„Eine Art der Kritik der Patienten“

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ABBRÜCHE IN DER PSYCHOTHERAPIE
„Eine Art der Kritik der Patienten“
Die Gründe für den Abbruch einer Psychotherapie sind vielfältig. Psychotherapeuten sollten Abbrüche zwar hinnehmen und sich dennoch stets darum bemühen, die Ursachen dafür zu ergründen
und daraus zu lernen.
ie beste Psychotherapie hilft
nichts, wenn sie vorzeitig abgebrochen wird. Dennoch scheidet
einer von fünf Patienten (und mehr)
aus einer Psychotherapie aus, bevor
sie regulär zu Ende geführt werden
konnte. Laut verschiedenen aktuellen Studien sind Therapieabbrecher
in der Regel jung und/oder verfügen
über ein geringes Einkommen. Sie
geben eine Behandlung hauptsächlich dann vorzeitig auf, wenn die
Psychotherapie lange dauert und
das Geld knapp wird oder wenn die
Versicherung die Behandlung nicht
(mehr) zahlt. Patienten scheiden
auch aus, wenn sie mehr von der
Psychotherapie erwartet haben, vor
allem dass sie in kurzer Zeit große
Erfolge erzielen. Erfüllen sich solche Erwartungen nicht und werden
die erzielten Fortschritte als zu gering empfunden, sind die Patienten
enttäuscht und empfinden die Psychotherapie als erfolg- und wertlos.
Darüber hinaus spielen auch organisatorische Gründe eine Rolle. Eine
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Psychotherapie kann für Patienten
auf Dauer unattraktiv werden, wenn
sie zum Beispiel dafür weite Wege
in Kauf nehmen, stets eine Kinderbetreuung suchen oder Urlaub nehmen müssen.
Stigmatisierung von Therapie
In diesem Zusammenhang werden
auch ambulante Psychotherapien
eher abgebrochen als stationäre, weil
die Teilnahme an ambulanten Behandlungsformen häufig größere Eigeninitiative und höheren organisatorischen Aufwand von den Patienten
erfordern. Zudem kann die soziale
Stigmatisierung von Psychotherapie
und Psychotherapiepatienten dazu
beitragen, dass eine Behandlung seitens der Patienten aufgegeben wird.
Nicht selten sind es zudem Differenzen zwischen Psychotherapeut und
Patient in der Auffassung darüber,
was in welcher Weise, in welchen
Zeiträumen und mit welchen Zielen
behandelt werden soll, die einige Patienten zum Ausstieg bewegen.
Es kommt auch vor, dass Patienten den Psychotherapeuten oder die
Therapieform für ungeeignet halten,
um ihnen zu helfen. Sie bemängeln
beispielsweise die aus ihrer Sicht
fehlende Passung zwischen Patient
und Therapeut und können keine
Bindung, kein Vertrauensverhältnis
und kein tragfähiges Arbeitsbündnis
zum Therapeuten aufbauen. Darüber
hinaus fühlen sich manche Patienten
von bestimmten Methoden und Therapieelementen überfordert, beispielsweise von Exposure, vom
Sprechen über unangenehme Erlebnisse und Erinnerungen, vom Wiedererleben negativer Gefühle, von
der Konfrontation mit Traumata und
Verdrängtem oder von therapeutischen Hausaufgaben, so dass sie die
Behandlung aufgeben, bevor solche
Methoden Wirkung zeigen können.
Des Weiteren neigen Patienten mit
relativ geringem Leidensdruck eher
dazu, aus einer Psychotherapie vorzeitig auszusteigen als Patienten mit
ausgeprägten Symptomen. Hier
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 3 | März 2016
THEMEN DER ZEIT
spielt gelegentlich auch der sekundäre Krankheitsgewinn eine Rolle,
der Patienten umso eher zum Therapieabbruch verleitet, je höher er ausfällt. Schließlich sind es auch bestimmte Krankheiten, allen voran
Depressionen, aber auch Sucht- und
Abhängigkeitserkrankungen sowie
Ängste und Essstörungen, die Patienten aufgrund der Symptomatik
daran hindern, eine Psychotherapie
bis zum Ende fortzuführen.
