Praktisches Jahr in der Allgemeinmedizin ± eine neue

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Praktisches Jahr in der Allgemeinmedizin ±
eine neue Herausforderung
M. Gulich
Zusammenfassung
Abstract
Die neue Approbationsordnung ermöglicht im Praktischen Jahr
die Ausbildung im herausgehobenen Wahlfach Allgemeinmedizin. Es sind zahlreiche organisatorische und administrative Besonderheiten bei der Durchführung des PJ in der hausärztlichen
Praxis zu beachten. Für die beteiligten Praxen und Universitätsabteilungen bedeutet die Einführung des Wahlfachs Allgemeinmedizin einen erheblichen zusätzlichen Aufwand, für PJ-Studenten kann das Wahlfach Allgemeinmedizin interessante Lernerfahrungen ermöglichen, die über diejenigen in einem Wahlfach in der Klinik hinausgehen.
The new regulations for basic medical education offers optional
training in general practice within the pre registration officer
year. In this setting there are numerous organisational and administrative pecularities which have to be considered. Recruited
practices and university departments of general practice can expect an additional work load but students might well profit from
interesting learning experiences which go far beyond usual rotations in a clinical department.
Schlüsselwörter
Praktisches Jahr ´ klinische Ausbildung ´ gesetzliche Rahmenbedingungen ´ organisatorische Rahmenbedingungen
Key words
Pre registration house officers ´ clinical education ´ legal frame
work ´ organisational frame work
Die neue Approbationsordnung
§ 3 Praktisches Jahr
§ 3 (1) Das Praktische Jahr [¼] findet im letzten Jahr des Medizinstudiums statt. [¼] Die Ausbildung gliedert sich in Ausbildungsabschnitte von je 16 Wochen
± in Innerer Medizin
± in Chirurgie
± in Allgemeinmedizin oder in einem der übrigen [¼] klinischpraktischen Fachgebiete
Die neue, im Oktober 2003 in Kraft getretene Approbationsordnung (AppO) bringt eine ganze Reihe Neuerungen für die Lehre
und für die Lehrenden im Fach Allgemeinmedizin mit sich. Eine
wesentliche Herausforderung stellt dabei die neu geschaffene
Möglichkeit dar, künftig das Wahlfach im Praktischen Jahr, also
im letzten Studienjahr vor Erteilung der Approbation, im Fach
Allgemeinmedizin zu absolvieren. Die AppO geht sogar darüber
hinaus und schreibt dem Fach Allgemeinmedizin gegenüber den
anderen klinischen Wahlfächern eine herausgehobene Position
zu. Wörtlich schreibt das Gesetz:
Diese Formulierung bringt es mit sich, dass es kaum eine Fakultät sich wird erlauben können, nicht zumindest einen ernsthaften Versuch zu unternehmen, das Fach als Wahlfach im Praktischen Jahr (PJ) etablieren. Insbesondere werden Studierende ein-
Institutsangaben
Abt. Allgemeinmedizin der Universität Ulm
Korrespondenzadresse
Dr. med. Markus Gulich, MSc ´ Abt. Allgemeinmedizin ´ Universität Ulm ´ Helmholtzstraûe 20 ´ 89069 Ulm ´
Tel.: ++49/7 31/50/31103 (31101) ´ Fax: ++49/7 31/50/31109 ´ E-mail: [email protected]
Bibliografie
Z Allg Med 2005; 81: 9±12 ´ Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ´ New York
DOI 10.1055/s-2004-836249
ISSN 0014-336251
Ausbildung
Pre Registration House Officer in General Practice ± a New Challenge
9
Ausbildung
10
fordern, dass das Fach als Wahlfach ermöglicht wird. In einer
systematischen Befragung eines Jahrgangs von PJ-Kandidaten
der Uni Ulm zeigte sich [1], dass etwa ein Viertel der befragten
PJ-Kandidaten eine Bewerbung für das Fach Allgemeinmedizin
gegebenenfalls zumindest ernsthaft in Erwägung ziehen wollten,
wenn es denn angeboten würde.
