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PATIENTEN UND ... DIABETES
Diabetes – die übersehene Bedrohung
Fünf Millionen Menschen leiden in Deutschland an Typ 2 Diabetes. Ohne es zu wissen. Dabei
gibt es Warnzeichen, die nur in der Zahnarztpraxis wahrgenommen werden können. Haben
Sie Interesse, Ihre Patienten vor Blindheit, Dialyse und Amputation zu bewahren?
Petra Keßler
freie Journalistin und Zahnärztin, Kiel
T
yp 2 Diabetes ist eine Zivilisationskrankheit, ausgelöst durch zu viel Essen und zu wenig Bewegung. Im
Mittelalter hatten diese erworbene Zuckerkrankheit
nur die Mönche in ihren wohlhabenden Klöstern. Die
nicht-kirchliche Bevölkerung vor den Mauern hatte
eher die Sorge, nicht zu verhungern. Die Hälfte der 10
Millionen erkrankten Menschen in Deutschland heute
wissen noch nicht einmal, dass ihre Bauchspeicheldrüse nicht
mehr genügend Insulin produziert. Bei vielen Patienten wird die
Krankheit erst diagnostiziert, wenn das Herz, die Nieren oder die
Augen bereits beträchtlich geschädigt sind.
Eine schwer zu behandelnde Parodontitis oder ein unangenehmes
Mundbrennen können frühzeitige Anzeichen für einen Diabe-
Wir in der Praxis -- Ausgabe 04 -- Juli 2017
tes Typ 2 sein. Doch der Diabetes spielt in der zahnärztlichen
Ausbildung keine wirklich große Rolle. Hinzukommt, dass der
therapeutische Fokus der Diabetologen auf Körperteilen liegt,
die lebenswichtiger sind (Herz) oder mehr weh tun (Füße). Wir
haben deshalb Prof. Tom Beikler von der Sektion für Parodontologie und Dr. Sabine Kahl vom Deutschen Diabetes Zentrum in
Düsseldorf um ein dentales Update in Sachen Zuckerkrankheit
gebeten.
Wir in der Praxis: Dr. Kahl, worauf muss ich bei Diabetikern
achten?
Dr. Sabine Kahl: Patienten mit bereits bekanntem Diabetes
sollten bereits bei der Anamnese identifiziert werden. Die Art
der Therapie, also entweder mit Tabletten oder Insulin oder nur
Praxis
durch Ernährung, muss festgestellt sowie Art und Häufigkeit der
Unterzuckerung (Hypoglykämie) erfragt werden.
WidP: Wie äußert sich eine lebensgefährliche Unterzuckerung?
Kahl: Durch Unruhe, Zittern und Kaltschweißigkeit. Der Patient
kann auch verwirrt wirken. Insbesondere bei älteren Patienten ist
es wichtig, dann an den Blutzucker zu denken. Wenn man den
Verdacht hat, schadet es nicht, dem Patienten ein zuckerhaltiges
Getränk wie z.B. ein kleines Glas Apfelsaft zu geben. Eine Überzuckerung ist auf Dauer nicht gut, aber eine Unterzuckerung ist
ein akut lebensbedrohlicher Zustand.
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WidP: Prof. Beikler, warum ist eine Unterzuckerung lebensbedrohlich?
Prof. Thomas Beikler: Bei einer starken Unterzuckerung fehlt
den Körperzellen die Energie zum Arbeiten. Sie stellen ihre Tätigkeit ein. Das ist natürlich mit dem Leben nicht vereinbar, besonders dann, wenn es Gehirn- und Herzzellen betrifft. Die Folge
ist der Tod des Menschen. Es empfiehlt sich deshalb bei einem
länger dauernden Eingriff, dass der Patient sein Blutzuckermess-
Mit einem Blutstropfen kann innerhalb von 5 Sekunden festgestellt
werden, ob der Patient sich in Lebensgefahr befindet.
gerät dabei hat. Dann kann mit einem kleinen Tropfen Blut aus
dem Finger zwischendurch immer wieder abgeklärt werden, ob
der Blutzucker dabei ist, unter die bedrohlich niedrige Marke
von 60 mg/dl zu rutschen. In diesem Fall ist es angeraten, dem
Patienten z.B. Zucker in Wasser gelöst zu geben. Das kann unter
Umständen lebenserhaltend sein.
WidP: Dr. Kahl, was muss ich über Diabetes-Medikamente wissen?