Die Folgen eines Therapieabbruchs für den Patienten bestehen
darin, dass er von einer wirksamen
Heilmethode nicht in vollem Umfang profitieren kann. Die Symptome seiner psychischen Erkrankung
werden wahrscheinlich bestehen
bleiben und sich eventuell weiter
verstärken. Der Patient wird weiterhin unter seiner psychischen Erkrankung und den damit einhergehenden
Einschränkungen und Funktionseinbußen, einer verringerten Lebensqualität und einem geminderten
Wohlbefinden leiden. Er wird möglicherweise komorbide psychische
Erkrankungen entwickeln und weitere Behandlungen mit entsprechendem finanziellen und zeitlichen Aufwand durchführen müssen.
Einbußen und Selbstzweifel
Für die Gesellschaft und die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten bedeuten Therapieabbrüche
einen Kostenaufwand, der nicht
zum gewünschten Ziel führt. Sie
stellen eine finanzielle Investition
und Belastung dar, die jedoch nicht
dazu beiträgt, das Ausmaß der psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung und die damit einhergehenden Einbußen wie Arbeitsausfälle, Krankschreibungen, Frühberentungen sowie die erhöhte Inanspruchnahme des Gesundheitssystems nachhaltig zu senken.
Für Psychotherapeuten gehen
Therapieabbrüche mit finanziellen
Einbußen, vielen Fragen und
Selbstzweifeln einher. So berichtet
beispielsweise der niedergelassene
klinische Psychologe und Psychotherapeut Ryan Howes, der in Pasadena (Kalifornien, USA) eine psychotherapeutische Praxis betreibt,
dass sich immer wieder einmal Patienten „in Luft auflösen“, obwohl
Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 3 | März 2016
er zuvor den Eindruck hatte, dass
die Psychotherapie gut lief und es
keine Spannungen zwischen ihm
und den Patienten gab. Die Patienten verschwanden ohne Vorwarnung von einem Tag auf den anderen und waren auch nicht mehr zu
erreichen – sie reagierten weder auf
Telefonanrufe noch auf E-Mails
oder andere Kontaktversuche.
Howes blieb stets ratlos zurück und
begann zu grübeln. Warum hat der
Patient die Psychotherapie plötzlich
abgebrochen? Lag es an ihm als
Therapeut? Hatte er etwas übersehen? Hatte er etwas falsch gemacht? Darüber nachzudenken
führte laut Howes zu keinem Ergebnis, solange der Patient ihm keine Rückmeldung gab und die Gründe für den Abbruch nannte.
Für Howes war dieses Nichtwissen besonders unbefriedigend und
auch quälend, denn so wie er suchen
viele Therapeuten zunächst die
Schuld bei sich, obwohl die Gründe
des Patienten für den Abbruch vielleicht ganz andere waren. Neben der
zermürbenden Schuldsuche bedauerte Howes auch, einen Patienten
verloren zu haben, denn schließlich
hat er sich während der Psychotherapie um ihn bemüht und war auch
als Privatperson besorgt um ihn. Er
fühlte sich dem Patienten verpflichtet und verbunden und es ließ ihm
keine Ruhe, wenn ein Patient plötz-
tieren und anstrengen will. Er spricht
darüber aber nicht mit dem Therapeuten, weil es ihm unangenehm ist,
Fragen zu beantworten, Gefühle zu
zeigen und dabei dem Therapeuten
in die Augen zu schauen. Es ist für
ihn einfacher und bequemer, sich
einfach zu „verdrücken“.
Eine Art von Flucht
Ein weiterer Grund für Patienten,
sich zurückzuziehen und den Kontakt zum Therapeuten abzubrechen,
besteht darin, dass sie keine Abschiede mögen. So mancher Patient
sieht das Ende einer Psychotherapie
vielleicht schon kommen und will
sich dem obligatorischen Schlussgespräch oder sentimentalen Gefühlen beim Abschiednehmen nicht
stellen. Da zieht er lieber vorher die
„Reißleine“.
