Schmerz aus Sicht der Psychotherapie Verletzung

Werbung
Schmerz aus Sicht der Psychotherapie
Karl Neuwöhner,
Psychol. Psychotherapeut,
Klinik Dr. Hancken GmbH,
Stade
Verletzung
2
Verletzlichkeit
Vulnerabilität
3
„Schmerz“
Schmerzen
Leid
X
… können durch Med.
gelindert werden
… kann durch Med. nicht
gelindert werden
Verletzlichkeit
Verwundbarkeit
Vergänglichkeit
Tod
4
Agenda
• Das bio-psycho-soziale Schmerzmodell
• Verarbeitungsebenen des Schmerzes
• Psychologische Untersuchung
• Psychotherapie des Schmerzes
5
1
Das bio-psycho-soziale Schmerzmodell
Definition
• „Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und
Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potentieller
Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen
einer solchen Schädigung beschrieben wird...“
Merskey H, Bogduk N (ed.) (1994) IASP Task Force on Taxonomy, Seattle
7
Funktion des Schmerzes: Aufmerksamkeit!
Körper haben
Pflege, Training,
Schönheit…
Ausdruck 1) von
körperlichen und/ oder
psychosozialen
Dysfunktionen
Auslöser von stabilisierenden
körperlichen und/oder
psychosozialen Maßnahmen
Leib sein 2)
1)
Seemann / Zimmermann 1990
Plessner H (1928) Die Stufen
des Organischen und der Mensch
2)
schwitzen, frieren,
essen, verdauen,
schmerzen,
bluten, schlafen…
8
„Nebenwirkungen“: Herausfallen aus der Norm
Norm:
Schmerzen:
• jung, fit, leistungsfähig
sein
•
•
•
•
hässlich (ästhet.)
schuldig (moral.)
ungeliebt (sozial)
wertlos (polit.)
Schmerzen: „Die zuvor gekannte Welt existiert nicht mehr!“
9
Akuter Schmerz
• Warnsignal für vorhandene oder drohende Gewebsschädigung
• Lokal begrenzt
• Löst Vermeidungs-/Genesungsreaktionen aus
• Dauer: Tage oder Wochen
• Therapie: kausal (Ursachen behandeln)
10
Chronischer Schmerz
•
•
•
•
•
Eigenständige Erkrankung
oft große oder wechselnde Areale betroffen
Keine direkte Koppelung mit akuten Schädigungen
Dauer: >6 Monate; überdauert seinen Anlass
Therapie:
– Identifikation der bio-psycho-sozialen Komponenten
(Woher kommt er?)
– Analyse der aufrechterhaltenden Bedingungen
(Warum bleibt er?)
11
Chronischer Schmerz, psychosomatische
Begleiterscheinungen
•
•
•
•
•
•
•
Allgemeine Reizbarkeit, Schlafstörungen
Angespannte Beschäftigung mit Körpersignalen
Anhaltende missmutig-traurige Stimmung
Gefühlsschwankungen
Einengung der Erlebnisfähigkeit u. Interessen
Apathie, Resignation, Depression
Gewichtsverlust, Verlust sexueller Bedürfnisse
Kröner-Herwig 1990
12
Chronischer Schmerz
Schmerz
Depression
Verspannung
Soziale Isolation
Inaktivität
Psych. Beeinträchtigung
(z.B. Müdigkeit)
13
Schlaf
Ernährung
Konflikte, Verluste
Selbstwahrnehmung
Beweglichkeit
Sexualität
Medikamente
Operation?
Heilung?
Kosten
Egoismus
Linderung
Körper
sein
Lebenswünsche?
Strafe
Abhängigkeit
Leid
Schuld
Trauer
Angst
Schmerz
Krankengeld
Psyche
Ungewissheit
Isolation
Rente
Heil
Arbeitsfähigkeit
Schulden
Vergebung
Sinn?
Glaube / Religion
Versorgung
d. Familie?
Ökonomie
/ Recht
14
Schlaf
Ernährung
Konflikte, Verluste
Selbstwahrnehmung
Beweglichkeit
Sexualität
Trauer
Angst
Medikamente
Operation?
Kosten
Leid
Schuld
Heilung?
Egoismus
Linderung
Krankengeld
Lebenswünsche?
Körper
sein
Strafe
Abhängigkeit
Psyche
Ungewissheit
Isolation
Rente
Heil
Arbeitsfähigkeit
Schulden
Vergebung
Sinn?