Kahl: Diabetes-Tabletten mit der Wirkstoffgruppe Sulfonylharnstoff (z.B. Glimepirid®, Glibenclamid®) oder Glinid (z.B. Repaglinid®) bergen eine Hypoglykämie-Gefahr. Sie stimulieren beide die
Insulinproduktion in der Bauchspeicheldrüse, allerdings unabhängig vom Blutzuckerspiegel. Das heißt: Selbst wenn der Blutzuckerspiegel niedrig ist, weil die Person länger nichts gegessen
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hat, wird der Körper durch die Wirkung der Tabletten weiter
vermehrt Insulin produzieren und dadurch den Blutzuckerspiegel
senken. Besonders die Wirkung der Sulfonylharnstoffe kann bis
zu zwei Tage lang anhalten. Wenn Sie jetzt einen älteren Patienten
haben, der vor einer Extraktion länger gewartet hat und danach
für mehrere Stunden nichts isst, kann der Patient dadurch in eine
Unterzuckerungssituation hineingeraten.
Im Zweifelsfall sollten Sie z.B. mit dem behandelnden Diabetologen vorher abklären, ob man die Medikamentendosis für diesen
Tag nicht besser reduziert oder pausiert.
WidP: Was sind praktische Tipps für eine erfolgreiche Behandlung
von Diabetikern?
Kahl: Generell empfiehlt es sich, Diabetiker morgens zu behandeln, weil dann die Insulin-Empfindlichkeit des Körpers am geringsten und damit das Risiko, durch ein Absinken des Blutzuckerspiegels in eine Unterzuckerungssituation zu rutschen, am
niedrigsten ist. Sie sollten den Patienten auch darauf hinweisen,
dass er vorher normal frühstückt und seine Ernährung auch nach
dem Eingriff möglichst wenig verändert. Was z.B. schwer zu kauen ist, kann dann beispielsweise lieber püriert werden. Ziel ist es,
dass der Energiegehalt der Nahrung ungefähr derselbe bleibt und
auch die Nährstoffzusammensetzung, damit der Blutzuckerspiegel konstant im therapeutischen Bereich bleibt.
WidP: Warum funktioniert eine erfolgreiche Parodontitisbehandlung nur mit guten Blutzuckerwerten?
Kahl: Bei einer langfristig schlechten Blutzuckereinstellung
entstehen verstärkt schädliche Stoffwechselprodukte, die sogenannten Advanced Glycation Endproducts (AGEs). Sie führen
zu einer vermehrten Freisetzung von Entzündungsbotenstoffen
aus den Immunzellen. Dadurch werden bestehende Entzündungssituationen wie eine Parodontitis weiter verschlimmert.
Parallel dazu kommt es zu einer Schädigung der Innenwände
der Blutgefäße, was zu deren Verdickung führt einhergehend
mit einem Funktionsverlust der Gefäßwände (diabetische Angiopathie). Die Sauerstoffversorgung des dazugehörigen Gewebes wie z.B. des Parodonts wird dadurch schlechter, der
Abtransport von giftigen Stoffwechselendprodukten weniger
und auch die Abwehrfunktion der Immunzellen beeinträchtigt.
Zusätzlich ist die Infektabwehr durch die hohen Blutzuckerwerte geschwächt.
Erschwerend kommt hinzu, dass eine Entzündung wie die Parodontitis die Entzündungswerte im Körper erhöht, was wieder
den Blutzuckerspiegel ansteigen lässt. Diesen Teufelskreis muss
man unterbrechen. Eine gute Parodontitisbehandlung kann den
Blutzuckerspiegel-Langzeitwert, den HbA1c, bis zu einem halben
Prozentpunkt senken, was schon recht viel ist. Insgesamt gilt:
Spätestens wenn der HbA1c Werte von 9% und mehr erreicht,
ist sowohl die Anfälligkeit für Infekte deutlich gesteigert als auch
die Wundheilung erschwert.
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WidP: Warum wird der HbA1c-Wert auch das Blutzuckergedächtnis genannt?
Kahl: Weil er Rückschluss über die Blutzuckerwerte der letzten
acht bis zwölf Wochen gibt. Er sollte generell um die 6,5% oder
tiefer liegen. Allerdings hat sich bei älteren Personen mit Diabetes gezeigt, dass es günstiger sein kann, wenn der HbA1c nur
unter 7% liegt, also nicht viel weiter gesenkt wird. Denn je tiefer
man den Blutzucker einstellt, desto häufiger treten natürlich auch
Unterzuckerungen auf.
WidP: Prof. Beikler, worauf muss ich bei der zahnärztlichen Behandlung eines Diabetikers achten?
