Einleitung Die Bedeutung des Begriffs Bilinguismus, der Fähigkeit, sich für Zwecke der Kommunikation zwei verschiedener Sprachen bedienen zu können, ist auf den ersten Blick klar. In Wirklichkeit kann seine Bedeutung allerdings verschwimmen, abhängig davon, ob der Begriff des Bilinguismus unter einer soziolinguistischen, psycholinguistischen oder pädagogischen Herangehensweise betrachtet wird. Der Bilinguismus ist ein beständiges Phänomen vor allem in Grenzregionen, dort wo die Staatsgrenzen nicht mit den Grenzen des Gebrauchs der nationalen Sprachen übereinstimmen. Es ließe sich eine Skalierung erstellen, nach der man ausgehend von horizontalen bi- oder plurilingualen Gemeinschaften, in denen alle gebrauchten Sprachen den gleichen sozialen Status haben, über bi- oder plurilinguale, aber regional monolinguale Gemeinschaften, wie etwa die Schweiz, fortschreitet zu Situationen eines vertikalen Bilinguismus (Diglossie), bei dem nur eine Sprache offiziell anerkannt ist, wie es etwa der Fall bei mundsartsprechenden Gemeinschaften ist, und schließlich bei Situationen eines isolierten Bilinguismus angelangt, bei dem einer monolingualen Gemeinschaft ein Individuum oder eine Gruppe von Individuen gegenüber steht, die aus familiären Gründen oder infolge einer Immigration in ihrem Sprachrepertoire über mehr als einen Code verfügen. Bei genauerer Betrachtung der Erwerbsart ist ein primärer oder natürlicher Bilinguismus, bei dem die Sprachcodes in einem frühen Alter (1.–3. Lebensjahr) als Muttersprachen und somit ohne die Notwendigkeit eines formalen Unterrichts erworben werden, von einem sekundären Bilinguismus zu unterscheiden, der substantiell mit dem Erwerb von Zweitsprachen übereinstimmt und bei dem der Erwerb einer oder mehrerer weiterer Sprachen nicht mit dem der eigentlichen Muttersprache zusammenfällt. Diese beiden unterschiedlichen Erwerbtypen bringen offenkundig beträchtliche Unterschiede in den Ergebnissen mit sich, insbesondere in Bereichen wie die Phonologie, bei denen das Erwerbsalter eine fundamentale Rolle spielt. Der Erwerb einer zweiten Sprache zu einem späteren Zeitpunkt und in Situationen, in denen der psycho- und soziolinguistische Druck besonders hoch ist, wie etwa im Falle einer Immigration, kann zu einem asymmetrischen Bilingualismus führen, bei dem die Fähigkeit, zwei Sprachen zu dekodieren, mit der Fähigkeit zum aktiven Gebrauch nur einer Sprache kombiniert sein kann. Aus pädagogischer Sicht gilt die anfängliche Ablehnung des Bilinguismus, die auf der fälschlichen Interpretation als mögliche Quelle von Interferenzen beruhte, inzwischen als überwunden, angesichts der offen9 sichtlichen Vorteile, zu denen ein frühzeitiger Gebrauch von metalinguistischen Strategien und Fähigkeiten gehört. Auch unter politisch-sozialer Betrachtung hat die Beherrschung mehrerer Sprachen immer mehr an Bedeutung gewonnen. Eine bilinguale Erziehung bringt für das Kind und für den zukünftigen Erwachsenen eine Reihe von Vorteilen mit sich, über die das monolinguale Kind nicht verfügt: Unter einem kulturellen Aspekt hat das bilinguale Kind von Geburt an die Möglichkeit, zwei Kulturen, die unter Umständen sehr unterschiedlich sind, kennenzulernen und diese Kenntnisse zu vertiefen. Eine Sprache zu beherrschen bedeutet viel mehr als nur die Vokabeln zu kennen und sie entsprechend bestimmter Regeln zusammenzufügen. Eine Sprache spiegelt auch die Weise, zu denken und zu handeln, sowie die Geschichte und Kultur des Volkes, die sie spricht, wider. Unter einem emotionalen Aspekt ist die Beziehung zwischen Eltern und Kind natürlich authentischer, wenn