Weitere Files findest du auf www.semestra.ch/files DIE FILES DÜRFEN NUR FÜR DEN EIGENEN GEBRAUCH BENUTZT WERDEN. DAS COPYRIGHT LIEGT BEIM JEWEILIGEN AUTOR. Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Berlin: Springer (Teil V: Empirische diagnostische Methoden, S. 369-452) Totaro Tamara Varis 9 1700 Fribourg Tel.: 026/321 32 83 [email protected] 1 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] 17 Standardisierte Formen des Familieninterviews S.369 Der Beitrag stellt standardisierte und strukturierte Formen des Familieninterviews vor. Neben den „klassischen“ Verfahren des SFI (Structured Family Interview) und des CFI (Camberwell Family Interview) werden neuere, vorwiegend für Forschungszwecke entwickelte Interviewmethoden beschrieben. 17.1 Einführung S.369-370 Standardisierte und strukturierte Interviewverfahren werden vor allem in der Forschung eingesetzt, für die klinische Praxis haben sie dagegen nur geringe Relevanz. Die standardisierte Methodik sichert dem Forscher die Reproduzierbarkeit und Vergleichbarkeit der Daten. Gegenüber Fragebogen oder Testverfahren haben sie den Vorteil, wegen dem direkten face-to-face-Kontakt komplexere Interaktionsprozesse beobachten, deren Wahrnehmung und Interpretation durch die Familienmitglieder erfassen und eine intensive Arbeitsbeziehung zu der befragten Familie aufbauen zu können. Der Hauptanwendungsbereich liegt in der Familienforschung, v.a. zur Diagnostik und Klassifikation von Familiensystemen, bei Verlaufs- und Längsschnittuntersuchungen, bei prognostischen Fragestellungen sowie in der Therapieforschung (Erfolgs- und Veränderungsmessung). Gängige Forschungsstandards verlangen „objektive“ Verfahren, welche die Ableitung quantifizierbarer Daten erlauben. Für Kliniker sind solche Verfahren unpraktikabel und wenig ökonomisch wegen hohem Zeitaufwand für Einarbeitung, Durchführung und Auswertung. Die Ursache für geringe klinische Verbreitung liegt in der mangelnden klinisch-therapeutischen Relevanz: Standardisierung verhindert im Einzelfall eine flexible Anpassung der Informationsgewinnungsmethode an die besonderen Gegebenheiten einer therapiesuchenden Familie. Zudem nimmt schon im Erstinterview neben der Infosammlung therapeutische Interventionen oder Reflexionen einen wichtigen Raum ein. Das standardisierte Familieninterview kann als Messinstrument verstanden werden. So stellt sich auch die Frage der instrumentellen Güte (Objektivität, Reliabilität, Validität). Das Familieninterview weist keine ähnlich hohe instrumentelle Güte wie z.B. traditionelle psychometrische Test- und Fragebogenverfahren auf. Dies erinnert an das RVT-Syndrom (Riskin & Faunce, 1972), demzufolge hohe Reliabilität und hohe Validität der Daten nur mit ebenso hoher Trivialität der Ergebnisse zu erkaufen seien. Interviewmethoden unterschieden sich im Strukturierungsgrad. Dieser bezieht sich auf Formulierung der Fragen und Antworten, auf die Kodierung und Auswertung. In unstrukturierten Interviews werden Themenbereiche vorgegeben; in halbstandardisierten Interviews stichwortartige Fragen; in vollstrukturierten Interviews die genau festgelegte Frageformulierung. Familieninterviews lassen sich danach unterscheiden, ob es um die Erhebung anamnestischer Angaben (Selfreport-Daten) oder um die Erfassung von Interaktionsdaten geht. 17.2 Das Strukturierte Familien-Interview (SFI) S. 371-372 Es stellt den „Klassiker“ unter den Interviewverfahren für Familien dar und entstand der Gruppe um Bateson am Palo Alto Veterans Administation Hospital, die sich mit Kommunikationsstörungen in Familien mit einem schizophrenen Familienmitglied beschäftigte. Watzlawick hat es 1966 publiziert. Mit diesem Instrument kann sowohl dem klinischen Diagnostiker als auch dem Forscher die Familieninteraktion und Familienstruktur- & Dynamik zugänglich gemacht werden. 2 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Das SFI ist kein Interview mit rein explorativem Charakter, sondern eine Zusammenstellung von 5 Familienaufgaben, deren Ziele da sind: • Stimulierung einer möglichst realitätsnahen Interaktion in der Familie, um Rückschlüsse bezüglich ätiologisch bedeutsamen dysfunktionalen Interaktionsweisen zu ziehen • Erkundung der Konfliktbewältigungsmechanismen und Copingstrategien der Familie Das SFI wir in einer ca. 45 minütigen Sitzung mit der gesamten Kernfamilie durchgeführt. Die 5 Teilaufgaben werden der Familie der Reihe nach vorgegeben. Der Interviewer beschränkt sich auf die Instruktion, lässt sich nicht auf Diskussionen ein, hält sich aus der Familieninteraktion heraus, verlässt für Videoaufzeichnungen den Raum. Teilaufgaben: • „Hauptprobleme“: Der Interviewer fragt jedes Familienmitglied einzeln und getrennt nach dem Hauptproblem. (Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptprobleme in der Familie?). Danach sollen alle Familienmitglieder zusammen diese Probleme diskutieren und ein gemeinsames Ergebnis finden. • „etwas gemeinsam planen“: Für die gesamte Familie gilt: „Planen Sie etwas, was Sie als Familie gemeinsam tun könnten“. • „Kennenlernen“: Dies ist an beide Elternteile gemeinsam gerichtet, die Kinder werden hinausgeschickt. („Wie kommt es, dass unter den Millionen von Menschen gerade Sie beide sich trafen?