Zivilgesellschaft und Dritter Sektor Prof. Dr. Helmut Anheier, London School of Economics and Political Science Referat anlässlich der Fachtagung "Die Zukunft der Zivilgesellschaft" am 27. September 2001 in Berlin Dritter Sektor, Zivilgesellschaft, Bürgerschaftliches Engagement und Gemeinsinn-Begriffe, die bis vor kurzem allenfalls einige Sozialwissenschaftler interessiert hätten, sind plötzlich in aller Munde, und darüber hinaus insbesondere in Politikerkreisen: die Bundesregierung spricht wohlwollend von der aktiven Bürgergesellschaft; die Europäische Kommission setzt sich das Europa der Bürger als Ziel und sucht zunehmend den Dialog mit zivilgesellschaftlichen Gruppen in den einzelnen Mitgliedsländern der Union; die Vereinten Nationen haben 2001 zum Jahr der Ehrenamtlichkeit ausgerufen und das Weise Haus veranstaltete 1999 eine öffentlichkeitswirksame Konferenz über die zentrale Rolle von Gemeinsinn, Philanthropie und Stiftungswesen in den USA. Was steht hinter all dieser Aufmerksamkeit, welche Entwicklungen und Tendenzen zeichnen sich ab, und warum spielen diese Begriffe gerade heute eine so große Rolle? Diesen Fragen soll in dem vorliegenden Beitrag nachgegangen werden, wobei die Hauptaussagen mit Hilfe von fünf Thesen zusammengefasst werden. Zunächst scheint es aber notwendig, kurz Begrifflichkeiten abzuklären. Zivilgesellschaft ist der zwischen Staat, Markt und Familie gelegene öffentliche Bereich freiwillig konstituierter Institutionen. Es handelt sich um einen Bereich, der weder auf staatlicher Macht beruht noch von wirtschaftlichen Interessen getragen wird, aber mit beiden in einem gewissen Spannungsverhältnis steht. Zivilgesellschaft legt Staat und Markt Grenzen auf und macht gerade wegen dieser Grenzziehung Marktwirtschaft und Demokratie in modernen Gesellschaften möglich. Die zentrale Schnittstelle von Zivilgesellschaft und Dritter Sektor liegt auf der Ebene der Organisationen, wobei das Vereins- und Verbandswesen, Stiftungen und gemeinnützige Einrichtungen, Nichtregierungs-Organisation und freiwillige Vereinigungen in das Blickfeld geraten. Weitere Schnittstellen ergeben sich auf der individuellen Ebene in der Teilhabe an organisierter Öffentlichkeit und Partizipation, z.B. Mitgliedschaften und ehrenamtliche Tätigkeiten, als auch auf der institutionellen Ebene in den Bereichen Kultur, Politik oder auch Medien. Der Dritte Sektor die gleichsam die organisatorische Infrastruktur der Zivilgesellschaft. 1. Der Dritte Sektor ist ein bedeutender Wirtschaftszweig und seit vielen Jahren auf Wachstumskurs. Dies ist auch in Deutschland der Fall, wo zwischen 1990 und 1995 ein Wachstum von fast 30% Prozent zu verzeichnen war, und dies nachdem der Dritte Sektor sich seit den frühen 70er Jahren auf Expansionskurs befindet. Im Jahr 1990 tätigte der Sektor in den alten Bundesländern Ausgaben von rund 100 Milliarden Mark. Dieser Wert hat sich 1995 unter Einbeziehung der neuen Bundesländer auf rund 135 Milliarden Mark und damit beachtlich erhöht. Herauszustellen ist insbesondere die arbeitsmarktpolitische Bedeutung des Sektors. 