Untervazer Burgenverein Untervaz Texte zur Dorfgeschichte von Untervaz 1996 Das Rittertum im Mittelalter Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini. -2- 1996 Hans-Henning Kortüm Kortüm Hans-Henning: Menschen und Mentalitäten: Einführung in Vorstellungswelten des Mittelalters. Berlin 1996. Seite 53-78. Das Rittertum im Mittelalter -3- Kapitel III. Ritter S. 53: 1. Zur Terminologie 2. Ritterliche Mentalität 3. Ideologische Konzeption und tatsächliches Verhalten im Spätmittelalter 4. Bibliographie 1. Zur Terminologie Ritter und Rittertum gehören nach landläufiger Auffassung zu den Charakteristika des Mittelalters par excellence. Kein populäres Mittelalterbild kommt ohne sie aus. Beide Begriffe lösen zahlreiche Assoziationen aus: RitterBurg, Ritter-Rüstung, Ritter-Turnier etc. Dennoch entpuppen sich Ritter und Rittertum bei näherem Zusehen als äusserst komplexe Begriffe, die definitorisch schwer zu fassen und wissenschaftlich umstritten sind. Die auftretenden Probleme sind dabei grundsätzlicher Natur. So hat man beispielsweise von mediävistisch-literaturgeschichtlicher Seite aus betont, "dass der Ritterbegriff im 14. Jahrhundert zur Standesbezeichnung des niederen Adels geworden ist"1. Wir sind, folgen wir der soeben zitierten Auffassung Burnkes, mit dem seltsamen Umstand konfrontiert, dass eine endgültige rechtliche Fixierung des "Ritters" im Sinne eines Klein- oder Niederadligen erst im Spätmittelalter erfolgte, mithin in einer Zeit, die nach einer oft vertretenen Ansicht gar nicht mehr das "klassische" Zeitalter von Ritter und Rittertum gewesen ist, sondern in der vielmehr bereits der gesellschaftliche Abstieg des Ritters, seine Degeneration zum "Raubritter" eingesetzt habe. Die ältere mediävistisch-historische Forschung, aber auch noch die jüngere, geht demgegenüber vielfach von einem erweiterten "Ritterbegriff" aus und möchte von einem "Ritterstand" (im Sinne eines Berufsstandes) bereits S. 54: im 12. Jahrhundert sprechen, dieser habe sich "um 1300" endgültig "in einen Geburtsstand verwandelt"2. Die unterschiedlichen Kriterien, die entweder rechtlich oder berufsständisch orientiert sind, führen so zu einer gewissen begrifflichen Unsicherheit über den "Ritterstand". Aus diesem Dilemma hilft auch keine Betrachtung einschlägiger mittelalterlicher termini technici. So ist zu Recht auf die begriffliche Mehrdeutigkeit des Ausdrucks ordo militaris hingewiesen worden, der keinesfalls mit dem "Ritterstand" gleichgesetzt werden darf, sondern der in unterschiedlichen Textzusammenhängen auch ganz Unterschiedliches bedeuten konnte: so z. B. den "Kriegerstand" im Unterschied -4- zum "Klerikerstand" in Texten geistlicher Autoren, die etwa über die im zweiten Kapitel bereits angesprochene tripartite (dreigeteilte) Gesellschaft handelten3, "eine konkrete Bedeutung erhielt der Begriff ordo militaris oder ordo militum erst im 12. Jahrhundert, als er einerseits zur Bezeichnung der neuen religiösen Ritterorden (Templer-, Johanniterorden u. a.) benutzt wurde und andererseits gleichbedeutend wurde mit ordo ministerialis und zur Umschreibung der Ministerialität diente"4. Auch eine Betrachtung einschlägiger volkssprachlicher Bezeichnungen, des deutschen Ritter bzw. rîter (erstmalig in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts bezeugt) wie des französischen chevalier (nach 1100 in französischen Heldenepen belegt, aus spätlateinischem caballarius), hilft nicht weiter, meinen diese Begriffe doch meistens den einfachen Krieger oder Dienstmann (lat. ministerialis) bzw. den Berittenen. Die ganze Vielschichtigkeit offenbart freilich der in den lateinischen Quellen des Mittelalters weitaus am häufigsten gebrauchte Begriff des miles, der in der Zeit ab der Jahrtausendwende im allgemeinen in dreifacher Bedeutung verwendet wurde: 1. miles = Reiterkrieger (im Unterschied zu den pedites, Fusssoldaten), 2. miles = Vasall (vgl. lat. militare: d.h. militärischen (Lehns-)Dienst leisten als Vasall zu Pferde), 3. miles = Ministeriale (Dienstmann, zumeist aus unfreiem Stand). Der soziale Kontrast, den der Begriff des miles offenbart, könnte scheinbar nicht grösser sein, umfasst er doch sowohl den nichtadligen, unfreien Dienstmann wie den hochadligen Vasallen. Dennoch eint beide sozial so unterschiedliche Gruppen eine charakteristische funktionale Gemeinsamkeit, die es rechtfertigt, von einem ordo militaris in dem Sinn zu sprechen, dass er den Stand derjenigen bezeichnet, die "Dienst leisten", wobei es im S. 55: 12. Jahrhundert zu sozialgeschichtlich bedeutsamen Veränderungen kommt: Der ursprünglich unfreie Dienstmann steigt auf, sein fachliches, zumal militärisches Spezialistentum macht ihn wertvoll und unentbehrlich, nobilitiert ihn. Aus dem Ministerialenstand erwächst ein im Frühmittelalter so noch nicht existenter niederer Adel. Der Kreis militärischer Fachleute erweitert sich durch die "Ritter", die numerische Stärke des Adels nimmt zu. Dass insbesondere militärische Dienstleistungen eine so stark nobilitierende Funktion ausüben konnten, hängt ganz wesentlich damit zusammen, dass -5- militia durch die Kirche ideologisch überhöht wurde. Eine bereits per se anziehende militia erfuhr eine Attraktivitätssteigerung, wenn sie als militia Christi interpretiert und damit auch gerechtfertigt werden konnte. Der stärkste Propagandist dieser Deutung von militia wurde der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux (gest. 1153) mit seiner Schrift De laude novae militiae. In seinem Traktat unterschied er zwei Arten der militia: 1. die militia saecularis und 2. die militia Christi. Nur die zweite militia war für Bernhard erstrebenswert, während er die militia saecularis als malitia schmähte. Für unseren mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang wichtig ist der Umstand, dass adliges Verhalten und adlige Mentalität, wie wir sie im vorausgegangenen Kapitel zu umschreiben versuchten, also Tapferkeit, Treue, magnanimitas etc., eine ethisch-christliche Rechtfertigung erfuhren, sofern sie sich in der militia Christi verwirklichten. Der Gedanke der militia Christi, der militärischen Dienstleistung im Namen und im Auftrage Christi, ermöglichte das Weiterleben genuin adliger Wertvorstellungen in christlichem Gewande und förderte deren gesellschaftliche Akzeptanz. "Alter" und "neuer" Adel konnten sich beide in dem gemeinsamen Ideal des miles christianus, des "christlichen Ritters", wiederfinden und definieren. 2. Ritterliche Mentalität Zahlreiche Beschreibungs- und Deutungsversuche ritterlicher Mentalität und Verhaltensweisen kranken daran, dass vor allem die ältere Germanistik literarische Stilisierungen und Aussagen über das Rittertum für bare Münze genommen und dementsprechend von einem "ritterlichen Tugendsystem" (G. Ehrismann) gesprochen hat, dessen gleichzeitig konkrete wie ideale historische Ausformung man im staufischen Rittertum zu erkennen glaubte (H. Naumann). Heutzutage hat man freilich besser gelernt, poetische Fiktion und historische Realität auseinanderzuhalten und rechnet mit einer starken Kluft zwischen ritterlicher Stilisierung und tatsächlichem ritterlichem S. 56: Verhalten. So wird man insbesondere bei spezifisch "ritterlichen", namentlich von den Dichtern immer wieder beschworenen Tugenden wie Demut, Treue, staete, mâze usw. besonders kritisch sein müssen, ob Ideal und Wirklichkeit einander entsprachen, zumal bereits mittelalterliche Autoren sich der Spannung zwischen ritterlichem Ethos und alltäglicher Erfordernis bewusst waren und -6- den daraus häufig erwachsenden Kompromiss tadelten, weil hehre Ideale einer rauhen Lebenswirklichkeit zum Opfer fielen. So berichtet der normannische Geschichtsschreiber Ordericus Vitalis (gest. um 1141) über die Schwierigkeiten normannischer milites, die ihrem Herzog und Lehnsherrn Wilhelm, dem späteren englischen König, bei der Eroberung Englands 1066 geholfen hatten und sich Ende der sechziger Jahre noch immer auf der Insel aufhielten: "In dieser Zeit wurden einige Ehefrauen in der Normandie von der wilden Fackel ihrer Lust verbrannt. Sie schickten häufig Boten und forderten ihre Männer