Glaube / Religion
Versorgung
d. Familie?
Ökonomie
/ Recht
15
Krebsschmerzen
• Mischform v. akuten u. chronischen Schmerzen
• Müssen immer im Zusammenhang mit dem akutem
Krankheitsverlauf gesehen werden
• Zeigen viele Elemente der chronischen Schmerzen
• Signal für Fortbestehen der Krankheit u. Behandlung
• Verstärken Angst (Progredienzangst)
• 30-50% der Pat. in kurativen, 70-90% in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung geben Schmerzen an
Herschbach 2008
16
Psychogene oder somatogene Schmerzen?
• Unterscheidung nicht zielführend (aber leider noch weit
verbreitet!) - besser:
• Schmerz als Medium der Regulation von
– Körperlichen Dysfunktionen (z.B. Verletzung)
– Psychischen Belastungen (z.B. Stress, Schuldgefühle)
– Sozialen Problemen (z.B. Zuwendung, Anerkennung)
– Religiösen Bedürfnissen (z.B. Buße, Sühne)
– der Steigerung von Schönheit, Lust, Extase (z.B.
Piercing, Tatoos)
– Schmerzen (selbstverletzendes Verhalten)
17
2
Verarbeitungsebenen
18
Somatische Verarbeitung (vereinfacht)
• Schmerzwahrnehmung
(nozizeptive Peripherie)
• Schmerzleitung
(Rückenmark, Hirnstamm, „Gate-Control-System“?)
• Schmerzverarbeitung
(Zwischenhirn, limbisches System, Großhirn)
19
Psychische Verarbeitungsebenen im Regelkreis
Schmerzwahrnehmung
(+)
(-)
Handlung,
Verhalten
Bewertung, Interpretation
Kontrollüberzeugungen,
Kompetenz
Motivation
20
Psychische Verarbeitungsebenen in der Interaktion
PATIENT/-IN
Schmerzwahrnehmung
(+)
ARZT/ÄRZTIN
Bewertung, Interpretation
Bewertung, Interpretation
Kontrollüberzeugungen,
Kompetenz
Kontrollüberzeugungen,
Kompetenz
Motivation
Motivation
(-)
Handlung,
Verhalten
Schmerzwahrnehmung
(+)
(-)
Handlung,
Verhalten
21
Kognitive Verarbeitungsebenen (Beispiel)
• Schmerzwahrnehmung: (Ignorierte) Belastungssignale
•
•
•
•
des Körpers (Müdigkeit, Anspannung) steigern sich zu
Schmerzen
Bewertung: Appellfunktion des Schmerzes? (Ja / Nein)
Kontrollüberzeugung, Kompetenz: „Der Arzt ist
verantwortlich“ oder „Ich bin (mit-)verantwortlich“
Motivation: „Ich bin hilflos“ oder „Ich will etwas ändern“
Verhalten: Medikamente / „Ich mache Sport“
22
Soziale Verarbeitungsebenen (Beispiel)
• Schmerzwahrnehmung: Bauchweh vor der Entlassung
•
•
•
•
aus dem Krankenhaus
Bewertung: Appellfunktion: „Ich habe Angst, meiner
Familie zur Last zu fallen“
Kontrollüberzeugung, Kompetenz: „Meine Frau schafft
das nicht“ oder „Wir haben schon vieles gemeinsam
geschafft!“
Motivation: „Ich brauche mehr Sicherheit bei der
Versorgung“
Verhalten: „Ich veranlasse zusätzliche Hilfen“
23
Riskante interaktionelle (soziale) Verarbeitungsformen
• Falsche Kontrollüberzeugungen:
• Arzt: „Die Schmerzen sind psychisch. Ich bin nicht
zuständig!“
• Patient: „Es tut aber weh. Der Arzt will mir nicht helfen!“
• So „... schaukelt sich die Spirale von Machtzuschreibung
und Machtübernahme über beiderseitige Enttäuschungen immer weiter auf bis zu gegenseitigen Aggressionen
und zum Therapieabbruch.“
Seemann / Zimmermann 1990
24
3
Psychologische Diagnostik
25
Psychiatrische Diagnostik
ICD 10: F45.4, Anhaltende somatoforme Schmerzstörung: ... ein
andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der durch ... eine
körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann ,... in
Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psycho-sozialen
Belastungen, die schwerwiegend genug sein sollten, um als entscheidende ursächliche Faktoren gelten zu können. Die Folge ist
meist eine beträchtlich gesteigerte persönliche oder medizinische
Hilfe und Unterstützung.