1995 waren rund 2,1 Millionen Bundesbürger im Non-Profit-Sektor beschäftigt, was einem Anteil an der Gesamtbeschäftigung von fast fünf Prozent entspricht. Gemessen an der Beschäftigung ist der Sektor größer als die gesamte chemische Industrie, die nur einen Anteil von 1,9 Prozent an der Gesamtbeschäftigung in Deutschland hat. Im internationalen Vergleich nimmt der deutsche Dritte Sektor in seiner wirtschaftlichen Bedeutung eher eine mittlere Position ein. Gerade kleinere westeuropäische Länder – die Niederlande, Irland und Belgien – zeichnen sich durch einen Sektor von beachtlichem Umfang aus, typischerweise mit über 10% der Gesamtbeschäftigung. Der Grund hierfür ist insbesondere in der engen Kooperation zwischen dem Staat und dem Sektor zu sehen, die sich in diesen Ländern auf das gesamte Spektrum der Tätigkeitsfelder des Dritten Sektors erstreckt. In Deutschland hingegen beschränkt sich die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zwischen Staat und Drittem Sektor auf wohlfahrtsstaatliche Kernbereiche, das Gesundheitswesen und die Sozialen Dienste. Insgesamt findet sich das Gros (70 Prozent) der Beschäftigung im Dritten Sektor in diesen beiden Bereichen. Gleichzeitig sind das Gesundheitswesen und die Sozialen Dienste der Teil des Dritten Sektors, die in Deutschland vorrangig durch die sechs Verbände der Freien Wohlfahrtspflege (Caritas, Diakonie, Parität, Arbeiterwohlfahrt, Deutsches Rotes Kreuz, jüdischer Wohlfahrtsverband) dominiert werden. Die Wohlfahrtsverbände wurden überwiegend in den 20er Jahren gegründet; sie erreichten ihre heutige Bedeutung jedoch erst in den 60er und 70er Jahren, und zwar infolge der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in der Sozialgesetzgebung: dieses beinhaltet die gesetzliche Bestands- und Eigenständigkeitsgarantie der freien Träger bei gleichzeitiger Förderverpflichtung und Gesamtverantwortung der öffentlichen Träger. Im Ergebnis führte dies zu einem bemerkenswerten Wachstum der Verbände, die sich aber gleichzeitig als "privatorganisierter Wohlfahrtsstaat" in Organisationskultur und -verhalten zunehmend staatlichen Einrichtungen anpassten. Hier zeichnen sich zunehmend Veränderungen ab, und neue Organisation- und Finanzierungsmodelle gewinnen politisch und praktisch an Gewicht. 2. In wirtschaftlicher Hinsicht ist der Dritte Sektor in Deutschland in ausgeprägter Weise abhängig von öffentlichen Mittel und zeigt eine gewisse Staatslastigkeit, die seiner zivilgesellschaftlichen Funktion zuwiderläuft. Die hervorgehobene Position der Wohlfahrtsverbände und deren hohe Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln führt zu einer markanten Staatslastigkeit der Finanzierungsstruktur des Dritten Sektors in Deutschland, was im internationalen Vergleich besonders deutlich wird. Während international die über Gebühren, Entgelte und Mitgliederbeiträge selbsterwirtschafteten Mittel der Organisationen mit einem Anteil von 47 Prozent die Haupteinnahmequelle des Sektors darstellen, fällt der Anteil der selbsterwirtschafteten Mittel an der Gesamtfinanzierung des Sektors in Deutschland mit 32,3 Prozent deutlich niedriger aus. Mehr als die Hälfte der Einnahmen (64,3%) des Sektors stammt in Deutschland von der öffentlichen Hand bzw. ist gesetzlich festgelegt und wird über die Sozialversicherungen oder direkte öffentliche Zuwendungen finanziert. Im internationalen Vergleich fällt dagegen der "Staatsanteil" an der Finanzierung mit 42 Prozent merklich niedriger aus. Den geringsten Anteil an der Finanzierung des Sektors haben im internationalen Vergleich (11%) wie auch in Deutschland (3,4%) die Spendenmittel und Sponsorengelder. Die starke Partei- und Staatsnähe, die im hohen Anteil an öffentlichen Mitteln und in der engen Einbindung in öffentliche Leistungsbereitstellung