Haftungs- und Berufsrecht
Ausbildungspraxen
PJ-Studenten sind ± auch wenn sie u. U. nur wenige Wochen vom
Abschluss ihres Studiums entfernt sind ± noch nicht approbiert,
d. h. sie sind nicht zum selbständigen Arbeiten berechtigt, alle
ärztlichen Verrichtungen dürfen durch PJ-Studenten nur unter
Supervision bzw. Verantwortung des Lehrarztes durchgeführt
werden. Delegation (z. B. von Punktionen oder Injektionen) ist
in Analogie zur Delegation an Arzthelferinnen nur dann möglich,
wenn der Lehrarzt sich vergewissert hat, dass ein PJ-Student entsprechend kompetent und verantwortungsvoll vorgeht. Die Verantwortlichkeit bleibt beim Arzt. Selbstverständlich dürfen Verrichtungen, die ausdrücklich ¾rzten vorbehalten sind (z. B. Rezeptierung), von PJ-Studenten nicht durchgeführt werden.
Es gibt und gab in Deutschland keine Vorerfahrungen mit PJ-Studenten im Fach Allgemeinmedizin, alle Erfahrungen müssen also
von der Pike auf gemacht werden. Zur Durchführung des Wahlfachs Allgemeinmedizin im PJ sieht die AppO vor:
§ 3 (2) Die Ausbildung nach Absatz 1 (im Praktischen Jahr; Anm.
d. Autors) wird [¼] soweit es sich um das Wahlfach Allgemeinmedizin handelt, aufgrund einer Vereinbarung, in geeigneten allgemeinmedizinischen Praxen [¼] durchgeführt.
Es besteht also die gesetzliche Aufforderung an die Fakultäten
zusammen mit den allgemeinmedizinischen Fachvertretern geeignete Ausbildungspraxen zu identifizieren, mit denen, je nach
Hochschulrecht, die Universität oder die Fakultät eine entsprechende Vereinbarung treffen kann. Diese Vereinbarung wird in
der Regel enge Anlehnung an die Verträge mit den akademischen
Lehrkrankenhäusern haben und neben formalen Rahmenfestlegungen auch Vereinbarungen über Vergütung der Lehrtätigkeit
und über haftungsrechtliche Fragen enthalten. In der Regel wird
die Universität/Fakultät die Ausbildungspraxis für durch die Studierenden schuldhaft, d. h. durch vorsätzliches oder grob fahrlässiges Fehlverhalten, entstandenen Schäden freistellen von Ansprüchen Dritter.
Geeignete Ausbildungspraxen rekrutieren sich am ehesten aus
der Reihe der Lehrpraxen im Blockpraktikum Allgemeinmedizin.
Bei der Beurteilung einzelner Praxen können die Kriterien der
Landesärztekammer Baden-Württemberg hilfreich sein. Sie sind
im Internet auf der Website der Landesärztekammer BadenWürttemberg herunterzuladen [2] und können ggf. auf regional
besondere Bedürfnisse angepasst werden. Aber auch bei sorgfältiger Auswahl der Lehrpraxen können sich in der konkreten
Durchführung des allgemeinmedizinischen Tertials im PJ noch
erhebliche Probleme ergeben, auf die weiter unten noch eingegangen wird.
Als Vergütung für die Ausbildung eines PJ-Studenten wurde in
Baden-Württemberg durch eine Vereinbarung der Studiendekane der Universitäten des Landes ein Pauschalbetrag von 2000,± e
festgelegt, der für jeden in der Praxis ausgebildeten Studenten zu
bezahlen ist.
Es ist in diesem Zusammenhang darauf zu achten, dass die AppO
(§ 3 (2)) ausdrücklich auch für andere klinische Fächer die Einbeziehung ¹geeigneter ärztlicher Praxen oder anderer Einrichtungen der ambulanten Krankenversorgungª vorsieht.
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Soviel zum hochschuladministrativen Rahmen. Des Weiteren
sind trotz der vertraglichen Absicherung haftungs- und berufsrechtliche Folgen der PJ-Ausbildung zu beachten, die auch
in früheren Diskussionen zum Thema [3] schon aufgeworfen
wurden.
Andererseits können zahlreiche Verrichtungen des ärztlichen
Alltags von PJ-Studenten durchgeführt werden, wenn der verantwortliche Lehrarzt sich von der korrekten und kompetenten
Durchführung vergewissert hat, das betrifft vor allem die Kerntätigkeiten der Anamneseerhebung, ärztlichen Untersuchung und
der Erstellung von weiteren Diagnostik- oder Therapievorschlägen, auch bei Hausbesuchen.
Die Ausbildung von PJ-Studenten muss der Lehrarzt der gültigen
Haftpflichtversicherung als ¹neu hinzutretendes Risikoª melden,
vergleichbar der Anzeige von Ausbildungsplätzen für Arzthelferinnen. Nach Auskunft verschiedener Versicherungsgesellschaften wird diese neue Situation aber voraussichtlich nicht zu einer
Erhöhung der Haftpflichtprämien führen.
