Die natürliche Geburt von Vivian Weigert Beide Pole der weiblichen Sexualität – die Zeugung und die Geburt eines Kindes - sind höchst instinktive, gefühlsgesteuerte Prozesse, die am befriedigsten sind, wenn wir uns körperlich, geistig und emotional ganz dem Erlebnis überlassen können. Obwohl es sich um grundverschiedene Erfahrungen handelt - die eine ein erotisches Vergnügen, die andere eine körperliche und seelische Initiation -, ist der harmonische Verlauf bei beiden von einer liebevollen Atmosphäre und zärtlichen Stimmung abhängig, vom seelischen Einklang mit anderen und von Ungestörtheit. Störend wirkt in beiden Fällen alles, was den rationalen Teil unsers Gehirns stimuliert. Dies ist der entwicklungsgeschichtlich neuere Teil unseres Gehirns - Gehirnrinde oder Neokortex - der unseren Intellekt regiert und aktiv ist, wenn wir logisch und rational denken, wenn wir etwas verstehen wollen oder uns bemühen, eine Frage zu beantworten. Er wird durch Licht angeregt, durch eine sachliche und nüchterne Atmosphäre oder durch die Anwesenheit von fremden Menschen, vor allem, wenn sie sich kontrollierend verhalten. Während der Geburt stört eine angeregte Gehirnrinde die Aktivität der anderen Gehirnteile, die die Gefühle und Hormone regeln und deshalb ist eine Geburt um so leichter und komplikationsloser, je mehr unsere Gehirnrinde, unsere intellektuelle Seite, dabei zur Ruhe kommen kann. Die Bedingungen, die unsere Gehirnrinde zur Ruhe kommen lassen, sind im Grund sehr einfach herzustellen. Der bekannte französische Geburtshelfer Dr. Michel Odent fasst sie in dem angelsächsischen Begriff "Privacy" zusammen (siehe: "Geburt und Stillen - Über die Natur elementarer Erfahrungen", Beck Verlag, München 1994). "Dieses Wort" sagt er, "drückt den Zustand aus, in dem wir uns befinden, wenn wir uns nicht beobachtet fühlen." Aufgrund seiner jahrelangen Erfahrungen sowohl als Chefarzt der Entbindungsabteilung des Kreiskrankenhauses von Pithiviers, in der Nähe von Paris, als auch mit Hausgeburten in England nennt Michel Odent die folgenden Kriterien für ein Gefühl von Privacy: • Vertraute Menschen: In der Gegenwart fremder Menschen fühlen und verhalten wir uns normalerweise anders, als wenn wir alleine in einem Raum sind. Von welchen Menschen wir bei der Geburt umgeben sein wollen, ist deshalb eine ganz zentrale Frage. • Ein vertrauter Or: Während der Geburt werden wir von innen her ständig mit unbekannten und daher erschreckenden Empfindungen konfrontiert. Es fällt leichter, sich ihnen zu öffnen, wenn man sich dabei sicher und gut aufgehoben fühlt. Auch die Größe des Zimmers ist von Bedeutung, in einem kleinen Raum werden wir uns eher sicher fühlen als in einem Saal. • Dunkelheit: Je dunkler es ist, desto weniger fühlen wir uns beobachtet. Jede, die gerne ins Kino geht weiß, dass die Dunkelheit sogar inmitten einer Menschenmenge ein gewisses Gefühl von "Privacy" schenkt. Sich in einem kleinen, dunklen, vertrauten Raum aufzuhalten und nur von wenigen, einfühlsamen, vertrauten Menschen umgeben zu sein, die sich nicht kontrollierend verhalten und uns vor Störungen schützen - das ist der Boden für ein Gefühl von "Privacy" und damit die Grundlage für den Hormonspiegel, den Mutter und Kind für einen sicheren und unkomplizierten Geburtsverlauf brauchen. Die heutigen Kenntnisse vom Einfluss der Umgebung auf die Geburt gehen zurück auf die ersten Forschungen der amerikanischen Wissenschaftlerin Niles Newton, die schon in den sechziger Jahren Mäuse bei der Geburt beobachtet hat, um herauszufinden, welche Umweltfaktoren deren Geburten erschweren. Es stellte sich heraus, dass die Mäusegeburten länger, komplizierter und gefährlicher waren, wenn die Weibchen während der Wehen in eine Umgebung gebracht wurden, die anders aussah und anders roch als ihre vertrauten Nester. Andere Experimente zeigten höhere Komplikationsraten, wenn die Mäuse zusätzlich dadurch gestört wurden, dass man sie während der Geburt mehrmals von einem Behälter in einen anderen verlegte, und wenn man sie in durchsichtigen Glasbehältern unterbrachte, in denen sie sich nicht verbergen konnten. "Die Auswirkung solcher angenehmen Reize wie dem gedämpften Licht, der Ruhe im Raum, der Vermeidung von Störungen durch unbekanntes Geburtshifepersonal, und der Freiheit herumzugehen, verschiedene Körperhaltungen einzunehmen und Flüssigkeit zu sich zu nehmen, könnten allesamt wissenschaftlich untersucht werden", meinte Niles Newton 1989 in einem ihrer Vorträge und schloss: "Die Ergebnisse, die bisher vorliegen, lassen vermuten, dass das, was um die gebärende Frau herum vor sich geht, für einen glatten Geburtsverlauf äußerst wichtig ist." Hier bezieht sie sich auf die Erfahrungen in zwei Kliniken, in denen die Geburtsumsätnde so waren, wie sie es hier beschreibt: das Kreiskrankenhaus in Pithiviers, unter der Leitung von Michel Odent, und das North-Central-Bronx-Hospital in New York City, das unter der Leitung von Therese Dondero ein Hebammenprogramm durchgeführt hat. In Pithiviers zeigte die Statistik von 1.402 Geburten, die mit größtmöglicher Rücksicht auf die "Privacy" der gebärenden Frauen betreut wurden eine Kaiserschnittrate von nur 6,6 Prozent, eine Saugglockenrate von nur 5,2 Prozent und eine Dammschnittrate von nur 6 Prozent. Die perinatale Säuglingssterblichkeitsrate lag sogar nur bei 7,1 pro Tausend. Die Studie im North-Central-Bronx-Hospital umfasste 2.600 Geburten von Frauen aus der einkommensschwachen Bevölkerungsschicht, darunter viele Risikoschwangerschaften. Im Rahme dieses Programms wurde emotionale Unterstützung durch Familienangehörige und Hebammen gewährleistet, Medikamente und vaginale Untersuchungen wurden auf das notwendige Minimum beschränkt, die gebärenden Frauen konnten sich während der gesamten Geburt frei bewegen. Die perinatale Sterblichkeitsrate lag um 30 Prozent niedriger als in allen städtischen Krankenhäusern in New York City zusammen. Gute Geburtshilfe bedeutet in erster Linie, die Frau in ihrer eigenen Kraft zu stärken. Eine gute Geburtsvorbereitung und eine gute Geburtssituation machen einen entscheidenden Unterschied. www.natuerliche-Geburt.de www.vivian-weigert.de