Foto: Fotolia/Kzenon ABBRÜCHE IN DER PSYCHOTHERAPIE „Eine Art der Kritik der Patienten“ Die Gründe für den Abbruch einer Psychotherapie sind vielfältig. Psychotherapeuten sollten Abbrüche zwar hinnehmen und sich dennoch stets darum bemühen, die Ursachen dafür zu ergründen und daraus zu lernen. ie beste Psychotherapie hilft nichts, wenn sie vorzeitig abgebrochen wird. Dennoch scheidet einer von fünf Patienten (und mehr) aus einer Psychotherapie aus, bevor sie regulär zu Ende geführt werden konnte. Laut verschiedenen aktuellen Studien sind Therapieabbrecher in der Regel jung und/oder verfügen über ein geringes Einkommen. Sie geben eine Behandlung hauptsächlich dann vorzeitig auf, wenn die Psychotherapie lange dauert und das Geld knapp wird oder wenn die Versicherung die Behandlung nicht (mehr) zahlt. Patienten scheiden auch aus, wenn sie mehr von der Psychotherapie erwartet haben, vor allem dass sie in kurzer Zeit große Erfolge erzielen. Erfüllen sich solche Erwartungen nicht und werden die erzielten Fortschritte als zu gering empfunden, sind die Patienten enttäuscht und empfinden die Psychotherapie als erfolg- und wertlos. Darüber hinaus spielen auch organisatorische Gründe eine Rolle. Eine D 118 Psychotherapie kann für Patienten auf Dauer unattraktiv werden, wenn sie zum Beispiel dafür weite Wege in Kauf nehmen, stets eine Kinderbetreuung suchen oder Urlaub nehmen müssen. Stigmatisierung von Therapie In diesem Zusammenhang werden auch ambulante Psychotherapien eher abgebrochen als stationäre, weil die Teilnahme an ambulanten Behandlungsformen häufig größere Eigeninitiative und höheren organisatorischen Aufwand von den Patienten erfordern. Zudem kann die soziale Stigmatisierung von Psychotherapie und Psychotherapiepatienten dazu beitragen, dass eine Behandlung seitens der Patienten aufgegeben wird. Nicht selten sind es zudem Differenzen zwischen Psychotherapeut und Patient in der Auffassung darüber, was in welcher Weise, in welchen Zeiträumen und mit welchen Zielen behandelt werden soll, die einige Patienten zum Ausstieg bewegen. Es kommt auch vor, dass Patienten den Psychotherapeuten oder die Therapieform für ungeeignet halten, um ihnen zu helfen. Sie bemängeln beispielsweise die aus ihrer Sicht fehlende Passung zwischen Patient und Therapeut und können keine Bindung, kein Vertrauensverhältnis und kein tragfähiges Arbeitsbündnis zum Therapeuten aufbauen. Darüber hinaus fühlen sich manche Patienten von bestimmten Methoden und Therapieelementen überfordert, beispielsweise von Exposure, vom Sprechen über unangenehme Erlebnisse und Erinnerungen, vom Wiedererleben negativer Gefühle, von der Konfrontation mit Traumata und Verdrängtem oder von therapeutischen Hausaufgaben, so dass sie die Behandlung aufgeben, bevor solche Methoden Wirkung zeigen können. Des Weiteren neigen Patienten mit relativ geringem Leidensdruck eher dazu, aus einer Psychotherapie vorzeitig auszusteigen als Patienten mit ausgeprägten Symptomen. Hier Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 3 | März 2016 THEMEN DER ZEIT spielt gelegentlich auch der sekundäre Krankheitsgewinn eine Rolle, der Patienten umso eher zum Therapieabbruch verleitet, je höher er ausfällt. Schließlich sind es auch bestimmte Krankheiten, allen voran Depressionen, aber auch Sucht- und Abhängigkeitserkrankungen sowie Ängste und Essstörungen, die Patienten aufgrund der Symptomatik daran hindern, eine Psychotherapie bis zum Ende fortzuführen. Die Folgen eines Therapieabbruchs für den Patienten bestehen darin, dass er von einer wirksamen