Praktische Umsetzungsschwierigkeiten,
und wie man sie lösen kann
Das Überschreiten von bisherigen Grenzen bringt immer auch
eine Reihe von praktischen Problemen mit sich, und in diesem
Fall ist es nicht anders. Einige Punkte können hier angesprochen
werden.
Wie kann bei einer so stark dezentralisierten
Ausbildungssituation der universitäre Standard
erhalten bleiben?
Das Aufrechterhalten des Ausbildungsstandards ist sicherlich eines der vielschichtigsten Probleme. Die Studierenden werden in
den Ausbildungspraxen in eine Routine eingebunden, die sich
gänzlich dem Einfluss der Universität entzieht. Es ist deshalb
notwendig, eine enge Anbindung an die betreuende Universitätsabteilung vorzusehen. Drei Methoden bieten sich an: regelmäûige PJ-Seminare mit PJ-Studenten unter Federführung der
Universitätsabteilung, regelmäûige Kontakte mit allen PJ-Ausbildungsärzten (Qualitätszirkel) und gröûtmögliche Transparenz
und Einbindung der Lehrärzte bei der Gestaltung der mündlichen Staatsexamensprüfungen. Alle Methoden dienen dazu,
eine beidseitige gröûtmögliche Transparenz für Strukturen und
Prozesse zu erzeugen, und so aufkommende Schwierigkeiten bereits im Ansatz zu erkennen und zu vermeiden.
Wie kann vermieden werden, dass inkompatible Urlaubsbzw. Praxisschlieûungszeiten Nachteile für PJ-Studenten
entstehen?
PJ-Studenten haben während des Praktischen Jahres gesetzlich
zugesichert 4 Wochen ¹Freizeitª die sie erfahrungsgemäû gegen
Ende des PJ zur Prüfungsvorbereitung benutzen. Hausärztliche
Praxen orientieren sich mit ihren Praxisschlieûungszeiten an
den Bedürfnissen der Praxisinhaber und ihrer Mitarbeiter. Inkompatible Urlaubszeiten können zu erheblichen Nachteilen
der PJ-Studenten führen, im Extremfall zum Nicht-Anerkennen
eines ungenügend abgeleisteten Ausbildungstertials und damit
zu einer Ausbildungsverzögerung von einem halben Jahr. Mindestens zwei Möglichkeiten bestehen, diese Inkompatibilität zu
vermeiden. Zum Einen werden Gemeinschaftspraxen als Ausbildungspraxen rekrutiert, die an sich schon einen Präsenzverteilungsplan haben, der keine Urlaubsschlieûungen vorsieht. Das
bringt zwar möglicherweise eine leichte Verzerrung der zur Verfügung stehenden Praxen mit sich ± die eher kleinen, sehr patientennahen Einzelpraxen fehlen ± kann aber andererseits eine
ganze Reihe von strukturellen Problemen lösen. Eine andere
Möglichkeit besteht darin, bereits vor der Bewerbung um eine
Praxis ein Einverständnis der PJ-Studenten mit einer konkreten
Praxisschlieûungszeit einzuholen (siehe oben: Testat der akzeptierten Ausbildungspraxen).
Wie kann ein PJ-Student als ¹Junior-Doktorª in die Praxis
integriert werden?
Ein PJ-Student, der 16 Wochen in der Praxis sein wird, wird erheblich gröûere Anforderungen an das Team der Lehrpraxis stellen, als z. B. ein Student im Blockpraktikum, der lediglich für ein
oder zwei Wochen in der Praxis ist. Eine Ausbildungszeit von
16 Wochen macht es notwendig, PJ-Studenten im Praxisteam zu
verankern und sie routinemäûig mit bestimmten Aufgaben innerhalb des Praxisroutine zu betrauen. Trotzdem müssen genügend Freiräume bestehen bleiben, damit ein PJ-Student z. B. ei-
Patientenbetreuung unter Bedingungen des Hausbesuchs
Notfallsituationen in der Praxis und beim Hausbesuch/Schnittstelle mit dem
Notarzt
Betreuung von Patienten in Pflegeeinrichtungen
Betreuung von pflegebedürftigen Patienten zu Hause, Zusammenarbeit mit
ambulanten Pflegediensten, Heil- und Hilfsmittelversorgung
Sterbebegleitung, Zusammenarbeit mit Hospizeinrichtungen
Patienten mit Suchterkrankungen, Suchtgefährdung oder gefährlichem
Suchtmittelgebrauch
Betreuung von Patienten mit multiplen Risikofaktoren und/oder Risikoverhalten
Betreuung von Patienten mit Befindlichkeitsstörungen und so genannten
¹Banalerkrankungenª
Betreuung von organgesunden Patienten (mit körperlichen Beschwerden)
Betreuung von chronisch kranken Patienten, Disease management Programme
Primär- und Sekundärprävention: Impfungen in der hausärztlichen Praxis,
Gesundheitsuntersuchung, Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern, KrebsFrüherkennungsuntersuchungen
Tertiärprävention/Rehabilitation, in der Praxis, mit ambulanten Anbietern,
teilstationär oder stationär
Ausbildung
Wie kann vermieden werden, dass ¹der falsche Student
in die falsche Praxisª kommt?
