Zeitgeschichtliche Jahrestage

Werbung
Heiner Lichtenstein
Zeitgeschichtliche Jahrestage
Vom »Altonaer Blutsonntag« bis zur japanischen Mördereinheit »731«
I
n diesem Heft geht der Blick zurück auf die Jahre 1932, 1942, 1947, 1952, 1982 und
2002, wobei der Schwerpunkt auf dem Jahr 1942 liegt. Weil es allein in diesem Jahr nahezu
ein Dutzend Daten sind, beschränken wir uns hin und wieder auf recht kurze Hinweise,
damit möglichst wenige bedeutsame Ereignisse unter den Tisch fallen.
1932 – also ein Jahr, bevor Hitler Reichskanzler wurde – erreichte der Kampf zwischen
rechten und linken Extremisten in Deutschland einen Höhepunkt. In die Geschichte ist der
17. Juli 1932 als »Altonaer Blutsonntag« eingegangen. Im »roten« Hamburger Stadtteil Altona hatte die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) das Sagen. Die SA (Sturmabteilungen) der Nazis wollten das ändern, schließlich standen zwei Wochen später Reichstagswahlen an. KPD und SA gingen auf vielen Straßen und Plätzen aufeinander los. Die Polizei
war zu schwach, die Schlägertrupps voneinander zu trennen. Es herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Am Abend des 17. Juli waren allein in Altona 18 Menschen zu Tode gekommen, im ganzen Deutschen Reich waren es 155 Tote.
Auch um diese Straßenschlachten zu beenden, aber vor allem, um der SPD zu schaden,
enthob der erzkonservative Zentrumspolitiker und Reichskanzler Franz von Papen drei Tage
darauf, also am 20. Juli 1932, durch eine »Notverordnung« die geschäftsführende preußische Regierung Braun (SPD) ihres Amtes und machte sich selbst zum Reichskommissar für
Preußen. Mit einer solchen »Notverordnung« waren fast alle parlamentarischen und demokratischen Funktionen beseitigt und die Mandatsträger ihrer Ämter enthoben, was in Preußen vor allem Sozialdemokraten traf. Dieser willkürliche Akt ist in die Geschichte als »Preußenputsch« eingegangen – genauer gesagt war es der »Papenputsch«.
Elf Tage später, am 31. Juli 1932, waren Reichstagswahlen. Von 44,2 Millionen Wahlberechtigten gingen stolze 84 Prozent zu den Urnen. 608 Reichstagssitze waren zu vergeben.
Für die NSDAP entschieden sich 37,3 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Sie schickte
230 Nazis in den Reichstag und war damit die mit weitem Abstand stärkste Fraktion, gefolgt
vom Zentrum mit 97 Mandaten. Es war der Durchbruch der Braunen. Für Hitler war der Weg
in die Reichskanzlei frei. Bei der entscheidenden Reichstagswahl am 5. März 1933 steigerte die NSDAP die Zahl ihrer Mandate noch einmal und eroberte 288 Sitze. Kein Wunder,
dass knapp vier Wochen darauf, am 30. Januar 1933, Hunderttausende Hitler vor der Reichskanzlei zujubelten. Nur zwei Monate danach, am 1. April, folgte der erste reichsweite Boykott aller jüdischen Einrichtungen.
1942 – VOR 65 JAHREN
In ganz Europa tobte der Zweite Weltkrieg. Noch waren die Deutschen überall auf dem
Vormarsch, ein Sieg folgte dem anderen, Hitlers Armeen schienen unbesiegbar zu sein.
144
Heiner Lichtenstein
Doch auch der Widerstand begann sich zu formieren – zuerst in Prag. Dort hatten zwei
Tschechen, die von der Exilregierung in London ausgebildet worden waren, am 27. Mai
1942 auf den stellvertretenden »Reichsprotektor« Reinhard Heydrich ein Attentat verübt,
das dieser nicht überlebte. Anfang Juni begannen die Massenmorde in den Gaskammern von
Auschwitz-Birkenau. Zeitgleich wurde die Suche nach den Heydrich-Attentätern unerbittlich fortgesetzt. Schließlich geriet das Dorf Lidice östlich von Prag in den Verdacht, einen
der Attentäter versteckt zu haben. Unter diesem Vorwand brannten deutsche Polizeieinheiten am 10. Juni 1942 das gesamte Dorf nieder. Die Männer wurden an Ort und Stelle erschossen, Frauen und Kinder ins KZ Ravensbrück verschleppt.
