Es soll auch eine Schulung stattfinden, in der sowohl psychosoziale als auch biologische Grundlagen Eltern und Patienten vermittelt werden.
Speziell für Kinder und Jugendliche wird gefordert, dass von Anfang an geschulte
Psychologen oder Psychotherapeuten fester und normaler Bestandteil des Behandlungsteam sein sollten. Das ist eine wichtige Forderung. Wenn jemand erst fragt,
sollen wir denn auch einen Psychologen hinzuziehen, hat das häufig eine sehr
pathologisierende Wirkung. Dann denkt man, wir sind doch nicht verrückt, wir haben doch kein psychisches Problem. Deshalb ist das als normales Angebot, wie die
Untersuchung beim Endokrinologen, als Selbstverständlichkeit mit hinein zu geben,
damit dann, wenn spezifische Fragen kommen, auch jemand da ist, und nicht erst
dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist und die Probleme auftreten.
In dieser Chicago-Konferenz wird auch gefordert, dass für jeden Menschen ein individuelles Unterstützungsangebot entwickelt werden soll. Es soll nicht gesagt werden, es gibt die eine Behandlung, die für alle richtig ist. Und es soll auch ein individueller Plan bezüglich der Aufklärung erstellt werden.
Ein wichtiger Punkt ist sicherlich auch, dass für alle Menschen die Weitervermittlung in eine psychotherapeutische Behandlung bei Bedarf entsteht.
Die Geburt eines Kindes mit einer besonderen Geschlechtsentwicklung ist ein seltenes und sowohl für Eltern, wie auch das medizinische Personal, meist vollkommen
unerwartetes Ereignis. Die Kinder kommen ja nicht in einer Klinik auf die Welt, wo
sich alle mit dem Thema auskennen, sondern häufig sind alle erst mal überrascht,
was passiert ist. Es gibt eine Vielzahl von Fragen, die sowohl die Eltern als auch
das medizinische Personal hat - inklusive Hebammen und entbindender Ärzte und
Ärztinnen. Was sage ich den Eltern? Was ist die Ursache? Die Eltern fragen sich, ob
das (Erziehungs?)geschlecht sofort festgelegt werden muss. Wie soll ich auf die Fragen von anderen reagieren, die sofort fragen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist?
Es gibt am Anfang also eine Vielzahl an Fragen.
Eltern erzählten uns von häufig von Gefühlen wie Hilflosigkeit, Trauer, Schuld und
Scham, dass aber eigentlich überhaupt niemand da war, mit dem sie darüber reden
konnten. Dazu kommt die Angst hinsichtlich des Gesundheitszustands des Kindes,
weil häufig gesagt wird, das ist ein medizinischer Notfall. Das Kind wird in eine
Kinderklinik gebracht und es kann kein direkter Kontakt mit den Eltern bestehen.
Darum entstehen eine Vielzahl von Ängsten auf der Seite der Eltern. Sie sind unsicher. Wem erzähle ich was? Was muss ich wissen? Was müssen andere wissen?
Wir haben uns Empfehlungen für die ersten Gespräche mit den Eltern überlegt.
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Die erste: Ruhe bewahren und das Kind bei den Eltern lassen, sofern es geht und es
keine medizinischen Notwendigkeiten, keinen Grund gibt, ein Kind mit einer besonderen Geschlechtsentwicklung in eine Kinderklinik zu bringen. Wichtig ist, auf
die Fragen und Ängste der Eltern einzugehen. Dazu gehört auch, das Kind bei den
Eltern zu lassen, die Eltern-Kind-Bindung zu unterstützen, weil das für die Zukunft
eine der wichtigsten Grundlagen ist, und - wenn man selber etwas gar nicht sicher
weiß - vor allem Spekulationen zu vermeiden und zuverlässige Aussagen zu machen.
In den wenigsten Fällen besteht in den wenigsten Fällen wirklich ein Zeitdruck für
irgendetwas. Es müssen keine Sofortentscheidungen getroffen werden.
Es gibt auch den Fall, dass erst im Laufe der Kindheit ein DSD oder eine besondere
Geschlechtsentwicklung entdeckt wird. Das passiert z.B. bei Operationen - bei Leistenbrüchen werden in den Leisten plötzlich Hoden gefunden. Da kommt die Normalität der Familie ins Wanken. Sie haben ein Kind bekommen. Die ersten Jahre war
alles ganz „normal“. Durch die Diagnose kommt diese Normalität ins Wanken.
Da ist es auf jeden Fall Aufgabe von psychosozialen Fachkräften, die Familie bei
der Akzeptanz dieser neuen, veränderten Realität und von Anfang an bei der Aufklärung zu unterstützen. Das ist ein sicherlich sehr wichtiger Punkt. Eltern müssen
in den Fällen sofort handeln und wissen nicht, was darf ich meinem Kind eigentlich
sagen und was nicht. Da muss man von Anfang an unterstützend zur Seite stehen
und über verschiedene Themen Informationen weitergeben.
Ein ganz wichtiger Punkt - und das gilt nicht nur für DSD im Kindesalter - ist, den
Kontakt zu Selbsthilfegruppen herzustellen. Wir wissen von vielen Eltern, dass es
ihnen sehr geholfen hat, andere Eltern kennen zu lernen, die in einer ähnlichen Situation sind.
Kinder werden älter und ein ganz zentraler Punkt ist die kontinuierliche altersgemäße Aufklärung. Für uns Psychologinnen und Psychologen liegt eine wichtige
Aufgabe darin, die Eltern dabei und auch beim Umgang mit der DSD zu unterstützen. - Wem erzähle ich was? Wie gehe ich damit um? Das sind häufige Fragen, die
uns gestellt werden. Die können wir nicht pauschal beantworten.
Ich kann nicht sagen, was für die einzelne Familie richtig ist, wem sie etwas erzählen soll, aber man kann es vielleicht in gemeinsamen Gesprächen herausfinden,
was sie sich vorstellen und was sie sich nicht vorstellen können.
Eltern wollen immer wissen, wie ist das mit der Geschlechtsidentität? Das ist ein
Punkt, der für sie im Vordergrund steht. Was passiert, wenn sich mein Kind anders
entscheidet, als für das Geschlecht, das wir ihm bei der Geburt gegeben haben. Das
ist auch ein Punkt, wo sich Eltern viel Unterstützung wünschen.
Ein wichtiger Punkt ist auch die Planung möglicher Intervention zu Beginn der Pubertät und die Eltern zu unterstützen, wenn es zu Hänseleien und Stigmatisierung
kommt. Ist es dann wirklich notwendig, sofort zu operieren oder kann man nicht
auch lernen damit umzugehen und dazu zu stehen, was los ist? Dafür braucht man
aber Hilfe. Das schafft man meist nicht allein. Da braucht man vielleicht Hilfe von
anderen Familien, aber auch von geschulten Leuten.
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Das Jugendalter ist eine wichtige Lebensphase. Hier prallen sehr unterschiedliche
Sachen aufeinander. Unter anderem kommt es zu einer Interferenz der Symptome
der besonderen Geschlechtsentwicklung und den Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen. Das heißt, es gibt bestimmte Aufgaben, die für Jugendliche im Vordergrund stehen, wie Sexualität, Partnerschaft. Hier treffen zum Teil diese Anforderungen an die Jugendlichen und die besonderen Geschlechtsentwicklungen aufeinander.
Dazu kommt, dass es bei vielen Formen eine andere, ausbleibende oder verzögerte
Pubertätsentwicklung gibt. Das wird von den Jugendlichen häufig als belastend
erlebt, weil sie häufig einen sehr starken Druck nach Konformität haben.
Wir haben erlebt, dass dies häufig ein Motor für sehr schnelle, irreversible Interventionen ist. Das heißt: Die Jugendlichen merken, bei mir ist irgendetwas anders, und
sagen: Operiert das bitte ganz schnell weg. Man kann das natürlich ganz schnell
weg operieren, aber die andere Frage ist: Kann man die Jugendlichen dabei unterstützen, sich bei Entscheidungen Zeit zu lassen?
Ein Beispiel ist, wenn bei einer Jugendlichen, bei der es aufgrund der Diagnose zu
einer Vermännlichung, Verilisierung in der Pubertät kommt, sofort die Gonaden entfernt werden. Wir kennen Jugendliche, die sofort den Wunsch hatten. Aber es gibt
auch Möglichkeiten sich Zeit zu lassen und darüber zu diskutieren. Dafür braucht
man auch Unterstützung, das kann man nicht unbedingt immer allein schaffen. Es
ist ein wichtiger Punkt, keine voreiligen Entscheidungen zu treffen.
Es wird immer gesagt: Mit dem Einverständnis kann man alles machen, aber manches Einverständnis wird aufgrund dieses sehr starken Konformitätsdrucks im Jugendalter gegeben. Wir wissen nicht, ob es der Jugendliche vielleicht in 10 Jahren
anders sieht.
Ein wichtiger Punkt bei der psychosozialen Betreuung ist die proaktive Thematisierung der Themen Partnerschaft und Sexualität mit einhergehenden Problemen,
Ängsten und Befürchtungen. Wir erleben das häufig so, dass sich die Jugendlichen
nicht von selbst trauen, diese Themen anzusprechen, weil es sehr auf die Andersartigkeit hinweist. Da ist es schon notwendig, dass man auch mal nachfragt, selber
thematisiert und dann guckt, ob das gerade Thema sein soll oder nicht, es aber immer wieder anspricht, damit es nicht verdrängt wird.