Im Gegensatz zur Arbeit auf einer Station eines akademischen Ausbildungskrankenhauses ist die Arbeit in einer hausärztlichen Praxis sehr viel stärker personengebunden. Eine persönliche Aversion
zwischen Ausbildungsarzt und PJ-Student würde sich in dieser Situation sehr viel stärker auswirken, als das in einem akademischen
Lehrkrankenhaus der Fall wäre. Ziel muss es sein, diese Inkompatibilität möglichst von vorneherein zu vermeiden. So wird an der
Universität Ulm vorgesehen, einen persönlichen Termin der PJKandidaten in den zur Verfügung stehenden Lehrpraxen zu vereinbaren, und eine Bewerbung nur für diejenigen Praxen zu akzeptieren, für die durch einen Laufzettel dokumentiert wurde, dass Lehrarzt und PJ-Anwärter zumindest auf den ersten Kontakt bestätigen,
sich die Zusammenarbeit für einen Zeitraum von 4 Monaten vorstellen zu können. Praxen, die der PJ-Anwärter entweder gar nicht
besucht hat, oder die vom ersten Eindruck eine Kooperation für
problematisch halten, werden im Vergabeverfahren für die PJ-Ausbildungsplätze nicht beachtet. Durch dieses Verfahren werden
auch andere Störfaktoren (siehe unten) durch Einverständnis vor
der Zuteilung zu einer Ausbildungspraxis minimiert.
Tab. 1 Themenvorschläge für PJ-Seminare Allgemeinmedizin
Compliance in der hausärztlichen Betreuung
Grundlagen ökonomischer Arzneimitteltherapie
Zusammenarbeit mit Krankenhäusern, Spezialisten und nicht-ärztlichen
Therapeuten
Grundlagen des Abrechnungswesens und der Privatliquidation
Nutzung von medizinischen online-Datenbanken
nen Patienten zur weiterführenden Diagnostik begleiten kann,
oder einen Patienten, der stationär versorgt werden muss, dort
aufzusuchen, um sein Gesamtbild der Patientenversorgung zu
vervollständigen. Es muss einem PJ-Studenten möglich sein, in
der Praxis ± unter Supervision ± unabhängig zu arbeiten, d. h.
konkret, ein eigenes Sprechzimmer ist unbedingt notwendig,
wobei die Patientenfrequenz deutlich niedriger anzusetzen ist,
als bei einem fertig ausgebildeten Allgemeinarzt.
Was kann, was soll ein PJ-Student im Tertial
Allgemeinmedizin lernen?
Die neue Approbationsordnung bringt es mit sich, dass an den
Fakultäten vermehrt darauf geachtet wird, zu einzelnen Studienabschnitten oder Unterrichtsveranstaltungen entsprechende Lernziele zu formulieren und in der Studienordnung der Fakultät festzuschreiben.
Bei einer Lernzielbeschreibung für das PJ Allgemeinmedizin
kann die Definition des Faches durch die DEGAM [4] hilfreich
sein. So wurde das allgemeine Lernziel für das PJ im Wahlfach
Allgemeinmedizin an der Universität Ulm in Anlehnung an die
Fachdefinition wie folgt definiert:
Studierende im Praktischen Jahr sollen unter Aufsicht am konkreten Einzelfall lernen, medizinische Kenntnisse und Fertigkeiten und ärztliche Haltungen, die sie im vorausgegangenen Studium erworben haben, auf die Grundversorgung von Patienten
mit körperlichen und seelischen Gesundheitsstörungen aller Art
in der Notfall-, Akut- und Langzeitversorgung sowie in wesentlichen Bereichen der Prävention und Rehabilitation anzuwenden
Der komplette Text der Lernzieldefinition kann auf der Website
der Medizinischen Fakultät [5] eingesehen werden.