“) • „Sprichwort“: „Diskutieren Sie das Sprichwort ‚Ein rollender Stein setzt kein Moos an‘!“ Eltern sollen zunächst untereinander und dann mit den Kindern diskutieren. • „Hauptfehler“: Jeder soll den Hauptfehler der Person links von der eigenen Person aufschreiben. Danach sollen alle einzeln die richtige Zuordnung der „Hauptfehler“ zu einzelnen Personen erraten. Durch die Anwendung des SFI ergibt sich ein reiches Datenmaterial an Familieninteraktionsprozessen. Watzlawick sieht eine Auswertung als unnötig, da die Ergebnisse selbstevident und durch die direkte Beobachtung leicht zu erschließen sind. Für klinische Zwecke mag diese „impressionistische“ und intuitive Auswertungsmethode genügen. Für Forschungszwecke braucht es aber objektiv quantitative und qualitative Auswertungsmethoden. Obwohl das SFI eine Vielzahl an interaktionellen Daten ergibt, kann es nicht als Alternative zum klinischen Interview oder zu klinischen Explorationstechniken eingesetzt werden. Die Informationen sind sehr spezifisch und können keine Anamnese oder Exploration ersetzen. Die wortgetreue Übersetzung des SFI ins Deutsche ist nicht unproblematisch. Watzlawicks Gruppe hat keine Untersuchung der testtheoretischen Gütekriterien vorgenommen. Die heutige Bedeutung des SFI ist eher darin zu sehen, dass es beispielhaft für die Entwicklung späterer interaktionsstimulierender Aufgaben in der Familienforschung würde. Insgesamt ist es eher ein Forschungsinstrument mit historischem Wert, das für klinische Fragestellungen weitgehend ungeeignet ist, aber für spezifische Forschungsfragen zumindest in Teilen noch anwendbar erscheint. 3 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] 17.3 Das Camberwell Family Interview (CFI) und daraus abgeleitete Verfahren S. 373-376 Es wurde von der Arbeitsgruppe um Brown, Rutter und Wing am Maudsley-Hospital in London als Stimulans für eine Verhaltensprobe entwickelt. Die theoretische Konzeption und die erzielten Ergebnisse zur Expressed emotion (EE) hatten auf die Schizophrenie-Forschung grössten Einfluss. Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell der Entstehung der Schizophrenie und die psychoedukativen Behandlungsmodelle gehen auf diesen Forschungsansatz zurück. Das CFI wurde mehrfach modifiziert. Der Anwendungsbereich ist lange konstant geblieben. Es wird in verschiedenen Versionen angewendet: halbstrukturiertes Verfahren (mit einzelnen Angehörigen; dauert ca. 3h) und als weniger strukturiertes Verfahren (mit Angehörigen und Patienten gemeinsam; dauert ca., ½h). Da Angehörige bei Anwesenheit des Patienten zurückhaltender sind, ergibt das CFI ohne Patienten höhere EE-Werte. Vaughn & Leff (1976) entwickelten die heutige Version (dauert ca. 1 ½-2h). Es wurde grossen Wert auf Unterscheidung zwischen konkreten Ereignissen und Aktivitäten der Familie einerseits und Gefühlen und Haltungen der Familienmitglieder anderseits gelegt. • Das CFI konzentriert sich auf definierte, kurz zurückliegende Zeitperioden (letzten 3 Monate). • Erfragt werden tatsächliche Häufigkeiten von Ereignissen im Familienleben statt Verallgemeinerungen („manchmal, selten“). Zu erfassende Infos sind detailliert festgelegt. Nicht festgelegt ist, durch welche konkreten Fragen der Interviewer zu diesen Infos kommt. • Berechnete Scores beruhen auf Häufigkeitswerten statt allgemeinen Ratings. Es werden v.a., para- und nonverbale Reaktionen herangezogen, danach der Inhalt. Emotionale Reaktionen werden durch Fragen nach dem konkreten Ablauf von Alltagsaktivitäten provoziert. Die Auswertung erfolgt anhand der Ratingskalen für beobachtete Emotionen und anhand von Häufigkeitswerten emotional bedeutsamer Bemerkungen. Es wurden 5 Subskalen zur Auswertung konstruiert, von denen 3 in die Bildung des EE-Index eingingen: • Häufigkeit kritischer Äußerungen über ein Familienmitglied • Feindseligkeit: Ablehnung eines Familienmitgliedes als Person • Unzufriedenheit: 4-Punkt-Ratingskalen zu 8 Bereichen des Familienlebens • Wärme: 6-Punkt-Ratingskalen, basiert auf dem Ausmaß an Wärme • Emotionales „overinvolvement“ (EOI): 6-Punkte-Ratingskala, basiert auf berichtetem Verhalten oder Gefühlsausdruck Alle Subskalen zeigen eine gute Interratingübereinstimmung (r=.90). „Wärme und Zufriedenheit“ wurden nicht in den Gesamtindex EE aufgenommen, da sie nicht eindeutige Zusammenhänge auf Rückfälle aufzeigen. Mittels EE-Index erfolgt eine Gruppe mit „high-EE“ und eine mit „low-EE“ zur Vorhersage des Rückfallrisikos. Für die Gruppe „high-EE“ müssen folgende Kriterien erfüllt sein: • Aus dem Interview mit Angehörigen: ≥7 kritische Äußerungen EOI-Wert der Eltern von 4-5 Feindseligkeit vorhanden • Aus dem gemeinsamen Interview mit Patienten: ≥2 kritische Äußerungen EOI-Wert der Eltern von 2 Feindseligkeit vorhanden 4 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Das CFI hat sich im Forschungskontext als ungemein befruchtend und einflussreich für die gesamte psychiatrische Schizophrenie-Forschung und –Therapie erwiesen. Das EE-Konzept hat zu einer Abkehr von ätiologisch orientierten Fragestellungen beigetragen und eine Hinwendung zu Fragen der Verlaufsdeterminanten der Störung gefördert. Bezüglich familienorientierter Behandlung der Schizophrenie hat die CFIForschung einen neuen Ansatz etabliert, bei dem es um die Verhütung von Rückfällen durch Schaffung eines förderlichen Familienklimas sowie um den Aufbau adäquater familiären Copingmechanismen geht. Reale Interaktionsprozesse in der Familie werden gar nicht erfasst. In der Ursprungsversion war das CFI ein komplexes Interviewverfahren, dessen Durchführung und Auswertung nur nach intensiver, langwieriger Schulung möglich ist. Der hohe Aufwand für Einarbeitung und Handhabung des Verfahrens sowie der eng umschriebene Anwendungsbereich (Prognose der Rückfallgefährdung bei schizophrenen Psychosen) machen es für den klinischen Alltag unbrauchbar. CFI wird vielmehr in der Forschung eingesetzt. Man versuchte eine ökonomischere Methode zu entwickeln. Es wird zur Messung der EE-Werte das UCLA Parent Interview, ein halbstrukturiertes Verfahren, eingesetzt. 1979 beschrieb Wynne erstmals das Five-Minute Speech Sample-Verfahren, bei dem 5 Minuten lang die Reaktion eines Familienmitglieds auf eine vorgegebene (s.375) Instruktion des Interviewers erfasst wird. Bei der Fünf-Minuten-SprechStichprobe (FMSS) wird der Partner ebenfalls gebeten, 5 Minuten lang seine Gedanken und Gefühle bezüglich eines Familienangehörigen bzw. des Patienten zu schildern. Die Interraterreliabilität des FMSS beträgt r=.90. Die Übereinstimmung zwischen FMSS und CFI bei der Klassifikation in „high-EE“ und „low-EE“ liegt bei ca. 75%. Das 10minütige Kurzinterview von Wittgen et al. (9189) lehnt sich an das CFI an. Es will emotionale Einstellungen von Angehörigen schizophrener Patienten erfassen. Bei der Auswertung wird ein Rating für Ablehnung, Betroffenheit, Überfürsorge und Wertschätzung vorgenommen. Für diese Skalen ergaben sich Interraterreliabilitäten von .74-.87. Es zeigt eine Korrelation mit den CFI-Werten. Der Ansatz der EE-Forschung hat sich stark verbreitert. Das Konzept und die Methodik des CFI wurden auch auf andere Störungsbilder angewendet. Es handelt sich um interessante und fruchtbare Bereiche der Familienforschung, auch wenn der zugrundeliegende theoretische Ansatz mit klassisch-familientherapeutischen Modellen nur wenig gemein hat. 17.4 Weitere standardisierte Familieninterviewverfahren S. 376-378 Da der Einsatzbereich von standardisierten Interviewverfahren v.a. in der Forschung liegt, wurden viele Methoden für ganz spezifische Fragestellungen entwickelt. Es werden drei Interviewverfahren aus den Anwendungsbereichen psychiatrischtherapeutisch, familienmedizinisch und forschungsspezifisch dargestellt. Danach wird auf Interviewverfahren verwiesen, die der Diagnostik spezifischer Störungen/Problemen aus der Sicht Familienangehöriger oder Eltern dienen. Das Conjoint Family Diagnostic Interview (CFDI) beabsichtigt, die Situation psychiatrischer Patienten in ihrer Familie zu erheben, um den Einfluss von familialen Transaktionen auf die Bildung psychiatrischer Symptome zu erfassen. In 5 Teilen werden Familienmitglieder nach ihrer jeweiligen Sicht der Probleme befragt, nach Uneinigkeiten in der Familie bezüglich konflikthafter Themen sowie nach ihrer Einschätzung der Erfüllung der familiären Rollen durch die einzelnen Familienmitglieder. Die Auswertung kann mittels Family Index of Tension (FIT) erfolgen. 