nazarchuk-h 1..469 - Verlag Karl Alber

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Alexander W. Nazarchuk
Ethik der globalen Gesellschaft
ALBER PHILOSOPHIE
A
Zu diesem Buch:
Globalisierung ist derzeit in aller Munde: Schlagwort von Politikern,
Euphemismus von Wirtschaftsführern, Kampfbegriff von Kapitalismuskritikern. Auffällig ist der Mangel an philosophisch-ethischer
Reflexion dessen, was Globalisierung bedeutet und auf welches Ziel
hin sie sich entwickeln soll. Zu den wesentlichen Bedingungen künftigen Zusammenlebens, so eine These des Buches, gehört das Bewusstsein, dass die Menschheit als Ganze bestimmter normativer
Prinzipien bedarf. Hierbei ist zur Kenntnis zu nehmen, dass die Gesellschaften unterschiedliche soziale Entwicklungsstufen und Standards aufweisen. Bei seinen Überlegungen stützt sich Alexander W.
Nazarchuk methodisch und inhaltlich auf die Konzeption des deutschen Sozialphilosophen Karl-Otto Apel. Apels Theorie zeigt – ebenso wie die von Jürgen Habermas – spezifische Formen des sozialen und
kulturellen Lebens auf, die eine allmähliche Annäherung der realen
Gesellschaften an die Prinzipien einer idealen Kommunikationsgesellschaft leisten.
Der Autor:
Alexander W. Nazarchuk, Dr. habil., geboren 1969 in der Ukraine, ist
Professor am Lehrstuhl für Sozialphilosophie der Staatlichen Lomonossow-Universität in Moskau. Als Autor zahlreicher Studien zu Sozialphilosophie, Ethik und Philosophiegeschichte widmet er sich vor
allem der Sprach- und Transzendentalphilosophie sowie der Systemtheorie deutscher Autoren, neben Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas etwa auch Niklas Luhmann. Sein Interesse richtet sich besonders
auf Probleme der postindustriellen Gesellschaft, der Globalisierung
sowie der Entwicklung ethischer und rechtlicher Vorstellungen moderner Gesellschaften.
Alexander W. Nazarchuk
Ethik der
globalen
Gesellschaft
Eine Analyse im Lichte
der sozialethischen Konzeption
von Karl-Otto Apel
Aus dem Russischen übersetzt
von Andrej W. Kritschewskij
Verlag Karl Alber Freiburg / München
Meinen Eltern gewidmet
Inhalt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
Kapitel 1
Apels Konzeption der Diskursethik . . . . . . . . . . . . . .
17
Einleitung
1.1. Philosophische Grundlagen der sozialethischen
Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1.1. Philosophische Wurzeln . . . . . . . . . . . . .
1.1.2. Das Paradigma der linguistischen Wende . . . .
1.1.3. Theoretische Einstellungen der Diskursethik . .
1.2. Natur und Funktionen der Moral . . . . . . . . . . . .
1.3. Philosophiegeschichtliche Rekonstruktion des Prinzips
der Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.4. Die Theorie der Transzendentalpragmatik . . . . . . .
1.5. Die Struktur der Diskursethik . . . . . . . . . . . . .
1.5.1. Programm einer Letztbegründung der Ethik
(Teil A) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.5.2. Probleme der Begründung der angewandten Ethik
(Teil B) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Originalausgabe
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany
© Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009
www.verlag-alber.de
Redaktion: Petra Uertz, Bonn
Satz: SatzWeise, Föhren
Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg
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17
17
24
29
39
. 56
. 78
. 107
. 116
. 130
Kapitel 2
Die soziale und rechtliche Ordnung einer sich
globalisierenden Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
2.1. Der Begriff der Rationalität in der Transzendentalpragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2. Die Kritik der politischen Vernunft vom Standpunkt der
Kommunikationsrationalität aus . . . . . . . . . . . .
2.2.1. Kritik des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . .
2.2.2. Kritik des Konservatismus . . . . . . . . . . . .
2.2.3. Kritik des Sozialismus . . . . . . . . . . . . . .
2.2.4. Konklusion: Politische Ethik . . . . . . . . . . .
. 145
.
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161
162
172
181
195
ISBN 978-3-495-48343-5
Ethik der globalen Gesellschaft
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Inhalt
Inhalt
2.3. Die institutionelle Dimension der Kommunikationsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.1. Institutionen und Diskurse als gesellschaftliche
Instanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.3.2. Der Begriff der Öffentlichkeit . . . . . . . . .