Die Ziele psychosozialer Unterstützung von Eltern, Kindern und Jugendlichen sollten
auf jeden Fall Angstreduktion, Förderung einer kontinuierlichen und altersgemäßen
Aufklärung und die Integration der besonderen Geschlechtsentwicklung als selbstverständlicher Bestandteil in das Selbstbild und die Familiensystem sein und nicht
etwas, was sozusagen weggedrängt werden sollte.
Ein weiteres Ziel ist die Unterstützung bei Entscheidungsprozessen. Auch wenn man
sich gegen etwas entscheidet, sind es trotzdem Entscheidungsprozesse die stattfinden. Auch bei der Entscheidung, keine Intervention zu machen, braucht man Unterstützung.
Wichtig ist die Krisenintervention. Es kann lange Zeit gut laufen. Es kann sein, dass
es irgendwann in der Kindheit eine Krise gibt. Da muss jemand zur Verfügung ste-
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hen, den man fragen kann, und es muss im Bedarfsfall eine psychotherapeutische
Behandlung vorhanden sein.
Schlussfolgerung: Ich möchte nun ein ganz wichtiger Punkt ansprechen. Als Psychologin appelliere ich auch an die Medizinerinnen und Mediziner - weil auch da erlebe ich Diskrepanzen - psychosoziale Fachkräfte von Beginn an einzubeziehen. Meine Erfahrung ist jedoch, dass das nicht immer der Fall ist. Es wird überall gefordert,
es steht überall geschrieben, aber es ist definitiv nicht der klinische Alltag.
Häufig wird gesagt, alle brauchen eine psychotherapeutische Behandlung. Ich denke, nicht alle Kinder und Jugendlichen mit einer besonderen Geschlechtsentwicklung und deren Eltern brauchen per se eine psychotherapeutische Behandlung.
Aber sie brauchen eine kontinuierliche psychosoziale Begleitung als normalen Bestandteil des Behandlungssettings. Im Zentrum der psychosozialen Beratung steht
eben nicht die Annahme einer psychischen Auffälligkeit, sondern die Prävention
von psychischen Resultaten aufgrund der Erfahrung, aufgrund der DSD, aufgrund
der Erfahrungen, die die Menschen in dem System machen.
Häufig wird gesagt, die sind alle gestört. Ich glaube nicht, dass all die Menschen
per se eine Psychotherapie brauchen, sondern wir können das Entstehen von Leid
mit einer guten Versorgung auch verhindern.
Letzter wichtiger Punkt: Ich glaube, dass es nicht den einen Königsweg für die psychosoziale Betreuung von Kindern und Jugendlichen gibt, sondern dass es ganz
wichtig ist, dass ich mir die Familie angucke und dass wir gemeinsam mit den Familien und mit den Ärzten und Ärztinnen einen ganz individuellen Hilfe- und Betreuungsplan entwickeln, der auf die einzelne Familie abgestimmt ist.
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Wie kann die optimale Begleitung intersexueller Menschen
aus medizinischer Sicht sein?
Prof. Annette Grüters-Kieslich, Leiterin des Instituts für Experimentelle, Pädiatrische Endokrinologie, Charité - Universitätsmedizin Berlin
Ich bedanke mich für die Einladung. Ich war bereits bei dem Gespräch im Jahre 2002
dabei und möchte mich zunächst bei allen Betroffenen bedanken, die sich hier mutig einbringen. Ich glaube, es ist eine wesentliche Arbeit, die Sie leisten, die enorm
dazu beigetragen hat, dass sich das Verständnis und auch der Umgang von Menschen mit Intersexualität in der Medizin in den letzten Jahren geändert hat.
Ich habe drei Fragen zur Beantwortung bekommen:
Wie sollen medizinische Standards erarbeitet werden? Kann man jetzt eine allgemeine Richtlinie für eine optimale Behandlung definieren und wie soll eine Aufklärungskampagne für medizinisches Personal erfolgen?
Nach dem Verlauf der heutigen Diskussion ist klar, dass man die ersten beiden Fragen nur ganz schwierig beantworten kann. Das Wichtigste, was man in der Betreuung und Begleitung von Menschen mit DSD ändern muss, ist, dass sich tatsächlich
die gesamte Einstellung und der Umgang mit diesem Anderssein in unserer Gesellschaft ändert.
Der wesentliche Fortschritt, der erzielt worden ist, ist nicht durch Mediziner und
auch nicht durch Psychologen oder Psychotherapeuten erzielt worden ist, sondern
durch die Veränderung der öffentlichen Wahrnehmung von DSD und letztendlich
auch durch die Forschung zu den Grundlagen. Die Erforschung der Grundlagen der
Geschlechtsentwicklung hat erheblich dazu beigetragen, dass wir ein anderes Verständnis haben - auch als Mediziner. In der erwähnten Consensus-Konferenz war
der wichtigste Beschluss, dass Begriffe wie Hermaphroditismus oder gar Geschlechtsumkehr für betroffene Menschen verletzend und auch wissenschaftlich
irreführend sind und nicht mehr benutzt werden sollen.
Vor diesem Hintergrund muss man auch die medizinische Begleitung, Behandlung,
Beratung von Menschen mit DSD sehen. Es hat sich in den letzten Jahren dort so viel
getan.
Beispiel: Ich habe 1980 als Assistenzärztin angefangen. Kinder mit einer Leukämie
hatten dort ein hohes Risiko, was weit über 50 % lag, bereits bei der ersten Manifestation der Leukämie zu versterben. Heute überleben diese Kinder zu mehr als 95 %.
Es hat sich eine gewaltige Entwicklung in der Medizin vollzogen - so auch in der
Endokrinologie oder im Umgang mit und Verstehen von Menschen mit DSD.
Man darf nicht vergessen, dass diejenigen, die jetzt aufstehen und sagen, passt auf,
macht nichts falsch, natürlich eine komplett andere Beratung und auch Behandlung
erfahren haben, als die, die vor 10 Jahren oder auch jetzt geboren sind. Diesen Hintergrund muss man einfach zur Kenntnis nehmen und darf nicht aus Fehlern, die
früher gemacht wurden, weil man es nicht besser wusste, Dinge ableiten, die heute
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völlig falsch sind. Ich hoffe, dass Sie nach meinem Vortrag verstehen, was ich damit
meine.
Wie sollen medizinische Standards erarbeitet werden?
Das ist ein allgemeines Problem. Standards kann man nur dann erarbeiten, wenn
man umfassende Kenntnisse von einer Erkrankung oder einer Bedingung hat. In
diesem Fall muss man sagen: Medizinische Standards sind nur dann möglich und
zu erarbeiten, wenn man umfassende Erkenntnisse zu den Ursachen von DSD hat.
Aufgrund der Forschung können wir sagen, dass wir inzwischen bei 80 % der Patienten ziemlich genau sagen können, was die Ursache ist und warum sich dieser Phänotyp so entwickelt, aber bei 20 % eben auch nicht.
Schließlich brauchen Menschen, die Standards entwickeln oder sagen sollen, wie
eine Behandlung, Begleitung, Beratung gemacht werden soll, auch selber eine umfassende Erfahrung in der Beratung, Diagnostik und Therapie. Wenn ich retrospektiv zurückdenke, dass ich auch schon im Jahre 1980 in die Behandlung und Beratung
von Eltern einbezogen war, die ein Kind mit DSD bekommen hatten, kann man nur
sagen: Das ist überhaupt der größte Fehler, den man machen kann, dass Menschen,
die wirklich nicht über eine breite Erfahrung verfügen, diese Beratung, Behandlung
und Begleitung in die Hand nehmen oder in die Hand gelegt bekommen. Das ist
auch eine Forderung, die man klar formulieren muss, dass solche Konditionen DSD, aber auch viele, viele andere seltene Erkrankungen - in die Hände von Experten gehören und nicht von jedem irgendwo behandelt werden dürfen.
Schließlich brauchen wir eine Analyse von Langzeitergebnissen. Wir haben heute
von der größten Erhebung hier gehört. Es hat sich eine heftige Diskussion entwickelt, aber man muss klar sagen, es ist wenigstens etwas, was man in der Hand hat.
Bis dahin haben wir Studien gehabt, die über 20, 25, auch mal 40 Patienten mit ganz
unterschiedlichen Ursachen von DSD berichtet haben. Die helfen uns nicht weiter.
Kann man schon jetzt eine allgemeine Richtlinie für eine optimale Behandlung definieren?
Diese Frage ist natürlich falsch. So kann man die nicht formulieren, weil wir es ja
mit einem sehr heterogenen Spektrum unterschiedlicher Bedingungen zu tun haben.
Auch hier braucht man, um eine allgemeine Richtlinie zu definieren, zunächst einmal eine hohe Kompetenz für das jeweilige Bild im diagnostischen und therapeutischen Prozess. Das ist für viele DSD-Bedingungen noch nicht gegeben, weil wir einfach die Ursache der Erkrankung oder der Störung nicht kennen.
Eine einseitige medizinische Beratung ist überhaupt nicht ausreichend. Man
braucht ein interdisziplinäres Team, um diese Beratung durchzuführen. Das jeweilige Prozedere ist von der zugrunde liegenden Diagnose abhängig und muss in Fällen mit unsicherer Voraussage für die Geschlechtsidentität immer davon geleitet
sein, keine definitiven Veränderungen schaffen zu wollen - weder physisch, noch
psychisch.
