Psychoedukation bei ADHS im Erwachsenenalter

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D’Amelio R, Retz W, Rösler M (2009) Psychoedukation bei ADHS im Erwachsenenalter.
ADHS Report, Ausgabe 34 (10): 4 – 7
Psychoedukation bei ADHS im Erwachsenenalter
Unter
dem
Begriff
„Psychoedukation“
werden
systematische
didaktisch-
psychotherapeutische Interventionen zusammengefasst, die dazu geeignet sind,
Patienten und ihre Angehörigen über die vorliegende Krankheit bzw. Störung zu
informieren, das Krankheitsverständnis und den selbstverantwortlichen Umgang mit
der Krankheit zu fördern und sie bei der Krankheitsbewältigung zu unterstützen
(Goldmann 1988, Behrendt & Krischke 2005). Die Betroffenen sollen im Rahmen von
psychoedukativen Interventionen zunächst umfassend über Ursachen, Diagnostik
und aktuelle Therapiestandards bzw. –Optionen bezüglich der vorliegenden Störung
aufgeklärt werden. Diese störungsbezogene Wissensvermittlung wird als ►
edukativer Anteil im Rahmen von Psychoedukation bezeichnet und sollte nicht als
Frontalunterricht konzipiert oder in Form eines Expertenvortrages durchgeführt
werden. Vielmehr gilt es die relevanten Informationen gemeinsam zu erarbeiten,
indem das störungsbezogene Erfahrungswissen der Betroffenen mit dem aktuellen
Stand der Wissenschaft verknüpft wird. Dies bedeutet, dass Psychoedukation vom
Therapeuten
eine
spezifische,
ressourcenorientierte
und
partnerschaftlich
ausgerichtete therapeutische Grundhaltung erfordert, in der die Betroffenen als
„eigentliche Experten ihrer Erkrankung“ wahrgenommen und gewürdigt werden
(Behrendt & Krischke 2005). Des Weiteren zielen psychoedukative Interventionen auf
eine Stärkung der Selbstakzeptanz und Wirksamkeitsüberzeugung, auf eine
Förderung der individuellen Bewältigungsfähigkeiten und des eigenverantwortlichen
Umgangs mit der Erkrankung ab (► psychotherapeutischer Anteil im Rahmen von
Psychoedukation). Darüberhinaus soll mittels Psychoedukation auch die TherapieCompliance und –zufriedenheit der Betroffenen erhöht und der Umgang zwischen
Betroffene und professionellem Hilfesystem erleichtert werden. Die Durchführung von
Psychoedukation im Gruppensetting bietet gegenüber dem Einzelsetting den Vorteil,
dass die Betroffenen feststellen können, dass ihre Störung bzw. „Besonderheit“ von
anderen geteilt wird. Dieser Umstand kann bereits entlastend wirken, in dem sie
beispielsweise die Vorstellung einer „negativen Einzigartigkeit“ relativiert und damit
zur Reduktion eines negativen Selbstbildes beiträgt. Des Weiteren können sich die
Gruppenmitglieder untereinander emotional stabilisieren und sich gegenseitig bei der
Generierung von Lösungen für störungsassoziierte Probleme unterstützen. In
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Erweiterung
des
ursprünglichen
Konzeptes,
werden
in
den
aktuellen
psychoedukativen Ansätzen auch Angehörige bzw. Bezugspersonen von Betroffenen
betreut, entweder in Form von eigenen und/ oder im Rahmen von gemeinsamen
psychoedukativen Gruppen mit den Betroffenen (sog.: ► „Trialog“). Mit dem
Fachbegriff „Psychoedukation“ wird insofern eine Interventionsform umschrieben,
welche ihre Wurzeln in der kognitiven Verhaltenstherapie aufweist, sich adaptiv an
verschiedene Settings (ambulant – teilstationär – stationär) anpasst, zumeist in
Gruppenform durchgeführt wird und gleichermaßen die Komponenten: „Bildung“ (=
„education“) und: „psychotherapeutische Interventionen“ beinhaltet (Hornung 2000).