beide Elternteile einer binationalen Beziehung mit dem Kind in ihrer Muttersprache kommunizieren. Die Spontanität und die Genauigkeit der intrinsischen semantischen Nuancierungen in einem Witz, einem Wortspiel, einem Lied oder einem Gedicht sind schwierig zu erfassen in einer Sprache, die man nicht als Muttersprachler beherrscht. Diese Fähigkeit stellt für das bilinguale Kind zweifelsohne eine unschätzbare Gabe dar und wirkt sich positiv auf die emotionale Entwicklung des Kindes und die Beziehung zwischen Eltern und Kind aus. Unter einem praktischen Aspekt erfordert die heutige Berufswelt immer häufiger die perfekte sprachliche und schriftliche Beherrschung mehrerer Sprachen. Da letztlich die Beherrschung mehrerer Fremdsprachen eine notwendige Bedingung für den beruflichen Erfolg darstellt, können sich für den Bilingualen ausgezeichnete berufliche Möglichkeiten eröffnen. Der Erwerb der Sprachen von Geburt an ermöglicht dem bilingualen Kind einen nativen Spracherwerb, ohne dass ein Akzent besteht. Zudem stellt diese Art des Spracherwerbs die einfachste Art dar, eine zweite Sprache zu erlernen. Das Kind erlernt die Sprache sprichwörtlich spielend, ohne dass Übungseinheiten, Grammatikbücher, Sprach-DVDs oder andere mitunter von dem Lernenden als langweilig empfundene Hilfsmittel vonnöten wären. Zudem ist diese Art des Lernens sehr günstig und kostet abgesehen von dem ein oder anderen Buch oder Musik-CD, die man gemeinsam hört, nichts. Aus kognitiver und sprachlicher Sicht bringt der Bilinguismus, wie eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen belegen konnte, zahlreiche positive Effekte auf die kognitive Entwicklung des Kindes mit sich (Bialystok, 2007; Mechelli et al., 2004; Green, Crinion & Price, 2007). Ein für das Erreichen einer sicheren Beherrschung beider Sprachen entscheidender Faktor ist das Alter, in dem das Kind den Erwerb der beiden Sprachen beginnt: 10 „[. . .] je früher die Mehrsprachigkeit eingesetzt hat und je besser die zweite Sprache beherrscht wurde [. . .]“ (Müller, 2011: 58). Aber was lässt den Bilinguismus zu einer solch guten kognitiven Übung werden? Ein außerordentlich wichtiger Faktor, der zu den vorteilhaften kognitiven Effekten der Mehrsprachigkeit beiträgt, ist die Kontrolle über das sprachliche Wissen vom Wortschatz über die Grammatik bis hin zu den suprasegmentalen Merkmalen. Auch wenn Bilinguale nur eine der beiden Sprachen gebrauchen, so sind doch beide Sprachen aktiv (Grainger & Beauvillain, 1987; Brybaert, 1998; Grosjean 2001; Kroll & Dijkstra 2002). Dies stellt für den Bilingualen deshalb eine Herausforderung dar, da er ständig eine Sprachform aus zwei oder mehreren auswählen muss, die dem sprachlichen Kontext gerecht wird und alle linguistischen Kriterien erfüllt. Die Entscheidung für die der jeweiligen Situation angemessenen Sprache und gegen die konkurrierende Sprache stellt eine komplexe kognitive Funktion dar. Darüber hinaus hat die Mehrsprachigkeit im frühen Kindesalter auch günstigen Einfluss auf nicht-sprachliche Fähigkeiten. So konnte etwa gezeigt werden, dass es mehrsprachig aufwachsenden Kindern in einer Testsituation besser gelang, besonders auffällige, aber für die Lösung der Aufgabe nicht relevante Informationen zu unterdrücken als monolingualen Gleichaltrigen (Bialystok, 2001). Der frühkindliche Bilinguismus kann sich aber auch auf den Erwerb einzelner Sprachbereiche negativ auswirken, in dem Sinne, dass es zu zwischenzeitlichen Interferenzen und Spracheneinflüssen kommen kann. Diese negativen Einflüsse der einen Sprache auf die andere bilden sich jedoch mit der weiteren