zu schneller Rückkehr auf. Sie fügten hinzu, dass sie sich andere Ehemänner verschaffen wollten, kämen ihre Gatten nicht schleunigst zurück. Weil sie mit der Seefahrt noch nicht vertraut waren, wagten die Ehefrauen nicht, den Kanal zu überqueren, um dort in England ihre Männer aufzusuchen, wo diese ständig unter Waffen und täglich unter grossen Verlusten für beide Seiten ausrückten. Der König (Wilhelm der Eroberer) aber wünschte wegen der zahlreichen Feldzüge seine Ritter (milites) bei sich zu haben, und bot ihnen in freundschaftlicher Art umfangreichen Grundbesitz an, der mit hohen Einkünften und umfassender Machtbefugnis verbunden war. Er versprach noch mehr, sobald das ganze Königreich von den Feinden gesäubert sei. Die rechtlich denkenden Barone und die tüchtigen Kämpfer ängstigten sich auf vielfache Weise, wenn sie an den König mit seinen Brüdern und Freunden und seine getreuen Genossen dachten, wie er von allen Seiten von Kriegsgefahr umgeben sei, sie selbst würden sich, verliessen sie ihn, dem öffentlichen Vorwurf der Untreue und der Verschwörung aussetzen, man würde sie als Feiglinge und Deserteure beschimpfen. Was sollten die angesehenen Helden hingegen tun, wenn ihre lasziven Ehefrauen ihr Ehebett durch Ehebruch befleckten und ihr Geschlecht durch die Geburt eines Kindes für alle Zeiten öffentlich entehrten? Deshalb brachen auf Hugo de Grentemaisnil, der schon die Herrschaft über die Bewohner des Gebietes von Kent innegehabt hatte, und sein Schwager Unfridus de Telliolo, dem die Burg Hastings seit dem Tage ihres Baubeginnes zur Bewachung übertragen worden war, und viele andere und verliessen traurig und gegen ihren Willen den König, der unter Fremden sich abmühen musste. Dann kehrten sie in die -7- S. 57: Normandie zurück, um ihren lasziven Herrinnen zu dienen, aber ihre Ämter und ihre Besitzungen, die sie sich schon erworben hatten, mussten sie dadurch im Stich lassen, weder sie noch ihre Erben konnten sie jemals wieder erlangen5 Vielleicht noch am ehesten von einer Übereinstimmung zwischen Ideal und Wirklichkeit wird man in solchen Situationen ausgehen können, in denen adlig-militärische Mentalität und erwartetes gesellschaftliches Verhalten des Ritters besonders eng zusammentreten konnten. Ein Musterbeispiel hierfür bildete das für das mittelalterliche Rittertum so typische Turnierwesen, entsprach es doch in nahezu idealer Weise adliger Kriegermentalität. Dieser Umstand dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass sich "Ritterturniere" in höchst vielfältiger Ausprägung auch und gerade im Spätmittelalter grösster Beliebtheit erfreuten. Das aus Frankreich kommende Turnier (lat. torneamentum, exercitia militum, hastiludium u. a.) vereinigte gleichzeitig mehrere Vorteile in sich: Zum einen bot es, wie schon das adlige Jagdvergnügen, militärisch-technisches Training für den Ernstfall, darüber hinaus gewährleistete es einer gesellschaftlichen Elite einen angemessenen Zeitvertreib durch aktive oder passive Teilnahme an einem spectaculum. Für den turnierenden Ritter damit verbunden war die Möglichkeit, gesellschaftliche Ehre und Anerkennung zu gewinnen und sein Bedürfnis nach Ruhm (gloria) zu befriedigen, die eigene existentielle Gefährdung und das finanzielle Risiko waren im Vergleich zu einer realen kriegerischen Verwicklung ungleich geringer, schliesslich ermöglichte das Turnier die heutzutage ein wenig archaisch anmutende Demonstration gesellschaftlichen Führungsanspruches durch den Erweis körperlicher Kraft und Geschicklichkeit im Rahmen einer adligen Festkultur. Die hohe gesellschaftliche Akzeptanz des Turniers bereits zu Ende des 12. Jahrhunderts erweist das in der Literatur in diesem Zusammenhang oft angeführte Mainzer Hoffest von 1184, auf dem die bei den Söhne des Kaisers Friedrich Barbarossa (1152-1190) zu Rittern geschlagen wurden. Es kann hier nicht der Ort sein, über die Entwicklung des in mannigfachen Formen ablaufenden Turnieres zu handeln6. Nur einige allgemeine -8- S. 58: Entwicklungslinien können skizziert werden. So werden die Turniere zunehmend teurer, da der Inszenierungsaufwand sich steigert. Das Turnier wird umrahmt von zahlreichen Begleitveranstaltungen, es kommt zu aufwendigem Tribünenbau, die Ausrüstung der Turnierkämpfer wird immer kostbarer, die gefährlichen Einzelkämpfe (Tjoste) werden immer beliebter und geben professionellen Turnierrittern ("Glücksritter") und jungen Adligen (juvenes milites) die Möglichkeit, gleichermassen zu Ansehen und zu Vermögen zu kommen. Freilich kam es bereits sehr früh, mithin zu einer Zeit, in der man vielleicht noch nicht wie dann im Spätmittelalter von einem besonders starken Gegensatz zwischen hoher Festkultur und alltäglicher Praxis ausgehen muss, zu einer unverblümten Kritik an ritterlichem Turnierverhalten. Einer der bekanntesten Prediger der Zeit, Jakob von Vitry (gest. 1240), Bischof von Akkon im Heiligen Land und Patriarch von Jerusalem, erinnerte sich, "dass ich eines Tages mit einem Ritter sprach, der sehr gerne Turniere besuchte und andere dazu bat, indem er Boten und Sänger aussandte, die zu den Turnieren einluden. Er glaubte nicht, wie er versicherte, dass ein solches Spiel (ludus) oder eine solche Waffenübung (exercitium) eine Sünde sein könne. Ansonsten war er aber sehr fromm. Ich habe damit begonnen, ihm zu erklären, dass mit dem Turnier die sieben Todsünden verbunden seien. Es fehlt nämlich nicht Hochmut (superbia) bei den Rittern, wenn sie, dem Lob der Zuschauer und eitlem Ruhm zuliebe, unfromm und eitel herumstolzieren. Es fehlt auch nicht der Neid (invidia) bei ihnen, wenn einer den anderen beneidet, weil dieser im Waffenhandwerk für tüchtiger gehalten wird und grösseres Lob erntet. Es fehlen nicht Hass (odium) und Zorn (ira) bei ihnen, wenn einer den anderen durchbohrt und ihm übel zusetzt und meistens tödlich verwundet oder direkt gleich tötet, aber darüber hinaus machen sie sich der vierten Todsünde, der Melancholie (acedia) bzw. der Traurigkeit (tristitia) schuldig. So sehr sind sie mit ihrer Eitelkeit beschäftigt, dass alle geistlichen Güter ihnen reizlos erscheinen, und wenn sie mit ihrem Gegner (auf dem Turnierplatz) nicht fertig werden, ergreifen sie häufig die Flucht, was ihnen Tadel einbringt und sie sehr traurig macht. Sie entbehren auch nicht der fünften Todsünde, d. h. der Habgier und einer räuberischen Gesinnung, wenn einer den anderen gefangensetzt und nicht freilässt und ihm sein Pferd, das er begehrt, mitsamt den Waffen raubt, aber auch bei den Turnieren plündern die Ritter auf schwere und unerträgliche Weise, rauben die Güter von anständigen Menschen, ohne Mitleid zu haben, -9- sie zertrampeln die Ernte oder rauben den Ernteertrag ohne Furcht und schädigen und S. 59: bedrängen die armen Bauern sehr. Die Turniere sind auch mit der sechsten Todsünde, der Fress- und Trunksucht (gastrimargia), verbunden, weil sich die Ritter weltlichem Pomp zuliebe gegenseitig zu Festessen einladen und eingeladen werden, nicht nur ihre Güter, sondern auch das Eigentum der armen Leute verschwenden sie bei ihren Gelagen und aus fremder Haut machen sie sich prächtige Gürtel. Sie entbehren auch nicht der siebten Todsünde, die man die Ausschweifung (luxuria) nennt, wenn sie unzüchtigen Frauen gefallen wollen, indem sie als waffenerprobt gelten wollen und sich daran gewöhnt haben, Schmuckstücke ihrer Damen gleichsam als eine Art Feldzeichen mit sich zu führen"7. Hier überrascht weniger die grosse Härte des Urteils als vielmehr die analytische Schärfe der Beobachtungen. Ritterliches Verhalten wird als adliges Konkurrenzdenken geschmäht und verurteilt. Die sieben Todsünden sind an die Stelle der traditionellen adligen Tugenden getreten, welche sich, ebenfalls sieben an der Zahl, aus den vier bereits in der Antike nachweisbaren, primär adligen Kardinaltugenden (Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mässigung) und den drei "christlichen" Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) zusammensetzen. Die ritterliche Mentalität wird dadurch blossgestellt, dass Jakob von Vitry die hinter ihr stehenden psychologischen