Ein Datum, das in der Erinnerungskultur oft übersehen wird, ist der 12. Juni 1942. Als
»Reichskommissar für die Festigung des Deutschen Volkstums« billigte Himmler persönlich
an diesem Tag den »Generalplan Ost«. Er sah – auf eine einfache Formel gebracht – die Vertreibung von Millionen Polen und Juden aus Osteuropa vor, insgesamt aus einer Fläche von
etwa 700.000 Quadratkilometern. (Zum Vergleich: Das ganze Deutsche Reich maß damals
538.000 qkm.) Deutsche sollten das riesige Gebiet besiedeln, vor allem Bauern, aber auch
Ärzte, Lehrer und Verwaltungsbeamte zur Sicherung des öffentlichen Lebens. Verwirklicht
wurde diese gigantische Vertreibung aus Zeitgründen und nach der Kriegswende in Stalingrad im Winter 1942/43 letztlich nur in Südostpolen. Der Plan beweist freilich, dass die erste
Vertreibung von Millionen Menschen nicht 1945 von den Alliierten während der Konferenz
von Potsdam geplant und beschlossen wurde, sondern von einer deutschen Reichsbehörde.
Sollte das von deutschen Vertriebenenfunktionären verlangte Mahnmal gegen Vertreibung
tatsächlich gebaut werden, gehört der »Generalplan Ost« auf jeden Fall zu den Exponaten.
Besonders für die Juden beiderseits des Rheins war der 2. Juli 1942 ein verhängnisvolles
Datum. An diesem Tag berieten in Paris deutsche und französische Bahnexperten und Organisatoren der Massenmorde über die Koordination der Todestransporte aus beiden Staaten
und die »Kapazitäten« der Vernichtungslager. Beschlossen wurden aufeinander abgestimmte Fahrpläne, damit nicht zu viele Opfer gleichzeitig in den Lagern ankämen. Der Kommandant von Treblinka, Franz Paul Stangl, beklagte sich einige Zeit später dennoch, weil einige Züge zu spät in seinem Lager ankamen, um die Juden noch am selben Tag zu ermorden.
Daraufhin fuhren die Transporte früher ab, was Stangl begrüßte. Die Massenmorde in Treblinka begannen kurz nach der Pariser Konferenz am 23. Juli 1942. Bald danach starb dort
der heute weltberühmte polnisch-jüdische Kinderarzt und Pädagoge Janusz Korczak. Er
hatte das Angebot der SS abgelehnt, die von ihm betreuten 200 Waisenkinder allein in den
Tod zu schicken. Er blieb bei ihnen und ging am 5. August 1942 mit ihnen zusammen in die
Gaskammer.
Während in Osteuropa Millionen Juden ermordet wurden, missbrauchten im Westen SSÄrzte KZ-Häftlinge zu medizinischen Experimenten. Zentrum war Dachau bei München.
Auch weil immer mehr deutsche Flugzeuge abgeschossen wurden, wollte die Luftwaffe wissen, aus welcher Höhe sich Flieger noch mit dem Fallschirm retten konnten. Deshalb wurden seit dem 15. August 1942 in Dachau Häftlinge in Über- und Unterdruckkabinen gezwängt und so lange Versuchen ausgesetzt, bis sie tot waren. Über die Testergebnisse
diskutierten in Berlin vor vielen Interessierten Luftwaffen- und Marineexperten, weil die
Resultate auch für U-Boot-Mannschaften wichtig waren.
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet meldeten einige Zeitungen am 21. August
1942, der Volksgerichtshof habe seit dem Vortag einen neuen Präsidenten: Dr. Roland Freisler. Damit war die Justiz völlig in der Hand der NSDAP. Mit Freislers Ernennung nahm die
Zahl der Todesurteile dramatisch zu. Insgesamt haben zivile und Wehrmachtsjustiz 27.000
Zeitgeschichtliche Jahrestage
145
Todesurteile gefällt. Dass US-Präsident Franklin D. Roosevelt einen Tag später ankündigte,
NS-Verbrecher würden nach dem Sieg der Alliierten zur Verantwortung gezogen, hatte
nichts mit der Ernennung Freislers zu tun, sondern mit den sich häufenden Berichten über
den Massenmord. Besonders die britische BBC veröffentlichte Zahlen und Namen, auf die
Washington reagieren musste. Roosevelts Ankündigung führte auf jeden Fall in Auschwitz
dazu, dass einige SS-Leute die Häftlinge etwas weniger grausam behandelten. Diese Periode dauerte allerdings nicht lange, wie der Auschwitzüberlebende Hermann Langbein berichtet hat.