Wie erfahren Eltern heute die Diagnose?
Bei allen Neugeborenen mit einem veränderten Genitale passiert das unmittelbar
nach der Geburt. Und es besteht bei allen zunächst einmal für eine gewisse Zeit
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eine Unklarheit über das Geschlecht und die Ursache. Bei Mädchen mit 46 XXKaryotyp und einem AGS, die zunächst für einen Jungen gehalten werden oder ein
intersexuelles Genitale haben, wird heute die Diagnose durch das
Neugeborenenscreening gestellt. Der klare Vorteil ist: Die Diagnose ist dann von
Anfang an in den ersten Lebensstunden oder Lebenstagen klar. Das hat diese Kondition AGS auch revolutioniert, weil die Diagnose nun einfach klar ist. Viele jetzt
erwachsene Menschen mit AGS, Frauen mit AGS, haben einfach in den ersten Lebenswochen die Identität eines Jungen gehabt, sind als solche nach Hause gegangen und es wurde dann mit 6, 8 Wochen aufgrund einer Salzverlustkrise letztendlich
das Geschlecht dann umbestimmt.
Dass das natürlich eine völlig andere Voraussetzung für die Entwicklung eines
Mädchens mit AGS ist, als wenn die Diagnose unmittelbar nach der Geburt gestellt
wird, ist leicht ableitbar.
Bei Kindern mit männlichen Chromosomen und DSD und gemischter
Gonadendysgenesie besteht oft auch heute noch eine längere Unklarheit bis die
Diagnose gesichert ist. Das ist dem sehr ähnlich, was Ihnen Frau Kleinemeier gezeigt hat. Medizinisch ist in den ersten Tagen gar nichts zu tun. Das Kind ist nicht
krank. Es ist schon gar kein Notfall. Aber was die Eltern brauchen, auch von den
Ärzten brauchen, ist eine kompetente Zuwendung. Das Wichtigste ist ein ausführlicher Erstkontakt, auch wenn die Diagnose nicht klar ist, bei dem die Situation erklärt wird, bei dem auch über den Umgang mit Dritten gesprochen wird. Das diagnostische Vorgehen ist ein minimales. Es werden ein Ultraschall und eine Blutentnahme gemacht. Diese Torturen, die früher gemacht wurden, wie Genitographien
oder wie manche Zentren sie heute machen, MR-Untersuchung in Narkose bei Säuglingen, das darf nicht sein. Durch einen Ultraschall und eine Blutentnahme kann
man bei 80 % der Kinder zu einer Diagnose in der ersten Lebenswoche kommen.
Es sollte gleich eine psychologische Beratung angeboten werden und, wenn es geht,
auch Kontakt zu einer Familie eines Kindes mit DSD, wobei auch unsere Erfahrung
hier ist, dass das selten von den Eltern angenommen wird.
Die Ärzte müssen mit dem Pflegepersonal ausführlich reden. Bei diesen Geburten
ist es überhaupt nicht nötig, dass das Kind in eine Kinderklinik verlegt wird oder wenn es eine ambulante Geburt war - eine stationäre Aufnahme erfolgt - im Gegenteil. Das medizinalisiert das ganze Geschehen und hat schlechte Einflüsse für das
Ganze. In unserem Krankenhauswesen werden die Kinder aber oft in eine Kinderklinik aufgenommen, weil es dann Geld dafür gibt. Wenn sie als gesundes Neugeborenes bei der Mutter bleiben, ist das nicht abrechenbar. Auch so etwas müsste
eigentlich verhindert werden.
Und es selbstverständlich, dass das kein einzelner Kontakt zu der Mutter oder Familie sein darf, sondern es muss gleich am nächsten Tag, egal, ob die Diagnose steht
oder nicht, der Arzt oder die Ärztin wieder zur Verfügung stehen.
Das Vorgehen bei bestätigter Diagnose ist auch in vielen Kliniken entsprechend
standardisiert. Diese Dinge haben dann zu passieren, müssen alle erfolgen. Dort
steht, Beantwortung aller Fragen. Ja, alle Fragen müssen wahrheitsgemäß beantwortet werden, auch wenn die Antwort von den Experten eben manchmal heiße
muss, das wissen wir nicht.
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Das ist das Vorgehen dieser Consensus-Konferenz: Für Mädchen, 46-XX-Karyotyp
mit DSD, entwickelt wurde, bei denen Uterus und Ovarien vorhanden sind und bei
denen über 95 % ein AGS haben, wird empfohlen, das Kind als Mädchen aufwachsen zu lassen. Diese Mädchen haben eine völlig normale weibliche Pubertät, und
ich denke, man sollte sie vielleicht gar nicht mehr unter die Diagnose DSD fassen.
Bei diesen Kindern wird empfohlen oder es ist möglich, schon im frühen Säuglingsalter eine Vaginalplastik zu machen. Im Gegensatz zu anderen Störungen, wo man
diskutieren kann, ob das sein muss, ist es hier so, dass über 95 % der Mädchen mit
AGS als Frauen leben, eine normale weibliche Geschlechtsrollenidentifikation haben, hinterher schwanger sind und Kinder bekommen. Die Operation in den ersten
Lebensmonaten ist eine Operation, die gering traumatisierend ist, die sehr leicht
eine Vagina konstruieren lässt. Verschiebt man das auf einen späteren Zeitpunkt,
sind - wie Sie das vorhin gesehen haben - oft mehrere Operationen notwendig.
Das ist ein Vorgehen, das völlig mit in Konflikt steht, was hier heute auch diskutiert
werden soll, was auch eine rechtliche Implikation hat. Ich möchte aber wirklich darum bitten, dass die Mädchen mit AGS, die heute geboren werden, wirklich eine
völlig andere Lebensperspektive haben als diejenigen, die vor 30 oder 40 Jahren geboren wurden. Diese Ergebnisse darf man nicht ignorieren und pauschal Empfehlungen für oder gegen Operationen für Menschen mit DSD aussprechen.
Bei Menschen mit einem Karyotyp 46 XY oder der gemischten Gonadendysgenesie
ist es durchaus anders. In vielen Fällen kann man sich nicht festlegen. Dazu gehört
eine große Erfahrung und ein offener Umgang mit Eltern, wirklich deutlich zu machen, auch wenn der Wunsch besteht, dem Kind das eine oder andere Geschlecht
zuzuordnen, eine Offenheit zu bewahren, Raum zu lassen für die eigene Entscheidung des Kindes zu einem späteren Zeitpunkt. Entsprechend muss ich auch das medizinische Handeln ausrichten.
Ich möchte einfach dafür plädieren, dass hier nicht alles in einen Topf geworfen
wird. Ich habe Ihnen hier die Aussage einer jungen Frau mit einem AGS mitgebracht, die jetzt Anfang 20 ist, die mir das noch mal geschrieben hat. Sie lebt völlig
normal als junge Frau in einer Beziehung und hat mir diesen Dankesbrief geschrieben. Ich möchte wirklich für diese Mädchen und jungen Frauen und zukünftig geborene Mädchen mit AGS plädieren: Bitte beachten Sie, dass das eine völlig andere
Entität ist, als Patienten mit gemischter Gonadendysgenesie oder einem Karyotyp
46 XY.
Das medizinische Vorgehen richtet sich also vorwiegend am Anfang auf die Eltern.
Wir müssen verstehen, dass das alles eine ganz schwierige Situation für Eltern ist.
Sie brauchen eine kompetente Beratung und psychologische Unterstützung. Kinderpsychologen, die in Kinderkliniken oder in der Kinder- und Jugendmedizin tätig
sind, haben hierfür eine besondere Expertise entwickelt. Das sind diejenigen, die in
die Beratung einbezogen werden müssen. Auch dort gilt das Gleiche wie für Ärzte:
Man braucht eine Beratung, um mit diesen Eltern und Patienten umgehen zu können.
Es gibt weiter Probleme, die ich hier nur anreißen kann:
Völlig ungelöst ist nach meinem Empfinden in unserem Land der Umgang mit Menschen, die aus anderen kulturellen Hintergründen kommen. Dort gibt es schon gar
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keinen Standard. Wir wissen alle nicht, wie wir mit arabischen, türkischen oder anderen Eltern umgehen müssen. Wir können es uns irgendwie vorstellen, aber es hapert schon oft an so einfachen Dingen, wie Gesprächen mit Dolmetschern oder dem
Fehlen von schriftlichen Informationen. Da ist noch so viel Arbeit zu tun, bevor wir
uns an anderen Dingen verkämpfen.
Ebenso in der Diagnosesicherung: Man darf doch nicht glauben, dass in jeder Kinderklinik ein Ultraschallexperte vorhanden ist oder gar in jeder Geburtsklinik, der
zweifelsfrei nach der Geburt bei einem solchen Kind einen Uterus identifizieren
kann oder nicht. Hier müssen wir klare Standards oder Expertise in der Behandlung
und Betreuung einfordern.
Natürlich auch bei der Frage der Operation: Es ist nicht klar, wann der richtige Zeitpunkt für die Operation ist. Es ist nicht mal klar, wann es richtig ist, einen Chirurgen einzubeziehen. Chirurgen haben eine besondere Mentalität. Allein diese Mentalität dieser Chirurgen kann zu einer Beeinflussung der Eltern führen, doch eine
Operation letztendlich durchzuführen, wo sie hinterher sagen - sie Sie , hätte ich
vielleicht doch nicht machen sollen.
