Samstag, 21. Februar 2009 / Nr. 43 41 Neue Luzerner Zeitung Neue Urner Zeitung Neue Schwyzer Zeitung Neue Obwaldner Zeitung Neue Nidwaldner Zeitung Neue Zuger Zeitung SPITALUNTERSCHIEDE Im Spital wird man nicht nur gesund. Manchmal wird man dort erst richtig krank. Es kommt aufs Spital an. Seite 42 PATIENTENRECHTE Hektik, ungenügende Kommunikation, Multitasking: der Nährboden für medizinische Fehler. BILD ESTHER MICHEL «Ich dachte, es sei ein Witz» VO N C LAU D I A ST E I N E R S usanne W.* ist nach der Operation noch immer schläfrig von den Narkosemitteln, als man sie noch einmal in den Operationssaal schiebt. Erst am anderen Tag erfährt sie: Der Arzt hat zuerst den Daumen statt ihres gebrochenen linken Zeigefingers operiert. «Ich dachte, es sei ein Witz, so etwas kommt doch bei uns nicht vor», erinnert sich die Innerschweizer Studentin an den Vorfall im vergangenen Jahr. Unterstützung in dieser schwierigen Situation fand die junge Frau bei der Patientenstelle Zentralschweiz. Keine Erfolgsgarantie Vergangenes Jahr hat die Beratungsstelle am St.-Karli-Quai in Luzern 463 Anfragen bearbeitet. «Bei uns melden sich pro Tag bis zu fünf Personen, von denen die meisten einen Haftpflichtfall vermuten», weiss Barbara Callisaya, die Leiterin der Patientenstelle. Doch so einfach ist es nicht immer. Nach einem ersten ausführlichen Gespräch mit dem Ratsuchenden entpuppen sich viele Anfragen als Missverständnisse. «Häufig meinen Patienten, wenn sie mit einer Operation einverstanden seien, dann sei das eine Garantie zum Erfolg», erzählt die Stellenleiterin. Doch eine Komplikation ist – sofern der Patient gut aufgeklärt worden ist – noch lange kein Behandlungsfehler. Auch für eine billige Zahnbehandlung mit einem nicht zufrieden stellenden Resultat kann keine Forderung gestellt werden. Solche Geschichten hört Barbara Callisaya, die seit 30 Jahren im Gesundheitswesen tätig ist, in letzter Zeit öfter. Meistens läuft alles gut. Manchmal aber nicht. Bei der Patientenstelle Zentralschweiz melden sich täglich bis zu fünf geschädigte oder verunsicherte Patienten. Verdacht auf Haftpflicht ist dafür der häufigste Grund. Doch nicht jede Beschwerde ist ein Fall für die Versicherung. Bei einem vermuteten Haftpflichtfall studiert Barbara Callisaya mit der Vollmacht des Ratsuchenden die Krankengeschichte und nimmt Kontakt mit dem Arzt oder dem Spital auf. Es gilt jeweils abzuklären, ob der Verursacher die Sorgfaltspflicht verletzt hat, die Haftpflicht also zum Zug kommt. Rund zehnmal im Jahr konsultiert Barbara Callisaya Versicherungen wegen Haftpflichtforderungen. Durchschnittlich vier- bis fünfmal jährlich kommt es zu einer Zahlung. Wie bei Susanne W*: Der Fall war klar, weil zuerst ein falscher Finger operiert worden ist. Dies, obwohl der Arzt behauptete, dass auch der zusätzlich operierte Daumen lädiert war. Die Haftpflichtversicherung des Arztes zahlte der 19-Jährigen wegen der verlängerten Therapiedauer und des verzögerten Heilungsprozesses 2000 Franken Genugtuung. Die junge Frau ist zufrieden und dankbar, dass die Verhandlung über die Patientenstelle so reibungslos funktioniert hat. Schön vertuscht Manchmal verläuft die Begleitung einer Forderung jedoch komplexer und langwieriger. Vor allem wenn Gutachten nötig werden oder die Kommunikation tientenorganisation) berät Patienten. Sie zwischen Arzt und Patient schwierig ist. meint, dass zwar Ärzte nicht mehr Fehler Ähnliches hat Jenni S.