1947 – VOR 60 JAHREN
Vor wenigen Wochen haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten in Berlin die
»Römischen Verträge« gefeiert, die vor 50 Jahren unterzeichnet wurden und bis heute die
Grundlage für die Europäische Union bilden. Darüber fast in Vergessenheit geraten ist dabei
ein Ereignis vom 5. Juni 1947 – also vor 60 Jahren. Der »Kalte Krieg« wurde damals immer
unerbittlicher, es drohte sogar ein »heißer Krieg«. Die beiden Großmächte USA und UdSSR
bemühten sich um Verbündete – Washington mit Wirtschaftshilfen, Moskau mit militärischem und politischem Druck. So reiste US-Außenminister George Marshall nach Westdeutschland und verkündete am 5. Juni 1947 in einer als Sensation empfundenen Rede in
Stuttgart den nach ihm benannten »Marshall-Plan«: Die USA, so Marshall, würden mit
einem milliardenschweren Wiederaufbauprogramm Westeuropa helfen, die gewaltigen
Schäden des Zweiten Weltkrieges zu beseitigen und die Wirtschaft neu zu beleben. Den
»Marshall-Plan« darf man heute getrost einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einem geeinten Europa nennen.
Die Nachkriegszeit war damit allerdings noch lange nicht zu Ende. Das zeigte sich elf
Tage später, am 16. Juni 1947 in Dresden. Vor dem dortigen Landgericht begann einer der
größten NS-Prozesse in der Geschichte der DDR. 16 Angeklagte mussten sich wegen der
Tötung einer nicht genau bezifferbaren Zahl von Menschen in sächsischen »Euthanasieanstalten« verantworten. Die Hauptverhandlung dauerte nicht einmal drei Wochen. Hauptbeschuldigter war der Mediziner Professor Paul Nitsche, der als Gutachter über Leben und
Tod der Kranken entschieden hatte und später auch Leiter einer solchen Anstalt war. Am 7.
Juli verkündete das Gericht sein Urteil. Von den 14 Angeklagten wurden Nitsche und zwei
weitere Männer zum Tode verurteilt und mussten bis zur Vollstreckung am 25. März 1948
noch fast ein dreiviertel Jahr in den Todeszellen ausharren. In acht Fällen verhängte das Gericht Freiheitsstrafen, drei Angeklagte wurden freigesprochen.
Ein weiterer NS-Prozess begann am 25. Juli 1947 in Nürnberg – diesmal allerdings nicht
vor einem internationalen, sondern vor einem US-Militärgericht. Die 22 angeklagten Männer
hatten als Führer von »Einsatzgruppen« Tausende wehrloser Zivilisten ermordet. Das nämlich
war die einzige Aufgabe der »Einsatzgruppen«: Hinter den Fronten Juden, »Zigeuner« und in
der UdSSR politische Kommissare zu »selektieren« und zu erschießen. Der Prozess fand leider bei weitem nicht das Interesse wie der erste Nürnberger Prozess. Ankläger war der berühmte US-Jurist Benjamin Ferencz, der sich später unter anderem als Rechtsanwalt große
Verdienste um die Entschädigung von NS-Opfern erworben hat. Am 10. April 1948 wurden
14 Angeklagte zum Tode verurteilt, aber schließlich nur fünf gehängt. Sowohl die beiden lebenslänglichen als auch acht Zeitstrafen mussten nicht voll verbüßt werden. 1952 saß kein
Verurteilter mehr in Haft. Der »Kalte Krieg« bescherte den Mördern viel zu früh die Freiheit.