„Ein Therapieabbruch ist eine
Art Kritik des Patienten“, meint
Howes. Irgendetwas hat in der Behandlung für den Patienten nicht
gestimmt, so dass er diesen Ausweg
gewählt hat. Howes findet ihn jedoch nicht konstruktiv, sondern appelliert an Patienten, die an einen
heimlichen Ausstieg aus einer Psychotherapie denken, zumindest mit
dem Therapeuten vorher zu sprechen oder vielleicht auch noch eine
Weile länger in der Behandlung zu
verbleiben. Denn die Probleme der
Patienten verschwinden nicht, in-
Die Patienten sollten fair sein und dem Psychotherapeuten sagen,
was ihnen nicht gepasst hat.
lich aus seinem Umfeld verschwand, ohne dass er wusste, wie
es ihm erging.
Howes hat verschiedene Erklärungen, warum sich Patienten einfach aus einer Therapie davonstehlen. Da wäre beispielsweise der Umstand, dass in einer Psychotherapie
naturgemäß Themen durchgearbeitet
werden, die für den Patienten zuweilen schwierig zu besprechen und
schwer auszuhalten sind. Psychotherapie ist kein Zuckerschlecken, sondern kann harte Arbeit bedeuten –
aber so manchem Patienten wird das
zu viel. Er steigt aus der Behandlung
aus, weil er sich nicht mehr konfron-
dem sie die Flucht ergreifen. Gerade eine Psychotherapie bietet mehr
als andere Situationen und Gegebenheiten im Leben die Möglichkeit, Negatives und Verdrängtes zu
thematisieren und zum Positiven zu
wenden. Die Patienten sollten eine
Psychotherapie daher als Schutzraum und Chance sehen, die es zu
nutzen gilt, um Probleme – auch
mit der Psychotherapie oder dem
Therapeuten – anzusprechen und
ihr Leben in den Griff zu bekommen, statt ihr zu entfliehen. Darüber
hinaus sollten die Patienten fair sein
und dem Therapeuten sagen, was
ihnen nicht gepasst hat. Das be-
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wahrt den Therapeuten nicht nur
vor Grübeleien und Selbstvorwürfen, sondern hilft ihm auch dabei,
sich zu ändern und zu verbessern,
was dem potenziellen Therapieabbrecher und auch anderen Patienten
zugute kommen kann.
Strategien
Gemäß dem amerikanischen Psychologen Joshua Swift von der University of Alaska Anchorage (USA)
gibt es verschiedene Strategien, die
Psychotherapeuten anwenden können, um Therapieabbrüche in vielen
Fällen zu verhindern, so zum Beispiel:
● die Patienten über Kosten,
Nutzen und Dauer einer Psychotherapie und über mögliche Veränderungen und Ergebnisse zu Beginn
einer Psychotherapie informieren,
● über Aufgaben, Rollen und
Verhaltensweisen von Therapeut
und Patient im Rahmen einer Psychotherapie aufklären,
● den Patienten entgegenkommen, sich (falls möglich) nach ihren
Wünschen und Vorlieben richten
(zum Beispiel im Hinblick auf den
Zeitpunkt der Therapiesitzungen)
sowie mögliche Hürden und Hindernisse aus dem Weg räumen,
● den Patienten Hoffnung auf
Veränderung und Besserung machen,
● die Therapiemotivation und
ein vertrauensvolles Arbeitsbündnis
aufbauen und sie stets pflegen,
● den Therapiefortschritt kontinuierlich messen und mit den Patienten besprechen.
„Durch diese Strategien bleiben
Therapeuten stets im engen Kontakt
mit den Patienten und erfahren, was
in ihnen vorgeht“, meint Swift. Zudem können sie auf diese Weise
Missverständnisse oder falsche
Vorstellungen der Patienten von einer Psychotherapie ausräumen und
den Patienten dabei helfen, realistische Erwartungen zu entwickeln.
Trotzdem wird es immer Patienten
geben, die Psychotherapien vorzeitig abbrechen. Nach Meinung von
Swift sollten Therapeuten dies hinnehmen und sich dennoch stets darum bemühen, die Ursachen für
Therapieabbrüche zu ergründen
▄
und daraus zu lernen.