zum Ausdruck kommt, löst Teile des Dritten Sektors zumindest potentiell aus der zivilgesellschaftlichen Einbindung heraus und überführt sie in einen quasi-staatlichen Bereich. Die zivilgesellschaftliche Dimension spielt zumeist für jenen Teil der Organisationen, die sich auf eine reine Dienstleistungserstellung konzentrieren, nur noch eine untergeordnete Rolle. Dieser verhängnisvolle Kreislauf schließt sich, da diese Organisationen aufgrund der vorhandenen Regelungen ihre weitere Finanzierung nur durch eine enge Anlehnung an den Staat sichern können. 3. Ehrenamtliches Engagement ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Zivilgesellschaft Der Dritte Sektor ist jedoch auch in Deutschland keineswegs nur in den Wohlfahrtstaat eingebunden. Allein die unbezahlt geleisteten Tätigkeiten in den Organisationen entsprechen dem zeitlichen Volumen der Vollzeitbeschäftigung von über einer Million Stellen. Die seit Jahren deutlich steigende Zahl der eingetragenen Vereine sowie die vielfältigen Projekte, Initiativen und Szenen der Alternativbewegung der 70er und 80er Jahre belegen zudem die Fähigkeit des Sektors, Potentiale des gesellschaftlichen Wandels zu mobilisieren und Gegenöffentlichkeiten zu integrieren. Vor allem Organisationen in den Bereichen Umwelt, Kultur oder Internationale Aktivitäten, haben in den letzten Jahren ein enormes Wachstum erfahren. Gleichzeitig bestehen zwischen den einzelnen Bereichen beträchtliche Unterschiede. Unbestritten nimmt der Bereich Kultur und Erholung, zu dem die zahlreichen Sportvereine zählen, sowohl nach der Anzahl der Organisationen, der Mitglieder und Ehrenamtlichen sowie nach der Anzahl ehrenamtlich geleisteter Stunden stets den ersten Platz ein. Bei der Anzahl der Mitgliedschaften nehmen die Wirtschafts- und Berufsverbände, die Organisationen in den Bereichen Gesundheitswesen, Soziale Dienste sowie Religion vordere Plätze ein. Bei der Ehrenamtlichkeit folgen nach dem Bereich Kultur und Erholung die Bereiche Religion, Gesundheitswesen und Soziale Dienste. Ein ähnliches Bild zeigt sich nach der Anzahl der ehrenamtlich geleisteten Stunden. Gemeinsinn als Motor für Ehrenamtlichkeit ist eine wesentliche Voraussetzung der Zivilgesellschaft. Als Gradmesser für das Vorhandensein von Gemeinsinn kann letztlich das bürgerschaftliche Handeln miteinander und füreinander angesehen werden. Gemein- oder Bürgersinn bedeutet letztlich eine Bindung des einzelnen an die Gesamtgesellschaft. Insgesamt ist nach neueren Untersuchungen davon auszugehen, dass jeder dritte Bundesbürger (34%) über 14 Jahre sich in irgendeiner Form ehrenamtlich engagiert und dabei im Durchschnitt knapp fünf Stunden Zeit in der Woche aufwendet. Als wichtiges konstitutives Element der Zivilgesellschaft beschränkt sich Gemeinsinn allerdings nicht auf das ehrenamtliche und sonstige Engagement in Dritte-Sektor-Organisationen allein, sondern kann ebenfalls im Rahmen staatlicher Institutionen erfolgen. Der größte Anteil des Engagements findet aber doch zu über 80 Prozent in den Organisationen des Dritten Sektors statt. 