Dies sind alle Dinge, die nicht klar sind. Auch diese müssen Bestandteil zukünftiger
klinischer Forschung sein, um hier die richtigen Antworten zu finden. Auch das hier
in allen Vorträgen reklamierte multidisziplinäre Team, wo gibt es das denn für die
Langzeitbetreuung der Kinder? Wir haben keine oder sehr, sehr wenige Kompetenzzentren in Deutschland, wo das überhaupt realisiert ist. Von wohnortnah kann
überhaupt keine Rede sein.
Das Thema, was uns in der klinischen Forschung extrem beschäftigt: Wir haben
keine richtige Antwort darauf, wann welches Hormon und wann welche Gene von
welchem Chromosom X und Y Einfluss auf unsere sexuelle Differenzierung im Gehirn haben und wie sich das alles so entwickelt. Wir können es aus den Patienten
ableiten, die wir kennen. Wir wissen, dass Frauen mit einem kompletten
Androgenrezeptordefekt eine komplett weibliche Identifizierung haben und zu 100 %
als normale Frauen leben. Wir wissen, dass auch Mädchen mit einem AGS, die mit
einem fast komplett vermännlichten Genitale zur Welt gekommen sind - wenn sie
dann richtig behandelt werden -, hinterher dann komplett weiblich identifiziert sind
und ein ganz normales Leben als Frau ohne Beeinträchtigung leben. Das zeigt uns,
es kann nicht das Y-Chromosom allein sein. Dann hätten die Frauen mit komplettem Androgenrezeptordefekt auch Probleme mit der Geschlechtsrollenidentifikation. Es können auch nicht die Massen von Testosteron pränatal sein, denn dann hätten auch die Frauen mit AGS ein Problem.
Sicherlich ist es so, das wissen wir bei inkompletten Defekten der
Androgenbiosynthese oder Androgenrezeptordefekten sowie bei der partiellen
Gonadendysgenesie. Die Zahlen kennen wir. Zirka 25 %, aus allen Studien zusammengenommen, haben ein Problem mit ihrer Geschlechtsrolle.
Ausbildungskampagne? Ja, mein Gott, natürlich sollte man fordern, dass diese
Grundkenntnisse in alle Ausbildungen einfließen. Aber wir dürfen nicht vergessen,
es handelt sich um seltene Ereignisse. Wenn man damit nie was zu tun hat, kann
man ausbilden, aber wenn der Fall dann kommt, hat man es im Zweifelsfall auch
schon wieder vergessen. Deshalb ist es die Aufgabe der Mediziner, in so einem Fall
das Personal umfassend zu informieren und anzuleiten. Aber es muss auch die BeSeite 40
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reitschaft dazu da sein, weil viele Mediziner ihr Herrschaftswissen lieber für sich
behalten und nicht an ihr Personal weitergeben.
Zusammenfassend sind die wichtigsten Botschaften: DSD ist nicht eine einheitliche
Entität, sondern hat viele unterschiedliche Ursachen, die unterschiedliche Folgen
haben. Bei jedem Beschluss, den man fasst, muss man das im Kopf haben und muss
ihn selektiv für unterschiedliche Entitäten treffen.
Die Beratung von Eltern eines Kindes mit DSD und der Familie muss durch Kompetenz geprägt sein, die - wie ich finde - nur in Zentren vorhanden ist, und durch Empathie, die aber eine umfassende Erfahrung der jeweiligen Ärztinnen und Ärzte voraussetzt.
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Rechtliche Aspekte der Intersexualität und Handlungsspielräume des Gesetzgebers
Prof. Dr.iur. Konstanze Plett, LL.M., Hochschullehrerin am
Fachbereich Rechtswissenschaft und am Zentrum Gender Studies der Universität Bremen
Für diesen Beitrag bin ich gebeten worden, wie mögliche Gesetzesinitiativen aussehen, die intersexuellen Menschen ihr Leben erleichtern können, besonders zu akzentuieren. Entsprechend habe ich mit darauf in erster Linie konzentriert. Die hauptsächlichen Problemstellen innerhalb des Rechts sind auch schon in anderen Beiträgen deutlich geworden: das Personenstandsrecht, das (jedenfalls in seiner 135 Jahre
alten Praxis) zu einer Zuordnung der Menschen ausschließlich zu dem männlichen
oder dem weiblichen Geschlecht zwingt, und die Fragwürdigkeit medizinischer
Eingriffe an Minderjährigen mit der „Diagnose Intersexualität“1 ohne deren persönliche Zustimmung. Ein paar weitere rechtliche Problemstellen werde ich später
gleichwohl noch hinzufügen.
Ausgangspunkt und Ziel meiner rechtlichen Analyse ist das aus anderen Menschenrechten ableitbare Menschenrecht auf sexuelle Identität einschließlich des
Rechts, diese zu entwickeln, auch für intersexuell geborene Menschen. Sexuelle
Identität ist als Recht mittlerweile anerkannt; z. B. ist es in der Berliner und der Bremischen Landesverfassung explizit genannt, und seit Ende 2009 gibt es Bestrebungen, sexuelle Identität als Kriterium explizit in das Grundgesetz, die Verfassung der
Bundesrepublik Deutschland, aufzunehmen, wobei alle bisherigen Debattenredner
und -rednerinnen davon ausgehen, dass dies nur der Klarstellung, aber nicht der
Einführung eines neuen Gleichheitsrechtes dienen würde2. Trotzdem ist auch unter
Juristen und Juristinnen noch unklar, was genau unter sexueller Identität zu verstehen ist, nur die sexuelle Orientierung oder auch Geschlecht im weitesten Sinne.
Ich persönlich verstehe unter sexueller Identität die Aspekte der Persönlichkeit eines Menschen, die mit seinem Geschlecht und seinen geschlechtlichen Wünschen
verbunden sind, also sowohl das Körpergeschlecht als auch das sog. psychische
Geschlecht und die Sexualität im Sinne persönlich-individueller Präferenzen. Dass
es dann auf der individuellen Ebene mehr Variationen gibt als jeweils heterosexuel-
1
Die sogenannte Chicago Consensus Conference hat sich im Herbst 2005 darauf geeinigt, statt
von Intersexualität künftig von Disorders of Sexual Development (DSD) zu reden; Consensus Statement
on Management of Intersex Disorders (http://www.gghjournal.com/volume22/4/ab13.cfm [2.12.2010]), vgl.
auch
Barbara
Thomas,
The
Chicago
Consensus
–
a
patient
perspective
(http://www.aissg.org/PDFs/Barbara-Lubeck2-Talk.pdf [2.12.2010]). Zu den Gründen, warum ich dieser
neuen Terminologie nicht folge, später.
2
Vgl. BR-Drs. 741/09 vom 29. 9. 2009; BR-Plenarprotokoll vom 27. November 2009 (864. Sitzung),
S. 423(D); BT-Drs. 17/88 vom 27. 11. 2009 (Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen), BT-Drs. 17/254 vom 15. 12. 2009
(Fraktion der SPD) und BT-Drs. 17/472 vom 20. 1. 2010 (Fraktion Die Linke) sowie BT-Plenarprotokoll vom
29. Januar 2010 (17. Wahlperiode, 20. Sitzung), S. 1791 ff. Vgl. auch die Anhörungen, die der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages durchgeführt hat und die auf der Webseite
http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a06/anhoerungen/01_Aenderung_Grundgesetz/ind
ex.html dokumentiert sind.
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le männliche oder weibliche Menschen, wie vor weniger als fünfzig Jahren noch als
selbstverständlich allein akzeptabel angenommen, ist evident. Aber auch Menschen, die nicht schon durch ihre bloße Existenz das traditionelle Geschlechtsverständnis in Frage stellen, können eine gemischte Identität haben in dem Sinne,
dass sie es ablehnen, in bestimmten Situationen auf ihr Geschlecht reduziert zu
werden. Ich bin überzeugt, dass alle hier im Raum Lebenssituationen erinnern können, in denen es auf ihre Geschlechtsidentität nicht ankam oder sie keinen Gebrauch davon machen wollten.
In den Diskussionen über Intersexualität und den gesellschaftlichen, medizinischen
und juristischen Umgang damit, an denen ich bisher teilgenommen habe, stellt sich
für mich immer wieder als ein besonderes Problem dar, dass es schwer, wenn nicht
unmöglich ist, intersexuell Geborene als eine Gruppe zu betrachten, um deren
Rechte es jetzt geht. Die Lebenssituationen von Minderjährigen sind nicht nur graduell von denen Erwachsener verschieden: Minderjährige brauchen stets eine andere Person, die mit Rechtswirkung für sie sprechen kann, während erst Erwachsene
die rechtliche Herrschaft über sich selbst haben. Zudem wäre bei Minderjährigen
zwischen Neugeborenen, noch nicht wirklich äußerungsfähigen Kleinstkindern,
Kindern, die bereits äußerungsfähig sind, und solchen, die kurz vor der Volljährigkeit stehen zu unterscheiden; und selbst bei Volljährigen, also Menschen im Alter
von 18 Jahren und darüber, entwickelt sich das Verständnis von sich selbst und damit auch die sexuelle Identität noch weiter. Der Einfachheit halber stelle ich im Folgenden nur Erwachsene und Vorschulkinder einander gegenüber.