* erfahren müssen. machen würden als früher, nur seien die «Der Arzt hat mich mit seiner Fachspra- Patienten aufgeklärter, verstünden aber che verunsichert und stritt jeden Fehler oft auch die Umstände falsch. So betrefab, ich kam mir wie ein ‹Tötschli› vor», fen über drei Viertel der Beratungen zu Komplikationen beschreibt die Pensionärin ihr Erlebnis. Behandlungsfehlern Vor eineinhalb Jahren ging ein Routine- oder Fehler ohne Konsequenzen. Falls eingriff an ihrem Darm schief. Anstatt ein jedoch ein Schaden vorhanden, also ein echter Haftpflichtfall paar Stunden verentstanden ist, zieht brachte sie 16 Tage im Margrit Kessler sofort Spital und anschlies«Der Arzt stritt jeden Hilfe bei. «Wir versend einen zweiwöFehler ab, ich kam mir handeln bei Haftchigen Kuraufenthalt. wie ein Tötschli vor.» pflichtfällen nie direkt Schon kurz nach der mit Versicherungen, Notfalloperation verG E S C H Ä D I G T E PAT I E N T I N sondern übergeben sprachen die Ärzte im das Dossier nach meLandspital der Patientin, dass der Vorfall ein Haftpflichtfall dizinischer Abklärung immer unseren und deswegen die Kostenübernahme ge- Fachanwälten.» Diese intervenieren disichert sei. Erst nach längerer Zeit gelang- rekt auf juristischer Ebene. Denn bei te die Geschädigte über eine Freundin an solchen Fällen geht es oft um grossen die Patientenstelle. Tatsächlich hat das Schaden und sehr viel Geld. Die PatienSpital beziehungsweise der Arzt den Vor- tenschützerin nennt als teuerste und fall nie bei der Haftpflichtversicherung tragischste Haftpflichtfälle Missmanagegemeldet. Es folgten mehrere Gutachten ment bei der Geburtshilfe. «Wenn durch und hartnäckiges Nachfragen der Patien- offensichtlichen Arztfehler ein Geburtsschaden entsteht, geht es um Zahlungen tenstelle. Auch Margrit Kessler von der Stiftung in Millionenhöhe.» Margrit Kessler beobSPO Patientenschutz (Schweizerische Pa- achtet in solchen Fällen immer wieder, wie die Beteiligten verhandeln: «Die Versicherungen machen alles, um nicht oder möglichst wenig zu zahlen, und die Verursacher, sprich die Ärzte, helfen sich mit Gutachten untereinander aus», sagt die bekannte Patientenrechtlerin. Sie spricht auch von Gefälligkeitsgutachten und bezweifelt die Neutralität von internen Beschwerdestellen, wenn es um schwere Haftpflichfälle geht, was Ärzte und Versicherer natürlich nicht gerne hören. Aus all diesen Gründen gehören ihrer Meinung nach Haftpflichtforderungen in die Hände von unabhängigen Spezialanwälten, die die Patientenorganisation vermitteln kann. Vertrauen verloren Für Barbara Callisaya ist die gute Zusammenarbeit mit Ärzten und Spitälern ein Grundsatz. Bei juristischen Fragen wird die Patientenstelle Zentralschweiz vom Anwalt Eric Schuler unterstützt. Ein Haftpflichtfall kommt selten vor Gericht. Gründe sind die langwierigen Gutachten, Verhandlungs- und Prozesskosten. «Wenn der Patient kein Risiko eingehen will, kommt es meist zu einem Vergleich», weiss Eric Schuler. Auch die Lösung der Probleme von Jenni S.* fand schliesslich über einen Vergleich statt. Nach Monaten vergütete das Spital der Patientin die Selbstbehaltkosten der Behandlung zurück. «Für mich war das Schlimmste, dass ich mich vom Arzt nicht ernst genommen fühlte». Für ein anderes Mal werde sie ihren Arzt bewusster auswählen, damit sie diesem auch besser vertrauen könne, so das Fazit der Geschädigten. HINWEIS * Namen geändert