Antriebskräfte, so z. B. männliches Imponiergehabe, Beutelust und mangelnde Selbstbeherrschung, entlarvt. Ritterliches Verhalten wird ausserdem nach seinen Konsequenzen befragt. Die Bilanz ist eindeutig negativ, nicht nur für den adligen Turniergegner, der von seinem Kontrahenten getötet wird, sondern vielmehr für die Gesellschaft insgesamt, in besondere den "dritten Stand", d.h. die Bauern, die die Kosten zu tragen haben. Mit seiner Kritik adliger Mentalität steht Jakob von Vitry nicht alleine. Bereits 1179 hatte das dritte Laterankonzil ein Begräbnisverbot für Ritter ausgesprochen, die im Rahmen eines Turniers umgekommen waren. Freilich befand sich die mittelalterliche Kirche in einem ausgesprochenen Dilemma, denn sie benötigte die Ritter dringend für die von ihr initiierten Kreuzzüge. - 10 - Diese Konfliktsituation bringt das folgende, häufig erzählte Exemplum zum Ausdruck: Ein Ritter reist zum Turnier. Unterwegs kommt er an einer Kapelle vorbei. Fromm, wie er ist, hält er an und betet zur heiligen Maria. Freilich führt dies S. 60: dazu, dass er nicht mehr rechtzeitig zum Turnier kommen kann. Betrübt reitet er nach Hause. Dort hat man bereits von seinem grandiosen Turniersieg erfahren. Der Ritter wird gefeiert und erkennt, dass an seiner statt die heilige Maria für ihn den Sieg erfochten hat8. Inwieweit das adlige Rittertum sich durch kirchliche Kritik wirklich beeindrucken liess, wissen wir nicht, zumal Ritter der Institution Kirche bisweilen ausgesprochen skeptisch gegenüberstanden, wie das folgende Exemplum lehrt: "Ich habe von einem gewissen Ritter gehört, dass er niemals die Wahrheit Gottes in der Form ihrer kirchlichen Verkündigung gehört habe und auch im Glauben nicht gut unterrichtet sei. Als er gefragt wurde, warum er nicht gern die heilige Messe hören wolle, die von solch grosser Würde und Kraft geprägt sei, dass (sogar) Christus und die Engel immer dorthin kämen, antwortete er nur: Das weiss ich nicht, aber ich war der Auffassung, dass die Priester die Messe einzig der Abgaben halber feierten. Nachdem er aber die Wahrheit gehört hatte, begann er darauf, gern und fromm die Messe zu hören"9. Viel spricht dafür, dass adlige Mentalität in ihrer ritterlichen Ausformung sich während des gesamten Mittelalters, und, folgen wir einer in der Forschung stark verbreiteten Meinung, auch darüber hinaus weit in die Neuzeit hinein erhalten hat. Wesentlich dazu beigetragen hat ganz sicher der Umstand, dass die Kirche sehr oft mit dem Adel institutionell und personell auf das engste verflochten war. So sorgte schon der gemeinsame soziale Hintergrund dafür, dass kirchliche Führungspersönlichkeiten, die in aller Regel aus dem Adel stammten, zu den eloquentesten Propagandisten adligritterlicher Mentalität gehörten. Ein eindrucksvolles Beispiel bieten die Gesta Danorum des sog. Saxo Grammaticus (gest. um 1216) aus dem ausgehenden zwölften Jahrhundert. Für den aus dem dänischen Roskilde stammenden Autor, der es bis zum Erzbischof von Lund brachte, löst sich die dänische Volks- und Königsgeschichte in eine - 11 - Vielzahl einzelner Heldenepisoden auf. Freilich, und darin liegt der Wert dieser Geschichtsschreibung für unser Thema, sind es keine archaischen Helden, obwohl der Autor sein Epos überwiegend in S. 61: sagenumwobener Frühzeit spielen lässt. Er überträgt seine Idealvorstellungen rechten Rittertums vielmehr in die Vergangenheit, was den Schluss nahelegt, dass die eigene Gegenwart wenig oder keinen Platz liess für ritterliche Mentalität und aus ihr resultierendes Verhalten. So lässt sich sein Werk auch als ein Spiegel zeitgenössischer ritterlicher Wunschbilder verstehen, die es uns wenigstens ansatzweise erlauben, eine histoire imaginaire rechten Rittertums zu rekonstruieren. Die "Recken" des Saxo Grammaticus, einem permanenten Zwang zur ritterlichen Bewährung ausgesetzt, liefern ebenso bereitwillig wie ständig Proben ihres ritterlichen Mutes und ihrer Körperkraft. Zeiten des Friedens werden eindeutig negativ bewertet, denn sie sind gleichzeitig Zeiten sittlicher Gefährdung einer "hitzigen" Jungmannschaft, deren aggressives Gewaltpotential nicht mehr auf einen äusseren Feind abgelenkt werden kann: "Als die Söhne des Westmar und Kolo (dänische Adlige) eben erwachsen geworden waren und voller Tatendrang steckten, hatte sich ihre Treuherzigkeit in Übermut verwandelt. Sie missbrauchten ihre Anlagen, die durch unverschämtes Verhalten beschmutzt waren, zu obszönen und entarteten Gewohnheiten. So unverschämt und zügellos führten sie sich auf, dass sie dadurch, dass sie die Ehefrauen und Töchter anderer geschändet hatten, die Keuschheit zu ächten und ins Bordell zu verbannen schienen. Nachdem sie auch die Betten ehrbarer Ehefrauen missbraucht hatten, scheuten sie nicht einmal mehr vor Jungfrauen zurück. Niemandem verschaffte sein Ehebett Sicherheit und fast kein Ort in ihrer Heimat war von den Spuren ihres ausschweifenden Lebens frei. Die verheirateten Männer wurden von Furcht, die Weiber durch die gewaltsame Schändung ihrer Leiber gequält. Man gehorchte den Verbrechen, man respektierte die ehelichen Bande nicht mehr, und der Beischlaf wurde mit Gewalt erzwungen, die Liebe wurde käuflich, während gleichzeitig die Achtung der Ehegatten untereinander schwand, in rasendem Tempo verlangte man nach Ausschweifungen. Der Grund hierfür war das Nichtstun, da mit Lastern vertraute Körper, wenn sie einer Betätigung ermangeln, im Zustand der Ruhe sich auflösen"10. - 12 - Einen zentralen Bestandteil adliger und vor allem auch ritterlicher Mentalität macht die Ehre (honor) aus. Wird diese verletzt, ist man als Ritter gezwungen, seine Ehre wiederherzustellen, und dies kann am einfachsten und am schnellsten dadurch geschehen, dass man zur Waffe greift und in der S. 62: festgelegten, ritualisierten, ritterlichen Form eines Zweikampfs, mit anderen Worten: in einem Duell, seine verletzte Ehre wiederherstellt, so zumindest in den literarisch-fiktiven Wunschbildern eines Saxo Grammaticus: "Zur selben Zeit nahm ein gewisser Agnerus, der Sohn des Ingellus, die Schwester des Rolvo namens Ruta zur Frau. Er richtete ein gewaltiges Festmahl aus. Die über alle Massen ausgelassenen Kämpen warfen, betrunken wie sie waren, einem gewissen Hialto ihre abgenagten Knochen an den Kopf. Da passierte es, dass dessen Nebensitzer, der Biarco hiess, versehentlich kräftig am Kopf getroffen wurde. Biarco, gleichermassen durch den erlittenen Schmerz provoziert wie in seiner Ehre gekränkt, warf den Knochen demjenigen, der ihn geworfen hatte, zurück, drehte daraufhin dessen Stirn nach hinten und bog dessen Hinterkopf nach vorn dorthin, wo seine Stirn gewesen war. So bestrafte er denjenigen, dessen Verstand verdreht war, durch ein verdrehtes Gesicht. Dies dämpfte ihre ehrverletzenden und unverschämten Scherze und zwang die Kämpen dazu, den Hof zu verlassen. Der Bräutigam, aufgebracht über das Unrecht, das sich während des Festmahls ereignet hatte, beschloss, mit Biarco zu kämpfen. Auf der Suche nach Rache für die gestörte Heiterkeit des Festes forderte er (den Biarco) zum Duell. Nur kurz hat man eingangs darüber verhandelt, wem von den bei den der erste Schlag gebühren sollte. Von alters her strebte man bei Kämpfen nicht danach, abwechselnd eine Vielzahl von Schlägen auszuteilen, sondern es folgte, jeweils mit einer Pause dazwischen, ein Schlag auf den anderen, und die Kämpfe wurden damals mit wenigen, dafür aber umso grässlicheren Schlägen ausgefochten, so dass damals weniger die Zahl der Schläge, als vielmehr die Stärke ihrer Ausführung für Ruhm sorgte. Aufgrund der Vornehmheit seines Geschlechtes kam Agnerus das Vorrecht zu, den ersten Streich zu führen. Er führte ihn mit solch einer Stärke aus, dass er den vorderen Teil des Helms durchschlug und die obere Kopfhaut verletzte, aber sein Schwert, eingeklemmt mitten zwischen den Helmteilen, musste er fahrenlassen. In der Absicht, seinerseits den Gegner zu schlagen, stemmte Biarco, um sein Schwert besser schwingen zu können, einen Fuss an einen Baumstumpf und durchschlug mit - 13 - seiner überaus scharfen Klinge den Körper des Agnerus zur Hälfte. Es