5 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Positiv am CFDI ist die Kombination von strukturiertem Vorgehen und Einbringen des persönlichen Interviewstils. Damit wird es für klinische Anwendungen interessant. Gleichzeitig macht es die Eignung des CFDI für die Erhebung objektiver und reliabler Daten fragwürdig, zumal zu den Gütekriterien keine Angaben vorliegen. Das Single-Session Family Interview soll im Rahmen eines familienorientierten körpermedizinischen Ansatzes bei spezifischen Erkrankungen ein strukturiertes, zielorientiertes und praktisch einsetzbares Verfahren zur Besprechung von Krankheitsverarbeitung, familiären Entscheidungsfindung und Anpassungsreaktionen an die Hand geben. Es gliedert sich in: • Kontraktphase: Einigung über konkrete gemeinsame Anliegen und Ziele von Arzt und Familie • Explorationsphase: Einfluss des Problems auf die Familienmitglieder; Ressourcen; Familiendynamik • Abschlussphase: Zusammenfassung und Unterstützung von positiven Ressourcen und Anstrengungen zur Normalisierung der Krankheitsverarbeitung, Klärung der Aufgabenverteilung und Follow-up-Vereinbarungen Dieses Interview zeigt in seiner Kombination von medizinischem Interview und Familiensystemtheorie viele praktisch relevante Züge und kann für den Arzt beim Training seines Umgangs mit Familien hilfreich sein. Das Family Ritual Interview ist ein Verfahren, das auf die Beziehung zwischen gestörten Familienritualen und der Übertragung von Alkoholismus über die Generationsgrenzen hinweg abzielt. 5 von 12 Fragebereichen erfassen inwieweit die Familie über Rituale mit symbolischer Bedeutung verfügt (Essen, Ferien). 7 Fragen erfassen Charakteristika von „nassen“ Zeiten. Die Gütekriterien zeigen befriedigende Werte. Es erfolgt eine Klassifikation in 3 Familientypen mit unterschiedlichem Grad der Beeinträchtigung der Familienrituale durch die Alkoholproblematik. Neben genannten Verfahren zur Erfassung familiärer Interaktionsprozesse gibt es verwandte Interviews, die der Diagnostik spezifischer paarbezogener Störungen sowie spezifischer individueller Störungen und Probleme anhand der Einschätzung durch Angehörige dienen. Meist geht es nicht um die Erfassung familiärer Interaktion aus einer familientheoretisch orientierten Perspektive, sondern aus der intersubjektiven Perspektive von anderen Familienmitgliedern: • Das Victoria Hospital Intimacy Interview (VHII) ist ein strukturiertes Interviewverfahren zur Erfassung von Intimitäten in klinischen und nichtklinischen Paarbeziehungen. • Beim Mannheimer Elterninterview (MEI) handelt es sich um ein standardisiertes Interview, das neben der kinder- und jugendpsychiatrischen Symptomatik demographische und sozialstatistische Daten von Eltern und Kind sowie soziofamiliäre Bedingungen und wichtige Lebensereignisse erfasst. • Die Elternexploration wurde für die Ermittlung sozialer Ängste von Kindern im Rahmen eines systematischen Trainingsprogramms erstellt. • Das Pflegeelterninterview dient zur Erfassung der Beziehungsdynamik in Pflegefamilien. Es werden Dimensionen wie affektive Beziehungsaufnahme, Kommunikation, Kontrolle, Ausmaß und Qualität der Integration des Pflegekindes in die Pflegefamilie und die Qualität der pflegefamilialen Grenzen untersucht. • Das Diagnostische Interview bei psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Kinder-DIPS), das am DSM III/R bzw. ICD 10 orientiert ist, bietet eine strukturierte Erfassung psychischer Störungen von Kindern aus der Sicht sowohl der Eltern wie der Betroffenen selbst. Das Verfahren fragt zusätzlich nach auslösenden und modulierenden Faktoren sowie nach störungsbedingten Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen. 6 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] 17.5 Schlussfolgerungen S. 379 Gegenstand dieses Beitrags waren standardisierte und strukturierte Methoden des Interviews zur Familiendiagnostik. Bei Auswahl und Einsatz der dargestellten Methoden empfiehlt es sich, zunächst die Eignung der jeweiligen Verfahren für die spezifische eigene Fragestellung genau zu überprüfen. Das klinische Familieninterview lässt sich durch diese Verfahren nicht ersetzen. Andererseits bieten nur standardisierte Interviewmethoden dem Forscher das nötige Mass an objektiver, reliabler und valider Datenerhebung. Für den Kliniker können standardisierte Interviewmethoden v.a. am Anfang seiner familientherapeutischen Tätigkeit bzw. beim Training bestimmter Interviewerfähigkeiten Anregungen und Beispiele geben. Eine gegenseitige Befruchtung von Klinik und Forschung wäre möglich. 18 Die Analyse der familiären Interaktion-Familiendiagnostische Beobachtungsmethoden S. 381 Dieses Kapitel soll einen strukturierten Überblick über die vorhandenen Beobachtungsmethodik und die damit verbundenen methodischen Schwierigkeiten geben. Es soll den Klinikern zeigen, inwieweit eine Strukturierung und Quantifizierung ihrer tagtäglichen Beobachtungen möglich ist. Die am häufigsten verwendeten und den Gütekriterien der klassischen Testtheorie hinreichend entsprechenden Methoden werden dargestellt. 