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DOSSIER
Psychische Behinderung
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FRÜHERKENNUNG VON BETROFFENEN JUGENDLICHEN
Das Jugendalter kann die
psychische Gesundheit gefährden
Andreas Minder
Berufswahl und berufliche Grundbildung fallen in eine Phase, in der junge Menschen
von Kopf bis Fuss durchgeschüttelt werden . Die meisten bewältigen die Krise, für einige
aber ist es der Anfang einer psychischen Erkrankung. Wenn man rechtzeitig intervenieren
würde, liesse sich diese Spirale der Krankheit vielleicht vermeiden .
«Das Jugendalter ist eine intensive Lebensphase, verbunden mit
Aufbruch und Neubeginn, aber auch Krisenanfälligkeit», sagt
Christine Gäumann. Sie leitet für die Integrierte Psychiatrie Winterthur (ipw) ambulante und stationäre Behandlungsangebote für
Jugendliche und junge Erwachsene. Sie weiss, was mit jungen
Leuten passiert, wenn die Hormone tanzen und das Hirn neu geschaltet wird. «Körper und Seele fallen aus dem vertrauten Gleichgewicht, oft begleitet von heftig wechselnden Gefühlen und Stimmungseinbrüchen», erklärt sie. Die Jugendlichen kennen sich
selbst nicht mehr, was Angst und Unsicherheit auslöst. Das Aufkeimen sexueller Wünsche, die Hilflosigkeit, damit umzugehen, und
die Angst, beim andern Geschlecht nicht anzukommen, können
Leben in einer verschwommenen, beängstigenden Welt …
Selbstwertkonflikte verstärken. Abhängigkeiten zu Eltern und erwachsenen Bezugspersonen werden in Frage gestellt und gelockert. Das verschafft das Glücksgefühl, ein eigenständiger Mensch
zu sein, aber auch die Befürchtung, der Eigenständigkeit nicht gewachsen zu sein. Die Loslösung von der Familie verstärkt das Bedürfnis nach Beziehungen zu Gleichaltrigen und nach eigenen Lebensentwürfen. Im Jugendalter wird die Einbettung in eine Kultur
und Gesellschaft – unter anderem in die Arbeitswelt – für Identität, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung wichtig. Wenn diese Einbettung ungenügend gelingt, verpassen junge Menschen den sozialen Anschluss. Solche Desintegration ist der Nährboden für
Randständigkeit und Armut.
PANORAMA
3|2008
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Die meisten schwerwiegenden psychischen Krankheiten bilden
sich im Jugendalter. Dazu zählen Schizophrenien, Suchtkrankheiten, affektive Erkrankungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörungen und psychosomatische Störungen. Symptome treten zu Beginn nur vereinzelt und unspezifisch auf und wachsen erst mit der
Zeit zu eigentlichen Störungen. Das eröffnet die Chance, in einem
noch frühen Stadium einzugreifen. Die Frage ist nur, wann. «Dass
junge Leute rebellieren oder sich mal ausklinken, ist normal», sagt
Gäumann: «Man sollte nicht alles problematisieren und pathologisieren.» Es kommt immer auf die Intensität, die Qualität und die
Dauer des auffälligen Verhaltens an. Wenn dieses sich aber über
längere Zeit hinzieht oder sogar verstärkt, sollten erwachsene Bezugspersonen näher hinschauen und mit dem Jugendlichen sprechen. Es kann hilfreich sein, bei einer Fachstelle Unterstützung zu
holen. Gäumann schätzt, dass es in 20 bis 25 Prozent der Fälle angezeigt wäre, Auffälligkeiten von Jugendlichen näher abzuklären.
DIE LAUTEN UND DIE STILLEN
Die Art, wie Jugendliche ihre inneren und äusseren Konflikte darstellen, haben zwei gegensätzliche Ausprägungen. Die eine ist
aggressives, freches und disziplinarisch schwieriges Verhalten. Betroffene Jugendliche zeigen eine geringe Frustrationstoleranz, provozieren mit Kleidung und Gebaren, rasten wegen jeder Kleinigkeit aus und laufen davon, wenn ihnen etwas nicht passt. Sie
schwänzen die Schule und verweigern Leistung und fallen im öffentlichen Raum unangenehm bis bedrohlich auf. Sie geraten immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt und experimentieren mit
Suchtmitteln oder mit der Gefahr. Diese Jugendlichen tragen ihre
innere Befindlichkeit nach aussen. «Sie inszenieren ihre Verunsicherung, die begleitet ist von heftigen Spannungsgefühlen», sagt
Gäumann.