Beikler: Das Adrenalin im Lokalanästhetikum sorgt für eine
Verengung der Blutgefäße, was den Abbau des Betäubungsmittels verlangsamt und damit die Tiefe und Dauer der Anästhesie
erhöht. Beim Diabetiker ist diese Wirkung aber nicht unproblematisch:
Der gefäßverengende Effekt des Adrenalins trifft auf das durch
die diabetische Angiopathie bereits vorgeschädigte Herz-Kreislaufsystem und verursacht dort einen belastenden Anstieg des
Herzschlags und Blutdrucks. Deshalb ein Lokalanästhetikum
ohne Vasokonstringenszusatz, also ohne Adrenalin bzw. Epinephrin, zu verwenden, ist trotzdem keine empfehlenswerte Idee.
Jeder, der schon einmal einen Diabetiker operiert hat, weiß, dass
er typischerweise stärker blutet, weil die Reaktionsfähigkeit der
Gefäße schlecht ist: Selbst die Wände der kleinen Blutgefäße sind
meist so verdickt, dass sie kaum kontrahieren.
Durch den Verzicht von Adrenalin wird jedoch nicht nur die
Blutung deutlich stärker, die Betäubungswirkung wird auch noch
spürbar verringert. Der Patient hat unter der Behandlung eher
Schmerzen und damit Stress, was dann zur unkontrollierten,
verstärkten körpereigenen Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin mit all seinen negativen Auswirkungen auf das HerzKreislaufsystems führt.
Deshalb nehme ich bei chirurgischen Eingriffen lieber ein Lokalanästhetikum mit Adrenalinzusatz im Verhältnis 1:200.000, wobei
ich aber die Hälfte der zulässigen Gesamtdosis nicht überschreite.
Bei Diabetikern mit bekannter kardiovaskulärer Vorgeschichte
wie z.B. einem Herzinfarkt empfiehlt es sich allerdings, den Einsatz von Lokalanästhetika mit Vasokonstringenszusatz vorher
beispielsweise mit dem behandelnden Kardiologen zu besprechen
und gegebenenfalls weniger belastende Verfahren der Schmerzausschaltung wie z.B. eine Lachgasanästhesie zu verwenden.
WidP: Was sind Warnzeichen im Mund für einen unerkannten
Diabetes?
Beikler: Dazu gehört die Neigung zu einer Gingivitis bei Kindern
oder eine schwer in den Griff zu bekommende Parodontitis bei
erwachsenen Patienten um die 40 plus. Das kann aber auch z.B.
eine Pilzinfektion im Mundraum sein, die ein Hinweis auf eine
gestörte Immunabwehr ist und somit wieder auf einen Diabetes.
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Ansonsten können Leukoplakien auf der Wangenschleimhaut
und ein Mundbrennen auf einen gefährlich veränderten Blutzuckerspiegel hinweisen.
WidP: Was ist die Ursache für das diabetische Mundbrennen?
Beikler: Es ist vermutlich die orale Symptomatik der sogenannten
diabetischen Polyneuropathie, also der Schädigung des gesamten
Nervensystems durch die hohen Blutzuckerwerte. Verstärkt wird
diese Missempfindung oft noch durch eine begleitende Mundtrockenheit, die sogenannte Xerostomie. Sie wird u.a. ausgelöst
durch die Schädigung der neuronalen Steuerung der Speicheldrüsen. Zusätzlich kommt es bei einer Überzuckerung des Körpers zu einer verstärkten Flüssigkeitssausscheidung: Der Körper
versucht, den schädlichen Zucker über eine verstärkte Urinproduktion loszuwerden
WidP: Was hilft gegen die diabetische Mundtrockenheit?
Beikler: Eiswürfel haben eine anästhesierende Wirkung und
bringen gleichzeitig ein bisschen Flüssigkeit in den Mund. Zudem kann durch ihre schmerzlindernde Wirkung eine negative
Schmerzprogrammierung des Gehirns auf den Mund unterbunden werden.
Eiswürfel sind tatsächlich auch eine lebensverbessernde Empfehlung für Patienten, die eine Chemotherapie bekommen. Gute
Krebstherapeuten achten zwar mittlerweile darauf, Hände und
Füße in Eishandschuhe und -strümpfe zu stecken, um die Durchblutung und damit die nervenzerstörende Wirkung eines intravenös verabreichten Chemotherapeutikums zu mindern. Aber an
den Mund denken die meisten nicht. Durch die Eiswürfel kann
einer extrem schmerzhaften Entzündung der Mundschleimhäute,
einer Mukositis, vorgebeugt werden.
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Interviewpartner
Prof. Thomas Beikler
Sektion für Parodontologie des Universitätsklinikums
Düsseldorf, Düsseldorf
[email protected]
Interviewpartner
Dr. Sabine Kahl
Institut für klinische Diabetologie, Deutsches Diabetes
Zentrum Düsseldorf
[email protected]
Wir danken dem deutschen Zentrum für Diabetesforschung für seine freundliche
Unterstützung.
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