2.3.3. Das Verhältnis von Moral, Recht und Politik .
2.3.4. Eine diskursive Begründung der Demokratie .
2.4. Die globalen Krisen der Gegenwart . . . . . . . . . .
2.4.1. Die nukleare Bedrohung und der kalte Krieg .
2.4.2. Die Gefahr einer ökologischen Globalkrise . . .
2.4.3. Der Konflikt zwischen Nord und Süd . . . . .
. . 197
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199
204
211
215
223
224
227
232
Kapitel 3
Die ethischen Probleme der Globalisierung im Lichte der
Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
3.1. Der sozialphilosophische Globalisierungsbegriff . . . . . 238
3.1.1. Das Zeitalter eines globalen ökonomischen
Wachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.2. Das Zeitalter einer globalen multikulturellen
Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.3. Globalisierung als eine Systemtransformation des
Soziums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1.4. Globalisierung als Zerstörung von Kulturen und
Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2. Information und Kommunikation in der sich
globalisierenden Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.1. Der Kommunikationsrahmen nach der
informationstechnischen Entwicklung . . . . . . .
3.2.2. Die Globalisierung und die Informationsrevolution
3.2.3. Die Kommunikation in einer sich globalisierenden
Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.2.4. Die Virtualisierung von Kommunikationsprozessen
3.2.5. Die Institutionalisierung von Kommunikation . . .
3.2.6. Die Imperative der Diskursethik im
Globalisierungszeitalter . . . . . . . . . . . . . .
3.3. Die sich globalisierende Wirtschaft unter dem
Gesichtspunkt der Diskursethik . . . . . . . . . . . . .
3.3.1. Diskurse der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . .
3.3.2. Die Wirtschaftsglobalisierung und deren Probleme .
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ALBER PHILOSOPHIE
3.4. Politische Aspekte der diskursiven Globalisierungsethik
3.4.1. Die Konzeption der deliberativen Politik . . . . .
3.4.2. Politische Probleme der Globalisierung . . . . .
3.5. Sozialkulturelle Veränderungen in einer sich
globalisierenden Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . .
3.5.1. Die Kultur unter dem Gesichtspunkt der
Diskurstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.5.2. Sozialkulturelle Probleme der Globalisierung . .
. 359
. 359
. 377
. 396
. 396
. 415
Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . 433
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441
Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467
241
243
244
245
255
255
265
273
286
296
301
315
315
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Einleitung
Die Schlagworte »globale Bedrohungen« versus »Chancen der Globalisierung« werden seit einigen Jahren in der Publizistik, den Gesellschaftswissenschaften, aber auch in der Alltagssprache zunehmend verwendet. Vor allem die Szenarien der Bedrohung finden die
Aufmerksamkeit der Bürger weltweit. Vieles wird hierunter verstanden, angefangen bei der ökologische Krise, d. h. der existenziellen
Bedrohung der Biosphäre unseres Planeten durch Klimawandel und
Ressourcenverbrauch, ebenso die Bedrohung der Identität des Menschen, die durch Biotechnologien und den Experimenten am menschlichen Genom ausgelöst wird, bis hin zu den großen Wirtschafts- und
Finanzkrisen, zur grenzüberschreitenden terroristischen Bedrohung
usw. Im engeren sozial-politischen Sinn entstehen Bedrohungen –
aber auch Chancen – durch wirtschaftliche, sozialkulturelle und politische Globalisierungsprozesse.
Globalisierung stellt eine fortlaufende Annäherung und Wechselwirkung verschiedener, durch unterschiedliche kulturelle Einstellungen gekennzeichneter und auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen stehender Teile unserer ganzheitlichen Welt dar. Insbesondere
die Gefahren sind nicht nur dadurch bedingt, dass sich die ganzheitliche Beschaffenheit der Welt heute deutlicher denn je zuvor abzeichnet, sondern dadurch, dass auch die Grenzen des Ökosystems unseres
Planeten immer greifbarer werden. Das Anliegen, eine optimale
Ordnung des Nebeneinanders der unterschiedlichen Kulturen der
Menschheit unter den Bedingungen knapper werdender Ressourcen
wie Energie und Wasser usw. zu entwickeln, eine Ordnung, die den
Zusammenhängen der Welt Rechnung trägt, hat sich aus dem abstrakt-wissenschaftlichen Theoretisieren hin zur Lösung praktischer
Aufgaben verschoben.
Die folgenden Diagramme können die wesentlichen qualitativen
Veränderungen der Welt im Laufe der Menschheitsgeschichte bis
zum Zeitalter der Globalisierung zeigen.