gibt welche, die behaupten, Agnerus sei mit einem Lachen auf den Lippen gestorben, er habe seinen Geist aufgegeben, wobei er seinen Schmerz mit grösster Anstrengung zu verbergen suchte"11. S. 63: Auch wenn der Kämpe unterliegt, so sichert ihm doch ein "ehrenvoller" Tod und das ist nach ritterlicher Anschauung der Tod im Duell allemal, zumal wenn man so heiter-gelassen zu sterben versteht wie Agnerus, das Andenken der Nachwelt. Der bedenkenlose Einsatz der eigenen Person, die Bereitschaft, diese nötigenfalls zu opfern, gewährleistet den Ruhm (gloria) des Ritters. Freilich haben wir es hier mehr mit einem Wunschbild ritterlichen Verhaltens zu tun. Dass ritterliche Realität ganz anders ausgesehen hat, dass sich eine Diskrepanz ergab zwischen tatsächlicher Praxis und hehrem Anspruch an sich selbst - und dies nicht erst im späten Mittelalter - ist schon solch aufmerksamen Zeitgenossen wie dem von uns bereits zitierten Ordericus Vitalis aufgefallen. Der normannische Historiker räumte den mit der normannischen Eroberung Englands einsetzenden Spannungen zwischen englischem und französischem König bekanntlich in seinem Werk einen besonders grossen Raum ein. Er kam in diesem Zusammenhang auch auf die grösste militärische Auseinandersetzung zwischen Heinrich I. von England (\ 100-1138) und Ludwig VI. von Frankreich (11 08-1137) zu sprechen, die als "Schlacht von Bremule"12 (1119) in die Geschichtsbücher eingegangen ist: "Als König Ludwig das sah, was er sich so lange gewünscht hatte, rief er die vierhundert Ritter zu sich, die er damals unmittelbar zur Verfügung hatte, und befahl ihnen, zur Verteidigung ihrer Ehre und der Freiheit des Königreichs (Frankreich) tapfer in der Schlacht zu kämpfen, damit nicht durch ihre Feigheit der Ruhm Frankreichs untergehe..."13 Das schlechte Gefühl, das - folgen wir Ordericus Vitalis - den französischen König bereits vor der Schlacht beschlichen haben muss, war nicht unbegründet. Denn bereits die erste Angriffswelle der Franzosen, welche "kraftstrotzend nach Bremule zusammengeströmt waren, um tapfer gegen die Normannen zu kämpfen", blieb vor den englischen Linien stecken und brach in sich zusammen: - 14 - "Zwar begannen die Franzosen mit einem heftig vorgetragenen Angriff, Weil sie aber ungeordnet vorwärts stürmten, konnten sie überwältigt werden. Sie wurden schnell müde und begannen deshalb zu fliehen ... In der ersten S. 64: Schlachtreihe stürzten sich Wilhelm Crispinus (ein Normanne, der auf französischer Seite kämpfte) und achtzig Ritter auf die Normannen, aber nachdem man ihre Pferde getötet hatte, wurden die Reiter alle eingeschlossen und gefangengenommen ..." (Im folgenden berichtet Ordericus noch von anderen französischen Rittern, die man von ihren Pferden herunterholen und gefangen nehmen konnte:) Als das die Franzosen sahen, sagten sie zu ihrem König: Achtzig unserer Ritter, die als erste angegriffen haben, sind nicht zurückgekommen. Der Feind ist uns zahlenmässig und an Kampfkraft überlegen. Schon hat man den Burcard und den Otmund und andere hervorragende Kämpfer gefangengenommen, unsere Schlachtreihen sind schon beträchtlich ins Wanken geraten und reduziert. Wir bitten dich deshalb, O Herr, zieh dich zurück, damit wir nicht einen irreparablen Verlust erleiden. Ludwig hörte auf diese Worte und machte sich mit Baudry von Bray schleunigst aus dem Staub. Die Sieger aber nahmen einhundertvierzig Ritter gefangen und verfolgten die übrigen bis an die Stadttore von Les Andelys. So sind diejenigen, die voller Pomp auf einer Strasse dahergezogen kamen, in alle Winde zerstreut, auf vielen krummen Wegen entflohen ... Man hat mir (Ordericus) erzählt, dass bei diesem Treffen der bei den Könige fast neunhundert Ritter teilgenommen haben, aber nur drei den Tod fanden. Die Ritter waren nämlich an allen Seiten mit Eisen geschützt und wegen ihrer Gottesfurcht und aus alter Verbundenheit gemeinsamer Waffenbruderschaft schonten sie sich gegenseitig. Und sie waren nicht so sehr darauf bedacht, die Flüchtenden zu töten, als vielmehr gefangenzunehmen und zu schonen. Christliche Kämpfer dürsten nicht nach dem Blut ihres Mitbruders, sondern freuen sich über einen rechtmässigen Sieg, den sie mit der Hilfe Gottes zum Nutzen der Heiligen Kirche und zur Sicherheit der Gläubigen errungen haben ... Der König (von Frankreich) irrte auf der Flucht allein im Wald umher. Aber irgendein Bauer, der nicht wusste, wen er vor sich hatte, traf ihn zufälligerweise. - 15 - Diesen bat der König inständig und versprach ihm eidlich zahlreiche Geschenke, er möge ihm doch eine Abkürzung nach Andelys zeigen oder auch ihn gegen eine grosse Belohnung dorthin begleiten. Der Bauer, im Vertrauen auf eine üppige Bezahlung, gab seine Einwilligung und führte den zitternden König nach Andelys. Ludwig fürchtete sich sowohl vor einem Verrat seines vorausgehenden Führers als auch vor der Gefangennahme durch seine nachrückenden Feinde. Als das Bäuerlein das herrschaftliche Gefolge sah, das in Les Andelys dem König beflissen entgegenkam, schätzte er die Belohnung, die ihm für seine Dienste zukommen würde, als S. 65: "usserst gering ein. Er verfluchte seine eigene Dummheit und trug schwer daran, dass ihm ein so grosser Gewinn entgangen war, nur weil er den König nicht erkannt hatte"14. Der Bericht des Ordericus Vitalis macht vor allem zwei Dinge deutlich: Erstens kann von einer Bereitschaft der Ritter, für den eigenen Ruhm und für König und Vaterland ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nicht wirklich ernsthaft die Rede sein. Statt dessen ergreift man, schon als der allererste vorgetragene Angriff scheitert, Hals über Kopf die Flucht, der Rückzug wird nicht geordnet angetreten. Man spürt förmlich das kaum verhüllte Erstaunen des Chronisten, dass es in dieser Schlacht, die ihren Namen kaum verdient hat, nur drei Tote gegeben hatte, obwohl doch fast neunhundert Ritter an ihr teilgenommen hatten. Sein Hinweis, dies verdanke man unter anderem der christlichen Gesinnung der Ritterschaft, ist ein leicht durchschaubarer Versuch, die Differenz zwischen Ideal und Realität zu überspielen. Aus der angeblichen Schlacht ist in Wahrheit längst ein Turnier geworden. Dieser Umstand bringt es mit sich - und dies ist die zweite wesentliche Erkenntnis, die wir dem Bericht des Ordericus Vitalis entnehmen können -, dass das Risiko für den einzelnen Ritter viel weniger darin besteht, auf dem Feld der Ehre zu fallen, als vielmehr in Gefangenschaft zu geraten. Die Gefangenschaft war nun, wie die Anekdote vom "dummen Bäuerlein" andeutet, vor allem unter finanziellem Aspekt interessant. Was für den unterlegenen Gegner möglicherweise einen grossen finanziellen Verlust, wenn nicht gar seinen finanziellen Ruin bedeutete, wenn er in Gefangenschaft geriet, aus der er sich oft durch hohe Summen freikaufen musste, war andererseits für den Sieger eine willkommene Gelegenheit, sich finanziell zu sanieren. "Ritterliches" Verhalten, die Schonung des Gegners, - 16 - ist also nicht etwa Ausdruck einer spezifisch ritterlichen Mentalität, sondern vor allem auch Ausdruck einer ökonomisch-rationalen Mentalität militärischer Spezialisten, die in der wirtschaftlich prosperierenden Gesellschaft des 12. Jahrhunderts sich längst der Bedeutung des Geldes bewusst geworden waren. Wie sehr finanzielle Aspekte die ritterliche Mentalität beeinflussen konnten, legen auch andere Stellen bei Ordericus nahe. So berichtet der Historiker vom Fall der mächtigen Burg Bridgnorth in Südengland. Sie bildete den wohl wichtigsten Stützpunkt für den normannischen Herzog Robert Kurzhose (gest. 1137), der in England zu Anfang des 12. Jahrhunderts gegen S. 66: seinen jüngsten Bruder, den mittlerweile (seit 1100) zum König avancierten Heinrich I. (1100-1135), den späteren Sieger von Bremule, opponierte. Die Kommandanten der Burg, obschon Anhänger und Vasallen Roberts liessen sich zur Übergabe der Festung an den englischen König überreden: Ihr Entschluss wurde freilich dadurch erleichtert, dass man ihnen reiche Belohnung für ihren Übertritt versprach. Noch galt es freilich, die Ritterschaft auf der Burg für