Bei Erwachsenen muss gelten: Das Recht auf ihr So-Sein ist ernst zu nehmen. Das
heißt, für sie ist anzuerkennen, dass sie auch eine Geschlechtsidentität haben, die
nicht traditionell männlich oder weiblich ist, und das eindeutig3. Für Kinder muss
dann ferner gelten, dass sie das Recht haben, ihre je spezifische sexuelle Identität
zu entwickeln, sei es in Richtung männlich, sei es in Richtung weiblich oder sei es
in Richtung auf etwas anderes. Ich meine damit nicht in Richtung auf ein drittes
Geschlecht. Das wäre beim derzeitigen Stand der Diskussion wieder eine von außen
zugewiesene Kategorie. Ich meine, dass Menschen das Recht haben müssen, ihre
sexuelle Identität anders zu definieren als 90, 95, 98 oder auch 99,9 % der Menschen.
Es bleiben genügend übrig, die bei der Wahrnehmung ihres Rechts auf sexuelle
Identität so auftreten werden, wie die Mehrheitsgesellschaft es erwartet und/oder
toleriert; denn auch in der hiesigen Mehrheitsgesellschaft ist das Tolerierte und juristisch Akzeptierte hinsichtlich der sexuellen Identität in den letzten fünfzig Jahren
ja erheblich erweitert worden.
Noch ein Wort zur Begrifflichkeit. Die neue Bezeichnung DSD wird von den damit
Gekennzeichneten überwiegend abgelehnt4, vor allem, weil sie ihre Intersexualität
Wie Ins A Kromminga von sich sagte, er_sie sei „eindeutig zwischengeschlechtlich“ (Tagung
„Das flexible Geschlecht – Gender, Glück und Krisenzeiten in der globalen Ökonomie“, Forum 9
„Zweisame Demokratie? Gegenwart, Widerstand und Perspektiven“, Berlin, 28.–30. 10. 2010;
http://www.bpb.de/veranstaltungen/OFSCL9,0,Das_flexible_Geschlecht.html [13.12.2010]).
4
Vgl. für viele: Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (OII Germany), Unsere Basisprinzipien, http://www.intersexualite.de/index.php/fundamentale-prinzipien/ (15.12.2010); vgl.
auch: Curtis E. Hinkle, Sexistische Genetik und ambivalente Medizin, in: Gen-Ethischer Informationsdienst (GID), GID Spezial Nr. 9, Dezember 2009, S. 27-29.
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weder als Störung noch als Krankheit empfinden – beides die nächstliegenden
Übersetzungen von englisch ‚disorder‘. Dem vermag auch der Versuch einiger WissenschaftlerInnen nicht abzuhelfen, zur Aufrechterhaltung des Akronyms DSD das
erste D mit der Bedeutung Divergenzen, Differenzen oder Diversität zu versehen. Der
Begriff ‚Intersexualität‘ ist auch nicht durch Gebrauch während der Nazi-Zeit kontaminiert, da er bereits während des 1. Weltkriegs von dem deutsch-jüdischen Zoologen Richard B. Goldschmidt eingeführt wurde, der nach 1933 in die USA emigrieren konnte und dort nach 1945 geblieben ist5. Deshalb verwende ich weiterhin den
Begriff Intersex bzw. Intersexualität, wohl wissend, dass es nichts mit Sexualität zu
tun hat, sondern „nur“ mit Geschlecht. Bei Intersex bzw. Intersexualität handelt es
sich nicht um eine Unordnung oder Krankheit, sondern um eine besondere persönliche Disposition, die als solche geachtet werden muss. Diese Achtung, der Respekt
vor dem Anderen sind von den Verfassungen und Menschenrechten aufgegeben
und dem muss sich die Gesellschaft stellen.
Zu den tangierten Rechtsgebieten
Unser aller Leben wird, ob wir wollen oder nicht, von einer Vielzahl von Rechtsbestimmungen tangiert. Häufig merken wir das überhaupt nicht. Schwierig wird es
immer dann, wenn die Anwendung geltenden Rechts das Gefühl verursacht, ungerecht behandelt zu werden, obwohl man sich doch gar nicht gegen das Recht gestellt hat. Ich beginne mit dem Rechtsgebiet, das die Registrierung des Geschlechts
regelt und so, wie es seit seiner Einführung unter Bismarck gehandhabt wird, intersexuell Geborene als solche nicht mehr anerkennt.
Personenstandsrecht
Am 1. Januar 2009 ist ein neues Personenstandsgesetz (PStG) in Kraft getreten6, das
so neu allerdings nicht ist. Seine hauptsächliche Bedeutung liegt in der Ablösung
der traditionellen papiergebundenen Personenstandsbücher durch digital geführte
Personenstandsregister. In dem hier interessierenden Bereich hat sich kaum etwas
geändert. Es sieht unverändert den Geschlechtseintrag im Geburtenregister vor
(§ 21 Abs. 1 Nr. 3); nach der inzwischen erlassenen Verwaltungsvorschrift7 darf nur
„männlich“ oder „weiblich“ eingetragen werden (Nr. 21.4.3). Das PStG sieht ferner
unverändert eine Frist von einer Woche die Eintragung dieser Merkmale vor (§ 18
Satz 1); wie bisher gibt es für die Bekanntgabe der Vornamen eine längere Frist,
doch äußerstenfalls von einem Monat (§ 22 Abs. 1). Neu ist nur, dass eine Geburtsurkunde – auf Antrag – ohne Geschlechtseintrag ausgestellt werden kann (§ 59 Abs. 2).
Aber die Geburtsurkunde ist nur das amtlich beglaubigte Stück Papier, das den
Menschen ausgehändigt wird. Das staatliche Register enthält nach wie vor den Geschlechtseintrag. (Im Übrigen ist die Geburtsurkunde ohne Geschlechtseintrag so
neu auch wieder nicht: Seit ihrer Einführung als besonderer Urkunde durch das
Personenstandsgesetz von 1937 enthielten Geburtsurkunden nur Vor- und Familien-
Vgl. hierzu auch Ulrike Klöppel, XX0XY ungelöst, Bielefeld: transcript-Verlag, S. 404 ff.
Das PStG wurde als Art. 1 des Personenstandsrechtsreformgesetzes (PStRG) am 19. 2. 2007 verkündet (BGBl. I S. 122); das gestufte Inkrafttreten ist in Art. 5 PStRG geregelt.
7
Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz (PStG-VwV) vom 29. März 2010
(GMBl S. 498 ff.), Nr. 21.4.3:
5
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name, Ort und Tag der Geburt sowie Angaben über die Eltern des Kindes – bis zum
Inkrafttreten des Transsexuellengesetzes am 1. Januar 19818.)
Darauf basierend schlage ich als erste Gesetzesinitiative vor, das
Personenstandsgesetz dahingehend zu ändern, dass für den Geschlechtseintrag ein
Moratorium von mindestens drei Jahren vorzusehen ist. Das entspräche dem Kindergartenalter. Das würde den Eltern nicht abverlangen, ihr Kind nicht als Junge
oder Mädchen wahrzunehmen. Es würde sie aber von dem Druck befreien, eine Entscheidung schon unmittelbar nach der Geburt zu treffen, und ihnen Gelegenheit
geben, zu sehen, wie das Kind sich entwickelt. Da die Frist eigentlich zu kurz ist9,
sollte die Möglichkeit einer Verlängerung auf Antrag eingeräumt werden. Für die
endgültige Festlegung geschlechtsspezifischer Vornamen muss dann Entsprechendes gelten.
Bürgerliches Recht
Als nächstes ist das Bürgerliche Gesetzbuch mit seinen Regeln über Rechts- und
Geschäftsfähigkeit und das Recht der elterlichen Sorge für Minderjährige in Augenschein zu nehmen. Das Recht der elterlichen Sorge enthält auch Vorschriften, wann
und unter welchen Voraussetzungen das Elternrecht möglicherweise zu begrenzen
ist: nämlich grundsätzlich immer dann, wenn das Kindeswohl tangiert ist.
Über diese Frage besteht aber gerade Streit, ob die an intersexuellen Säuglingen
und Kleinkindern vorgenommenen medizinischen Behandlungen dem Kindeswohl
dienen oder nicht. Kleinstkinder können rein faktisch noch nicht für sich sprechen.
Rechtlich können sie noch sehr viel länger nicht für sich sprechen. Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) sind Kinder bis zu ihrem siebten Geburtstag völlig geschäftsunfähig, danach bis zur Erreichen der Volljährigkeit mit achtzehn Jahren beschränkt geschäftsfähig. Bis dahin haben sie zum Abschluss solcher Verträge, die
sie nicht nur mit ihrem Taschengeld bestreiten können, also auch ärztlicher
Behandlugnsverträge, von Gesetzes wegen erwachsene Personen, die für sie sprechen; im Regelfall sind dies die Eltern, die im Rahmen der elterlichen Sorge auch
die gesetzliche Vertretung ihrer Kinder ausüben. Mit zunehmender Entwicklung und
Reife sind allerdings bei medizinischen Behandlungen auch die Kinder selbst einzubeziehen.
8
Das Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen (Transsexuellengesetz – TSG) wurde am 10. 9. 1980 verkündet (BGBl. I S. 1654)
und bestimmte in § 15 Nr. 3: „In § 62 Abs. 1 Nr. 1 werden nach den Worten ‚des Kindes‘ die Worte ‚und
sein Geschlecht‘ eingefügt.“ § 62 PStG alte Fassung regelt die Ausstellung von Geburtsurkunden.