Heilmethode nicht in vollem Umfang profitieren kann. Die Symptome seiner psychischen Erkrankung werden wahrscheinlich bestehen bleiben und sich eventuell weiter verstärken. Der Patient wird weiterhin unter seiner psychischen Erkrankung und den damit einhergehenden Einschränkungen und Funktionseinbußen, einer verringerten Lebensqualität und einem geminderten Wohlbefinden leiden. Er wird möglicherweise komorbide psychische Erkrankungen entwickeln und weitere Behandlungen mit entsprechendem finanziellen und zeitlichen Aufwand durchführen müssen. Einbußen und Selbstzweifel Für die Gesellschaft und die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten bedeuten Therapieabbrüche einen Kostenaufwand, der nicht zum gewünschten Ziel führt. Sie stellen eine finanzielle Investition und Belastung dar, die jedoch nicht dazu beiträgt, das Ausmaß der psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung und die damit einhergehenden Einbußen wie Arbeitsausfälle, Krankschreibungen, Frühberentungen sowie die erhöhte Inanspruchnahme des Gesundheitssystems nachhaltig zu senken. Für Psychotherapeuten gehen Therapieabbrüche mit finanziellen Einbußen, vielen Fragen und Selbstzweifeln einher. So berichtet beispielsweise der niedergelassene klinische Psychologe und Psychotherapeut Ryan Howes, der in Pasadena (Kalifornien, USA) eine psychotherapeutische Praxis betreibt, dass sich immer wieder einmal Patienten „in Luft auflösen“, obwohl Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 3 | März 2016 er zuvor den Eindruck hatte, dass die Psychotherapie gut lief und es keine Spannungen zwischen ihm und den Patienten gab. Die Patienten verschwanden ohne Vorwarnung von einem Tag auf den anderen und waren auch nicht mehr zu erreichen – sie reagierten weder auf Telefonanrufe noch auf E-Mails oder andere Kontaktversuche. Howes blieb stets ratlos zurück und begann zu grübeln. Warum hat der Patient die Psychotherapie plötzlich abgebrochen? Lag es an ihm als Therapeut? Hatte er etwas übersehen? Hatte er etwas falsch gemacht? Darüber nachzudenken führte laut Howes zu keinem Ergebnis, solange der Patient ihm keine Rückmeldung gab und die Gründe für den Abbruch nannte. Für Howes war dieses Nichtwissen besonders unbefriedigend und auch quälend, denn so wie er suchen viele Therapeuten zunächst die Schuld bei sich, obwohl die Gründe des Patienten für den Abbruch vielleicht ganz andere waren. Neben der zermürbenden Schuldsuche bedauerte Howes auch, einen Patienten verloren zu haben, denn schließlich hat er sich während der Psychotherapie um ihn bemüht und war auch als Privatperson besorgt um ihn. Er fühlte sich dem Patienten verpflichtet und verbunden und es ließ ihm keine Ruhe, wenn ein Patient plötz- tieren und anstrengen will. Er spricht darüber aber nicht mit dem Therapeuten, weil es ihm unangenehm ist, Fragen zu beantworten, Gefühle zu zeigen und dabei dem Therapeuten in die Augen zu schauen. Es ist für ihn einfacher und bequemer, sich einfach zu „verdrücken“. Eine Art von Flucht Ein weiterer Grund für Patienten, sich zurückzuziehen und den Kontakt zum Therapeuten abzubrechen, besteht darin, dass sie keine Abschiede mögen. So mancher Patient sieht das Ende einer Psychotherapie vielleicht schon kommen und will sich dem obligatorischen Schlussgespräch oder sentimentalen Gefühlen beim Abschiednehmen nicht stellen. Da zieht er lieber vorher die „Reißleine“. „Ein Therapieabbruch ist eine Art Kritik des Patienten“, meint Howes. Irgendetwas hat in der Behandlung für den Patienten nicht gestimmt, so dass er diesen