Psychoedukation ist vor allem dann indiziert, wenn es sich um eine chronische
Krankheit bzw. Störung handelt, deren Ausprägung und Verlauf sich mittels der
„optimalen“ Ausnutzung von therapeutischen Optionen und die funktionale
Anpassung bzw. Änderung des Lebensstils bzw. -haltung positiv beeinflussen lässt
(Behrendt & Krischke 2005, Hornung 2000). Dies setzt zum einen den informierten
Patienten voraus, der zum Experten seiner eigenen Störung geworden ist (►
edukativer Anteil im Rahmen von Psychoedukation), wie auch den Erwerb von
Selbstmanagement-Fertigkeiten
bzw.
Kompetenzen
zur
Selbstregulation
(►
psychotherapeutischer Anteil im Rahmen von Psychoedukation). Psychoedukation
arbeitet strikt ressourcen- und lösungsorientiert. Damit ist beispielsweise gemeint,
dass mit dem Betroffenen erarbeitet wird, wie er (mehr) an sich „glauben“ bzw. seine
eigenen Stärken bewusster wahrnehmen kann. Dies stellt häufig die Voraussetzung
dar, um dann mittels therapeutischer Unterstützung weitere Fertigkeiten zu erwerben
bzw. zu reaktivieren, die dem Patienten ein zufrieden stellendes Leben mit seiner
Störung ermöglichen.
Warum Psychoedukation bei ADHS im Erwachsenenalter?
ADHS erfüllt alle Voraussetzungen, unter denen psychoedukative Interventionen als
sinnvoll zu erachten sind. Es handelt sich um eine Störung, die häufig bis in das
Erwachsenenalter
persistiert
und
dann
sowohl
mit
weiteren
psychischen
Beeinträchtigungen, als auch mannigfaltigen psychosozialen Folgen behaftet sein
kann. Gerade die psychosozialen Folgen der ADHS, wie Partnerschaftsprobleme,
geringes
Selbstwertgefühl,
Schwierigkeiten
am
Arbeitsplatz
oder
rechtliche
Probleme, sind beispielsweise einer rein pharmakologischen Behandlung kaum
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zugänglich und erfordern einen informierten Patienten, der sich aktiv am
Behandlungsprozess beteiligt. Darüber hinaus ist es notwendig, Patienten mit ADHS
bei der Modifikation dysfunktionaler Bewältigungsstrategien, etwa in Form von
Vermeidungsverhalten,
zwanghaft
anmutender
Kompensationsversuche
von
Organisationsdefiziten oder dem Gebrauch von Drogen, psychotherapeutisch zu
unterstützen.
Des
Weiteren
eignen
sich
insbesondere
psychoedukative
Interventionen im Gruppensetting, um Patienten mit ADHS im Erwachsenenalter zu
verdeutlichen, dass sie ihre Probleme mit anderen Betroffenen teilen und sie deshalb
nicht auf eine negative Art und Weise „einzigartig“ sind.
Ziele psychoedukativer Interventionen bei ADHS im Erwachsenenalter
Ziel psychoedukativer Interventionen ist es, den Patienten mit ADHS in die Lage zu
versetzen, „seine ADHS nicht nur als Gegenwind zu erleben, sondern auch als
Rückenwind zu nutzen“.
Information
Der Patient soll ausführlich über die Ätiologie, Symptomatik, Verlauf, Auswirkungen
und Behandlungsoptionen der ADHS, des Weiteren über ADHS assoziierte
Komorbiditäten und Folgeerkrankungen informiert werden.
Coping
Beim Patienten sollen Selbstmanagement- und Selbstregulations-Fertigkeiten
angestoßen und (re-)aktiviert werden, die ihm mehr Kontrolle über ADHS
ermöglichen und seine Selbstachtung und Lebenszufriedenheit vergrößern.
Compliance
Der Patient soll zu einer weiterführenden, kontinuierlichen und konsequenten
Behandlung
der
ADHS
und
eventuell
vorhandenen
Komorbiditäten
bzw.
Folgeerkrankungen motiviert werden.