4. Dritte Sektor und Zivilgesellschaft sind Ausdruck sozialer Selbstorganisation und erhöhen die Innovationsfähigkeit moderner Gesellschaften Der Dritte Sektor bringt die Fähigkeit einer Gesellschaft zum Ausdruck, sich innerhalb gesetzter Rahmenbedingungen, jedoch außerhalb der staatlichen Hoheitsverwaltung selbst zu organisieren. Dies trägt wesentlich zur institutionellen Vielfalt bei und kann sich positiv auf die Innovationsfähigkeit moderner Gesellschaften auswirken, wenn diese die aktuellen Entwicklungen produktiv aufnehmen und entsprechende Rahmenbedingungen förderlich gestalten. Selbstorganisation hebt hervor, dass das Vorhandensein eines Komplexes freier Vereinigungen zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Zivilgesellschaft ist. Die Zusammensetzung und Struktur der Organisationen müssen neben hochformalisierten, Organisationstypen, denken wir an Wohlfahrtsverbände oder die Gewerkschaften, Spielräume für kleine Vereinigungen und Initiativen (z.B. Vereine, Selbsthilfegruppen) offen halten. Gerade sie schaffen den Raum für Erneuerung und bringen somit die Unterschiedlichkeit der Lebenswelten in modernen Gesellschaften zum Ausdruck. Wie sieht es mit dieser selbstgesteuerten Erneuerungsfähigkeit in Deutschland aus? Zieht man in Betracht, dass seit der Gründung des Deutschen Sportbundes im Jahre 1950 jährlich zwischen 1.000 bis 4.000 Sportvereine neu gegründet wurden und die Zahl der Selbsthilfegruppen und Initiativen von 25.000 im Jahre 1985 auf 60.000 im Jahre 1995 angestiegen ist, kann durchaus von einer hohen Dynamik bei der Entstehung von Organisationen gesprochen werden. Da sich ein entsprechendes Gründungsgeschehen zugleich in anderen Bereichen wie der Kultur, dem Umwelt- und Naturschutz oder im Bereich der Sozialen Dienste vollzieht, erhöht sich die Organisationsdichte in Deutschland ständig. Auch im Stiftungswesen zeigen sich hohe Wachstumsraten. Die Mehrheit der über 8.000 deutschen Stiftungen wurde in den letzten drei Jahrzehnten gegründet und die Neugründung von Stiftungen sollte, beflügelt durch anstehende Reformen im Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsrecht, weiter zunehmen. Gleichzeitig entstehen neue Formen, wie z.B. die Bürger- oder Stadtstiftung, bei der sich verschiedene Organisationen und auch Einzelpersonen als Verbund zusammen schließen, um auf lokaler Ebene, Probleme oder Anliegen selbst in die Hand zu nehmen und zu deren Lösung beizutragen. Sei dies, um das kulturelle Angebot in Städten zu erhöhen, ausländischen Mitbürgern zu helfen oder neue soziale Probleme aufzugreifen, die von der staatlichen Verwaltung noch nicht aufgenommen wurden. Eine positive Bilanz weisen hierbei auch die neuen Bundesländer auf. Seit 1990 ist in Ostdeutschland eine vielfältige Organisationslandschaft durch einen wahren Gründungsboom entstanden. Inzwischen wurde eine Vereinsdichte erreicht, die im Durchschnitt der fünf Landeshauptstädte bei 650 Vereinen je 100.000 Einwohner liegt und damit quantitativ dem Niveau der alten Bundesländer vergleichbar ist. Insgesamt können wir von 80.000-100.000 Vereinen in den neuen Bundesländern ausgehen. Für die lokale Infrastruktur sind Vereine heute unverzichtbar. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Kommunen in den Bereichen, in denen sie über größere Gestaltungsmöglichkeiten und Freiheitsgrade verfügen, die Einbeziehung und Aktivierung von Organisationen des Dritten Sektors präferieren. Um die lokalen Potentiale des Dritten Sektors zu nutzen, ist zwar einerseits die bewusste Förderung und Unterstützung seitens der Kommunen erforderlich, andererseits bleibt zu fragen, ob hier ein neues Kapitel von staatlich-privater Zusammenarbeit und Kooperation aufgeschlagen wird, wobei die Autonomie der Organisationen gewahrt bleibt, oder