den König zu gewinnen. Diese spaltete sich in zwei Gruppen auf: "Die ständig auf der Burg wohnenden Ritter stimmten, nachdem sie den (mit einer Übergabe verbundenen) Vorteil für sich erkannt hatten, (dem Vorschlag zur Übergabe) zu und gehorchten, weil sie sich nicht ihrerseits durch einen Widerstand gegenüber dem königlichen Willen in Gefahr begeben wollten. Mit Erlaubnis des Königs schickten sie ihrem Lehnsherrn Robert einen Boten, durch den sie ihm mitteilen liessen, dass sie der militärischen Gewalt des unbesiegbaren Königs (Heinrich I.) nicht länger Widerstand leisten könnten. Die gegen Geld angeworbenen Soldritter wussten freilich nichts von dem Frieden, den die anderen Ritter und die in der Burg sich aufhaltenden Bürger, die keine Lust verspürten unterzugehen, bereits geschlossen hatten, ohne sie zu fragen. Sie gerieten in Wut, als sie von dem unerwarteten Plan erfuhren, griffen zu ihren Waffen und versuchten, die bereits begonnene Übergabe zu verhindern. Durch die Gewalt der in der Burg ansässigen Ritter wurden sie in eine Ecke der Burg abgedrängt. Das königliche Gefolge wurde zusammen mit dem königlichen Banner von vielen freundlich in der Burg empfangen. Darauf gestattete der König den angeworbenen Soldrittern, weil diese ihrem Fürsten die Treue bewahrt hatten, wie es sich geziemte, freien Abzug. Als diese die Burg verliessen und die Reihen der Belagerer durchquerten, - 17 - begannen sie sich lauthals zu beklagen: Sie seien von der Burgbesatzung und deren Anführern ganz übel zum Narren gehalten worden. Und vor dem ganzen (königlichen) Heer deckten sie die geheimen Pläne der Überläufer auf, damit nicht ihr Fall Anlass geben sollte, andere Soldritter durch Vorwürfe zu inkriminieren"15. Die Schilderung des Chronisten ist ein Hinweis auf die Schwierigkeiten, denen sich jede Bestimmung ritterlicher Mentalität ausgesetzt sieht. Es gibt S. 67: nicht "den Ritter" und "das ritterliche Ideal". Auch der Berufsstand des Ritters ist in sich stark differenziert. Es gibt den Ritter, der als Lehensmann dient, und der, wenigstens im England des frühen 12. Jahrhunderts, gegen entsprechende Belohnung relativ leicht die Seite zu wechseln bereit ist. Er verspürt offensichtlich nur eine begrenzte Neigung, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Entweder flieht er oder geht zur militärisch stärkeren Partei über. Daneben gibt es die Soldritter (milites stipendiarii) mit einer Berufsehre, aber auch sie könnte zumindestens teilweise auf finanziellen Motiven beruhen. Die Unzufriedenheit der aus der Burg zum Abzug gezwungenen Soldritter beruht darauf, dass ihnen durch den "Verrat" der übrigen Ritter jede Möglichkeit genommen wurde, wenigstens ihre Bereitschaft zu demonstrieren, militärischen Widerstand zu leisten. Die damit verbundene notwendige Rufschädigung beeinträchtigte ihre Chancen auf Weiterverwendung oder auf eine "Neueinstellung" bei einem anderen Herrn, der gegen gutes Geld auch "gute Arbeit" verlangen konnte. Dass ritterliche Mentalität höchst unterschiedlich sein konnte, beweist nicht zuletzt auch die Schilderung der Schlacht von Bourgthéroulde 1139. Ordericus war über ihren Verlauf durch seine persönliche Bekanntschaft mit einigen an der Schlacht beteiligten Adelsfamilien gut informiert. Die Auseinandersetzung weist in ihrem Verlauf eine grosse Ähnlichkeit mit Bremule auf. Der schwungvoll vorgetragene Kavallerieangriff der Ritter bleibt im Feuer der Bogenschützen stecken, die abgesessenen Verteidiger nehmen zahlreiche Ritter gefangen. Die grosse Masse der angreifenden Ritter flieht, wobei es zu grotesken Szenen kommt: "Wilhelm Lovel (ein Ritter) freilich wurde von einem Bauern gefangengenommen. Um seine Freilassung zu erreichen, gab er ihm seine Waffen, von ihm nach der Art eines Hausknechtes geschoren floh er, in der - 18 - Hand einen Stab haltend, daraufhin an die Seine. Unerkannt kam er zur Stelle, wo man über den Fluss setzte. Um die Überfahrt zu bezahlen, gab er dem Fährmann seine Stiefel und so kam er mit nackten Füssen nach Hause, froh, wenigstens dem Feind nicht in die Hände gefallen zu sein"16. Dass der angreifende Gegner nicht den Sieg davongetragen hatte, lag aber nicht nur an der besseren Taktik der Verteidiger, die, ebenso wie bei Bremule, S. 68: in der Mehrzahl waren. Vielmehr lag es auch an ihrer besseren Moral, sprich an ihrer speziellen Mentalität. Sich als militärische Elite fühlend, waren diese angeworbenen, bezahlten Ritter (milites stipendiarii), wollten sie auch in Zukunft vom König weiter "beschäftigt" werden, zum energischen Widerstand verpflichtet. Es galt, gleichermassen den eigenen Ruf und den eigenen Unterhalt zu verteidigen, wie einer ihrer Anführer, Odo Borleng, seinen untergebenen Rittern erklärte: "Schaut euch doch nur die Gegner des Königs (Heinrich I. von England) an, wie sie sein Land verwüsten und sorglos sind. Einen Grossen, dem der König die Verteidigung seines Reiches übertragen hat, haben sie schon gefangengenommen und weggebracht. Was sollen wir tun? Sollen wir es etwa zulassen, dass sie straflos die ganze Gegend verwüsten? Ein Teil unserer Leute muss bei der Schlacht absitzen und sich bemühen, zu Fuss zu kämpfen, der andere Teil soll zum Kämpfen auf den Pferden sitzen bleiben. Die Gruppe der Bogenschützen soll sich in die vorderste Linie begeben und den Angriff der feindlichen Reiterei dadurch verzögern, dass sie deren Pferde verwundet. Heute wird der Mut und die Kraft jedes Ritters auf diesem Schlachtfeld deutlich werden. Wenn wir es nämlich in feiger Tatenlosigkeit zulassen, dass ein Baron des Königs von den Feinden gefesselt weggebracht werden kann, ohne dass wir einen Schwertstreich führen, wie wollen wir es dann noch wagen, vor den Augen des Königs zu erscheinen? Zu Recht werden wir unseren Lohn zusammen mit unserem Ansehen verlieren und nach meiner Meinung werden wir dann künftig nicht mehr vom königlichen Brot essen. Also wurden die übrigen durch die Ermahnung eines solch hervorragenden Helden in ihrem Mut befestigt. Und seine Waffengefährten gaben ihm ihre Zustimmung, dass er mit seinem Gefolge absitzen könne. - 19 - Das lehnte er nicht ab, sondern wartete heiter mit den Seinen, von denen er sehr geschätzt wurde, auf den Kampf. Waleranus, ein junger Mann (er gehörte zur Partei der Angreifer, die dem König feindlich gesonnen war), begierig auf den Kampf, begann beim Anblick der Feinde, begeistert wie ein Junge zu tanzen, als hätte er sie bereits besiegt, aber der ältere und reifere Amalricus riet diesem und den anderen unvorsichtigen Rittern folgendermassen vom Kampf ab: Um alles in der Welt, so beschwor sie Amalricus, meine ich, dass wir den Kampf vermeiden sollten. Denn wenn wir, die wir in der Unterzahl sind, es wagen zu kämpfen, fürchte ich, dass dieser Umstand uns Schande bringt und Schaden einträgt. Seht nur, Odo Borleng ist mit den Seinen bereits abgestiegen, ihr sollt wissen, dass er alles versuchen will, uns zu überwinden. Ein Ritter, der S. 69: kampfentschlossen von seinem Pferd steigt, um zu Fuss zu fechten, wird nicht fliehen, sondern sterben oder siegen"17. Amalricus wurde nicht gehört. Der zu Pferde angreifende Adel verwechselte ganz offensichtlich, wie schon in Bremule, die Schlacht mit einem Turnier, die Wirklichkeit mit dem Kampfspiel. Offensichtlich verbot ihm seine konservative Mentalität eine nichtadlige Kampfesweise zu Fuss. Und so kann auch der Sieg des königstreuen Odo Borleng nicht weiter überraschen. Wohl zu den am schwierigsten zu beantwortenden Fragen gehört die Zuordnung eines ganz bestimmten zivilisatorischen Verhaltens zu den Rittern. Hat heutiges "ritterliches Verhalten" etwas mit den mittelalterlichen Rittern zu tun? Ganz sicherlich hat es etwas mit dem bisher von uns noch nicht gestreiften Begriff des "Hofes" zu tun. Dessen Bedeutung für Ritter und Rittertum hat die Forschung dadurch Rechnung zu tragen versucht, dass sie bisweilen von der "höfisch-ritterlichen Kultur" spricht. Freilich ist die Frage nach der Beziehung von Höfischem und Ritterlichem zueinander ausgesprochen schwierig zu beantworten. So spricht man bezeichnenderweise von "höfischer