Ziel des Jugendstrafrechts

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§2
Erster Teil Anwendungsbereich
20 Für die Rechtshilfe insgesamt ist gem. § 73 IRG eine Grenze formuliert: Rechtshilfe ist unzulässig,
wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde (ordre-publicKlausel). Bei Auslieferung von Jugendlichen ist hierbei insbesondere das zu erwartende Strafmaß zu
berücksichtigen. Ein Auslieferungsverbot liegt dann vor, wenn die drohende Straflänge unerträglich
ist unter jedem denkbaren Gesichtspunkt als unangemessen erscheint oder wenn sie als solche grausam,
unmenschlich oder erniedrigend ist (BVerfGE 75, 16 ff). Im Hinblick hierauf ist die Entscheidung des
OLG Schleswig SchlHA 2003, 217 schwer nachvollziehbar, wonach ein zu erwartendes Strafmaß bis
zu 25 Jahren Freiheitsstrafe keine unerträgliche Härte darstellen soll.
21 Zur Anwendung des § 456 a StPO s. §§ 91-92 Rn 2.
§ 2 Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts
(1) Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder
Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.
(2) Die allgemeinen Vorschriften gelten nur, soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist.
Literatur:
Goerdeler Das „Ziel der Anwendung des Jugendstrafrechts“ und andere Änderungen des JGG, ZJJ 2008,
137; Ostendorf Das Ziel des Jugendstrafvollzugs nach zukünftigem Recht in: Jugendstrafvollzug in Deutschland – Neue Gesetze, neue Strukturen, neue Praxis?, hrsg. von Goerdeler/Walkenhorst, 2007, S. 100; ders.
in: Handbuch zum Jugendstrafvollzugsrecht, hrsg. von Ostendorf, 2008, Erster Abschnitt, IV.
I. Ziel des Jugendstrafrechts
1. Hauptziel „Individualprävention“
1 Mit dem Zweiten Gestz zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und anderer Gesetze vom
13.12.2007 (BGBl. I, 2894) hat der Gesetzgeber das Hauptziel des Jugendstrafrechts iS einer Individualprävention bestimmt. Das vorrangige Ziel des Jugendstrafrechts ist die Rückfallvermeidung und
zwar die Vermeidung des Rückfalls des jeweiligen von der Jugendstrafjustiz belangten jugendlichen
oder heranwachsenden Straftäters. Dies entspricht der bislang vertretenen Position (s. Grdl. z. §§ 1-2
Rn 4).
2. Nebenziele
2 Offen bleibt nach der Gesetzesformulierung, welche Nebenziele mit dem Jugendstrafrecht angestrebt
werden dürfen oder sollen. Derartige Nebenziele werden mit der Formulierung erlaubt, dass die Anwendung des Jugendstrafrechts „vor allem“ erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegen wirken soll. In der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 16/6293 S. 9, 10) wird zunächst
darauf verwiesen, dass nicht immer erzieherisch ausgerichtete Sanktionen in Betracht kommen, dass
der Einsatz von Zuchtmitteln auch normverdeutlichenden Charakter hat. Dieser Hinweis betrifft aber
die Umsetzung des jugendstrafrechtlichen Ziels der Rückfallvermeidung, eröffnet kein eigenes Nebenziel. Normverdeutlichende Sanktionen dienen dem Ziel der Rückfallvermeidung.