Ethik der globalen Gesellschaft
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9
Einleitung
Einleitung
Diagramm 1 1
Diagramm 2
Im ersten Diagramm werden einige Parameter der sozialen und ökonomischen Menschheitsentwicklung dargestellt: die demographische
Dynamik der Erdbevölkerung wird hier der Informationssteigerung
(dem Wissenszuwachs) und dem Verbrauch der Naturressourcen gegenübergestellt. Betrachtet man die Kurve ab dem frühen Paläolithikum (40 Jahrtausende v. Chr.) durch Jahrhunderte und Jahrtausende,
10
hatten diese Kennwerte sowie deren Verhältnis zueinander kaum
eine Änderungen erfahren. Zu Beginn unserer Zeitrechnung betrug
die Zahl der Bevölkerung etwa 200 bis 400 Millionen Menschen, gegen Mitte des zweiten Jahrtausends stieg sie auf 0,5 bis 0,7 Milliarden. Von hier an setzt eine fortschreitende Dynamik ein. Schon zu
Beginn des 19. Jahrhunderts erreicht die Zahl der Erdbevölkerung
das Niveau von 1 bis 1,2 Milliarden, zu Beginn des 20. Jahrhunderts
2 Milliarden und zu Beginn des 21. Jahrhunderts 6 Milliarden, mit
einer verstetigten Steigerungsrate von 1,7 Prozent. 2
Während die Angaben in Diagramm 1 mit dem homo sapiens
beginnen, stellt das Diagramm 2 die Dynamik dar, die seit verhältnismäßig kurzer Zeit zu beobachten ist. Allein im Laufe des 20. Jahrhunderts stieg die Bevölkerungszahl auf das Dreifache. Derzeit ist
eine enorme Steigerung des Bevölkerungswachstums in den Ländern
der Dritten Welt und eine Stabilisierung oder gar stellenweise Abnahme in den Ländern mit hohem Lebensstandard zu verzeichnen.
Noch rasanter ist die Entwicklung von Wissen und Information:
der Anstieg des Lebensniveaus, das heißt der Geburtenrate und der
Lebenserwartung, korrespondiert mit dem Zuwachs an wissenschaftlicher, technischer und kultureller Entwicklung. Die Informationssteigerung hat einen exponentiellen Charakter: während sich von
Beginn bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts der Umfang der wissenschaftlichen Information alle 15 Jahre verdoppelte, findet eine Verdoppelung gegen Ende desselben Jahrhunderts schon alle 5,5 Jahre
statt. Für das 21. Jahrhundert wird die Informationsverdoppelung
für alle 20 Monate prognostiziert. 3 Im Laufe des Lebens eines modernen Menschen erhöht sich die Informationsmenge um das Zwanzigfache. 4 Der Umfang der Informationsverarbeitung ist einer der
Schlüsselparameter von Sozialsystemen. Einerseits zeigt dieser Parameter das Niveau der strukturellen und funktionalen Komplexität
eines sozialen Organismus und andererseits die Art der Wechselwirkung zwischen Kultur bzw. Zivilisation und Natur. Die Partizipation
an diesem enormen Zuwachs ist allerdings äußerst ungleich. Es
nimmt vornehmlich der Raum der so genannten Ersten Welt teil,
1 Siehe: Kreibich R., Wissenschaftsgesellschaft, Berlin 1986, S. 145; Nuscheler F.,
Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik, Bonn 1996, S. 208.
2 Siehe: Birg H., Perspektiven des globalen Bevölkerungswachstums – Ursachen, Folgen, Handlungskonsequenzen. In: Nuscheler F., Fürlinger K. (Hg.), Weniger Menschen durch weniger Armut, Salzburg 1994, S. 12.
3 Siehe: Bell D., Techne and Themis. In: The Winding Passage, S. 54; Naisbitt J., Megatrends, New York 1982, S. 41.
4 Siehe: Rider F., The Scholar and Future of the Research Library, New York 1944.
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Einleitung
Einleitung
während viele andere Regionen in ihrer Entwicklung stagnieren und
mitunter sogar eine bestimmte Degradierung nicht zu übersehen ist.
Aus dem dritten Parameter, dem Energie- oder Ressourcenverbrauch, ist auch ein Wachstum ersichtlich, das dem demographischen
und dem Informationswachstum entspricht. Aber gerade bei diesem
Parameter, der bislang Indikator des Wachstums der anderen ist, liegen die Steigerungsgrenzen auf der Hand. Obwohl die Ressourcen
entgegen mancher Prophezeiung noch nicht erschöpft sind, 5 ist es
absehbar, dass sie endlich sind.