9
In einer Dokumentation des Fernsehsenders ARTE vom 8. 10. 2010 („Tabu Intersexualität –
Menschen zwischen den Geschlechtern“) trat ein Kind auf, das von seinem Äußeren her als Mädchen
schien, dem die Eltern aber die Freitheit gaben, sich nach seiner Entscheidung als Mädchen oder als
Junge zu begreifen. Es war sehr beeindruckend, wie das Kind mal als Mächen und mal als Junge auftrat – und in beidem sowohl von der Kindergärtnerin als auch von seinen „Mit-Kindern“ im Kindergarten akzeptiert wurde. Dies ist mindestens ein Gegenbeispiel für die oft (sogar in derselben Sendung
von einem Arzt) geäußerte Befürchtung, wenn Kinder in Uneindeutigkeit gelassen würden, würden sie
zum Spott ihrer Spielgefährten und gesellschaftlich isoliert. Diese Sorge scheint danach eherder Angst
der Erwachsenen vor Uneindeutigkeit des Geschlechts zu entspringen.
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Es liegt mir fern, Eltern, die in nicht unbedingt notwendige irreversible Operationen
und Hormonbehandlungen einwilligen, zu unterstellen, sie hätten nicht das Beste
ihres Kindes im Blick. Es darf aber auch nicht übersehen werden, dass die Eltern
und ihr Kind nicht die Einheit darstellen, als die sie erscheinen. Jeder Mensch ist ab
Geburt ein neuer Mensch mit eigenen Rechten, und Eltern und Kinder sind unterschiedliche Menschen. Doch weil Kleinstkinder noch nicht für sich selbst sprechen
können, scheint es so, als seien die Kinder Teil ihrer Eltern. Der Unterschied zwischen Rechtslage und faktischem Eindruck geht aus den Skizzen in den Abbildungen 1–3 hervor:
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Da die Kommunikation (vollständig oder überwiegend) mit den Eltern stattfindet,
entsteht also der Anschein, als seien auch nur sie maßgeblich. Übersehen wird dabei, dass bei nicht oder privat Versicherten der Behandlungsvertrag immer mit dem
Kind entsteht. (Bei gesetzlich Versicherten ist die Rechtslage noch etwas komplizierter.)
In sind Bezug auf das Bürgerliche Gesetzbuch kann ich mir zwei mögliche Gesetzesinitiativen vorstellen.
Zur Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger bei medizinischen Eingriffen vor der
Volljährigkeit gibt es aktuell nur eine Regelung, nämlich die des § 1631c BGB, die
Stellvertretung bei Sterilisation verbietet. D. h. weder Eltern noch Pfleger oder Vormünder können wirksam in eine Steriliation einwilligen, eine Sterilisation ist also
wirklich erst ab Volljährigkeit rechtlich möglich, wenn der betroffene Mensch selbst
die Einwilligungsfähigkeit hat. Es sollte darüber nachgedacht werden, ob
Gonadektomien und andere irreversible geschlechtszuweisende chirurgische Eingriffe, soweit nicht vital indiziert, in diese Bestimmung mit aufgenommen werden.
Ferner ist zu überlegen, ob nicht eine den §§ 1638 ff. BGB, die nur für den Bereich der
Vermögenssorge gelten, entsprechende Vorschrift für den Bereich der Personensorge eingeführt werden sollte. Diese Vorschriften begrenzen das elterliche Vertretungsrecht zum Schutz des Kindesvermögens bei „besonders schwerwiegenden Geschäften“10, u. a. solchen, bei denen das gesamte Kindesvermögen auf dem Spiel
steht oder der Gesetzgeber einen Interessenkonflikt zwischen Eltern und Kindern
antizipiert hat. Soweit nicht überhaupt ein Vertretungsverbot besteht11, ist für diese
Fälle vom Gesetz vorgesehen – und zwar seit jeher, d. h. seit Inkrafttreten des BGB
am 1. Januar 1900 –, dass eine gerichtliche Entscheidung einzuholen ist, also dass
den Eltern der Konflikt erspart werden soll, indem die Entscheidung anderen übertragen wird. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Kinder auch deshalb
Christian Berger in Othmar Jauernig et al., Bürgerliches Gesetzbuch: Kommentar, 13. Aufl.,
München: C.H. Beck, 2009, § 1643, Rn. 1.
11
Dies ist der Fall für alle Schenkungen außer solchen, die aus „einer sittlichen Pflicht oder einer auf den Anstand zu nehmenden Rücksicht“ heraus erfolgen, § 1641 BGB.
10
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operiert werden, um die Familie von dem „psychosozialen Notfall“ zu befreien, als
der die Geburt eines intersexuellen Kinder immer noch angesehen wird12, ist es
m. E. im Interesse des Kindes, die Eltern von ihrer alleinigen Verantwortung und
möglichen Interessenkonflikten zu entlasten13.
Strafrecht
Im Zusammenhang mit der Behandlung Intersexueller drängen sich von den Bestimmungen des Strafrechts zunächst diejenigen zur Körperverletzung auf, die das
Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz schützen
sollen. Einfache Körperverletzungen nach § 223 StGB sind nicht strafbar, wenn sie
mit Einwilligung begangen wurden; bei Minderjährigen stellt sich hier wieder die
Frage, ob und wie weit bzw. bis zu welchem Alter die Einwilligung der Eltern zur
Straffreiheit führt. Innerhalb des Medizinrechts ist dies ein viel bearbeitetes Thema;
speziell zu Intersexuellen ist allerdings bislang kaum etwas zu finden14. Selbst
schwere Körperverletzung gemäß § 226 StGB, zu der gemäß Abs. 1 Nr. 1 der Verlust
der Fortpflanzungsfähigkeit gehört, kann gerechtfertigt sein15.
Der 13. Abschnitt des StGB, überschrieben mit „Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung“, enthält bei genauerem Hinsehen keinen Straftatbestand, der
auf die medizinische Behandlung intersexueller Menschen passt, auch wenn sie
ihrem Empfinden nach ihrer sexuellen Selbstbestimmung beraubt sind.
Ein Thema, das bislang wenig zur Sprache gekommen ist, unter dem nunmehr erwachsene Intersexuelle jedoch neben allem anderen auch leiden, nämlich Abbildungen von sich in medizinischen Publikationen wiederzufinden16, gehört ebenfalls
in den Bereich des Strafrechts. Seit über hundert Jahren schon ist das Recht am eigenen Bild durch ein sog. strafrechtliches Nebengesetz geschützt17; seit 2004 gibt es
zudem einen neuen Paragraphen im StGB selbst (§ 201a), der die „Verletzung des
höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen“ unter Strafe stellt.
Das Problem im Zusammenhang mit der Abbildung Minderjähriger in medizinischen Veröffentlichungen ist, dass diese mit nicht sehr schwerer Strafe bedrohten
Straftaten dann, wenn die Abgebildeten davon erfahren und Anzeige erstatten
könnten, längst verjährt sind. Deshalb möchte ich als Gesetzesinitiative vorschla-
Vgl. AWMF-Leitlinien-Register Nr. 027/022, http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027-022.html
(21.12.2010).
13
Dies halte ich insbesondere deshalb für angezeigt, da offenbar auch ohne eindeutige Diagnose operiert wird: Kathrin Lanz, Epidemiologie der Intersexualität und Genitalfehlbildungen bei Neugeborenen in Deutschland, med. Diss. Lübeck 2004, S. 53, hat Zahlen für die Jahre 2000-2002 erhoben und
festgestellt, dass zu 40-60% Operationen ohne gesicherte Diagonose geplant oder bereits vorgenommen worden waren. – Zu Grenzen des Rechts der elterlichen Sorge bei intersexuell geborenen Kindern
wird 2011 eine Bremer Dissertation abgeschlossen sein (Britt Tönsmeyer).
14
An der Universität Bremen entsteht zurzeit eine Dissertation zu diesem Fragenkomplex (Juana
Remus).
15
Vgl. Ralf Eschelbach in Bernd von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar
StGB, § 226, Rn. 44.
16
Vgl. hierzu auch den ersten Absatz in dem Roman Middlesex von Jeffrey Eugenides (Originalausgabe: New York: Farrar, Straus and Giroux, 2002; dt. Übers.: Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2003).
17
§ 33 Abs. 1 i. V. m. § 22 Kunsturhebergesetz (Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der
bildenden Künste und der Photographie vom 9.1.1907).
12
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gen, die Verjährungsvorschriften einer Revision zu unterziehen. Immer mehr Straftaten gegen Kinder sind in den § 79b Abs. 1 StGB einbezogen worden, demzufolge die
Verjährungsfrist erst ab dem achtzehnten Geburtstag der Opfer zu laufen beginnt,
so zunächst bei sexuellem Missbrauch, inzwischen aber auch unter bestimmten Voraussetzungen bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung. Ich halte es für erforderlich im Interesse des Schutzes von Kindern, dass bei allen Straftaten, die sich
gegen höchstpersönliche Güter von Minderjährigen richten, die Verjährungsfrist
ruht.