3 Überzeugender ist der Hinweis auf das Nebenziel des Schuldausgleichs. Dieser wird explizit mit der
Verhängung der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld angestrebt, wobei letztlich der positiven Generalprävention gedient wird (s. § 17 Rn 5 ff). Dieses Nebenziel „Schuldausgleich im Dienste positiver
Generalprävention“ ist aber auf die Verhängung einer Jugendstrafe gem. § 17 Abs. 2, 2. Alternative
zu begrenzen. Weder die Erziehungsmaßregeln noch die Zuchtmittel lassen im Hinblick auf die gesetzliche Zieldefinition noch inhaltlich das Nebenziel eines Schuldausgleichs zu. Weisungen iS des
§ 10 sowie Hilfen zur Erziehung iS des § 12 sind ausschließlich auf die erzieherische Förderung bzw
Hilfe ausgerichtet. Mit Zuchtmitteln soll dem jungen Straftäter das Unrecht der Tat vor Augen geführt,
soll seine Verantwortlichkeit geweckt bzw gefördert werden. Das ist aber kein Selbstzweck, sondern
dient der Indivualprävention. Repressiver Mitteleinsatz ist zu unterscheiden von der indivualpräventiven Zielsetzung. Das Mittel der Geldbuße, des Arrestes hat repressive Züge, wird aber nicht um der
Repression willen, um der Sühne oder des Schuldausgleichs willen verhängt, sondern um den Straftäter
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damit von einer Wiederholung abzuhalten. Dass damit auch Schuldausgleich bewirkt wird, auch einem
Sühneverlangen entsprochen wird, ist Nebeneffekt, aber nicht Nebenziel. Wenn in diesem Zusammenhang in der Gesetzesbegründung auf die Funktion des Schuldprinzips hingewiesen wird, schuldunangemessene Sanktionen auszuschließen, so ist dies eben eine Begrenzungsfunktion, keine Zieldefinition. Eine Begrenzung setzt ein Ziel voraus. Im Übrigen bedeutet jede „Verurteilung“ eine Verantwortungszuschreibung und Inpflichtnahme, was gerade bei jungen Straftätern Gewicht hat, die nicht
selten „sich herausreden“, Verantwortung auf andere iS der Neutralisationstechnik abschieben (s.
Sykes/Matza Techniken der Neutralisierung: Eine Theorie der Delinquenz, in: Kriminalsoziologie,
hrsg. von Sack/König, 1968, S. 365 ff).
Uneingeschränkt zuzustimmen ist dem letzten Hinweis in der Gesetzesbegründung auf potentielle Nebenziele: Ein Nebenziel der Abschreckung anderer potentieller Straftäter ist im Jugendstrafrecht, wie
einhellig in Rechtslehre und höchstrichterlicher Rechtsprechung vertreten wird, nicht zulässig, ganz
abgesehen davon, dass eine solche Abschreckung gerade bei jungen Menschen nicht funktioniert. Abschreckung iS einer negativen Generalprävention mag bei nüchtern kalkulierenden Straftätern funktionieren, Straftaten von jungen Menschen werden regelmäßig nicht nüchtern kalkulierend begangen.
Auch die positive Generalprävention ist kein ausdrückliches Ziel des Jugendstrafrechts. Insoweit genügt, dass jeder Verurteilung eine Reflexwirkung auf das Rechtsbewusstsein anderer zukommt. Mit
jeder jugendstrafrechtlichen Verfolgung eines Normbruchs wird die Rechtsordnung gestärkt.
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3. Wege zur Zielerreichung
a) Bedeutung der Erziehung
Mit der Bestimmung des Sanktionsziels iS einer Individualprävention hat der Gesetzgeber aber keineswegs das Erziehungsstrafrecht verabschiedet. Gem. § 2 Abs. 1 S. 2 sind die Rechtsfolgen und unter
Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken
auszurichten. Damit behält Erziehung einen vorrangigen Stellenwert. Dies gilt insbesondere für die
Sanktionierung. Traditionell wird die Individual- oder Spezielprävention wie folgt untergliedert, wobei
einzelnen Sanktionen mehrere Wirkungen zugesprochen werden:
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Individual- oder Spezialprävention
Positive Einwirkung auf den Täter
iS einer Besserung, Resozialisierung
Negative Einwirkung auf den
Täter iS einer individuellen
Abschreckung, eines „Denkzettels“
Sicherung des Täters auf Zeit
durch Freiheitsentzug
Diese 3 Arten der Individual- oder Spezialprävention werden mit § 2 Abs. 1 S. 2 von dem Erziehungsgedankenen überlagert mit dem Ergebnis, dass der positiven Individualprävention, die am weitesten
dem Erziehungsgedanken Rechnung trägt, Vorrang gebührt. Damit stimmt überein, dass die Erziehungsmaßregeln nach dem Subsidiaritätsgrundsatz auf der obersten Sprosse der zu prüfenden Sanktionsleiter stehen (s. § 5 Rn 22). Im Hinblick auf die im Jugendstrafrechtssystem begrenzten Möglichkeiten einer Erziehung, im Hinblick auf die kriminologisch begrenzten Notwendigkeiten einer Erziehung und im Hinblick auf von verfassungswegen begrenzte Zulässigkeit einer Erziehung durch Strafe
(s. Grdl. z. §§ 1-2 Rn 4) ist der Erziehungsgedanke durch möglichst helfende und unterstützende Sanktionen iS einer positiven Individualprävention umzusetzen. Es geht nicht um Erziehung im Allgemeinen, es geht um den Vorrang von erzieherisch begründeten Interventionen.