146
1952 – VOR 55 JAHREN
Die Zahl erinnerungswürdiger Daten aus der Zeitgeschichte sinkt mit wachsendem Abstand vom braunen Terror. Im Sommer 1952 sind es nur zwei Ereignisse, auf die zurückzublicken sich lohnt, ein skandalöses und ein wahrhaft historisches. Am 17. August 1952
tauchte in den meisten deutschen Medien der Name eines Mannes auf, der nicht zum ersten
Mal Schlagzeilen gemacht hat: Philipp Auerbach. Der unermüdliche Anwalt NS-Verfolgter
hatte sich am Vortag das Leben genommen, nachdem ihn am 15. August 1952 das Landgericht München wegen Unterschlagung, Erpressung, Untreue sowie unbefugten Tragens
eines Doktortitels zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und Zahlung von 2.700 DM verurteilt
hatte. Mit dieser Schande konnte und wollte Auerbach nicht weiterleben. Seit der Befreiung
aus dem KZ Buchenwald hatte sich Auerbach für die NS-Opfer eingesetzt – für die Toten
und die Überlebenden. Obwohl er als Jude Auschwitz und den Todesmarsch überlebt hatte,
blieb er in Deutschland. Wie nur wenige andere wollte er den Nazis nicht den Triumph gönnen, seine Heimat »judenfrei« gemacht zu haben. Am 8. Dezember 1906 in Hamburg als
Sohn jüdischer Eltern geboren, besuchte er eine Toraschule, verließ sie aber ohne Abschluss.
Er machte eine Lehre im Handelsgeschäft seines Vaters, heiratete, engagierte sich in der
SPD und im »Reichsbanner Schwarz – Rot – Gold«. Auerbach floh 1933 nach Belgien,
wurde dort 1940 nach dem deutschen Überfall auf das neutrale Land interniert und später
über Frankreich an Deutschland ausgeliefert. Nächste Station war Auschwitz, dann das KZ
Buchenwald und schließlich kam die Befreiung durch US-Truppen. Auerbach, nun 38 Jahre
alt, ließ sich in Düsseldorf nieder, half beim Aufbau einer neuen jüdischen Gemeinde und
jüdischen Lebens überhaupt in der britischen Besatzungszone. Er scheute auch keine Konflikte mit der britischen Militärregierung, bei der er angestellt war. Die entließ ihn, weil er
angeblich zu Unrecht einen akademischen Titel trug. Auerbach zog nach München und
wurde dort »Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte«. In dieser Position eckte er bei vielen Behörden an, weil ihm die Hilfe für Verfolgte nicht schnell genug
ging. Da in vielen Gesetzen und Verordnungen klare Richtlinien fehlten, nutzte er diese Lücken zu Gunsten von Verfolgten. Ob es tatsächlich zu finanziellen Unregelmäßigkeiten gekommen ist, lässt sich kaum noch sagen. Auerbach wurde jedenfalls angeklagt und nach
einem von Skandalen begleiteten Verfahren verurteilt. Das bedeutete für ihn das Ende. Philipp Auerbach war kein einfacher Mensch. Er hatte Ecken und Kanten, war oft ungeduldig
und impulsiv. Aber kriminell war er nicht, vielmehr immer getrieben vom Wunsch, NS-Opfern zu helfen. Hannes Lydgas Biographie »Philipp Auerbach« ist 2005 im Berliner Wissenschafts-Verlag erschienen – ein lesenswertes Buch.
Das zweite nun 55 Jahre zurückliegende Ereignis hatte dagegen einen positiven Ausgang.
Für Bundeskanzler Konrad Adenauer stand vom Beginn seiner Amtszeit an im Jahr 1949
fest, dass die Bundesrepublik nur in die Familie der freien Völker aufgenommen werden
würde, wenn sich der Staat mit Israel über eine Art von Wiedergutmachungs- oder Entschädigungsabkommen einigte. Solche Verhandlungen begannen Anfang der 50er Jahre an unterschiedlichen Orten. Schließlich kam man überein, die Schlussabsprachen auf neutralem
Boden, nämlich in Luxemburg abzuhalten. Am 10. September 1952 war es so weit. Die BRD
verpflichtete sich im »Luxemburger Abkommen«, Waren und Dienstleistungen im Wert von
drei Milliarden DM an Israel zu liefern und 450 Mio. DM an die Claims Conference zu zahlen. Diese Summe war in Raten zu entrichten und sollte entwurzelten jüdischen Flüchtlingen helfen, sich vor allem in Israel eine neue Existenz zu schaffen. Das Abkommen war ein
großer Erfolg für beide Regierungen und Völker. In Israel gab es allerdings auch massive
148
Heiner Lichtenstein
Proteste. Viele wollten kein Geld vom »Mördervolk«. Für die BRD war mit dem Luxemburger Abkommen der Weg in die internationale Politik endgültig frei.