Interaktion
Der Patient soll sich im Gespräch mit anderen Betroffenen emotional entlasten und
über bewährte Möglichkeiten der Alltags- oder Krankheitsbewältigung austauschen
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Tabelle1: Interventionsziele der psychoedukativen Gruppe für Patienten mit einer
ADHS im Erwachsenenalter (nach D’Amelio et al. 2008)
Aus Tabelle 1 ist ersichtlich, dass der Patient im Rahmen einer psychoedukativen
Intervention zunächst über die vorliegende Störung sowie die Vor- und Nachteile der
unterschiedlichen
Behandlungsmöglichkeiten
ausreichend
informiert
wird
(►
edukativer Anteil im Rahmen von Psychoedukation), damit er in Abstimmung mit
seinem Therapeuten, eine für ihn „passende“ Therapieentscheidung treffen kann.
Dies stellt sicher eine wesentliche Voraussetzung dar, um Therapie-Compliance und
Behandlungszufriedenheit
zu
erhöhen.
Außerdem
gilt
es
im
►
psychotherapeutischen Anteil von Psychoedukation, mit dem Patienten Fertigkeiten
und Strategien zu erarbeiten, die es ihm ermöglichen, trotz bzw. mit der ADHSSymptomatik seinen Alltagsaufgaben (besser) nachzukommen. Dazu müssen zum
einen „Problemfelder“ (problematische Alttagssituationen, Verhaltensweisen und
Einstellungen) identifiziert und analysiert werden. Zum anderen bedarf die
Generierung und Umsetzung von Lösungen, dass man sich seiner Stärken bewusst
wird. Sicherlich weisen Betroffene mit ADHS eine beträchtliche Anzahl von positiven
Eigenschaften und Kompetenzen auf, die es zur Umsetzung von Lösungen und zur
Führung eines zufrieden stellenden Lebens mit ADHS zu nutzen gilt. Da viele der
Patienten im Verlauf ihrer lebenslangen Auseinandersetzung mit ADHS bereits Wege
und Mittel gefunden haben, die ihnen die Bewältigung des Alltags mit der Erkrankung
erleichtern, gilt es diesen Erfahrungsschatz an hilfreichen Strategien und Techniken
untereinander auszutauschen, so dass Betroffene ihre Kompetenzen im Umgang mit
der ADHS (weiter) ausbauen können.
Tabelle 2 gibt beispielhaft einen Überblick über den Ablauf und die Inhalte eines
strukturierten
Therapieprogramms
zur
Psychoedukation
bei
ADHS
im
Erwachsenenalter (D’Amelio et al. 2008).
1
Kennenlernen und
Organisatorisches
2
Was ist ADHS und wie entsteht
ADHS?
Vorstellung der Teilnehmer
Organisatorisches und Terminabsprache
„Regeln für eine gute Zusammenarbeit“
Individuelle Therapieziele
ADHS-Wissenfragebogen
Symptome der ADHS
Neurobiologichen Grundlagen der ADHS
ADHS assoziierten Komorbiditäten
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3
Wie kann man ADHS behandeln? 4
Mein (soziales) Leben mit ADHS
5
Wie gehe ich mit mir um?
Selbstbild und Selbstwert
6
Von Chaos und Kontrolle –
(Selbst-) Organisation im Alltag
7
Stressmanagement
8
Stimmungsregulation und
Impulskontrolle
9
Selbstmodifikation von
problematischen Verhalten
10
Ausklang und Verabschiedung
Pharmakologische und psychologische
Behandlungsmöglichkeiten bei ADHS
Pharmakologische und psychologische
Behandlungsmöglichkeiten bei ADHS
assoziierten Komorbiditäten
Besonderes Potential von Menschen mit
ADHS
Problematische und Positive Anteile meiner
ADHS
ADHS in sozialen Interaktionen
Besprechung der Anteile der ADHS, die sozial
als problematisch erachtet werden
Wie gehe ich mit mir um? Der innere Trainer
Diskussion: Optimist oder Pessimist?
Individuelle Stärken und Kompetenzen
Chaosstifter & Ordnungshalter
Strategien und Techniken zur
Alltagsstrukturierung
„Jäger und Farmer“ Metapher
psycho-somatische Grundlagen von Stress
und Stressreaktion
Externe und Interne Stressoren
Methoden zur Stress-Prophylaxe, Management und -Regeneration
Der Stimmungsbarometer
(Mehr) Selbstkontrolle bei Wut und Ärger
Stimmungsregulierende Maßnahmen
Grundlagen der Selbstmodifikation
Schema zur Analyse und zur Veränderung von
problematischem Verhalten
Subjektive Akzeptanz der ADHS spezifischen
Medikation
Rückblick und Würdigung
Vereinbarung des 1. Nachtreffens
Evtl. Überführung in eine Selbsthilfegruppe
Durchführung des ADHS-Wissensfragebogens
Verabschiedung der Teilnehmer
Tabelle 2: Überblick über die Themenschwerpunkte der Sitzungen 1 bis 10 der
psychoedukativen Gruppe für Patienten mit ADHS im Erwachsenenalter (D’Amelio et
al. 2008)
Welche Ergebnisse liegen bislang über psychoedukative Interventionen bei
ADHS im Erwachsenalter vor?