Gegenteilig verhalten sich Jugendliche, die das Problem nach innen gerichtet austragen. Sie fallen kaum auf und wirken still, ja
scheu. Viele dieser Jugendlichen verschliessen sich immer mehr
der Aussenwelt und setzen sich in eine innere Welt ab. Diese Form
des Rückzugs führt zum Verlust von Beziehungen mit Familie und
Gleichaltrigen und kann zu ernsthafter Isolation und zu Realitätsverlust führen. Gewisse Jugendliche entwickeln sich zu Eigenbrötlern mit komisch wirkenden Denkweisen. Nicht selten verbarrikadieren sie sich in ihrem Zimmer. Die in sich gekehrten, verstummten Jugendlichen halten Öffentlichkeit, Lehrpersonen und
Lehrmeister nicht auf Trab. Deshalb wird ihr Leiden nicht wahrgenommen oder erst dann, wenn sie im Selbstmord einen Ausweg
für sich gesucht oder gar gefunden haben. Gerade in der Schweiz
ist das nicht selten. Die WHO schätzt die weltweite Suizidrate für
2000 auf 14,5 pro 100000 Menschen. In der Schweiz liegt diese
Zahl bei 19,1. Bei den 15- bis 44-jährigen Männern ist Suizid die
häufigste Todesursache.
Wie Gäumann feststellt, interessieren sich immer mehr Mädchen
für Diäten und Abmagerungskuren. In Kombination mit einem unsicheren Selbstbild können sich daraus Essstörungen entwickeln.
An Magersucht leidet in der westlichen Welt rund ein Prozent aller
Frauen zwischen 15 und 35 Jahren, an Bulimie (Ess-Brechsucht)
schätzungsweise zwei bis vier Prozent. Beide Erkrankungen haben
in den letzten 20 Jahren zugenommen. Auch Übergewicht lässt
sich in vielen Fällen auf seelische Entwicklungskrisen zurückführen.
RISIKO- UND SCHUTZFAKTOREN
Ob es jemand schafft, die Herausforderungen des Erwachsenwerdens zu bewältigen, hängt von einer Reihe äusserer und innerer
Faktoren ab. So spielen die ökonomischen, sozialen, emotionalen
und familiären Lebensverhältnisse eine Rolle, aber auch persönliche Begabungen, Stärken und Fähigkeiten. Je mehr Schutzfaktoren (stabile Lebensverhältnisse, Intelligenz, gute Ausbildung, Urvertrauen, tragende elterliche Figuren, Einbettung in einen Freundeskreis, Integration ins Berufs- und Erwerbsleben usw.) den Jugendlichen während seiner Entwicklung tragen, desto grösser ist
die Wahrscheinlichkeit, dass er trotz kleiner und grosser Krisen an
diesen Herausforderungen wächst und zu einem eigenständigen,
lebensbejahenden Menschen heranreift. Überwiegen belastende
Wachstumsbedingungen (niedriger sozialer und ökonomischer
Status, kein Ausbildungsplatz, Arbeitslosigkeit, schlechte Schulbildung, instabile Lebens- und Familienverhältnisse, viele Beziehungsabbrüche, wenig Halt vermittelnde Eltern, kein guter Freundeskreis usw.), besteht die Gefahr, dass der Jugendliche an Krisen
und Konflikten zerbricht.
Jugendliche mit erhöhten Risikofaktoren gehören zur Gruppe, die
häufiger Mühe hat, eine Lehrstelle zu finden. Die Gründe können
schlechte schulische Leistungen, Sprachschwierigkeiten, ein ausländischer Name oder auffälliges Verhalten sein. Je nach Reaktionstyp kann die Zurückweisung zu noch mehr Aggression gegen
aussen oder innen führen – ein Teufelskreis.
Gäumann ist jedoch überzeugt, dass psychische Störungen in vielen Fällen verhindert oder zumindest reduziert werden könnten –
selbst wenn die Voraussetzungen schlecht sind. «Es gibt eine Reihe
von niederschwelligen, nicht stigmatisierenden Interventionsformen», sagt sie. «Würden sie eingesetzt, wenn sich eine Störung anbahnt, könnte der Staat sehr viel Geld sparen.» Berufsberaterinnen, Berufsschullehrkräfte und Berufsbildner sind ihrer Meinung
nach entscheidende Figuren in der Früherkennung. «Sie müssen
nicht Sozialarbeiter sein, aber sie müssen dafür sorgen, dass die
Jugendlichen Hilfe und Unterstützung erhalten. Oft wäre es ratsam, wenn sie sich selber Rat und Anleitung bei einer Fachstelle
holen würden.»
Andreas Minder ist freier Journalist.
Adresse: Presseladen, Weinbergstrasse 33, Postfach 294, 8042 Zürich,
[email protected]
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