Sprachentwicklung des Kindes zurück, vorausgesetzt, dass die Bilingualität kontinuierlich gefördert wird. Somit kann der Bilinguismus sowohl eine Beschleunigung als auch eine Verlangsamung des Erwerbs einer oder auch beider Sprachen mit sich bringen. Zahlreiche Faktoren nehmen zudem Einfluss auf den Erfolg eines bilingualen Spracherwerbs, wie etwa psychosoziale Faktoren oder die Kombination der Sprachen, die das Kind zu erwerben hat. In der vorliegenden Arbeit, die sich ausschließlich mit linguistischen Aspekten des Bilinguismus beschäftigt, wurde an sechs deutsch-italienischen Kindern, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, einem monolingual italienischen Jungen und einem monolingual deutschen Mädchen der Einfluss des Bilinguismus auf den Erwerb des Adjektivs untersucht, mit seinen eventuellen resultierenden Phänomenen, wie Interferenzen, Spracheinflüssen, Beschleunigungen und Verlangsamungen des Spracherwerbs. Dieser Bereich ist für die linguistische Forschung deshalb von Interesse, da er zum einem bisher wenig untersucht ist und zum anderen, da er in den beiden Sprachen sehr unterschiedlichen Regeln unterliegt. 11 Die vorliegende Arbeit gliedert sich wie folgt: Nach der Einleitung folgt das erste Kapitel über die verschiedenen Phänomene des Bilinguismus, die direkt oder indirekt mit dem bilingualen Adjektiverwerb verbunden sein können, und die daraus resultierenden Arbeitshypothesen dieser Untersuchung. Im Anschluss werden in dem zweiten Kapitel die theoretischen Grundlagen zu den prädikativen und attributiven Adjektiven und dem Genussystem in den beiden Zielsprachen Deutsch und Italienisch vermittelt, um in dem dritten Kapitel einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zu dem Erwerb der prädikativen und attributiven Adjektive in beiden Sprachen zu geben. Das sich anschließende vierte Kapitel gibt Auskunft über die verwendeten Materialien und Methoden. In dem fünften Kapitel werden die Arbeitshypothesen beantwortet. Das abschließende sechste Kapitel umfasst eine komprimierte Zusammenfassung der gezogenen Schlussfolgerungen. 12 1 Phänomene der Zweisprachigkeit 1.1 Einleitung Die Beobachtung der Sprachproduktion des zweisprachig aufwachsenden Kindes ergibt zumindest in ihren frühesten Phasen eine Reihe von Phänomenen des Spracheneinflusses. In den vergangenen Jahrzehnten sind verschiedene Theorien entwickelt worden, um diese Phänomene zu erklären. „Das fusionierte Sprachsystem“, dessen vielleicht größten Verfechter Volterra und Taeschner (1978) sind, stellte einen der ersten Erklärungsversuche dar, gilt heute aber nicht mehr als allgemeingültig. Stattdessen wurde in den folgenden Jahren von verschiedenen Sprachwissenschaftlern die Theorie zu den „zwei getrennten Sprachsystemen“ entwickelt, die sich darauf begründet, dass das bilinguale Kind von Anfang an über zwei getrennte linguistische Systeme verfügt (Meisel, 1987; Genesee, 1989). Eine weitere Entwicklung in der Zweisprachigkeitsforschung ergab sich durch die Einführung der von Hulk und Müller (2000) vertretenen Spracheneinflusshypothese. Im Folgenden sollen die drei zuvor genannten Theorien vorgestellt werden. Besonderes Augenmerk soll auf die Spracheneinflusshypothese von Hulk und Müller (2000) gelegt werden, da sie eine der Grundlagen der vorliegenden Arbeit darstellt. Manifestationsformen des Spracheneinflusses stellen die Interferenz und die beiden Kategorien positiver und negativer Transfer dar. Interferenzen können sich in linguistischen und auch nicht-linguistischen Bereichen manifestieren. Linguistische Interferenzen umfassen