Die Wirksamkeit psychoedukativer Interventionen wurde bislang noch nicht in
entsprechend konzipierten Studien ausreichend belegt. Dies liegt unter anderem
darin
begründet,
dass
eine
wissenschaftliche
Auseinandersetzung
mit
psychoedukativen Interventionen bei Erwachsenen mit ADHS erst in der jüngeren
Vergangenheit begonnen hat und bis vor kurzem noch kein strukturiertes und
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manualisiertes psychoedukatives Behandlungsprogramm zur Verfügung stand. Zwar
beinhalten alle bislang erschienenen störungsspezifischen Therapieprogramme bei
ADHS im Erwachsenenalter auch edukative Elemente, verbinden diese jedoch
beispielsweise mit dialektisch-behavioralen („Freiburger Konzept“, Hesslinger et al.
2004, Philipsen 2007) oder kognitiv-verhaltenstherapeutischen Techniken (Safran et
al. 2005, Ramsay & Rostain 2008). Die wenigen verfügbaren Untersuchungen zur
Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren bei adulter ADHS können daher nur
sehr
eingeschränkt
dazu
verwendet
werden,
um
die
Wirksamkeit
von
psychoedukativen Interventionen bei ADHS abzuschätzen (Rösler et al. 2008). Im
Hinblick auf Psychoedukation kann auch nicht auf Erfahrungen bei Kindern und
Jugendlichen zurückgegriffen werden, da diese Art der therapeutischen Intervention
bei jungen Patienten, die noch nicht über die erforderlichen kognitiven und
introspektiven Fähigkeiten verfügen, nicht zur Anwendung kommt.
Ausblick und Fazit
Orientiert man sich an den deutschen Leitlinien zur Behandlung von ADHS im
Erwachsenenalter, so wird analog zur Behandlung der Störung bei Kindern und
Jugendlichen auch bei der adulten ADHS die Kombination medikamentöser und
psychotherapeutischer Ansätze empfohlen. Diese Vorgehensweise berücksichtigt die
Tatsache, dass ADHS eine komplexe Störung darstellt, die mit verschiedenen
Problemen auf einer biologischen, psychologischen und sozialen Ebene einhergeht.
Dementsprechend muss davon ausgegangen werden, dass sich das Ergebnis der
Behandlung durch die gleichzeitige oder sequentielle Anwendung unterschiedlicher
Therapieansätze optimieren lässt. Insofern ist Psychoedukation als ein wichtiger
Baustein in der Therapie der adulten ADHS zu betrachten, der gemeinsam mit
weiteren Behandlungselementen zum Einsatz kommen sollte. Dies umso mehr, als
dass Psychoedukation adaptiv ist und sich den Gegebenheiten vor Ort anpasst, d.h.
in einem ambulanten, wie auch teilstationären oder stationären Umfeld umsetzen
lässt. In diesem Sinne kann Psychoedukation bei ADHS im Erwachsenenalter als
Instrument zur psychotherapeutischen „Basisversorgung“ (i.S. eines „stepped care“)
aufgefasst werden, das sich bei Bedarf mit den anderen Bausteinen einer
multimodalen störungsspezifischen Therapie kombinieren lässt.
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D’Amelio R, Retz W, Rösler M (2009) Psychoedukation bei ADHS im Erwachsenenalter.
ADHS Report, Ausgabe 34 (10): 4 – 7
Literatur:
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Zum Weiterlesen:
Behrendt
B
&
Schaub
A
(2005)
Handbuch
Psychoedukation
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Selbstmanagement. Verhaltenstherapeutische Ansätze für die klinische Praxis.
Tübingen: DGVT-Verlag
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