Die hier skizzierte Entwicklung legt eine bevorstehende Wende
nahe. Aber nicht nur wegen der Divergenz zwischen Bevölkerungswachstum, Informationssteigerung und Ressourcenverbrauch, sondern auch wegen der Fehlentwicklung der ungleichmäßigen Verteilung – so verbraucht die Bevölkerung der reichen Länder 60 Prozent
der Weltressourcen, während die Geburtenexplosion in den weniger
entwickelten Ländern stattfindet – steht die Menschheit vor einer
Weggabelung.
Die grafische Darstellung dieser Tendenzen zeigt, dass im Laufe
der letzten Jahrhunderte die Menschheit eine bedeutende sozialkulturelle Mutation erfahren hat, die vom »Tod« des Naturmenschen
und der »Geburt« des Kulturmenschen zeugt. Der Mensch erhält
seine Existenz nicht so sehr durch einen unmittelbaren Verbrauch
von Naturressourcen als durch deren kulturell bedingte Verarbeitung. Immer weniger hängt er von den reinen Naturrealien ab und
immer mehr von der sozialen und technologischen Kultursituation.
An die Stelle der früheren Kultursituation, die durch ein gewisses
Gleichgewicht der Reproduktionsbedürfnisse und der kulturell geprägten Produktionsaktivität gekennzeichnet ist, tritt die Situation,
in der die kulturelle produktive Tätigkeit das Reproduktionsbedürfnis weit hinter sich lässt. Als ein »Überschuss« wird eine neue Welt
geschaffen, eine neue kulturelle Hülle, zu der es in der Natur und in
der bisherigen Geschichte kaum ein Analogon gibt. Dementsprechend hören die hergebrachten Lebensformen und -mechanismen,
die im Laufe von Jahrtausenden als Grundlage der Lebensgemein-
12
5 Siehe: Club of Rome (Meadows D./D., Zahn E., Millinger P.), Die Grenzen des
Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Reinbek 1973; Pestel E., Sa predelami rosta (Jenseits von Wachstumsgrenzen [in russischer Sprache]),
Moskau 1988.
schaft fungierten und für die Selbsterhaltung der Menschheit verantwortlich waren, entweder auf zu wirken oder sie erweisen sich sogar
als hinderlich für die menschliche Selbsterhaltungstätigkeit. Das
Wachstumsphänomen wird von einem »Dominoeffekt« begleitet,
wobei die Anpassung eines Parameters an die Veränderungen der
anderen eine Kette von Veränderungen in weiteren Teilsystemen
des Soziums nach sich zieht. Das viele Bürger ergreifende Gefühl
einer globalen Existenzbedrohung hängt damit zusammen, dass die
Überlebensfähigkeit der Menschheit heute wirklich in Frage gestellt
zu sein scheint: niemand kann sagen, ob die Menschheit imstande ist,
die Entwicklungen, die sie ins Leben gerufen hat, unter Kontrolle zu
halten, oder ob sie bereits in den Bann einer eigentlich irrationalen
»Logik der Dinge« geraten ist. Mit dem Bild vom Ausgang eines
Autorennens für den Fahrer, der die Steuerung nicht mehr beherrscht, lässt sich diese Verunsicherung plastisch kennzeichnen.
Die kulturell-gesellschaftlichen Veränderungen, die unter dem
Begriff Globalisierung zusammengefasst werden, sind nur Ausdruck
der geschichtlichen Mutation. Der Begriff der Globalisierung scheint
aber das Wesentliche der modernen Veränderungsprozesse genauestens zu treffen. Dennoch steht ein systematisches philosophisches
Verständnis dieses Begriffes noch aus. Die Globalisierung bleibt
meist unreflektierte Chiffre, genutzt von Politikern und Journalisten.
Ohne philosophisches Begreifen des Globalisierungsphänomens
kann man aber keine begründete Bewertung von Chancen und Bedrohungen geben.
Während bisher die geschichtliche Entwicklung wenn auch gefährliche, aber doch (relativ) lokale und deshalb eigentlich kontrollierbare Krisen – wie politische Revolutionen, die verheerenden
Weltkriege des vorigen Jahrhunderts, eine aus dem »Kampf der Gesellschaftssysteme« hervorgegangene Spaltung der Welt in zwei Blöcke – hervorbrachte, zieht die Globalisierung nicht nur eine neue,
nicht mehr lokal einzuschränkende Größenordnung nach sich, sondern evoziert zugleich neue Einsichts- sowie Handlungs- und Überlebenschancen. Die Globalisierung stellt eine noch nie dagewesene
Herausforderung dar, auf Teilveränderungen des Systems komplexe
Antworten zu geben. Eine Schicksalsfrage des Fortschritts, ob künftig
die weltweiten Prozesse unter menschliche Kontrolle gebracht werden können oder sich im Gegenteil immer mehr dieser Kontrolle
entziehen, kann sowohl positiv als auch negativ beantwortet werden.
