Primäres Myxödem und Niereninsuffizienz

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D E R B E S O N D E R E FA L L
Schweiz Med Forum 2004;4:60–61
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Primäres Myxödem und Niereninsuffizienz
Marius Wipfli, Ursula Niederer
Abteilung für Nephrologie, Regionalspital Emmental-Burgdorf
Eine 42jährige adipöse Patientin (BMI 52 kg/m2)
wird uns von der Hausärztin zur Abklärung einer
neu aufgetretenen Niereninsuffizienz (Kreatinin
114 µmol/l, Kreatinin-Clearance 57 ml/min) und
einer zunehmenden Ödembildung in die ambulante nephrologische Sprechstunde zugewiesen.
Anamnestisch besteht eine verminderte körperliche Leistungsfähigkeit, eine zunehmende Lethargie sowie Apathie und eine proximal betonte
Muskelschwäche bei Anstrengung. Zudem diagnostiziert die Hausärztin neu eine vor allem
diastolisch betonte, arterielle Hypertonie. Wegen
einer progredienten Gewichtszunahme wurde
vor wenigen Monaten das TSH bestimmt, welches normal war (TSH 3,35 mU/l, Normwert:
0,35–5,50 mU/l, freies T4 10,4 pmol/l, Normwert: 10,0–20,0 pmol/l).
Die klinische Untersuchung ergab ein generalisiertes Ödem im Gesichtsbereich (periorbital),
dorsal an Händen und Füssen und prätibial. Eine
Dellenbildung prätibial war initial möglich, im
Verlauf wurde die Haut aber teigig und war gespannt. Der Blutdruck war v.a. diastolisch deutlich erhöht, der Puls normokard. Die rohe Kraft
war normal, die Muskeleigenreflexe waren symmetrisch und bis auf den ASR gut auslösbar.
Das Labor zeigte erhöhte Werte von Kreatinin
109 µmol/l; LDH 578 U/I; CK 1314 U/l; CK-MB
27 U/l, Cholesterin total 10,7 mmol/l (LDL 7,3
mmol/l, TG 4,6 mmol/l). Das Blutbild, CRP und
die Elektrolyte waren normal. Auf eine TSH-Bestimmung wurde vorerst wegen einer normalen
Schilddrüsen-Stoffwechsellage bei der Hausärztin vor 10 Monaten (siehe oben) verzichtet.
Die Abklärung der Niereninsuffizienz mit erneuter 24-Stunden-Urinsammlung ergab eine
leichte Niereninsuffizienz (Kreatinin-Clearance
74 ml/min/1,73 m2 Körperoberfläche, Serumkreatinin 109 µmol/l) bei geringgradiger Proteinurie (0,55 g/24 h) und einer Mikrohämaturie
ohne dysmorphe Erythrozyten oder Erythrozytenzylinder. Die Sonographie zeigte eine normale
Grösse und Parenchymbeschaffenheit beider
Nieren.
Die Abklärung der vermehrten Tagesmüdigkeit
und der arteriellen Hypertonie ergab ein schweres obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (OSAS)
mit einem Apnoe-Hypopnoe-Index von knapp 50
pro Stunde. In der Folge wurde eine nächtliche
CPAP-Therapie («continuous positive airway
pressure») eingeleitet. Weitere Ursachen für eine
sekundäre arterielle Hypertonie (Phäochromozytom, primärer Hyperaldosteronismus, M. Cushing) wurden ausgeschlossen.
Der weitere Verlauf war geprägt von einer progredienten Leistungsintoleranz mit generalisierten Ödemen, vor allem im Gesichtsbereich, was
die Patientin als «aufgedunsen» beschrieb. Man
stellte eine zunehmende teigige Schwellung der
Hände und Füsse und prätibial fest, die schliesslich zur klinischen Diagnose Myxödem führte.