b) Begrenzung des Erziehungsgedankens im Verfahren
Hinsichtlich der Ausrichtung des Verfahrens am Erziehungsgedanken hat der Gesetzgeber nur den
Vorbehalt „unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts“ formuliert. Selbst dieser Vorbehalt
greift im Hinblick auf das elterliche Erziehungsgrundrecht gem. § 6 Abs. 2 S. 1 GG zu kurz. Hierzu hat
das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: „Allerdings kann dem das Jugendstrafrecht prägenden Erziehungsgedanken, der kein staatliches Erziehungsprivileg etabliert und das vorrange elterliche Erziehungsrecht nicht suspendiert …, jedenfalls vor Abschluss des Verfahrens keine besondere Bedeutung
zukommen. Die erzieherische Einwirkung auf den Jugendlichen mit dem Ziel künftigen straffreien
Lebens … setzt grundsätzlich den justizförmigen Nachweis der durch eine konkrete Straftat erkennbar
gewordene Erziehungsbedürftigkeit eines Jugendlichen sowie die Festsetzung einer an dieser Bedürf-
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Erster Teil Anwendungsbereich
tigkeit ausgerichteten Rechtsfolge voraus. Während eines laufenden Strafverfahrens wird es regelmäßig
an der Möglichkeit einer solchen Feststellung fehlen, sodass für eine allein mit erzieherischen Zielen
begründete Zurückdrängung des Elternrecht verfassungsrechtlich noch kein Raum ist“ (BVerfGE 107,
104 = DVJJ-Journal 2003, 71).
7 Der alleinige Hinweis auf eine Begrenzung durch das elterliche Erziehungsrecht genügt darüber hinaus
verfassungsrechtlich nicht dem aus dem Rechtsstaatsprinzip gem. Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten und
in Art. 6 Abs. 2 MRK einfachgesetzlich formulierten Grundsatz der Unschuldsvermutung. Vor dem
justizförmigen Nachweis der Schuld dürfen Eingriffe in Rechte des Beschuldigten nicht mit dem Hinweis auf eine Erziehungsbedürftigkeit des jungen Beschuldigten legitimiert werden. Strafprozessuale
Zwangsmaßnahmen haben der Durchführung des Strafverfahrens zu dienen, nicht der Erziehung eines
Beschuldigten. Darüber hinaus bleibt bei dieser Formulierung des Gesetzgebers außer Acht, dass eine
staatliche Erziehung gegenüber den Heranwachsenden in jedem Fall ausscheidet, da ihnen gegenüber
auch den Eltern kein Erziehungsrecht mehr zukommt.