grammatische, phonologische, lexikalische, semantische und syntaktische Interferenzen. Hingegen kann ein Transfer abhängig davon, ob das Erlernen der anderen Sprache begünstigt (positiver Transfer) oder beeinträchtigt (negativer Transfer) wird, zu einer Beschleunigung oder auch zu einer Verlangsamung des Auftretens eines grammatischen Phänomens im Vergleich zu dem monolingualen Erwerb führen. Als Erklärung für die Existenz des Spracheneinflusses herrscht heutzutage die in der Arbeit von Müller und Hulk (2000) formulierte Auffassung vor, dass sich der Spracheneinfluss nicht auf die Gesamtheit einer Sprache bezieht, sondern sich lediglich in bestimmten grammatischen Bereichen manifestiert. Darüber hinaus ist der Spracheneinfluss von der spezifischen Kombination der beiden von dem Kind zu erlernenden Sprachen abhängig. Während früher davon ausgegangen wurde, dass der Spracheneinfluss unidirektional sei und sich ausschließlich von der starken auf die schwache Sprache auswirke (Grosjean, 1982), haben in der 13 Zwischenzeit Müller, Cantone, Kupisch und Schmitz (2002) gezeigt, dass (1) sich der Spracheneinfluss auch bei Kindern mit einem balancierten Bilinguismus manifestiert und dass (2) der Spracheneinfluss bidirektional ist, dass er sich also nicht nur von der starken auf die schwache Sprache auswirkt, sondern auch von der schwachen auf die starke Sprache. In der Literatur finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass der Erwerb bestimmter grammatischer Bereiche in der starken Sprache bei bilingualen Kindern entsprechend dem Erwerb in der Muttersprache bei monolingualen Kindern verläuft (Schlyter & Håkannson, 1994; Schlyter, 1994). Dagegen wurden Unterschiede zwischen der Entwicklung der starken und der schwachen Sprache berichtet und einige Autoren stellten sogar Ähnlichkeiten beim Erwerb verschiedener grammatischer Bereiche in der schwachen Sprache mit einer Zweitsprache fest (Schlyter, 1993, 1994; Schlyter & Håkansson, 1994; Bernardini, 2003). Allerdings ist die Auffassung, dass der Erwerb der starken und der schwachen Sprache grundsätzlich voneinander verschieden ist, heutzutage sehr umstritten. Ein weiteres Phänomen, das Einfluss auf den Prozess des Spracherwerbs nicht nur des monolingualen Kindes sondern auch des Kindes hat, das sich anschickt, zwei Sprachen zu erwerben, ist der linguistische Input, dem das Kind in der Umgebung, in der es lebt, ausgesetzt ist. Insbesondere konnte gezeigt werden, dass nicht alle Fehler an Sprachmischungen auf die fehlerhafte Verwendung durch das Kind zurück zu führen sind, sondern dass häufig Sprachmischungen in der Sprache des Kindes erst durch die gleichzeitige Analyse des sprachlichen Inputs, dem das Kind ausgesetzt ist, zu erklären sind (Murrell, 1966; di Ronjat, 1913; Redlinger & Park, 1980; Goodz, 1989; Genesee, 1989, 1995; Comeau, Genesee & Lapaquette, 2003). 1.2 Ist das Kind bereits mit seinen ersten Äußerungen bilingual? 1.2.1 Das fusionierte Sprachsystem Die Vertreter der Hypothese des fusionierten Sprachsystems (englisch: Unitary Language System Hypothesis), zu denen insbesondere Volterra und Taeschner (1978), aber auch eine Reihe anderer Autoren zählen, wie etwa Leopold (1939, 1949, 1954), Imedadze (1967), Swain (1972), Fantini (1979), Redlinger und Park (1980), Vihman (1985) und Schlyter (1987), betrachten die im Rahmen des bilingualen Erstspracherwerbs auftretenden Sprachmischungen als Ausdruck einer mangelnden Differenzierung der beiden Sprachen im frühen Kindesalter. Entsprechend dieser Annahme gelingt mit zunehmender Sprachentwicklung eine bessere Differenzierung der beiden 14