Ausbildungsrecht
Ein weiterer Bereich für mögliche Initiativen zum Schutz intersexuell geborener
Menschen findet sich in den Rechtsnormen, die Ausbildungsgänge regeln. Hierbei
handelt es sich teils um Bundes-, teils um Landesrecht. Dabei geben Gesetze den
Rahmen vor; die Curricula sind dann meistens erst in Verordnungen geregelt, die
aufgrund der Gesetze erlassen werden18. Insgesamt handelt es sich um Dutzende
von Gesetzen und Verordnungen, die die medizinischen Berufe im engeren Sinne
sowie die in der medizinischen Versorgung insgesamt Tätigen regeln19. In allen
Ausbildungen muss das Thema „Intersexualität“ vorkommen, um die Berufsausübenden dafür zu sensibilisieren, dass ihnen auch Menschen begegnen werden,
deren physische und psychische Konstitution vom „Standard“ des Ausweisgeschlechts abweichen kann.
Sozialrecht
Im Bereich des Sozialrechts ist vor allem das Krankenversicherungsrecht tangiert.
Die Übernahme von Behandlungskosten erfolgt in der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 27 Sozialgesetzbuch Teil V grundsätzlich nur, „wenn sie notwendig
ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten
oder Krankheitsbeschwerden zu lindern“. Hier gibt es insofern Handlungsbedarf, als
die aufgrund vorangegangener Behandlung indizierte Hormonsubstitution fast immer nach dem zugewiesenen Geschlecht erfolgt; nach jüngeren Erkenntnissen wäre
aber eine Substitution der Hormonart indiziert, die der Körper vor der Gonadektomie
produziert hat und nun nicht mehr produzieren kann. D. h. es ist dafür Sorge zu tragen, dass bei Menschen mit besonderen Konditionen schon im Verwaltungswege
gehört und nicht auf den Klageweg verwiesen werden. Dies wäre gesetzlich abzusichern.
Statistikgesetze und ihre Durchführung
Alle Bundesstatistik beruht auf Bundesrecht. Niemand muss Auskunft geben, wenn
es dafür nicht eine gesetzliche Grundlage gibt. Vor einigen Jahren habe ich einmal
31 Bundesgesetze und 30 Verordnungen gezählt, auf deren Basis statistische Erhe-
Vgl. etwa § 10 Hebammengesetz, Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Hebammen und
Entbindungspfleger sowie deren Anlage 1 (zu § 1 Abs. 1).
19
Dazu gehört beispielsweise das (Bundes-)Gesetz über den Beruf der Rettungsassistentin und
des Rettungsassistenten mit der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Rettungsassistentinnen
und Rettungsassistenten.
18
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bungen erfolgen20. Ein Problem in diesem Zusammenhang ist, dass häufig auch
nach dem Geschlecht gefragt wird, dann aber ausschließlich männlich oder weiblich als Antwort vorgegeben wird. Zum Problem wird es dadurch, weil Falschauskünfte oder nicht rechtzeitige Auskünfte oder Nichtverwendung von amtlichen Erhebungsvordrucken als Ordnungswidrigkeiten mit Bußgeld bedroht sind.
Hier besteht gewiss ein Zusammenhang mit dem Personenstandsrecht, zu dem ich
anfangs schon Einiges ausgeführt habe. Nachdem nun im Personenstandsgesetz
von 2007 vorgesehen ist, dass Geburtsurkunden auf Antrag ohne Geschlechtsangabe ausgestellt werden können, müsste es auch ein Recht geben, den Geschlechtseintrag in amtlichen statistischen Erhebungen offen zu lassen21. Jedenfalls sollte
nach meinem Dafürhalten darauf hingewirkt werden, dass bei amtlichen statistischen Erhebungen in der Rubrik Geschlecht nicht nur zwei Möglichkeiten – männlich oder weiblich – vorgegeben werden, sondern auch andere Angaben möglich
sind entsprechend der individuell-persönlichen sexuellen Identität.
Archivgesetze und verwandte Vorschriften
Auch die Archivierung von Daten greifen in das Recht der informationellen Selbstbestimmung ein und brauchen entsprechend eine gesetzliche Grundlage. Für die
Betroffenen ist wichtig, dass sie als Erwachsene noch Zugang zu Krankenakten erhalten über Behandlungen, die an ihnen als Kindern vorgenommen wurden. Häufig
jedoch ist die Aufbewahrungsfrist abgelaufen, bevor diese Kinder überhaupt volljährig geworden sidn. Deshalb sollte hier entweder eine allgemeine sehr lange
Aufbewahrungsfrist (von 50 oder mindestens 30 Jahren) oder eine Frist von 20 Jahren
ab Volljährigkeit der Behandelten eingeführt werden. Nur so würde die in den in
Lübeck entwickelten „Ethischen Grundsätzen und Empfehlungen“22 geforderte lückenlosen Dokumentation Sinn machen. Auch hier gibt es gesetzgeberischen Handlungsbedarf.
Weiterer politischer Handlungsbedarf
Die aufgeführten „tangierten Rechtsgebiete“ mögen in ihrer Zusammenstellung eklektisch erscheinen, und das war ein Stück weit auch meine Absicht. Denn wenn ein
essentieller Lebensbereich betroffen ist, gibt es nicht nur „das“ eine Gesetz, das
eingeführt oder geändert werden müsste, um zu Tage getretene Ungerechtigkeiten
Ein Teil davon sind in den Webseiten des Statitischen Bundesamtes aufgelistet:
http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/SharedContent/Oeffentlich/A2/Rechtsgrundla
gen/Statistikbereiche/Bevoelkerung/Bevoelkerung,templateId=renderPrint.psml (21.12.2010).
21
Ich habe keine genauen Informationen über die Praxis. Der für das Jahr 2011 vorgesehene Zensus wird ja registergestützt ablaufen; vgl. Gesetz zur Vorbereitung eines registergestützten Zensus
einschließlich einer Gebäude- und Wohnungszählung 2011 (Zensusvorbereitungsgesetz 2011 –
ZensVorbG 2011) vom 8. Dezember 2007) und Gesetz über den registergestützten Zensus im Jahre 2011
(Zensusgesetz 2011 – ZensG 2011) vom 8. Juli 2009. Möglicherweise wird Geschlecht dann nicht mehr
abgefragt, sondern aus den Registern erhoben, die bei der geltenden Rechtslage alle erfassten Menschen als männlich oder weiblich führen.
22
Abgedruckt in Monatsschrift für Kinderheilkunde 2008, S. 241-245; online verfügbar unter
http://www.netzwerk-dsd.uk-sh.de/index.php?id=40#c1778 (21.12.2010).
20
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zu beseitigen23. Um Menschen, denen das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper und die auf dessen Basis sich entwickelnde individuelle Persönlichkeit
genommen wurde, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sind Rechtsänderungen
(und gewiss noch andere als die hier benannten) notwendig, aber keinesfalls hinreichend. Es besteht auch noch politischer Handlungsbedarf jenseits von Rechtsreformen. Denn die Tabuisierung von Intersexualität hatte und hat ja für jeden einzelnen betroffenen Menschen lebensbegleitende Diskriminierungen zur Folge. In Zeiten, in denen viele Diskriminierungen in den Blick geraten sind und (nicht zuletzt
durch Vorgaben seitens der Europäischen Union) Antidiskriminierungsmaßnahmen
ergriffen worden sind, ist es an der Zeit, intersexuell geborene Menschen in diese
Antidiskriminierungsmaßnahmen explizit einzubeziehen. Ein erster Schritt könnte
eine Erweiterung der Zuständigkeit der Antidiskriminierungsstelle des Bundes
(ADS) sein24.
Darüber hinaus wäre die Schaffung eines Entschädigungsfonds für in der Vergangenheit erlittenes Unrecht, das verjährt ist, zu betreiben. Solchen Forderungen wird
häufig entgegengehalten, sie wären entweder nicht bezahlbar oder die zuerkannten
Beträge wären keine echte Wiedergutmachtung; aber es geht in erster Linie um die
öffentliche Anerkennung dessen, dass Menschen als Individuen persönlich dafür
einen Preis gezahlt haben, um gesellschaftliche Vorstellungen aufrechterhalten
werden konnten.
Schließlich wäre auch die Förderung weiterer Forschung nicht falsch, aber nicht
mehr oder nicht nur zur Erforschung von Ursachen von Intersexualität, da dies suggeriert, wenn man die Ursachen nur endlich kennt, ließe sich die Folge vermeiden
oder „heilen“. Die Menschen sind unter uns, und deshalb geht es vor allem darum,
ihnen vollen Menschenrechtsschutz zukommen zu lassen. Und das betrifft Fragen
nicht nur der Biologie und Medizin, sondern mindestens genauso, wenn nicht mehr
noch der Gesellschafts- und Kulturwissenschaften.
Ein anderes Beispiel: Als das Lebenspartnerschaftsgesetz 2001 eingeführt wurde, mussten
zugleich über hundert bestehende Gesetze auf Bundesebene geändert werden, um Widersprüche innerhalb des Rechtskorpus’ zu vermeiden.
24
Eingerichtet wurde die ADS aufgrund des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)
vom 18.8.2006.
23
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German Bundestag
Printed Paper 17/5528
17th electoral term
13 April 2011
Motion
tabled by the Members of the German Bundestag Monika Lazar, Volker Beck,
Kai Gehring, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, Katja Dörner, Ingrid Hönlinger,
Memet Kilic, Sven-Christian Kindler, Maria Klein-Schmeink, Tom Koenigs,
Agnes Krumwiede, Jerzy Montag, Dr Konstantin von Notz, Tabea Rößner,
Claudia Roth, Krista Sager, Dr Gerhard Schick, Wolfgang Wieland, Josef
Philip Winkler and the Alliance 90/The Greens parliamentary group
Safeguarding the rights of intersex people
The Bundestag is requested to adopt the following motion:
I. The German Bundestag notes:
Intersex people should be recognised as part of our diverse society, with equal rights. Their human
and civil rights must not be restricted. The term “intersex” is used to describe individuals whose
chromosomes and internal or external sex organs cannot be classified as clearly male or female, or
are indeterminate. Scientific studies indicate that there are around 150-340 children born in Germany each year who can be classified as intersexual. According to the Federal Government, the
total number of people affected by severe variance in sex development is around 8,000-10,000
(Bundestag Printed Paper 16/4786). However, according to organizations working on behalf of
intersex people, the number of affected persons is much higher.