18.1 Einleitung S. 381-383 Nach der Entstehung des systemtheoretischen Ansatzes (50er Jahre) und seiner Übertragung auf die Familie orientierten sich die Wissenschaftler von einer eher individuumzentrierten Sichtweise hin zur Betrachtung der Beziehungen des Individuums zu seiner Familie. Die Frage nach der Struktur des Familiensystems und nach den familialen Interaktionen traten in den Vordergrund (Kötter, 1988). Daraus entwickelte sich der Wunsch nach einer objektiveren, direkteren und umfassenderen Erhebung der familialen Interaktionsmuster als nur über die individuelle, subjektive Einschätzung der familialen Beziehung durch die Familienmitglieder in Selbstberichtmethoden. Selbstberichtmethoden erschienen adäquat zur Erfassung eher überdauernder Einstellungen und Wahrnehmungen der Familienmitglieder, nicht jedoch geeignet für eine direkte Erfassung der konkreten Familieninteraktion (Markman & Notarius 1987). Die folgenden zwei Aspekte sollten mittels Beobachtungsmethoden untersucht werden: erstens der Einfluss der Familieninteraktion auf Entwicklung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen, und zweitens die Effektivität familientherapeutischer Interventionen. Die aus Beobachtungen gewonnen Daten sollten: • die subjektiven Selbstberichte der Familienmitglieder in der Eingangsdiagnostik ergänzen • bei mehrmaliger Erhebung den Therapieverlauf und Veränderungen im Therapieprozess aufzeigen • der Überprüfung des Therapieerfolges dienen Neuere Gesichtspunkte sind einerseits die Bedeutung der Familien- bzw. der ElternKind-Interaktion für entwicklungspsychologische Fragestellungen und anderseits die Organisation von Normalfamilien. 7 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Mitte der 90er Jahre sind die Beobachtungsmethoden als wertvolle Ergänzung zu Selbstberichtmethoden fester Bestandteil der systemischen Familienforschung geworden. In der klinischen Praxis haben sich die Beobachtungsverfahren – v.a. aufgrund ihres hohen Zeitaufwandes – bislang nicht durchgesetzt. Man findet nicht befriedigend gelöste methodische Schwierigkeiten, die im Laufe der Planung und Durchführung einer familiendiagnostischen Beobachtung auftreten. Diese betreffen folgende wesentlichen Schritte, die bei jeder Beobachtung zu vollziehen sind: • die Konzeption der Beobachtungssituation und Stimulierung der Interaktion (Rahmen der Beobachtung, Verfahren) • die Definition der Kodiereinheit und die Kodierung der Interaktion • die Wahl der Auswertungsmethodik Im folgenden wird der gegenwärtige Stand bezüglich dieser drei Schritte dargestellt. 18.2 Die Konzeption der Beobachtungssituation und die Stimulierung der familialen Interaktion 18.2.1 Die Beobachtungssituation S.383-384 Bei der Durchführung der Familienbeobachtung ist die Untersuchungssituation (Konzept des Settings) wichtig. Beobachtungssituationen in der natürlichen, unstrukturierten Umgebung der Familie haben den Vorteil einer hohen „ökologischen“ Validität, d.h. der Realitätsnähe der beobachteten Interaktion (Bronfenbrenner, 1979). Nachteile sind das Fehlen experimenteller Kontrolle und mangelnde Generalisierbarkeit (Kreppner, 1983). Ein weiterer Nachteil liegt im größeren technischen und zeitlichen Aufwand wegen der geringen Auftretenswahrscheinlichkeit relevanter Verhaltensweisen und Interaktionen. Erfahrungsgemäss neigen Familien dazu, Konflikte ausserhalb der Beobachtungszeit auszutragen (Gottman, 1979). In vielen naturalistischen Beobachtungsstudien erfolgt eine experimentelle Stimulierung der Interaktion im häuslichen Setting. Sie eignen sich zwar für die Beobachtung des Familienalltags oder der Mutter-Kleinkind-Interaktion, dagegen weniger zur Untersuchung der Interaktion bei Familienkonflikten. Trotz höherer ökologischer Validität werden die meisten Beobachtungen unter standardisierten Laborbedingungen durchgeführt. Die Laborsituation hat v.a. den Vorteil größerer Genauigkeit und Ökonomie, da die Beobachtungssituation standardisiert und konfliktauslösend gestaltet werden kann und Verhaltensweisen gezielt herbeigeführt werden können. Sie besitzt eine höhere ökologische Validität. Eine solche Beobachtungssituation ist eher generalisierbar, was die Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Untersuchungen erhöht. Anderseits ist fraglich, inwieweit im Laborsetting vom Untersucher vorgegebene Stimuli in der Lage sind, familienspezifische Interaktionsprozesse hervorzurufen. Eine Beobachtungseinheit muss nicht immer aus der gesamten Familie bestehen (Coyne, 1987). Man will eher kleinere Einheiten, Dyaden oder Triaden, beobachten. Denn mit der Vergrößerung der Einheit nimmt die Datenkomplexität exponentiell zu. Je nach Problemlage (z.B. Sexualitätsprobleme der Eltern) sind nur Teilsysteme der Familie betroffen. 