Gulich M. Praktisches Jahr in ¼ Z Allg Med 2005; 81: 9 ± 12
11
Über die allgemeine Lernzieldefinition hinaus werden den PJ-Studenten Seminarveranstaltungen angeboten, die weitgehend fallorientiert die Themen, die in der Tab. 1 aufgeführt sind, behandeln.
Interessenkonflikte: keine angegeben
Literatur
1
Ausbildung
12
Gulich M, Zeitler H-P. Allgemeinmedizin als Wahlfach im Praktischen
Jahr? Erhebung unter PJ-Kandidaten an der Universität Ulm. ZfA 1999;
75: 762 ± 764
2
http://www.aerztekammer-bw.de/20/merkblaetter/lehrpraxen.pdf
3
Zeitler H-P, Gulich M. Wahlfach Allgemeinmedizin im Praktischen
Jahr ± ein Diskussionsbeitrag. ZfA 1999; 75: 765 ± 766
4
http://www.degam.de/fachdefinition.htm
5
http://studiendekanat.medizin.uni-ulm.de/medizin/
Komplikationen in der Hausarztpraxis
Erkennen ± Handeln ± Vermeiden
Gisela Fischer, Eberhard Hesse, Adalbert Keseberg, Thomas Lichte,
Heinz-Peter Romberg (Hrsg.)
Springer Verlag, Wien, New York 2004. 597 Seiten, 13 Abbildungen. Gebunden e 59,80
ISBN 3-211-83872-4
Den Herausgebern und Autoren gebührt Anerkennung für den ±
meines Wissens in der deutschen Allgemeinmedizin erstmaligen
± Versuch, nicht nur das ¹Richtigeª zu predigen, sondern systematisch konkrete Wege zur Fehlervermeidung aufzuzeigen. Allein durch sein Interesse für dieses Buch kann der Leser seine Zustimmung zum Buchmotto demonstrieren: ¹In dieser Praxis erfüllt der Arzt keine Wünsche, sondern übernimmt Verantwortung!ª und ¹In dieser Praxis ist der Arzt jederzeit bereit, sich korrigieren zu lassen.ª (K. Dörner). Dieses Buch gehört meines Erachtens tatsächlich in jede hausärztliche Praxisbibliothek, wie
bereits eine Zeitung urteilte.
Hausärztliche Erfahrung ist meist das bittere und wertvolle Ergebnis reflektierter eigener Fehler. Derjenige, der handelt, macht
unweigerlich auch Fehler und macht sich angreifbar. Jenseits der
Kritikwürdigkeit der Praxis aber muss es einen Schatz an Kenntnissen und Fertigkeiten geben, der es den Praktikern ermöglicht,
trotz aller Unzulänglichkeiten mit Engagement weiter zu arbeiten und manchmal einigen Patienten nützlich zu sein. Das Buch
muss an dem Anspruch gemessen werden, diesen Schatz zu heben und abzubilden.
Die Bandbreite der Fehlermöglichkeiten in der Allgemeinpraxis
korreliert mit der Bandbreite medizinischer und kommunikativer
Aufgaben des Arztes. Sie ist riesig. Das Buch muss sich auf die Bearbeitung einiger beschränken. Die Auswahl ist gut gelungen. Sie
orientiert sich an häufigen Symptomen, ausgewählten Krankheitsbildern, spezifischen hausärztlichen Verfahren und Aufgaben und auf ausgewählte Patientengruppen. Im allgemeinen Teil
des Buches werden nützliche Erfahrungen aus Gutachter- und
Schlichtungskommissionen zitiert. Einheitlich folgt jedes Kapitel
in erfrischend knappen Abschnitten einer klaren Gliederung: Zusammenfassung, Definition/Pathophysiologie, Epidemiologie, Bedeutung für den Arzt und für den Patienten, mögliche Komplikationen, Fallbeispiele, Schlussfolgerungen.