REFERIERT
SETTINGS
Nebenwirkungen von Gruppentherapie
Welche unerwünschten und belastenden Effekte in Gruppentherapien auftreten können, haben Wissenschaftler um
Michael Linden vom Rehabilitationszentrum Seehof in Teltow untersucht. Sie
haben 71 Patienten befragt, die im Rahmen ihres Aufenthalts in einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik an einer verhaltenstherapeutischen Gruppentherapie teilnahmen und unter affektiven Störungen, Angsterkrankungen
oder Persönlichkeitsstörungen litten.
Die Auswertung der Patientendaten
erbrachte, dass 98,6 Prozent der Patienten über mindestens eine Negativerfahrung und 43,7 Prozent über mindestens ein stark beziehungsweise extrem
belastendes Negativereignis berichteten. Es war für viele Patienten vor allem
belastend, in einer Gruppe zu sitzen, eigene Probleme zu offenbaren, zum Objekt von Diskussionen zu werden oder
psychische Störungen bei Mitpatienten
mitzuerleben. Dadurch wurden Hoffnungslosigkeit und Demoralisierung bei
den Patienten ausgelöst oder verstärkt.
„Patienten erleben in der Konfrontation
mit anderen Patienten, wie schlimm
psychische Erkrankungen sein können,
beziehen dies auf sich selbst und leiten
daraus ab, wie wenig gegebenenfalls
dagegen getan werden kann“, berichten die Autoren. Dies lasse sich nicht
unbedingt vermeiden. Dennoch können
Psychotherapeuten ihnen entgegenwirken, indem sie sich verstärkt um diejenigen kümmern, die stets für mögliche
unerwünschte Effekte aufmerksam
sind. Darüber hinaus sollten Psychotherapeuten Patienten über mögliche
Nebenwirkungen vor einer Gruppentherapie aufklärt werden.
ms
Linden M, Walter M, Fritz K, Muschalla B: Unerwünschte Therapiewirkungen bei verhaltenstherapeutischer Gruppentherapie. Nervenarzt
2015; 86(11): 1371–82.
PSYCHOTHERAPIEFREQUENZ
Schnellerer Erfolg durch häufigere Sitzungen
Psychotherapiesitzungen werden in
unterschiedlicher Frequenz abgehalten: Manche Patienten kommen zum
Beispiel zwei- bis dreimal wöchentlich
zur Therapie, während andere nur alle
14 Tage oder seltener einen Termin
haben. Amerikanische Psychologen
haben jetzt den Zusammenhang zwischen Sitzungsfrequenz und Therapieerfolg überprüft. Dazu analysierten sie
die Daten von 21 488 Psychotherapiepatienten, welche zwischen 1996 und
2014 erhoben worden waren. Die Patienten litten unter Anpassungsstörungen, Ängsten und Depressionen und
wurden von insgesamt 303 Psychotherapeuten mit kognitiv-behavioralen,
psychodynamischen, klientzentrierten,
systemischen und integrativen Therapiemethoden behandelt. Die Autoren
verglichen unter anderem die Heilungserfolge von Patienten, die einmal
wöchentlich in einer 50-minütigen Einzelsitzung behandelt wurden mit denen von Patienten, die einmal inner-
halb von zwei Wochen zur Therapiesitzung kamen. Sie stellten fest, dass
sich bei der Hälfte der Patienten mit
wöchentlichen Sitzungen innerhalb von
sechs Wochen signifikante Verbesserungen ihres Zustands einstellten,
während diese bei der Hälfte der Patienten mit 14-tägigen Sitzungen erst
nach 21 Wochen zu beobachten waren. Die Befunde zeigten auch, dass
sich die Therapieeffekte bei längeren
zeitlichen Abständen zwischen den Sitzungen verflüchtigten und dass Therapien mit niedriger Sitzungsfrequenz
daher etwas weniger effizient waren
als hochfrequente Therapien. Die Autoren empfehlen Psychotherapeuten,
ihre Patienten, zumindest in der ersten
Phase der Therapie, so oft wie möglich
zu behandeln.
ms
Erekson D, Lambert M, Eggett D: The relationship between session frequency and psychotherapy outcome in a naturalistic setting.
Journal of Consulting and Clinical Psychology
2015; 83(6): 1097–107.
Dr. phil. Marion Sonnenmoser
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