Die erneute Bestimmung des TSH-Wertes (122
mU/l bei einem Normwert von 0,20–3,70 mU/l;
freies T3 1,9 pmol/l bei einem Normwert von
4,0–9,5 pmol/l; freies T4 2,8 pmol/l bei einem
Normwert von 9,0–25,0 pmol/l) bestätigte die
klinische Verdachtsdiagnose einer Hypothyreose. In den weiteren Abklärungen fand man
sonographisch eine normale Struktur und Grösse
der Schilddrüse, die Tyroidalen-PeroxidaseAntikörper (TPO-AK) und die Thyreoglobulin-AK
(Tg-AK) waren normal, hingegen lagen die TSHRezeptor-Autoantikörper (TSI) bei 18,3 U/l (<1,0
U/l) deutlich über dem vom Labor angegebenen
Normbereich. Aufgrund dieser Befunde wird die
Diagnose M. Basedow mit inhibierenden TSHRezeptor-AK (primäres Myxödem) gestellt. Sie
ist neben der postablativen Hypothyreose eine
häufige Variante einer Schilddrüsenunterfunktion bei Erwachsenen. Häufiger werden Frauen
als Männer befallen, meistens im Alter von 40 bis
60 Jahren. Typischerweise findet man im Labor
ein hohes TSH und ein tiefes fT4, Autoantikörper (TPO-AK und Tg-AK) werden in ca. 80% der
Fälle festgestellt, diese führen wahrscheinlich
über Jahre zu einer Destruktion des Schilddrüsenparenchyms. In einigen Fällen wurden blokkierende TSH-Rezeptor-Antikörper gefunden,
welche die Bindung von TSH am Rezeptor blokkieren und zur Hypothyreose ohne Strumabildung führen. Solche blockierende Autoantikörper können in 10 bis 20% der Patienten mit primärem Myxödem gefunden werden [1, 2]. Des
weiteren ist erwähnenswert, dass die Höhe des
TSH bei einer schweren manifesten Hypothyreose nichts über den klinisch metabolischen
Schweregrad der Hormondefizienz aussagt. Zur
Beurteilung dieses Schweregrades sind die peripheren Hormone (freies T3, T4) besser geeignet,
welche bei dieser Patientin auch stark erniedrigt
waren [3].
Die Ätiologie der Niereninsuffizienz bei unserer
Patientin, welche am Anfang unklar war, wird
ebenfalls durch die Hypothyreose erklärt: Die
schwere, primäre Hypothyreose ist eine seltene
Ursache der Niereninsuffizienz, die im klinischen Alltag nur selten beobachtet und häufig
nur eine geringgradige Niereninsuffizienz be-
D E R B E S O N D E R E FA L L
Korrespondenz:
Dr. med. Marius Wipfli
Militärstrasse 14
CH-3014 Bern
[email protected]
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wirkt. Sie führt, wie bei unserer Patientin, zu
einem leicht erhöhten Serumkreatinin und zu
einer Abnahme der Kreatinin-Clearance. Je
schwerer die Niereninsuffizienz ist, desto häufiger werden Elektrolytstörungen, typischerweise
eine Hyponatriämie, festgestellt [4]. Thyreoidale
Hormone beeinflussen sowohl das Wachstum als
auch die Entwicklung der Niere, der Mangel an
Thyroxin führt zu einer Abnahme des renalen
Plasmaflusses und der glomerulären Filtrationsrate (GFR) [5]. Ebenfalls kann eine Hypothyreose
eine tubuläre Funktionsstörung verursachen, die
sowohl die proximale als auch die distale tubuläre Natriumreabsorption beeinträchtigt, welche
von der chronischen Niereninsuffizienz nicht zu
unterscheiden ist [6]. Alle diese Störungen konnten jeweils unter der Therapie mit L-Thyroxin
innerhalb weniger Wochen bis Monate vollständig korrigiert werden [7]. Dies war auch bei unserer Patientin der Fall: Unter der Therapie mit
L-Thyroxin normalisierte sich im Verlauf das
Kreatinin vollständig.
Bei unserer Patientin ist das schwere obstruktive
Schlafapnoe-Syndrom wahrscheinlich ebenfalls
auf die schwere Hypothyreose zurückzuführen.