18.2.2 Interaktionsaufgaben S. 384-388 Zur Stimulierung der familialen Interaktion unter Laborbedingungen gibt’s zwei Möglichkeiten: erstens die Erarbeitung und Diskussion eines realen Familienkonfliktes oder –problems, zweitens die Verwendung von standardisierten Instrumenten zur Anregung der Interaktion. 8 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Man unterscheidet in Anlehnung an Cromwell et al. (1976) Problemlösungsaufgaben, Entscheidungsaufgaben und Konfliktlösungsaufgaben. Daneben gibt’s multiple Aufgabenstellungen, die verschiedene Aufgaben der drei Kategorien integrieren. Sie sind aufwendig in der Durchführung und daher in der klinischen Praxis wenig praktikabel. (vgl. Tab. 18.1) Problemlösungsaufgaben: Damit untersucht man die Problemlösefähigkeiten einer Familie in einer abstrakten Problemsituation. Häufig verwendet man das Gefangenendilemma (Luce & Raiffa, 1957), das Simulated Family Activity Measurement (SIMFAM; Olson & Straus, 1972) und Skulpturverfahren wie Kvebaek Sculpture Test (KST; Kvebeak, 1973). Im Gefangenendilemma sollen verschiedene Aspekte der ehelichen bzw. familialen Interaktion wie Vertrauen und Misstrauen stimuliert werden. Das Ehepaar bzw. die Familie muss in bestimmten Situationen jeweils zwischen Alternativen mit verschiedenen Folgen wählen. Jedes Familienmitglied wird einzeln vor die Wahl gestellt, zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden (gestehen oder schweigen), und man zeigt ihm die möglichen Konsequenzen seiner Wahl auf. Beim SIMFAM, einer strukturierten Aufgabe, müssen die Familienmitglieder die Regeln eines unbekannten (angeblich existierenden) Brettspiels erschließen. In jeder der 8 möglichen Spielrunden wird Erfolg und Misserfolg induziert. In den Pausen soll die Familie die Vorgehensweise diskutieren. Mit dieser Aufgabe sollen Verhaltensweisen in Versagenssituationen (z.B. Schuldzuweisungen, positive/negative Affekte) stimuliert werden. Die Hauptschwierigkeit bei solchen Aufgaben ist, dass nur eine unzureichende Beziehung zwischen den hervorgerufenen Interaktionen und typischem alltäglichem Verhalten besteht. Denn die Teststimuli erfordern eher eine Reaktion auf realitätsferne Situationen als auf Alltagssituationen. Entscheidungsaufgaben: Mit diesen Aufgaben untersucht man die Entscheidungsprozesse einer Familie. Ziel ist herauszufinden, wie eine Familie gemeinsam Entscheidungen findet. Beispiele sind Gemeinsame Rorschach-Versuch (GRV; Loveland et al., 1963) und Thematic Apperception Test (TAT; Borke, 1969) als projektive Tests, das Planing something together (PST) und Variationen der Unrevealed Difference Technique (UDT; Ferreire & Winter, 1974). Beim GRV müssen Familienmitglieder zu einer Rorschach-Tafel innerhalb von 5 Minuten möglichst viele gemeinsame Deutungen geben. Mittels der UDT soll der intrafamiliale Austausch von solchen Informationen erhoben werden, die individuelle Einstellungen und Gefühle betreffen. Den einzelnen Mitgliedern ist die Meinung der anderen Familienmitgliedern zu einem zu entscheidenden Sachverhalt nicht bekannt. Zuerst füllt jeder einzeln einen Fragebogen aus, der 7 Entscheidungssituationen mit je 10 Wahlmöglichkeiten enthält, von denen die 3 besten und 3 schlechtesten Alternativen benannt werden sollen. Dann wird derselbe Fragebogen von der ganzen Familie nochmals ausgefüllt und gemeinsam diskutiert. Auch hier zeigt sich nur bedingt ein Zusammenhang mit den realen Interaktionen in familialen Problem- und Krisensituationen. Entscheidungsaufgaben widerspiegeln v.a. Bedingungen, unter denen Familien in Normalsituationen interagieren. Sie sind eher für die Erhebung der Interaktion in Normalfamilien als für die Untersuchung klinischer Fragestellungen brauchbar. 