Ausweg gewählt hat. Howes findet ihn jedoch nicht konstruktiv, sondern appelliert an Patienten, die an einen heimlichen Ausstieg aus einer Psychotherapie denken, zumindest mit dem Therapeuten vorher zu sprechen oder vielleicht auch noch eine Weile länger in der Behandlung zu verbleiben. Denn die Probleme der Patienten verschwinden nicht, in- Die Patienten sollten fair sein und dem Psychotherapeuten sagen, was ihnen nicht gepasst hat. lich aus seinem Umfeld verschwand, ohne dass er wusste, wie es ihm erging. Howes hat verschiedene Erklärungen, warum sich Patienten einfach aus einer Therapie davonstehlen. Da wäre beispielsweise der Umstand, dass in einer Psychotherapie naturgemäß Themen durchgearbeitet werden, die für den Patienten zuweilen schwierig zu besprechen und schwer auszuhalten sind. Psychotherapie ist kein Zuckerschlecken, sondern kann harte Arbeit bedeuten – aber so manchem Patienten wird das zu viel. Er steigt aus der Behandlung aus, weil er sich nicht mehr konfron- dem sie die Flucht ergreifen. Gerade eine Psychotherapie bietet mehr als andere Situationen und Gegebenheiten im Leben die Möglichkeit, Negatives und Verdrängtes zu thematisieren und zum Positiven zu wenden. Die Patienten sollten eine Psychotherapie daher als Schutzraum und Chance sehen, die es zu nutzen gilt, um Probleme – auch mit der Psychotherapie oder dem Therapeuten – anzusprechen und ihr Leben in den Griff zu bekommen, statt ihr zu entfliehen. Darüber hinaus sollten die Patienten fair sein und dem Therapeuten sagen, was ihnen nicht gepasst hat. Das be- 119 THEMEN DER ZEIT wahrt den Therapeuten nicht nur vor Grübeleien und Selbstvorwürfen, sondern hilft ihm auch dabei, sich zu ändern und zu verbessern, was dem potenziellen Therapieabbrecher und auch anderen Patienten zugute kommen kann. Strategien Gemäß dem amerikanischen Psychologen Joshua Swift von der University of Alaska Anchorage (USA) gibt es verschiedene Strategien, die Psychotherapeuten anwenden können, um Therapieabbrüche in vielen Fällen zu verhindern, so zum Beispiel: ● die Patienten über Kosten, Nutzen und Dauer einer Psychotherapie und über mögliche Veränderungen und Ergebnisse zu Beginn einer Psychotherapie informieren, ● über Aufgaben, Rollen und Verhaltensweisen von Therapeut und Patient im Rahmen einer Psychotherapie aufklären, ● den Patienten entgegenkommen, sich (falls möglich) nach ihren Wünschen und Vorlieben richten (zum Beispiel im Hinblick auf den Zeitpunkt der Therapiesitzungen) sowie mögliche Hürden und Hindernisse aus dem Weg räumen, ● den Patienten Hoffnung auf Veränderung und Besserung machen, ● die Therapiemotivation und ein vertrauensvolles Arbeitsbündnis aufbauen und sie stets pflegen, ● den Therapiefortschritt kontinuierlich messen und mit den Patienten besprechen. „Durch diese Strategien bleiben Therapeuten stets im engen Kontakt mit den Patienten und erfahren, was in ihnen vorgeht“, meint Swift. Zudem können sie auf diese Weise Missverständnisse oder falsche Vorstellungen der Patienten von einer Psychotherapie ausräumen und den Patienten dabei helfen, realistische Erwartungen zu entwickeln. Trotzdem wird es immer Patienten geben, die Psychotherapien vorzeitig abbrechen. Nach Meinung von Swift sollten Therapeuten dies hinnehmen und sich dennoch stets darum bemühen, die Ursachen für Therapieabbrüche zu ergründen ▄ und daraus zu lernen. REFERIERT SETTINGS Nebenwirkungen von Gruppentherapie Welche unerwünschten und belastenden Effekte in Gruppentherapien auftreten können, haben Wissenschaftler um Michael Linden vom