Zu untersuchen wären entsprechende Steuerungsmechanismen, das
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Einleitung
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Einleitung
heißt, die Wege, auf denen die Menschen versuchen, diese Prozesse
unter Kontrolle zu bringen. Wenn wir hier auf Mechanismen der
Kontrolle zu sprechen kommen, haben wir in erster Linie die Moral,
das Recht und die Politik im Auge, indem wir sie als Hauptsphären
der Selbstregulation der Gesellschaft verstehen. Während in der Politik und teilweise auch im Recht operative Möglichkeiten ergriffen
werden, um die jeweilige geschichtliche Situation zu kontrollieren,
ist es die Moral, die als ein geistiger Bestimmungsgrund diese Versuche begleitet, bewertet und auch das Ziel vorzugeben versucht.
Anbetracht der gänzlich neuen Anforderungen vor dem Hintergrund tiefer, alle Daseinsschichten des Menschen durchdringender
Veränderungen wird die Unfähigkeit der traditionellen Moral, diese
Fragen zu stellen und zu lösen, offenbar. Es ist unübersehbar, dass
weder die in einer tiefgreifenden Transformation begriffenen traditionellen Gesellschaftsinstitutionen (wie Familie, Kirche usw.) noch
die hergebrachte Moral selbst Mechanismen haben, um auf die globalen Problemstellungen sachgemäß zu reagieren. Um dieser Situation gewachsen zu sein, wird der Mensch bereit sein müssen, den
Gegenstand, die Methoden und die Ziele der sozialen Wissenschaft
und Ethik radikal neu zu denken, damit sie der sich abzeichnenden
geschichtlichen Wende und der Aufgabe der Menschheitserneuerung
gewachsen sind.
Im Unterschied zum destruktiven Potenzial menschlicher Tätigkeit im sozialen Gefüge seien destruktive Auswirkungen der
menschlichen Intervention in der Natur bis vor kurzem von der Öffentlichkeit nicht einmal bemerkt worden, sodass sie außerhalb des
ethischen Bewusstseins traditioneller Moral- und Rechtsinstitutionen ebenso wie außerhalb des Horizontes der philosophischen Ethik
geblieben seien, so eine These Karl-Otto Apels. Erst in den letzten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sei einer moralisch empfindsamen
Öffentlichkeit klar geworden, dass die Beziehung zwischen Mensch
und Natur ethische Probleme zeitige, die den Problemen, die soziale
zwischenmenschliche Beziehungen betreffen, keineswegs nachstünden. Es sei nunmehr zu erörtern, wie diese Probleme und Herausforderungen im Hinblick auf die Ethik im Ganzen zu beurteilen seien. Es frage sich nämlich, ob hierfür geeignete Institutionen oder
Formen von Moral und Ethik bereits existierten oder ob wir nun
einen neuen, auf einer neuen Philosophie- oder Weisheitsart basierenden Typus von Ethik bräuchten: Die schlechteste Möglichkeit wäre, angesichts der neuen, globalen Realitäten verzagend und an den
partikulären moralischen Traditionen und Gepflogenheiten festhaltend, die neuen ethischen Probleme einfach zu ignorieren. 6
In diesen Überlegungen deutet Apel nicht nur die Neuheit der
Situation der Menschen in der Welt an, sondern markiert auch eine
neue, den Problemen angemessene Ethik. Ein kühner, mit ausgesprochen philosophischem Talent unternommener Versuch Apels, eine
»Makroethik der Gegenwart« oder eine »planetarische Verantwortungsethik« zu entwickeln, ist vor dieser Fragestellung von großem
Interesse. Obwohl die Globalisierung als solche in seinen philosophischen Untersuchungen nicht unbedingt eigens thematisiert wird,
scheint hier gerade seine Philosophie auf der Höhe der globalen Herausforderungen der Zeit zu sein. Bevor nun die von Apel vertretene
Konzeption der Diskursethik analysiert wird, soll zum besseren Verständnis des Kontextes der Philosoph selbst und sein grundlegender
Ansatz vorgestellt werden.
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Alexander W. Nazarchuk
Apel K.-O., The Ecological Crisis as a Problem of Discourse Ethics. In: Öfsti A. (Hg.),
Ecology and Ethics. A Report from the Melburn Conference, 18.–23. July 1990, Vitenskap 1990, S. 222, 231.
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