Schmerzzustände mit vermutlich psychogenem Ursprung, die im
Verlauf depressiver Störungen oder einer Schizophrenie auftreten,
sollten hier nicht berücksichtigt werden.
26
Psychologische Diagnostik
Ziele:
•Klärung der körperlichen und psychosozialen Situation des
Patienten (Was denkt der Pat. selbst über seine Krankheit?
Wie fühlt er sich?)
•Verstehen der aktuellen Situation aus dem Krankheitsverlauf und aus der biographischen Entwicklung heraus
•Voraussetzung: Abklärung organischer Ursachen (klinische
Untersuchung, bildgebend, Skalen?, Fragebogen?)
27
Schmerzanamnese
Fünf nicht-triviale Fragen
• Was führt Sie zu mir?
• Beschreiben Sie bitte Ihre Schmerzen ganz genau!
• Seit wann haben Sie die Beschwerden und wie sind sie
bisher verlaufen?
• Wie war Ihr Leben, als sie gesund waren?
• Welche Veränderungen gab es in ihrem Leben, bevor Sie
erkrankten?
modifiziert nach Müller-Fahlbusch (1980)
28
(1) Was führt Sie zu mir?
• Aktuelle Beschwerden, Erwartungen des Patienten
• Erfahrung 1: Infragestellung u. Widerstand; „Warum
werde ich mit Körperschmerzen zum Psychologen
geschickt?“
• Erfahrung 2: Lange Dauer der Beschwerden, erfolglose
Therapieversuche z.B. durch Orthopäden, DiagnoseDelay der Krebserkrankung(!), Unzufriedenheit mit „den
Ärzten“.
29
(2) Beschreiben Sie bitte Ihre Schmerzen ganz genau!
• Schmerzlokalisation im Körperschema zeichnen (vgl.
DSF) - Kommentare des Pat.: „Ab hier bin ich tot“, „hier
würde ich am liebsten mit dem Messer reinstechen“
• Wirkung einer OP oder Physiotherapie (Symptomverschiebung?)
• Frühere Schmerzerfahrungen (Anknüpfung an alte
Schmerzen? Angehörige mit Schmerzen?)
• Häufigkeit & Dauer (Generalisierungen „Immer“,
„Überall“, „keine Linderung“?)
30
(3) Seit wann haben Sie Beschwerden,
wie sind sie verlaufen?
• Bezug zu ersten akuten Schmerzattacken („früher schon
mal ab und zu“; „keine Erklärung...“, „alles Mögliche
wurde versucht!“)
• Beginn der Verschlimmerung /Chronifizierung parallel zu
Ereignssen der Lebensgeschichte?
• Auswirkungen der erfolglosen Therapien (Hilf-/Hoffnungslosigkeit, Diffamierung als „Simulant“?)
• Handlungen des Pat. („Was haben Sie selber alles
versucht?“ „Doctor-hopping“? Beharren auf invasiven
Eingriffen? Alternative Medizin? usw.)
31
(4) Wie war Ihr Leben, als Sie gesund waren?
• Fokus auf die Zeit vor der Erkrankung (kann eine
Ressource sein!)
• Körpererleben: Sport?
• Arbeit und Beruf: Erfüllte / Unerfüllte Berufswahl?
Anerkennung? Perfektionismus?
• Partnerschaft, Sexualität, Familie, Kinder ...
• ...
32
(5) Veränderungen im Leben, bevor Sie erkrankten?
• Arbeit, Beruf: z.B. neuer Arbeitsplatz? Kündigung?
• Familie: z.B. Pflege der Mutter? Unfall des Kindes?
• Belastende Lebensereignisse beeinflussen das
Schmerzempfinden (Senkung d. Schmerzschwelle);
• Gelungene Krisenbewältigung ist oft eine Ressource für
die Erhöhung der Schmerzschwelle.
• Es gibt keine Belege, dass belastende Lebensereignisse
das Entstehen und den Verlauf (z.B. Metastasierung)
einer Krebserkrankung beeinflussen!
33
Psychologische Diagnostik
• Es geht weniger um die physiologischen Informationen
über die Krankheit, sondern es geht um das Verstehen
des subjektiven Leides.