Liebe",18 bei der der Ritter als Werber um die Liebe und Gunst seiner Herrin sehr wohl eine wichtige Rolle spielt, aber eben nicht von "ritterlicher Liebe". Entscheidendes Konstituens dieser Liebesbeziehung war der Umstand, dass sie unter den gesellschaftlichen Bedingungen des "Hofes" ablief. Daher sollte man vorsichtig sein und solche zivilisatorischen Errungenschaften wie z. B. Höflichkeit, - 20 - Zuvorkommenheit namentlich gegenüber dem weiblichen Geschlecht, wohl weniger einer angeblichen "Ritterlichkeit" der Ritter als vielmehr primär der zivilisatorischen Kraft höfischer Etikette zuschreiben. Dies gilt umso mehr, als wir nicht wissen, wieweit dieses vor allem in der Dichtung beschriebene Geschlechterverhältnis eine geschichtliche Realität besass. Mit ungleich grösserer Sicherheit wird man sagen können, dass Ritter einem besonders starken Zwang zu einem gruppen-konformen Verhalten unterlagen. Man hatte als Ritter sich auch "ritterlich" zu verhalten, denn man unterlag stets einer effizienten sozialen Kontrolle durch seine Standesgenossen. Dass dadurch reines Nützlichkeitsdenken bisweilen eher in den Hintergrund treten musste, andererseits die Neigung zur Repräsentation und S. 70: Selbstinszenierung notwendigerweise wuchs, zeigen militärisch sinnlose aber dem ritterlichen Bedürfnis nach Selbstdarstellung entgegenkommende Waffenspiele, wie sie beispielsweise im Zuge der Auseinandersetzungen um die Grafschaft Maine Ende des 11. Jahrhunderts zwischen dem englischen König Wilhelm Rufus und dem Grafen Fulko IV. von Anjou stattfanden. Fulko hatte die Hauptstadt der Grafschaft, Le Mans, noch eilig durch eigene Truppen militärisch verstärkt, um dem heranrückenden englischen König Paroli bieten zu können: "Als der König nahte, rückten die Ritter ihrerseits aus der Stadt, ihm entgegen. Und den ganzen Tag hat man tapfer gegen die Normannen gekämpft. Und auf beiden Seiten hat man militärische Taten vollbracht. Die berühmten Helden suchten sich nämlich gegenseitig ihre Körperkräfte zur Schau zu stellen, und sie wollten vor ihren Fürsten und ihren Kameraden für ihre Bluttaten Ruhm einheimsen"19. Sehr hoch dürfte die gegenseitige soziale Kontrolle und der Zwang zur Übernahme gemeinsamer Normen naturgemäss auch in städtisch-höfischem Milieu gewesen sein, das gleichzeitig einen idealen Ort ritterlicher Selbstinszenierung abgab. Auch hier bietet sich der soeben erwähnte Graf Fulko IV. von Anjou als ein gutes Beispiel an. Auch wenn ihn missgünstige Zeitgenossen mit dem wenig ehrenvollen Beinamen der Griesgrämige (franz.: le Réchin) bedachten, so war er Ordericus zufolge das unbestrittene modische Vorbild seiner Ritterschaft. Diese folgte ihm begeistert, und zwar galt das vor allem für die von ihm propagierte Schuhmode. - 21 - Fulko, an den Zehen körperlich verunstaltet, machte aus der Not eine Tugend. Er verwarf den, wie es Ordericus zumindestens darstellt, bislang allein üblichen weiten und runden Bequemschuh zugunsten spitzer, dafür aber umso modischerer Schnabelschuhe: "Aber jetzt nehmen die Weltleute in ihrem Hochmut, der zu ihren verdorbenen Sitten passt, begierig die neue Mode auf, und was einst ehrenwerte Männer für äusserst anstössig hielten und gleichsam als Kot verabscheuten, schätzen die Modernen als süssen Honig und tragen es, als handle es sich um eine Auszeichnung"20. S. 71: Das ganze Unglück hatte, folgen wir dem Bericht des zutiefst entrüsteten Ordericus Vitalis, mit einem gewissen Robertus, einem "närrischen" Höfling des englischen Königs Wilhelm Rufus, angefangen und hatte sich dann rasch als dernier cri auch auf den Kontinent ausgebreitet. Die Auswirkungen seien verhängnisvoll gewesen: Alte Heroen hätten sich in verweichlichte, undisziplinierte Männer verkehrt: "Einige beanspruchten die ganze Zeit für sich und verbrachten sie, entgegen dem Gesetz Gottes und der Väter, nach ihrem eigenen Gusto. Nachts beschäftigten sie sich mit Fressen und Saufen, eitlen Erzählungen, mit Würfelspiel und anderen Vergnügungen, am Tag aber schliefen sie. So ist nach dem Tode Papst Gregors (VII., gest. 1085) und Wilhelms des Bastards (gemeint W. der Eroberer, gest. 1085) und anderer frommer Fürsten in der westlichen Welt die ehrwürdige Sitte der Väter nahezu vollkommen abgeschafft worden. Jene trugen bescheidene Gewänder, die eine hervorragende Passform besassen, überaus praktisch waren beim Reiten, Laufen und überhaupt bei jeder vernünftigen Tätigkeit. Aber in diesen Tagen ist die Mode durch neue Erfindungen revolutioniert worden. Die leichtfertige Jugend geniesst feminine Weichheit, und die Männer bei Hofe himmeln die Frauen mit grösster Laszivität an. Auf ihre Fusszehen, wo eigentlich der Körper aufhört, stecken sie sich schlangenartige Schwänze, damit sie gleichsam Skorpione vor ihren Augen haben. Den Staub vom Erdboden wischen sie mit ihren viel zu langen Gewändern und Mänteln auf, was auch immer sie tun, lange und weite Ärmel bedecken ihre Hände, und durch solch überflüssiges Zeug belastet, können sie kaum noch schnell gehen oder etwas anderes in nützlicher Weise tun. - 22 - Wie die Diebe tragen sie ihre Haare vorne kurz, dafür aber hinten lang wie die Huren. Einstmals waren Büsser, Gefangene und Pilger für gewöhnlich ungeschoren und trugen lange Bärte und machten dadurch denjenigen, die sie anschauten, unmissverständlich deutlich, dass sie entweder Busse taten, gefangen waren oder sich auf Pilgerschaft befanden. Nun tragen aber fast alle Leute verrückterweise einen kleinen Bart und geben dadurch öffentlich zu erkennen, dass sie sich über schmutzige Vergnügungen freuen, als wären sie stinkende Böcke. Sie lassen sich die Haare mit der Brennschere kräuseln, sie bedecken ihren Kopf mit einem Band oder einem Hut. Kaum ein Ritter geht in die Öffentlichkeit ohne Kopfbedeckung und geschoren, wie es die apostolische Vorschrift zu Recht fordert"21. S. 72: Auch die folgende Geschichte, die der überaus gut informierte Notar und Geschichtsschreiber Galbert von Brügge (gest. nach 1128) über das Duell zweier Ritter erzählt, verdeutlicht den grossen Anpassungsdruck, dem sich Ritter ausgesetzt sahen, und der sie dazu veranlasste, entsprechend den Konventionen ihres Standes zu handeln, ohne dass sie die Möglichkeit gehabt hätten, sich alternativ zu verhalten. Der Zweikampf fand am 11. April 1127 im flandrischen Ypern statt. Die präzise Schilderung Galberts macht deutlich, dass der zum Duell geforderte Ritter Wido nicht die geringste Chance hatte, sich dieser Auseinandersetzung zu entziehen. Dieser musste die Aufforderung schon deshalb annehmen, weil er "in aller Öffentlichkeit" - d. h. vor dem flandrischen Fürsten Wilhelm von Ypern (gest. 1165) - des Verrats und damit der Verletzung seiner Pflichten als Lehnsmann beschuldigt worden war, auch wenn ihm das Vertrauen auf seine grossen Körperkräfte vielleicht die Entscheidung etwas leichter gemacht haben sollte. Die Geschichte ist aber auch geeignet, falsche Vorstellungen über eine angeblich spezifisch "ritterliche" Kampfesweise zu erschüttern. Denn das Duell der bei den Ritter hält sich keinesfalls an "ritterliche" Spielregeln und erinnert in seiner erbarmungslosen Brutalität viel eher an römisches Gladiatorentum: "Zur gleichen Zeit hatte Wido, ein berühmter und starker Ritter, der im flandrischen Fürstenrat eine herausragende Position besass, an eben dieser Verschwörung (gegen den 1127 ermordeten Karl v. Flandern) teilgenommen, weil er die Nichte des (Brügger) Propstes (Bertulf, Hauptfeind Karls), die Schwester des Isaac (Bertulfs Neffe), geheiratet hatte. Daher forderte ein gewisser Hermann der "Eiserne", ein kräftiger Ritter, unmittelbar nach der - 23 - Ermordung Karls, in Anwesenheit des Fürsten Wilhelm Adulterinus von Ypern, den Wido zu einem Zweikampf heraus, weil dieser schändlicherweise seinen Lehnsherrn verraten habe. Wido aber sprang auf: Er werde immer bereit sein, sich wegen dieses ihm zur Last gelegten Verrates zu rechtfertigen. Und man bestimmte als Termin (des Kampfes) den Tag, an dem auch der Propst qualvoll zu Tode kam. Als der Propst gestorben war, kehrten alle, die dabei gewesen waren, sofort