1987 – VOR 20 JAHREN
Der 4. Juli 1987 war ein glühend heißer Tag. Schon am frühen Vormittag versammelten
sich viele hundert Menschen vor dem Landgericht im südfranzösischen Lyon am Zusammenfluss von Rhone und Saone. Journalisten aus vielen Staaten der Erde waren in die zweitgrößte Stadt Frankreichs gereist, um über den Ausgang eines spektakulären Strafverfahrens
zu berichten. Seit dem 11. Mai stand ein alter Mann vor Gericht – angeklagt, zahllose Verbrechen gegen Einzelne und gegen die Menschlichkeit begangen zu haben: Klaus Barbie,
von November 1942 bis zur Befreiung Frankreichs im Sommer 1944 Chef der Gestapo im
Raum Lyon. Barbie war einer der am meisten gefürchteten Gestapoführer. Seine Brutalität
kannte keine Grenzen. Bei der Verfolgung mutmaßlicher Angehöriger französischer Widerstandsgruppen folterte er persönlich, Frauen vergewaltigte er mit Bleirohren, jüdische Kinder holte er gnadenlos aus ihrem Versteck in Izieu hoch in den Bergen über Lyon und ließ
sie nach Auschwitz deportieren. Nach Kriegsende engagierte ihn der amerikanische CICGeheimdienst, stattete ihn mit allem aus, wovon die Zivilbevölkerung damals nicht einmal
träumen konnte: eigenes Haus mit Personal, Dienstwagen mit Fahrer und vieles mehr. Als
französische Fahnder ihm auf die Spur zu kommen drohten, entließ ihn der CIC und verhalf
ihm zur Emigration nach Bolivien. Dort nahm er den Namen Klaus Altmann an und wurde
als bolivianischer Staatsbürger Mitarbeiter des gefürchteten Geheimdienstes. Währenddessen wurde ihm in Frankreich in Abwesenheit zwei Mal – 1952 und 1954 – der Prozess gemacht. Am Ende stand jedes Mal die Todesstrafe, die es damals in Frankreich noch gab. Die
französische Regierung unternahm zeitgleich jedoch keinen ernsthaften Versuch, von La Paz
die Auslieferung Barbies einzufordern. Man hatte Angst, bei einem Verfahren in Frankreich
könnte zu viel über die Zusammenarbeit der eigenen Polizei mit der Besatzungsmacht ans
Licht kommen. Aber auch die Bundesrepublik bemühte sich nicht ernsthaft um Barbies
Überstellung nach Bonn. Dass Barbie in Bolivien lebte, hatte Beate Klarsfeld bereits 1971
entdeckt. Erst ein Machtwechsel in Paris änderte die Situation. Mit der Wahl des Sozialisten
François Mitterand ins Präsidentenamt im Jahr 1983 wuchs der Druck auf La Paz, Barbie
nun endlich auszuliefern. Einige Jahre später landete Barbie tatsächlich in Frankreich und
wurde sofort nach Lyon gebracht. Im Mai 1987 begann das Strafverfahren, an dessen Ende
eine lebenslange Freiheitsstrafe stand. Der damals über siebzig Jahre alte Mann starb neun
Jahre später – also 1991 – im Haftkrankenhaus von Lyon an einem Krebsleiden.
Auch im nächsten Rückblick geht es um einen Nazi. Solche kurzen Erinnerungen sind
keine Nachrufe im hergebrachten Sinn. Aber wie Barbie eine Figur der Zeitgeschichte war,
gilt das auch für Rudolf Heß, einen der engsten Mitarbeiter und Parteigenossen Adolf Hitlers. An seinen Tod wird hier auch deshalb erinnert, weil alte und junge Nazis immer noch
die Mär verbreiten, Heß sei im NS-Verbrechergefängnis von Berlin-Spandau ermordet worden. Sie wollen den Popanz eines Opfers der »Siegerjustiz« der Alliierten des Zweiten Weltkrieges aufbauen. Tatsächlich hat sich Heß aber vor 20 Jahren, genau am 17. August 1987,
das Leben genommen. Er war der letzte Häftling in dem riesigen Gefängnis und immerhin
93 Jahre alt. Er war Hitlers Stellvertreter in der NSDAP, also nicht etwa Vizekanzler. Bei der
Annexion Österreichs und des »Sudetenlandes« hatte er eine wichtige Rolle gespielt, ebenso bei antijüdischen Gesetzen und Verordnungen. Im Mai 1941 flog Heß heimlich nach Eng-
Zeitgeschichtliche Jahrestage
149
land. Ob er tatsächlich Friedensgespräche einleiten wollte, ist höchst umstritten. Unmittelbar nach der Landung wurde er festgenommen und bis Kriegsende in Haft gehalten. Dann
kam er ins Nürnberger NS-Verbrechergefängnis, weil er zu den Hauptangeklagten gehörte.