34
4
Psychotherapie
35
Psychotherapeutische Therapieverfahren
Grundlagen:
• Ziele
– Lernen mit dem Schmerz zu leben
– Hilfe zur Selbsthilfe (Linderung)
• Therapiekonzept
– Integrativ, interdisziplinär
– Analog der Verarbeitungsebenen: Wahrnehmung,
Bewertung, Verhalten
36
Therapieverfahren (1) Kognitive Verhaltenstherapie
• Grundannahme: kognitive Bewertung des Schmerzes
steuert Schmerzverhalten
• Therapieziel
– Förderung der Selbstkontrolle
– Eigenaktivität des Pat.
– Verringerung von Gefühlen der Hilflosigkeit
• Methoden
– Vermittlung von Bewältigungstechniken;
– Erkennen u. verändern von aufrechterhaltenden
Gefühlen, Gedanken, Handlungen;
37
Therapieverfahren (1) Kognitive Verhaltenstherapie
• Stufenplan (Beispiel)
– Diagnostische Phase (Individuelle Problematik,
Variabilität des Schmerzes)
– Neues Schmerzverstehen (multifaktorieller Ansatz,
Funktionen, Gefühle, Denken, Verhalten)
– Bewältigungstechniken (Entspannung, Verhaltens-/
Aktivitätsänderungen, Bezugspersonen)
– Anwendung im Alltag, Wahrnehmung von Selbstwirksamkeit, Selbstkontrolle
– Stabilisierung, Rückfallprävention
38
Therapieverfahren (2) Lernprogramme („Education“)
1. Den Schmerz kennenlernen, bewusst wahrnehmen
2. Verspannung (Stress) u. Schmerz – „den
Teufelskreis erkennen“
3. Veränderungen beginnen, Training
4. Veränderungen: Alltagsaktivitäten
5. Kommunikation mit Ärzten, Angehörigen
(einzeln o. in Gruppen)
nach Broome A, Jellicoe H (1987) Living with Pain
39
Therapieverfahren (3) Entspannung und Imagination
• Wichtigste, häufigste Technik, Basisbehandlung
• Bewusstseinszustand der Entspannung wirkt
stressmindernd und schmerzablenkend
• Selbstinduzierte Entspannung unterbricht gelernte
Hilflosigkeit
• Verbesserung des Körperempfindens im Zusammenhang
mit Stress und Schmerz
• Anwendung in Alltagssituationen (lebensnah)
• Kontraindikation: Schwere Psychosen, starke akute
Schmerzen, Ganzkörperschmerz
40
Therapieverfahren (3) Entspannung und Imagination
•
•
•
•
•
•
•
•
Progressive Muskelentspannung (Jacobson)
Autogenes Training (Schulz)
Biofeedback
Hypnose
Imaginationstechniken
Atemtechniken
Meditationstechniken
Körperübungen (Sport, Yoga, Chi Gong …)
41
Therapieverfahren (3) Hypnose
• Trance = schmerzlindernd
• Dissoziative Techniken: Paraesthesien (kalt, taub, pelzig,
empfindungslos)(räumlich: „Nice Place“)
• Assoziative Techniken: Grenzen, Schmerzfreie Zonen,
Farb-, Klang-Qualität
• Symbolische Techniken: Schmerzgestalt
• Symptom- oder problemorientiertes Vorgehen
• Hypnose wirkt besser als Entspannung oder Placebo
42
Schmerz und Liebe
Sag,
in was schneide ich deinen
Namen?
In die Erde
die man zertritt
und in der nur die Toten liegen?
In den Himmel?
Der ist zu hoch.
In die Wolken?
Die sind zu flüchtig.
Sag,
in was schneide ich deinen
Namen?
In den Baum,
der gefällt und verbrannt wird?
Ins Wasser
das alles fortschwemmt?
In mich
und in mich
und immer tiefer
in mich
Erich Fried
43
Vielen Dank
für Ihre Aufmerksamkeit!
44
Literatur
•
•
•
•
•
•
Basler HD, Franz C, Kröner-Herwig B, Rehfisch HP, Seemann H
(1990) Psychologische Schmerztherapie
Seemann H (1998) Freundschaft mit dem eigenen Körper schließen
Seemann H (2005) Psychologische Schmerztherapie; in PiD 6 (2005)
H 1, 2-5,
Schwarz R, Singer S (2008) Einführung Psychosoziale Onkologie
Herrschbach P, Heußner P (2008) Einführung in die
psychoonkologische Behandlungspraxis
Chochinov HM, Breitbart W (2009) Psychiatry in Palliative Medicine
45
Herunterladen