an den Hof zurück, an dem der Kampf zwischen Hermann dem Eisernen und Wido stattfinden sollte. Beide kämpften verbissen miteinander. Wido aber hatte seinen Gegner vom Pferd herabgestossen, und sooft dieser versuchte, wieder hochzukommen, wurde er von Widos Lanze zu Boden gedrückt. Als sein Widersacher sich einmal genügend genähert hatte, durchbohrte Hermann mit seinem Schwert Widos Pferd. Wido stürzte von seinem Pferd. zog sein Schwert und ging auf seinen Gegner los. Es gab ein ununterbrochenes und äusserst S. 73: heftiges Aufeinandereinschlagen der beiden Gegner mit ihren Schwertern, bis sie, erschöpft durch die Last und das Gewicht ihrer Rüstungen, beide ihre Schilde wegwarfen und versuchten, durch einen Ringkampf die Auseinandersetzung schnell zu ihren Gunsten zu entscheiden. Und jener Hermann der Eiserne stürzte zu Boden. Wido warf sich auf ihn und zerquetschte mit seinen eisernen Widerhaken dessen Mund und Augen. Aber der niedergestürzte Hermann gewann, so wie man es von Antheus liest, durch die Kälte des Bodens allmählich seine Kräfte wieder. Es gelang ihm schlauerweise, Wido glauben zu machen, dieser habe gewonnen. Unterdessen schob Hermann ganz vorsichtig seine Hand bis an das untere Ende von Widos Panzer, an eine Stelle, wo dieser nicht mehr besonders geschützt war. Hermann ergriff schnell Widos Hoden, nahm dann alle seine Kräfte zusammen und stiess darauf ganz plötzlich seinen Gegner wieder von sich. Dieser reissende Stoss, der von unten ausgeführt wurde, zerstörte gleichzeitig auch die ganze Natur des (gegnerischen) Körpers, so dass Wido zu Boden stürzte, gänzlich den Mut verlor und ausrief, er sei besiegt und werde bald sterben"22. 3. Ideologische Konzeption und tatsächliches Verhalten im Spätmittelalter Das Spätmittelalter bedeutete für die ritterliche Mentalität eine besondere Herausforderung insofern, als die Diskrepanz zwischen ritterlichem Ethos und - 24 - alltäglicher Lebenswirklichkeit eher noch wuchs. Auch wenn diese Aussage natürlich nur ganz allgemein gilt und jeder Einzelfall historisch differenziert betrachtet werden muss, kann doch davon ausgegangen werden, dass das Rittertum auf zentralen Feldern in seinem Selbstverständnis durch neue Spätmittelalterliche Entwicklungen tangiert wurde. Nur wenig oder genauer gesagt, eigentlich gar kein Verständnis konnten Spätmittelalterliche Landesherrn beispielsweise für ritterliche Fehden aufbringen. Das Verlangen des Ritters nach Durchsetzung seiner Rechte in der Form der privatrechtlichen Fehde war unvereinbar mit der Entstehung des "staatlichen" Gewaltmonopols. Die Herausbildung stehender Heere und S. 74: grosser Söldnerverbände mit stark spezialisierten Waffengattungen (englische Bogenschützen, massierter Einsatz gut ausgerüsteter Infanteristen, allmähliches Aufkommen der Artillerie), wie sie sich bereits im hohen Mittelalter abgezeichnet hatte, offenbarte die "selbstmörderische Antiquiertheit der Ritter" (H. Fuhrmann) und liess nur noch wenig Raum für den ritterlichen Einzelkämpfer zu Pferde. Die starke Betonung ritterlicher Werte ausgerechnet im Spätmittelalter wäre dann nur als eine verständliche Reaktion auf die in Frage gestellte gesellschaftliche Führungsposition einer äusserst verunsicherten Ritterschaft zu interpretieren. Wir können trotzdem immerhin soviel sagen, dass die ritterliche Ideologie sich im späten Mittelalter nach wie vor grosser Beliebtheit erfreute. Krieg und Kriegsführung galten in diesen Kreisen nach wie vor als ein ehrliches und ehrenvolles Gewerbe, wie die folgende Anekdote über den englischen Kapitän John Hawkwood zeigt, den es nach einer Tätigkeit im sog. Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich nach Italien verschlagen hatte: "Hawkwood begegnete am Stadttor von Montecchio (Stadt in Italien) zwei Brüdern, die ihm mit dem Friedensgruss entgegenkamen. Möge Gott eure Wünsche nicht beachten, antwortete er, wisst ihr denn nicht, dass ich vom Krieg lebe und dass der Frieden mich arbeitslos machen würde? Der Erzähler der Anekdote setzte noch hinzu: Hawkwood machte seinen Job so gut, dass es in Italien damals wenig Frieden gab"23. Die Übernahme ritterlicher Ideologie auch durch solche Leute, die wie der Söldnerführer John Hawkwood gegen handfeste Bezahlung ihr militärisches Spezialistentum vermarkteten, - 25 - sagt freilich noch nichts darüber aus, ob eine dem Adel zugeschriebene angebliche ritterliche Mentalität tatsächlich das konkrete Verhalten beeinflusst hat. Der niederländische Kulturhistoriker Jan Huizinga (gest. 1945) hat in seinem erstmals 1919 erschienenen berühmten Buch "Herbst des Mittelalters" von einer "politischen und militärischen Bedeutung des Rittergedankens" gesprochen und dabei die These verfochten, dass "es (das Ritterideal) die Forderungen der Strategie denen der Lebensschönheit opferte"24. Freilich sind die von ihm angeführten Belege problematisch. Das gilt beispielsweise von den "Fürstenzweikämpfen" des S. 75: Spätmittelalters. Die Tatsache, dass sie niemals stattgefunden haben, verweist auf ihren Sinn: Die Aufforderung zum Duell, zum ritterlichen Zweikampf, wird propagandistisches Mittel der Aussenpolitik. In der Literatur und Festkultur der Zeit (Turniere) kultivierte Vorstellungen über den idealen Ritter werden politisch ausgenutzt, bestimmen aber wohl kaum die Mentalität der spätmittelalterlichen "Ritter". Das zeigt auch ein Blick auf die spätmittelalterliche Kriegsgeschichte. So ist die bereits erwähnte "selbstmörderische Antiquiertheit" des Ritterstandes vor allem Ausdruck einer konservativen adligen Kriegermentalität, die nicht rasch genug auf die Wandlungen im Kriegswesen reagierte. Auch mit der angeblichen Tapferkeit der Ritterheere war es nicht immer zum besten bestellt. Die Kriegsgeschichte der Zeit bietet genügend Beispiele für Panik und Massenflucht, wie sie von uns bereits für das Hochmittelalter festgestellt wurden. Kontinuität von Hoch- zu Spätmittelalter ist auch für die angebliche ritterliche Schonung des unterlegenen Gegners zu verzeichnen: Sie verliert entschieden ihren idealistischen Glanz, denkt man an das hohe Lösegeld, das man von der Familie des Gefangenen einfordern konnte. Dessen pflegliche Behandlung erklärt sich ganz pragmatisch und ist Ausdruck eines Wirtschaftsrationalismus. Das im Zusammenhang angeblicher ritterlicher Mentalität oft zitierte Beispiel König Johanns von Böhmen, der als Lehnsmann des französischen Königs in der Schlacht von Crecy 1346 gegen die Engländer den Tod suchte und fand, ist kein Beispiel für ein typisch ritterliches Verhalten. Er fällt nicht in ritterlichem Kampf, sondern es handelt es sich eher um einen Selbstmord, der durch die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit eines Menschen ausgelöst wurde, den seine völlige Erblindung handlungs- und damit regierungsunfähig gemacht - 26 - hatte. Die Ritter, die Johann von Böhmen auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin in die vordersten Linien bringen mussten, wo der Kampf am heftigsten wogte und deshalb der Tod auch am wahrscheinlichsten war, mochten vielleicht insgeheim ähnlich harsch urteilen, wie gut einhundertfünfzig Jahre früher angeblich die Gesandten des Königs Otto (des Grossen) von Sachsen, der sich, folgen wir Saxo Grammaticus, mit der Aufforderung zum Zweikampf konfrontiert sah: "Als König Wermund (von Dänemark) durch die Last des Alters das Augenlicht verloren hatte, glaubte der sächsische König, dass Dänemark keinen Führer mehr habe. Er schickte zu ihm Gesandte mit der Aufforderung, ihm, Otto, das Reich, das er noch innehabe, obwohl er bereits zu alt dafür sei, zu übertragen, damit Wermund nicht länger das Vaterland seiner Machtbegierde zuliebe an Recht und Einfluss mindere. Wie könne nämlich S. 76: einer als König gelten, dem das Alter den Mut genommen, dem die Blindheit das Auge mit dem Schrecken der Finsternis erfüllt habe? Lehne Wermund seinen Vorschlag ab und habe er einen Sohn, der es wage, mit seinem eigenen Sohn auf diese Herausforderung hin zu kämpfen, dann solle er zulassen, dass der Sieger das Reich bekomme. Wenn er keinem der bei den Vorschläge