Despite these scientific findings, the German legal system ignores the existence of intersex people,
who continue to be legally and socially excluded.
II. The German Bundestag therefore calls on the Federal Government,
•
to amend the General Administrative Regulation to Implement the Civil Status Act (Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Personenstandsgesetz) so that the designation of gender
on birth certificates can reflect the existence of intersex persons;
•
to bring forward draft legislation to amend the legal basis for official statistical surveys, so
that there are no longer only two options to designate gender;
•
to put an end to the preventive surgical removal and alteration of the genital organs of intersex children;
•
to work with Germany’s federal states (Länder) to establish independent advice and support services for affected children and their parents, affected adolescents and adults, and to
include the advice and self-help services provided by organizations working on behalf of
intersex people;
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•
to work with Germany’s federal states (Länder) to establish advisory services for relevant
health professionals (physicians, psychotherapists, midwives etc.) to raise their awareness
of the medical, psychological and social aspects of intersexuality;
•
to engage in dialogue with the competent federal and Land medical associations, associations of psychotherapists, and midwives’ associations with a view to amending the curricula in the training and examination regulations for these professions to take account of intersexuality, also from the perspective of intersex people, and to incorporate the issue into
further professional training and development to a greater extent;
•
to encourage the Länder to include the issue of intersexuality as a regular topic in the
school curriculum, for example in the teaching of biology, social science or ethics;
•
to encourage the Länder to ensure that for surgical intervention on the genitalia, the deadlines for the retention of medical records are extended to 30 years from the time the patient
reaches the age of majority;
•
to promote further interdisciplinary scientific research on the issue of intersexuality with
the participation of cultural studies specialists, social scientists and the organizations working on behalf of intersex persons.
Berlin, 12 April 2011
Renate Künast, Jürgen Trittin and parliamentary group
Explanatory Memorandum
Intersex people – i.e. individuals whose physical characteristics of sex determination and differentiation (e.g. chromosomes, genes, hormone balance, gonads, internal and external sex organs) cannot be classified as clearly male or female or are indeterminate – are part of our diverse society,
with equal rights. There are around 150-340 children born in Germany each year who can be classified as intersexual (= 1 in every 2,000 – 4,500 births) (Woweries, Frühe Kindheit, 0310, p. 18).
According to the Federal Government, the total number of people affected by severe variance in
sex development is around 8,000-10,000 (Bundestag Printed Paper 16/4786). However, according
to organizations working on behalf of intersex people, the number of affected persons is much
higher.
Science has recognised the existence of intersex people for many years and conducts research on
intersexuality. For example, since 2003, the Federal Ministry of Education and Research (BMBF) –
as part of its “Rare Diseases” programme – has provided a total of 3.4 million euros in funding for
a nationwide research network, known as Network DSD/Intersexuality, which focuses on atypical
somatosexual differentiation and intersexuality. The German Ethics Council has also investigated
this topic and on 23 June 2010, devoted its Bioethics Forum to the topic “Intersexuality – life between the sexes”. Various experts were involved in the discussion.
Intersexuality is also the subject of debate at the international political level, as intersex people are
increasingly making their voices heard and protesting about the various methods which have been
used to treat intersex persons during childhood. At the United Nations level, this came to light in
2008/2009 during the reporting process for the Convention on the Elimination of All Forms of
Discrimination against Women (CEDAW) when a Shadow Report to the Federal Government’s
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official National Report on CEDAW, compiled by Intersexuelle Menschen e.V. (Association of
Intersexed People), described human rights violations against intersex persons. Similarly, a Shadow
Report to the 5th National Report of the Federal Republic of Germany on the United Nations
Covenant on Social, Economical, and Cultural Human Rights (ICESCR), compiled by Intersexuelle
Menschen e.V. (Association of Intersexed People) and the self-help group XY-Women, was recently presented to the Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR).
Despite the body of biological and medical knowledge, German law only takes account of the existence of intersexuality in the General Equal Treatment Act (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz), where it is mentioned only in the explanatory notes of the Act in the context of sexual identity. And yet even General Prussian Land Law (Allgemeines Landrecht für die Preußischen
Staaten) (Sections 19-23) of 5 February 1794 recognised the existence of “hermaphrodites”. Similarly, the Federal Constitutional Court, in its judgment relating to the case of a transsexual in 1978,
made the distinction between transsexuality and intersexuality clear (BVerfGE 49, 286, 304).
By contrast, the law relating to the civil status of persons ignores this variant of biological diversity. According to Section 21 of the Civil Status Act (Personenstandsgesetz), the sex of a child
must be entered in the register of births (and Section 59 requires it to be entered on the birth certificate), but no further clarification is provided. The General Administrative Regulation to Implement
the Civil Status Act, however, clearly states in No. 21.4.3 that: “The sex of the child must be entered as ‘male’ or ‘female’” (here, the Regulation goes further than the General Service Regulations for Registrars and their Supervisory Authorities previously in force). The sexes are not defined, however. The courts at two levels of jurisdiction have quashed efforts to introduce a category
which would take account of intersexuality at birth (Munich Local Court, FamRZ 2002, 955-957
and Munich Regional Court I, FamRZ 2004, 269-271). This gap in the law means that midwives or
doctors are forced to enter details which are factually incorrect (Plett, Konstanze: Intersex und
Menschenrechte. In: Lohrenscheit, Claudia (ed.) Sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht.
Deutsches Institut für Menschenrechte. Nomos, 2009). The unconstitutionality of this situation was
recently demonstrated in an academic thesis about relevant aspects of the law (Angela Kolbe,
Intersexualität, Zweigeschlechtlichkeit und Verfassungsrecht, 2010).
In official statistical surveys, too, only two options are offered for the designation of gender. As a
consequence, the statistical legislation currently in force ignores the gender identity of intersex
people, who cannot class themselves as male or female, thus compelling them to commit the administrative offence of providing false information.
Moreover, intersex persons, who have generally undergone numerous operations, especially in
infancy and childhood, report that they regard themselves as victims of mutilation and continue to
experience very intense feelings of rage, hatred and trauma for decades afterwards (Woweries,
Frühe Kindheit, 0310, p. 20).
Scientific follow-up studies also paint a depressing picture (Schweizer, Katinka / Richter-Appelt,
Hertha: Leben mit Intersexualität. Behandlungserfahrungen, Geschlechtsidentität und Lebensqualität. Psychotherapie im Dialog, 10. 2009(1): 19-24). Well over half of the participants in the Hamburg Intersex Study showed clinically relevant psychological distress; 47 per cent had suicidal tendencies; and 13.5 per cent reported that they had engaged in self-harming behaviour. A large number of participants regarded themselves as asexual as a result of their traumatic experiences of surgery and treatment, which had robbed them of any interest in sex and the ability to fall in love. A
parent-child bonding is also subject to great stress.
Another clinical evaluation study carried out in 2008 by Network DSD/Intersexuality also revealed
a very high level of dissatisfaction among affected persons following surgery and hormone treatment (http://www.netzwerk-dsd.uk-sh.de). Adults in particular were very dissatisfied with the massive psychological and physical effects of genital surgery. 25 per cent of participants in the study
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who had undergone surgery experienced complications, and 28 per cent of all adults complained
that they found it difficult to access specialist treatment for subsequent problems. Among the adult
subjects of the study, 45 per cent scored much worse in terms of mental health than a control group.
The children participating in the study also reported adverse effects on their quality of life in almost
every area. For that reason, no preventive surgical removal and alteration of genital organs of intersex children should be undertaken unless there are recognised medical indications for surgery.
There is also an urgent need to establish independent advice and support services for affected children and their parents, affected adolescents and adults, which should include the provision of support for their own advisory and self-help services.
Intersex people also report that they are denied access to their medical records. Often, they only
become aware of the surgery performed on them in infancy and childhood once they have reached
adulthood, when the medical records no longer exist. It is therefore essential to introduce a special
arrangement so that for surgical intervention on the genitalia, the deadlines for the retention of
medical records are extended to 30 years from the time the patient reaches the age of majority (cf.
Ethische Grundsätze und Empfehlungen bei DSD. – Arbeitsgruppe Ethik im Netzwerk Intersexualität: „Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung“. Monatsschrift für Kinderheilkunde, 2008
(156), p. 245).
Finally, the hitherto taboo subject of intersexuality must be incorporated into professional training
and development for members of the relevant health professions. It should also become a regular
topic in the school curriculum, for example in the teaching of biology, social science or ethics, as
prejudices can arise and stigmatization of intersex people begins at school. There should also be
further, and wherever possible interdisciplinary, scientific research on the issue of intersexuality
with the participation of cultural studies specialists, social scientists and the organizations working
on behalf of intersex persons, for intersexuality is not a purely medical phenomenon but requires
society as a whole to consider this form of diversity, instead of assuming that intersex people will
undergo medical treatment to make them fit into a rigid two-gender system.
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