Rehabilitationszentrum Seehof in Teltow untersucht. Sie haben 71 Patienten befragt, die im Rahmen ihres Aufenthalts in einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik an einer verhaltenstherapeutischen Gruppentherapie teilnahmen und unter affektiven Störungen, Angsterkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen litten. Die Auswertung der Patientendaten erbrachte, dass 98,6 Prozent der Patienten über mindestens eine Negativerfahrung und 43,7 Prozent über mindestens ein stark beziehungsweise extrem belastendes Negativereignis berichteten. Es war für viele Patienten vor allem belastend, in einer Gruppe zu sitzen, eigene Probleme zu offenbaren, zum Objekt von Diskussionen zu werden oder psychische Störungen bei Mitpatienten mitzuerleben. Dadurch wurden Hoffnungslosigkeit und Demoralisierung bei den Patienten ausgelöst oder verstärkt. „Patienten erleben in der Konfrontation mit anderen Patienten, wie schlimm psychische Erkrankungen sein können, beziehen dies auf sich selbst und leiten daraus ab, wie wenig gegebenenfalls dagegen getan werden kann“, berichten die Autoren. Dies lasse sich nicht unbedingt vermeiden. Dennoch können Psychotherapeuten ihnen entgegenwirken, indem sie sich verstärkt um diejenigen kümmern, die stets für mögliche unerwünschte Effekte aufmerksam sind. Darüber hinaus sollten Psychotherapeuten Patienten über mögliche Nebenwirkungen vor einer Gruppentherapie aufklärt werden. ms Linden M, Walter M, Fritz K, Muschalla B: Unerwünschte Therapiewirkungen bei verhaltenstherapeutischer Gruppentherapie. Nervenarzt 2015; 86(11): 1371–82. PSYCHOTHERAPIEFREQUENZ Schnellerer Erfolg durch häufigere Sitzungen Psychotherapiesitzungen werden in unterschiedlicher Frequenz abgehalten: Manche Patienten kommen zum Beispiel zwei- bis dreimal wöchentlich zur Therapie, während andere nur alle 14 Tage oder seltener einen Termin haben. Amerikanische Psychologen haben jetzt den Zusammenhang zwischen Sitzungsfrequenz und Therapieerfolg überprüft. Dazu analysierten sie die Daten von 21 488 Psychotherapiepatienten, welche zwischen 1996 und 2014 erhoben worden waren. Die Patienten litten unter Anpassungsstörungen, Ängsten und Depressionen und wurden von insgesamt 303 Psychotherapeuten mit kognitiv-behavioralen, psychodynamischen, klientzentrierten, systemischen und integrativen Therapiemethoden behandelt. Die Autoren verglichen unter anderem die Heilungserfolge von Patienten, die einmal wöchentlich in einer 50-minütigen Einzelsitzung behandelt wurden mit denen von Patienten, die einmal inner- halb von zwei Wochen zur Therapiesitzung kamen. Sie stellten fest, dass sich bei der Hälfte der Patienten mit wöchentlichen Sitzungen innerhalb von sechs Wochen signifikante Verbesserungen ihres Zustands einstellten, während diese bei der Hälfte der Patienten mit 14-tägigen Sitzungen erst nach 21 Wochen zu beobachten waren. Die Befunde zeigten auch, dass sich die Therapieeffekte bei längeren zeitlichen Abständen zwischen den Sitzungen verflüchtigten und dass Therapien mit niedriger Sitzungsfrequenz daher etwas weniger effizient waren als hochfrequente Therapien. Die Autoren empfehlen Psychotherapeuten, ihre Patienten, zumindest in der ersten Phase der Therapie, so oft wie möglich zu behandeln. ms Erekson D, Lambert M, Eggett D: The relationship between session frequency and psychotherapy outcome in a naturalistic setting. Journal of Consulting and Clinical Psychology 2015; 83(6): 1097–107. Dr. phil. Marion Sonnenmoser 120 Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 3 | März 2016