zustimme, dann müsse mit Waffengewalt, nicht mit Ermahnungen durchgesetzt werden, dass Wermund schliesslich auch gegen seinen Willen das herausgebe, was freiwillig zu geben er ablehne. Darauf antwortete Wermund, innerlich gebrochen, unter tiefen Seufzern: In unverschämter Weise verletze man ihn durch den Vorwurf des Alters. Seine unglückliche Situation im Alter verdanke er nicht dem Umstand, dass er in seiner Jugend als ein Feigling zuwenig gekämpft habe. Es sei nicht angebracht, ihm seine Blindheit zur Last zu legen, weil sehr häufig ein solches Alter eine derartige Behinderung zur Folge habe. Man müsse mit einem solchen Unglücklichen eher Mitleid haben als über ihn zu lachen. Man könne gerechterweise dem König von Sachsen seine Ungeduld zur Last legen, der doch eher das Ende des alten Königs abwarten solle als schon jetzt sein Reich zu fordern, weil es wesentlich besser sei, einem Toten nachzufolgen als einen Lebenden zu berauben. Um aber nicht als ein schwachsinniger Greis einer fremdländischen Macht die Rechtstitel der altehrwürdigen (dänischen) Freiheit übertragen zu müssen, wolle er eigenhändig der Aufforderung zum Kampfe Folge leisten. - 27 - Darauf antworteten die Gesandten, sie wüssten, ihrem König sei das lächerliche Schauspiel, mit einem Blinden zu kämpfen, zutiefst zuwider, ein solcher Kampf sei ein Gegenstand öffentlichen Spottes, er stelle ein solches lächerliches Mittel der Entscheidung dar, welches eher geeignet sei, Schande als Ehre einzutragen"25. Das Beispiel des blinden Königs Johann kann also schwerlich als ein Beispiel mittelalterlicher Ritterlichkeit angeführt werden. Man wird für das Spätmittelalter angesichts der vielen Kriege und Raubzüge eher davon ausgehen müssen, dass militärische Greuel und Grausamkeiten zunahmen. Die mittelalterliche Kriegsgeschichte kennt genügend Beispiele für ein schonungsloses brutales Verhalten der Ritter. So hatte die berühmte Schlacht von Tagliacozzo 1268 zwischen dem jungen Staufer Konradin und dem sizilischen König Karl I. von Anjou auf staufischer Seite "mit einem brutalen S. 77: Akt" begonnen und wurde von beiden Seiten erbittert geführt, wobei nach dem Urteil des wohl besten Kenners "vom Ethos des mittelalterlichen Kampfes nichts zu spüren (war)"26. Man sollte also vorsichtig sein mit diesbezüglichen Etikettierungen, was die angebliche "Ritterlichkeit" in der mittelalterlichen Kriegsführung angeht. Krieg war und Krieg ist immer grausam. 4. Bibliographie Allgemein: W. PARAVICINI, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, 1994 (mit umfassender Bibliographie), 1. BUMKE, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 2 Bde, 1986, hier: Bd. 2, S. 64-70 (über Ritterbegriff und Ritterstand), CH. HARPERBILLIR. HARVEY (Hgg.), The Ideals and Practice of Medieval Knighthood. 1986, M. H. KEEN, The Chivalry, 1984 (dt.: Das Rittertum, 1987), A. BORST (Hg.), Das Rittertum im Mittelalter, 1976, M. BLOCH, La societe feodale, 1939 (dt.: Die Feudalgesellschaft, 1982), F. CARDINI, Der Krieger und der Ritter, in: 1. LE GOFF (Hg.), Der Mensch des Mittelalters, 31994, S. 87-129, A. SCHULTZ, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesänger, 2 Bde, 21889 (Ndr. 1965), W. H. JACKSON (ed.), Knighthood in Medieval Literature, 1981. - 28 - Entstehung des Ritterstandes: 1. FLECKENSTEIN, Die Entstehung des niederen Adels und das Rittertum, in: DERS., Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters, 1989, S. 333-356, DERS., Zum Problem der Abschliessung des Ritterstandes, in: Ordnungen und formende Kräfte, S. 357-376, F.-R. ERKENS, Militia und Ritterschaft, in: Historische Zeitschrift 258 (1994), S. 623-659. Hochmittelalter: A. BORST, Das Rittertum im Hochmittelalter. Idee und Wirklichkeit, in: DERS. (Hg.), Rittertum im Mittelalter, 1976, S. 212-246, G. DUBY, Le dimanche de Bouvines, 27 juillet 1214, 1973 (dt.: Der Sonntag von Bouvines 27.1uli 1214, 1988), DERS., Guillaume le Maréchal ou le meilleur chevalier du monde, 1984 (dt.: Guillaume le Marechal oder der beste aller Ritter, 1986), 1. FLECKENSTEIN (Hg.), Das ritterliche Turnier im Mittelalter 1985, DERS., Das Turnier als höfisches Fest im hochmittelalterlichen Deutschland, ebd., S. 229-256. Rittertum und Marienverehrung: K. SCHREINER, Maria, 1994, S. 319-330. Spätmittelalter: 1. HUIZINGA, Herbst des Mittelalters, 101969, S. 88-150, G. JÄGER, Aspekte des Krieges und der Chevalerie im XIV. Jahrhundert in Frankreich, 1981, G. T. DILLER, Attitudes chevaleresques et réalités politiques chez Froissart, 1984, R. SABLONIER, Rittertum, Adel und Kriegswesen im Spätmittelalter, in: J. FLECKENSTEIN (Hg.), Das ritterliche Turnier S. 78: im Mittelalter, 1985, S. 532-570, W. PARAVICINI. Die Preussenreisen des europäischen Adels 1989 (insb. S. 288-333 über spätmittelalterliche adligritterliche Lebensweise), A. RANFT, Adelsgesellschaften, 1994. Zum militärischen Aspekt: 1. F. VERBRUGGEN, The Art of Warfare in Western Europe during the Middle Ages from the Eigth Century to 1340, 1977, PH. CONTAMINE, La Guerre au Moyen Age, 1980, V. SCHMIDTCHEN, Kriegswesen im späten Mittelalter, 1990. - 29 - Anmerkungen: 1 J. BUMKE. Höfische Kultur I. 1986. S. 71. 2 W. PARAVICINI. Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters. 1994. S. 22. 3 Vgl. dazu oben S. 39-41. 44. 4 BUMKE (wie Anm. I). S. 70. 5 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica IV 2 (ed. M. CHIBNALL, The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis, Bd. II, 1969, S. 218-220) (aus dem Lateinischen übersetzt). 6 Man unterscheidet beispielsweise den sog. Tjost (Einzelkämpfe), den sog. Buhurt (Schaureiten mit Kampfspielen) und das sog. torneamentum (Reiterschlacht mit wirklichem Kampf). 7 Jakob von Vitry, Exempla, ed. TH. F. CRANE, London 1890, Nr. 141, S. 62-64 (aus dem Lateinischen übersetzt). 8 Zum Quellennachweis dieser und anderer vergleichbarer Exempla vgl. K. SCHREINER, Maria, 1994, S. 321-323, vgl. auch unten Kapitel XII, S. 325. 9 Jakob von Vitry, Exempla (wie Anm. 7), Nr. 139, S. 62 (aus dem Lateinischen übersetzt). 10 Saxo Grammaticus. Gesta Danorum V, I. 3 (ed. J. OLRIK/H. RAEDER, Bd. I, 1931, S. 104-105 (aus dem Lateinischen übersetzt). 11 Saxo Grammaticus, Gesta Danorum 11, VI, 9-10 (ed. OLRIK/RAEDER, Bd. I, S. 50-51) (aus dem Lateinischen übersetzt). 12 Bremule. Ort in der Normandie bei Noyon. 13 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica XII 18 (ed. CHIBNALL, Bd. VI, S. 236) (aus dem Lateinischen übersetzt). 14 Ordericus Vitalis. Historia ecclesiastica XII 18 (ed. CHIBNALL, Bd. VI, S. 238240) (aus dem Lateinischen übersetzt). 15 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica XI 3 (ed. CHIBNALL, Bd. VI. S. 28) (aus dem Lateinischen übersetzt). 16 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica XII 39 (ed. CHIBNALL, Bd. VI, S. 352) (aus dem Lateinischen übersetzt). 17 Ordericus Vitalis. Historia ecclesiastica XII 39 (ed. CHIBNALL, Bd. VI S. 348350) (aus dem Lateinischen übersetzt). 18 Vgl. dazu auch Kapitel XI. 19 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica X 8 (ed. CHIBNALL, Bd. V, 1975, S. 242) (aus dem Lateinischen übersetzt). 20 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica VIII 10 (ed. CHIBNALL. Bd. IV, 1973, S. 186) (aus dem Lateinischen übersetzt). - 30 21 Ordericus Vitalis, Historia ecclesiastica VIII 10 (ed. CHIBNALL, Bd. IV, S. 188190) (aus dem Lateinischen übersetzt). 22 Galbertus Notarius Brugensis. De multro, traditione et occisione gloriosi Karoli comitis Flandriarum. 58, ed. J. RIDER (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis Bd. CXXXI). 1994, S. 109-110 (aus dem Lateinischen übersetzt). 23 Die Anekdote wird erzählt von M. H. KEEN, Chivalry. Nobility, and the Man-atArms, in: C. T. ALLMAND (Hg.), War, Literature, and Politics in the Late Middle Ages, 1976, S. 32. dem wir hier folgen. 24 25 26 J. HUIZINGA, Herbst des Mittelalters, 101969, S. 135. Saxo Grammaticus, Gesta Danorum IV, IV 1-2, (ed. OLRIK/RAEDER, Bd. I, S. 97) (aus dem Lateinischen übersetzt). P. HERDE, Karl der Erste von Anjou, 1979, S. 60. Internet-Bearbeitung: K. J. Version 12/2010 --------