Die Inzidenz des OSAS bei Patienten mit einer
Hypothyreose ist deutlich erhöht, häufig führt
eine Thyroxin-Substitutionstherapie zu einem
Verschwinden der Apnoephasen, sobald das
euthyreote Stadium erreicht wird.
Weitere Befunde unserer Patientin können im
Zusammenhang mit der schweren Hypothyreose
erklärt werden: Die arterielle Hypertonie, besonders der erhöhte diastolische Blutdruck, wird
in ca. 10 bis 20% der Patienten mit einer Hypothyreose gefunden. Sie ist die häufigste Ursache
einer endokrinen Hypertonie und führt, speziell
bei jungen Patienten, unter Thyroxin, zu einer
substantiellen Reduktion des Bluthochdruckes.
Die primäre Hypothyreose führt ebenfalls zu
einer Fettstoffwechselstörung, typischerweise
wird, wie bei unserer Patientin, eine Hypercholesterinämie mit erhöhten LDL und Triglyzeriden
bei einem erniedrigten HDL gefunden. Ebenfalls
kann die proximal betonte Muskelschwäche und
die erhöhte CK sowie LDH mit der Hypothyreose
erklärt werden.
Die Therapie der Hypothyreose mit Levothyroxin wird üblicherweise einmal täglich verabreicht. Die Halbwertszeit von L-Thyroxin beträgt
7 Tage, so dass die vollständige biologische Wirkung von L-Thyroxin erst ca. 4 bis 6 Wochen
nach Therapiebeginn erreicht wird. Die Dosierung befindet sich zwischen 1,4 bis 1,7 µg/kg KG/
Tag, sie ist abhängig vom Schweregrad der Hypothyreose, dem Alter und dem Gesundheitszustand des Patienten. Die Dosisanpassung richtet
sich nach dem TSH-Wert, welcher in spätestens
drei Monaten im Normbereich liegen sollte. Für
das weitere Monitoring werden mindestens jährliche TSH-Bestimmungen empfohlen.
Dieser Fall illustriert einerseits die Wichtigkeit
des klinischen Blickes bei der Beurteilung von
Ödemen, wobei die Differentialdiagnose Myxödem nie fehlen darf. Andererseits kommt deutlich zum Vorschein, dass es sich im klinischen
Alltag lohnt, gewisse im Widerspruch zur Klinik
stehende Laborwerte nachzuprüfen und/oder
anzuzweifeln. In diesem Fall führte die erneute
Bestimmung des TSH-Wertes zur Diagnose der
Hypothyreose und somit zur Erklärung sämtlicher Symptome und Befunde der Patientin.
Literatur
5 Katz AI, Emmanouel DS, Lindenheimer MD. Thyroid hormone and the kidney. Nephron 1975;15:223–49.
6 Allon M, Harrow A, Pasque CB, Rodrigues M. Renal sodium
and water handling in hypothyroid patients: the role of renal
insufficiency. J Am Soc Nephrol 1990;1:205–10.
7 Mooraki A, Bastani B. Reversible renal insufficiency, hyperuricemia and gouty arthritis in a case of hypothyroidism. Clin
Nephrol 1998;49:59–61.
1 Williams Textbook of Endocrinology, 9th Edition.
2 Junji K, Yasuhiro I, Kanji K, Takashi M, Tetsuo N, Keigo E, et
al. Primary myxedema with thyrotrophin-binding inhibitor
immunoglobulins. Ann Intern Med 1985;103:26–31.
3 Meier C, Trittibach P, Guglielmetti M, Staub JJ, Müller B.
Serum thyroid stimulating hormone in assessment of severity of tissue hypothyroidism in patients with overt primary
thyroid failure: cross sectional survey. BMJ 2003;326:311–2.
4 Montenegro J, Gonzalez O, Saracho R, Aguirre R, Gonzalez
O, Martinez I. Changes in renal function in primary hypothyroidism. Am J Kidney Dis 1996; 27:195–8.
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