II. Anwendungsbereich
8 Aufgrund der vorgezogenen systematischen Stellung gilt § 2 iVm § 1 für alle strafrechtlichen Verfol-
gungen von Jugendlichen und Heranwachsenden (hM), wobei in den §§ 104, 109 und 112 abweichende Konkretisierungen erfolgt sind. Eine Parallelvorschrift findet sich in § 10 StGB. Darüber hinaus
muss sich die Zielvorgabe gem. § 2 Abs. 1 auf die Vollstreckung auswirken. Gerade hier wird Jugendstrafrecht „angewendet“. So muss bei der Ermessensentscheidung über die Anordnung des sog. Ungehorsamsarrestes (§§ 11 Abs. 3 S. 1, 15 Abs. 3 S. 2) diese Zielsetzung beachtet werden. Dies gilt ebenso für Vollstreckungsentscheidungen gem. den §§ 87 Abs. 3, 88 Abs. 1, Abs. 2. Schließlich beeinflusst
dieser Wegweiser auch den Vollzug vor Arrest und Jugendstrafe, auch wenn hierfür die Gesetzgebungskompetenz den Ländern übertragen wurde. Soweit in den Gesetzen der Bundesländer BadenWürttemberg (§ 2 JStVollzG), Bayern (Art. 121 S. 1 BayStVollzG), Hamburg (§ 2 Abs. 1 HmbStVollzG) der Schutz der Allgemeinheit als erste Vollzugsaufgabe genannt wird, so muss sich die Durchführung des Vollzuges doch an dem Hauptziel der Individualprävention ausrichten und zwar für die Zeit
nach der Entlassung (s. im Einzelnen Ostendorf in: Handbuch zum Jugendstrafvollzugsrecht, hrsg. von
Ostendorf, 2008, 1. Abschnitt Rn 18 ff). Soweit Erziehung zu einem, eigenständigen Ziel erklärt wird
(so Art. 121 S. 2 BayStVollzG: „sollen dazu erzogen werden, künftig einen rechtschaffenden Lebenswandel in sozialer Verantwortung zu führen“), muss dieses Ziel auf die Legalbewährung reduziert
werden (ebenso Goerdeler ZJJ 2008, 143). Insoweit geht gem. Art. 31 GG die Bundeskompetenz und
damit § 2 Abs. 1 vor.
III. Vorrangigkeit des JGG
1. Aufgrund negativer gesetzlicher Regelung
9 Ausdrücklich sind in den §§ 79 bis 81 Vorschriften des allgemeinen Verfahrensrechts ausgeschlossen.
2. Aufgrund positiver gesetzlicher Regelung
10 Überall dort, wo eine Bestimmung im JGG vom Wortlaut und Sinngehalt her eine besondere Regelung
trifft, die von der strafrechtlichen Regelung für Erwachsene abweicht, geht diese Bestimmung vor. Dies
kann im Einzelfall streitig sein, wenn unterschiedliche Begriffe verwendet werden. So ist der Begriff
der Strafe im JGG auf die Jugendstrafe als Freiheitsstrafe im Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht
verengt (§§ 5, 13 Abs. 3). Trotzdem gilt zB das Verschlechterungsgebot (§§ 331, 358 Abs. 2 StPO)
auch für die anderen jugendrechtlichen Sanktionen (s. Brunner/Dölling § 2 Rn 4). Diese Ausgrenzung
ist bei den einzelnen Bestimmungen zu diskutieren.
3. Aufgrund des allgemeinen Gesetzesziels des JGG
11 Der Vorrang des JGG gilt auch im Hinblick auf sein allgemeines Gesetzesziel »jugendadäquates Prä-
ventionsstrafrecht« (s. Grdl. z. §§ 1-2 Rn 4). Dies führt einmal zu Konkretisierungen von Rechtsbegriffen aus dem allgemeinen Strafrecht, zB für eine Pflichtverteidigerbestellung gem. § 140 Abs. 2 StPO
(s. § 68 Rn 7 bis 10). Dies kann auch zu einem Ausschluss von Bestimmungen führen, zB zum Verbot
einer öffentlichen Zustellung gem. § 40 StPO (s. im Einzelnen § 48 Rn 7). Keineswegs darf die Definition eines Erziehungsstrafrechts zu einer Zurücknahme von rechtsstaatlichen Prinzipien zum Schutze
des Beschuldigten führen. Es bleibt, dass auch im Jugendstrafrecht mit Interesseneinbußen reagiert
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