9 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Konfliktlösungsaufgaben: Diese Aufgaben konfrontieren die Familie mit einem konfliktauslösenden Thema. Die Mitglieder sollen sich um eine Lösung dieses provozierten Konfliktes bemühen. Meist sind Fragebogen zuerst individuell zu beantworten, danach mit dem Partner oder der Familie zu diskutieren, bis eine gemeinsame Lösung gefunden wird. Beispiele sind Blame Technique und Inventory of Martial Conflict (IMC; Olson & Ryder, 1970) sowie Revealed Difference Technique (RDT; Strodtbeck, 1951). Das IMC besteht aus 18 Szenen, in denen ein Konflikt eines fiktiven Paares dargestellt wird. In 6 Szenen wird der Konflikt beiden Ehepartnern identisch geschildert, in 12 Szenen erhalten beide unterschiedliche Darstellungen des Konfliktes. Die Partner bilden getrennt voneinander eine Meinung und beantworten einen kurzen Fragebogen. Danach werden die einzelnen Konflikte mit dem Partner diskutiert, mit dem Ziel, eine gemeinsame Meinung zu finden. Die RDT ist die am weitesten verbreitete Technik zur Generierung von interaktionellen Daten. Die Familienmitglieder füllen zuerst individuell einen Fragebogen aus, der aus Problemgeschichten, die teils mit typischen Familienproblemen zu tun haben, besteht. Für jedes Problem gibt es 2-3 Lösungsmöglichkeiten. Jedes Mitglied muss einzeln die für sich beste Lösung angeben. Situationen, in denen sie sich nicht einig sind, sollen diskutiert werden und eine gemeinsame Lösung gefunden werden. Die vorgegebenen Situationen ähneln alltäglichen Konfliktsituationen und fordern gemeinsame Entscheidungen. Fraglich bleibt, inwieweit ein künstlich induzierter Konflikt mit einer realen familiären Konfliktsituation überhaupt vergleichbar ist. 18.2.3 Entwicklungstrends S.388-389 Bezüglich (Weiter-)Entwicklung der Interaktionsaufgaben hat sich wenig geändert. Es zeigt sich eine Tendenz zur Stimulation der familialen Interaktion entweder durch die Diskussion realer Probleme der jeweiligen Familie oder anhand von Interaktionsaufgaben, die reales Problem- und Konfliktlösungsverhalten provozieren. Es wird auf kleinen technischen und zeitlichen Aufwand durch die Instrumente geachtet. Es existieren viele verschiedene Instrumente, aber nur wenige systematisch in der Ehe- und Familientherapie verwendbare, da Therapeuten aus den im Forschungskontext entwickelten Verfahren kaum nützliche Infos für den Behandlungsprozess erhalten. Es sollten folgende Grundvoraussetzungen erfüllt werden: • Methode muss für den therapeutischen Prozess relevant sein • Sie muss relevante Konzepte (z.B. Kontrolle, Rollenerwartungen...) berücksichtigen (Inhaltsvalidität) • Sie sollte auf zu beobachtende Gruppen zugeschnitten sein • Testtheoretische Kriterien der Reliabilität und Validität sollen überprüft sein • Instrumente sollen ökonomisch und vielfältig anwendbar, auch differenzierter sein 18.3 Die Definition der Kodiereinheit u. die Kodierung der Interaktion S. 389-390 Damit man aus beobachteten Interaktionssequenzen Rückschlüsse auf spezifische Interaktionsmechanismen ziehen kann, müssen Daten, die mittels Interaktionsaufgaben generiert wurden, nach formalen oder inhaltlichen Kriterien zergliedert und analysiert werden. Dafür gibt es viele Kodierverfahren. Die Instrumente reichen von auf 1 bestimmte Fragestellung spezifizierten Systemen mit 1-2 Skalen bis hin zu sehr komplexen, aber aufwendigen Instrumenten. 10 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Einige Verfahren differenzieren zwischen Sprecher- und Empfängerverhalten, andere kodieren auch noch beobachterbezogene Variablen. Die grosse Variabilität der Kodierverfahren hat zu bisher wenig ergiebigen Vergleichsuntersuchungen der Instrumente und zur Diskussion wesentlicher Kriterien der Konstruktion und Auswahl eines Kodierverfahrens geführt. Die wichtigsten Aspekte, Bestimmung der Kodiereinheit und Auswahl der zu kodierenden Dimensionen, werden im folgenden erörtert. 18.3.1 Die Kodiereinheit - makro- und mikroanalytische Kodierungen S. 390-392 Bei der Kodierung von Beobachtungsdaten ist die Definition der Kodiereinheit eine Hauptschwierigkeit. Man verwendet sowohl ereignis- als auch zeitbezogene Kodiereinheiten. Neben einfachen Spracheinheiten und einem Sprecherwechsel finden sich auch lange Zeitintervalle und Sinneinheiten. Kodierung in zeitbezogene Einheiten ist sinnvoll bei der Erfassung relativ undifferenzierter, nur schwer in Einheiten zerlegbarer Interaktionsprozesse (z.B. Interaktion zwischen Mutter und Säugling). Bei klaren und differenzierten Interaktionen kann die Sinneinheit durch rein zeitbezogene Kodierung zerstört werden. Ergebnisbezogene Einheiten entsprechen eher der Interpunktion, die die interagierenden Personen selber vornehmen. Sie ist aber weitaus aufwendiger. In beiden Fällen stellt sich die Frage nach der Analyseeinheit. Man unterscheidet zwischen makro- und mikroanalytischen Kodiereinheiten und Methoden. Erstere beruhen auf langen und Komplexen, letztere auf kurzen und einfachen Kodiereinheiten. Beide Kodierungsarten können sowohl ereignis- als auch zeitbezogen erfolgen. Makroanalytische Verfahren sind eher globale Ratinginstrumente, die grössere Einheiten der Familieninteraktion