Die ersten Abschnitte eines jeden Kapitels tragen einen lehrbuchhaften Charakter, präsentieren das Wissenswerte allerdings
in stark unterschiedlicher Qualität. Einige der Autoren beziehen
sich auf den aktuellen Stand der Forschung und auf gesicherte
Evidenznachweise. Andere lassen aktuell verfügbares Wissen
Gulich M. Praktisches Jahr in ¼ Z Allg Med 2005; 81: 9 ± 12
Zur Person
Dr. med. Markus Sebastian Gulich,
geboren 1959 in Nürnberg. Medizinstudium in Würzburg
und Ulm, Approbation 1987, Promotion 1989, wissenschaftliche und ärztliche Tätigkeit am Institut für Arbeits-,
Sozial und Umweltmedizin der Universität Ulm, an der
medizinischen Universitätsklinik Ulm und am Kreiskrankenhaus Geislingen/Steige, Facharzt für Allgemeinmedizin seit 2000.
Postgraduierten-Studiengang Medical Education am University of Wales College of Medicine in Cardiff, GB, Abschluss Master of Science in Medical Education 1994. Seit 1995 wissenschaftlicher Assistent der
Abteilung Allgemeinmedizin der Uni Ulm und Dauerassistent in allgemeinmedizinischer Praxis in Kuchen/Fils.
hartnäckig auûer Acht. Dies ist an manchen Stellen befremdlich.
Beispiel: Selbst DEGAM-Leitlinienempfehlungen finden bei der
Wahl des Antibiotikums beim Harnwegsinfekt nicht einmal Erwähnung.
Die Abschnitte in den Kapiteln zu Komplikationen, Fallbeispielen
und Schlussfolgerungen bleiben sehr subjektiv. Dies ist unvermeidlich. Nur selten kann auf Erfahrungen bei den Schlichtungsstellen verwiesen werden. Hierin liegt aber ein besonderer Reiz
des Buches, das in diesen Passagen einen kurzen Blick auf die
Persönlichkeit des jeweiligen Autors, seine Arbeitsschwerpunkte
und Geschicklichkeiten in der Praxis ermöglicht.
Aber leider nehmen konkrete Tipps für die Praxis nur wenig
Raum in dem Buch ein und zu selten ringen die Autoren sich
dazu durch, Prioritäten zu benennen. So besteht die Gefahr, dass
der Leser von so vielen Dingen, die eigentlich alle und immer in
der Praxis bedacht werden müssten, ermüdet wird. Z. B. beim
Thema Lungenembolie als abwendbar gefährlichem Verlauf:
Richtig ± die Anamnese und Untersuchung sollten gründlich
sein. Nicht erwähnt wird, dass die unmittelbare Untersuchung
aber nur dann Fehler vermeiden hilft, wenn der Lungenembolie
ein thrombotisches Geschehen mit unmittelbar erkennbarer Klinik oder eine typische Risikokonstellation vorausgeht, was bei
weitem nicht immer der Fall ist. Oft tritt eine Lungenembolie
eben als unabwendbar gefährlichen Verlauf auf. Wenn aber unvermeidbare ¹Fehlerª nicht benannt werden, dann wird der Leser
mit unerfüllbaren Ansprüchen belastet und die Empfehlungen
werden dem Kontext der Praxis nicht besser gerecht, als herkömmliche Lehrbücher. So sind zahlreiche Ergänzungen denkbar. Z. B. bei dem nützlichen Hinweis zu dringend angeforderten
Hausbesuchen: Das Telefongespräch ist nicht delegierbar. Der
persönliche telefonische Kontakt des Arztes ist unverzichtbar.
Ergänzung: Der Arzt sollte nach Möglichkeit darauf bestehen,
dass der Kranke selbst den Telefonhörer in die Hand bekommt.
Im Gespräch mit dem Kranken ist die Dringlichkeit besser einzuschätzen als im Gespräch mit den Angehörigen. Denn bei Herzinsuffizienz und beim Atemwegsinfekt ist Eile geboten, wenn
der Patient bereits das Symptom ¹Sprechen-in-kurzen-Satzbruchstückenª als Zeichen objektiver Luftnot bietet.
Allen kritischen Anmerkungen zum Trotz: Niemand möge sich
davon abhalten lassen, sich mit der Idee dieses Buches und mit
seinem Inhalt ernsthaft auseinanderzusetzen. Ich wünsche den
Herausgebern die Initiative und den Mut, Anregungen und Tipps
möglichst vieler Kollegen für eine zweite Ausgabe des Buches
zusammenzutragen, um den praktischen Aspekt des Buches
noch stärker zu gewichten.
Dr. med. W. Christoph Hager, Köln
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