Während der Verhandlungen saß er stets neben dem Hauptangeklagten Hermann Göring.
Vom Vorwurf, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben, sprach ihn das Internationale Militärtribunal frei – ein Beweis für den fairen Verlauf des Prozesses. Verbrechen gegen den Frieden hat er aber begangen. Deshalb erkannte das Gericht auf lebenslange Haft, die er bis zum letzten Tag verbüßt hat. Ob Rudolf Heß geistesgestört war oder das
nur hin und wieder vorgab, dürfte kaum je endgültig geklärt werden. Die Erkenntnisse und
Berichte darüber gehen zu weit auseinander.
2002 – VOR FÜNF JAHREN
Während die NS-Tyrannen schon nach zwölf Jahren kapitulieren mussten, konnten sich
die japanischen Faschisten deutlich länger an der Macht halten. Schon in den dreißiger Jahren hatten sie halb Asien mit Krieg überzogen und hissten erst die weiße Fahne, nachdem im
August 1945 zwei Atombomben sie dazu zwangen. Es gibt noch einen weiteren Unterschied
zwischen dem Regime in Berlin und dem in Tokio. Während in der Bundesrepublik und mit
Einschränkungen auch in der DDR relativ bald versucht wurde, die Opfer zu entschädigen
und die eigene Geschichte aufzuarbeiten, hat es dergleichen in Japan nicht gegeben. Dort
wird den Opfern und deren Nachkommen jede Hilfe und sogar eine Entschuldigung verweigert. So hat es ein Bezirksgericht in Tokio vor fünf Jahren entschieden, am 27. August
2002. Das Gericht versteckte sich hinter dem formalen Argument, Einzelpersonen hätten
kein Recht, die japanische Regierung zu verklagen. In dem fünf Jahre dauernden Mammutprozess ging es um Verbrechen, auf die selbst der Auschwitzarzt Josef Mengele nicht gekommen ist. Angehörige der »Einheit 731« spritzten chinesischen Gefangenen Typhus- und
Choleraerreger. Wenig später wurden die Opfer lebendigen Leibes und ohne Betäubung seziert. Beine und Arme wurden so lange in eisiges Wasser getaucht, bis die Glieder hart gefroren waren. In anderen Fällen testeten japanische Fachleute, wie viel Blut einem Menschen abgenommen werden kann, bis er stirbt. 180 Kläger hat das Gericht gehört. An den
Verbrechen der »Einheit 731« gibt es keinen Zweifel. Dabei hatte die japanische Regierung
bis zum Jahr 1997 die Existenz dieser Mörderbande schlicht bestritten. Dass die Aufklärung
von Verbrechen in Asien anders verlaufen ist als in Europa, hängt auch mit der amerikanischen Besatzungspolitik zusammen. Während auf dem alten Kontinent mutmaßliche NSVerbrecher schon ein halbes Jahr nach der Befreiung angeklagt wurden und deutsche Gerichte diese Strafverfahren fortsetzten, bis Täter und Zeugen nicht mehr verhandlungsfähig
waren, bedienten sich US-Experten in Japan lieber der Archive. Sie nutzten die Ergebnisse
der Verbrechen und verzichteten auf Strafverfahren, was den Staat Japan freilich keineswegs
freispricht. Immerhin ist das Tokioter Gericht den Opfern wenigstens einen kleinen Schritt
nähergekommen. Im Urteil steht nämlich erstmals in der japanischen Nachkriegsgeschichte: »Das Beweismaterial zeigt, dass die japanischen Truppen, einschließlich der Einheit 731
und anderer, auf Befehl des Hauptquartiers der Kaiserlichen Japanischen Armee bakteriologische Waffen eingesetzt hat und dass viele Anwohner starben.«
Herunterladen