aber, ob doch, wenn auch in neuer Form und mit neuer Terminologie, die Tradition der Indienstnahme und des funktionalen Einbaus des Dritten Sektors in den politisch-administrativen Apparat lediglich fortgesetzt wird. 5. Ein "Bowling Alone" ist für Deutschland nicht angesagt. Bemerkenswert ist in Deutschland vor allem die Gründungsdynamik von Organisationen in gesellschaftspolitisch zentralen Bereichen, wie etwa Umweltschutz oder Internationale Aktivitäten. Die Entwicklung der Mitgliederzahlen der Dritte-Sektor-Organisationen lässt zudem auf eine feste Verankerung des Sektors in der Lebenswelt schließen. Schließlich liefert der Sektor in vielen Bereichen deutliche Indizien für Selbstorganisation und gesellschaftliche Innovationskraft, da gerade dort verstärkt Neues zu entstehen scheint, wo der Staat nicht aktiv wird. Wie steht es konkret um die Ausprägung der von der Demokratietheorie der Zivilgesellschaft zugeschriebenen Funktionen der Integration, Partizipation, Interessenartikulation sowie Kontrolle? Zweifellos sind dem Sektor im Hinblick auf die Wahrnehmung der Partizipationsund Integrationsfunktion auch bisher schon gute Noten auszustellen. Ein "bowling alone", das Phänomen der Verarmung sozialer Netze und des Absterbens gemeinsamer Aktivitäten wie es von dem Politologen Robert Putnam für die USA diagnostiziert wurde, ist in Deutschland nicht festzustellen. Im Gegenteil, gerade in den lebensweltlichen Bereichen der Freizeitgestaltung und der Geselligkeit hat die Organisationsdichte kontinuierlich zugenommen. Entsprechendes gilt für die Attraktivität der in diesen Bereichen tätigen Organisationen hinsichtlich des ehrenamtlichen Engagements und der freiwilligen Mitarbeit. Auch hier lässt sich durchaus ein positiver Trend feststellen. In der Terminologie von Michael Walzer beherrschen die Bundesbürger ganz offensichtlich die "Kunst des Verbindens", nämlich sich um der Geselligkeit willen freiwillig zusammen zu finden und miteinander zu kommunizieren. Wie steht es nun um die Funktion der Interessenartikulation? Diesbezüglich war der große Soziologe Max Weber in seinem klassischen Beitrag zum Vereinswesen auf die damaligen Verhältnisse in Deutschland bezogen höchst skeptisch. So klassifizierte er die Anfang des 20. Jahrhunderts sehr populären Männergesangsvereine als Werkzeuge einer umfassenden Entpolitisierung. Vereine dienten nach Webers Einschätzung gerade nicht der Interessenartikulation, sondern standen ganz im Dienst der Ausbildung einer eher passiven, obrigkeitsstaatlichen Untertanenmentalität. Für die aktuelle Situation trifft diese negative Beurteilung nicht mehr zu. Wie aktuelle Entwicklungen zeigen, sind gerade die sogenannten Themenanwälte, d.h. Organisationen, die in Bereichen wie Umwelt oder Internationale Aktivitäten tätig sind, aktuell besonders attraktiv für das Spenden von Geld als auch für ehrenamtliches Engagement. Auch zeigt sich, dass gerade in diesen themenanwaltlichen Bereichen in jüngster Zeit verhältnismäßig viele Organisationen gegründet wurden. Ist das Vorhandensein solcher Themenanwälte gleichzeitig als Indiz dafür anzuführen, dass die Organisationen in Dritten Sektor in Deutschland in der Lage sind, auch Kontrollfunktionen gegenüber dem Staat wahrzunehmen, dem Staat Grenzen aufzuzeigen? Direkt angesprochen ist hiermit das Spannungsverhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Der institutionelle Kern der Zivilgesellschaft - nämlich der freiwilligen Assoziationen - hat nur dann eine Chance längerfristig zu bestehen und sich zu erneuern, wenn der Staat dazu die entsprechenden Rahmenbedingungen schafft bzw. einräumt und sich sonst eher passiv verhält. In dieser Hinsicht ist jedoch in Deutschland eine zwiespältige aber in der Tendenz leicht positive Bilanz zu ziehen. Gerade neue Organisationen, die außerhalb des wohlfahrtsstaatlichen Kerns entstehen, sind Ausdruck einer aktiven und selbstbewussten Bürgergesellschaft, die kaum noch von den traditionellen Staatsnähe des Dritten Sektors gekennzeichnet ist. Für Teile andere Bereiche des Dritten Sektors und der Politik steht die Akzeptanz einer zivilgesellschaftlichen Gegenkraft nachhaltig im Gegensatz zur deutschen Tradition als einer Kombination aus preußisch-protestantischem Etatismus und katholischem Paternalismus. Leitbildartig verdichtet sich diese etatistisch-paternalistische Tradition im Konzept der Subsidiarität, das in Deutschland maßgeblich das Verhältnis zwischen Staat und Drittem Sektor strukturiert. Subsidiär eingebundene Organisationen sind zwar nach wie vor Assoziationen mit Integrations-, Partizipations- sowie auch Interessenartikulationsfunktion, doch sie können, wie am Beispiel der Wohlfahrtsverbände deutlich wird, insofern keine Kontrollfunktion als Gegenkraft zum Staat mehr übernehmen. Was zudem als subsidiär und damit auch als gesellschaftlich zentral und förderungswürdig zu erachten ist, wird maßgeblich durch die rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmt, die die Freiheitsgrade gerade der kleinen Organisationen und Netze erheblich einschränken. Hier wird vorrangig gefördert, was den Interessen des Staates und der Kommunen, nicht aber einer staatsunabhängigen Zivilgesellschaft dient. Herausforderung an Politik und Bürger Ein unabhängiger Dritter Sektor als Ausdruck einer starken Zivilgesellschaft sollte aber möglichst bald auf die politische Agenda gesetzt werden, da aufgrund von Globalisierung und Individualisierung die Legitimation demokratischer Regierungen längst nicht mehr mit dem Wohlfahrtsstaats-Paradigma und der politischen Parteienlandschaft der Nachkriegzeit verbunden ist. Hier ist noch viel zu leisten, was in Deutschland insbesondere auf eine Entflechtung von Staat, Parteien und Wohlfahrtsorganisationen und eine Modernisierung des Gemeinnützigkeitsrecht hinausläuft. Die Option dazu besteht: 50 Jahre Demokratie, wirtschaftlicher Wohlstand und politische Stabilität machten und machen es möglich. Deutschland und seine Bürger gewinnen das notwendige bürgerliche Selbstvertrauen, was Obrigkeitsstaat, wirtschaftlicher Ruin, Krieg und Instabilität zu lange unterbanden. Der Dritte Sektor und die Zivilgesellschaft sind wesentlicher Teil dieses Prozesses, ihre Entdeckung oder Wiederentdeckung nicht Teil einer tiefgreifenden Krise, sondern Ausdruck einer reflexiven, souveränen Gesellschaft. Sich dieser Herausforderung bewusst und aktiv zu stellen sollte eine vordringliche Aufgabe der Politik für die Jahrtausendwende sein. Hinweis Der Beitrag bezieht sich auf Informationen und Daten in: • • Helmut K. Anheier, Eckhard Priller und Annette Zimmer "Zur zivilgesellschaftlichen Dimension des Dritten Sektors" in WZB-Jahrbuch 2000: "Die Zukunft der Demokratie". Im Erscheinen. Eckhard Priller, Annette Zimmer and Helmut K. Anheier. 1999. "Der Dritte Sektor in Deutschland" Aus Politik und Zeitgeschichte 99 (9) 12-21.