einschätzen und die Dimensionalität familialer Interaktion ohne Rückgriff auf Transkripte oder eine exakte Analyse einzelner Verhaltenssequenzen zu erfassen suchen. Mit mikroanalytischen Verfahren werden kleine Interaktionssequenzen kodiert, was eine detaillierte Studie der Interaktion und das Erkennen komplexer Interaktionsmuster ermöglicht. Sie besitzen wegen der kleinen Kodiereinheiten und der geringen Anforderungen an die Erfahrungen des Beobachters den Vorteil der geringeren Inferenz, der besseren Objektivität und der höheren Interraterreliabilität. Mit mikroanalytischen Verfahren kodierte Daten sind vielfältiger analysierbar, wenn der Datenpool ausreichend gross ist und es ein reliables Kodiersystem ist. Die eher enge Begrenzung der Kodiereinheit kann aber zu einer Einschränkung der Interraterreliabilität und der Validität infolge multipler Interpretationsmöglichkeiten führen. Vorteil der makroanalytischen Verfahren ist der geringere zeitliche und materielle Aufwand. Zudem kann man einen größeren Querschnitt des Verhaltens erfassen. Daher kann man sie auch eher routinemäßig im klinischen Alltag einsetzen. Nachteile können die starke Abhängigkeit der Kodierung vom Informationsstand des Raters und die Gefahr der Konfundierung von theoretischem Konzept und Kodierung sein. Insgesamt gibt es keine generelle Überlegenheit mikro- oder makroanalytischer Kodierungen. Man kann aber davon ausgehen, dass unterschiedliche Einheiten verschiedene Aspekte der Interaktion erheben. Deshalb ist die Fragestellung der Untersuchung ein wichtiges Entscheidungskriterium bei der Wahl der Kodiervefahren. 11 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Mikroanalytische Verfahren werden empfohlen, wenn die Bedeutung der konkreten Interaktion, d.h. spezieller Mikrosequenzen, untersucht werden soll. Sie haben sich auch in der Säuglingsforschung (Untersuchungen der Interaktion zwischen Mutter/Vater und Kind) als fruchtbar erwiesen, da non- und paraverbale Kommunikationsprozesse dominieren. Makroanalytische Verfahren werden dann befürwortet, wenn typische Interaktionsstile in der Familie erhoben werden sollen. Ist der Wissensstand auf dem jeweiligen Forschungsgebiet gering, ist eine mikroanalytische Untersuchung sinnvoll, ist er dagegen hoch, reichen globalere Kategorisierungen aus, um generalisierte Aussagen zu ermöglichen. Schliesslich spielen auch Quantität und Qualität der Beobachtungsdaten sowie die zeitlichen und ökonomischen Ressourcen des Untersuchers bei der Methodenwahl eine grosse Rolle. 18.3.2 Dimensionen der Kodierung S. 392-393 Es gibt 6 Variablen, die die grundlegenden Dimensionen der meisten mikro- und makroanalytischen Verfahren bilden (Markman und Notarius, (1987): • Dominanz: es ist eine kritische Dimension in der Entwicklungspsychologie und der Schizophrenieforschung und die am häufigsten verwendete Dimension. • Positiver und negativer Affekt: ist ebenfalls in der Schizophrenieforschung häufig angewandt. • Klarheit der Kommunikation und Kommunikationsstil: es ist eine Variable aus der „double-bind“-Forschung und der sozialen Lerntheorie und wird als wichtigstes Kriterium für ein effektives familiales Problemlösen in vielen Verfahren aufgenommen. • Informationsaustausch: es ist eine Dimension aus der Kleingruppenforschung und ist ein Indikator für eine erfolgreiche familiale Problemlösung. • Konflikt: es ist eine Variable aus der Interaktionsforschung. Meist wird der Grad der in der Interaktion offen ausgedrückten Spannung gemeint. Sowohl ein hoher Grad an offen ausgedrücktem Konflikt als auch die Abwesenheit von Konflikt ist dysfunktional. • Unterstützung und Anerkennung: diese Dimension wird in der Kleingruppenforschung und in den meisten Familientheorien als für die familiale Funktionalität relevant eingestuft. Um diese Merkmale zu erfassen werden sowohl in mikro- als auch in makroanalytischen Kodierverfahren zumeist formale, inhaltsfreie Indikatoren verwendet, deren Auftretenshäufigkeit gemessen wird. Dies sind Masse wie: Unterbrechungen Redezeit Äusserungslänge „Wer spricht zu wem?“ Anzahl der Äußerungen Häufigkeit des Angesprochenwerdens Pausen Problematisch ist, dass die theoretisch begründeten Dimensionen stark variieren, so dass einzelne Kodierungen (z.B. Unterbrechung) sowohl als Kriterium für Konflikt als auch für Klarheit der Kommunikation oder Affekt gewertet werden. Neben der Unterschiedlichkeit der Kodiereinheiten erschwert dies die Vergleichbarkeit der Kodierverfahren. Neben den formalen Massen werden selten auch inhaltliche Merkmale zur Kodierung herangezogen. Anders als bei den formalen Massen ist bei inhaltlichen Kodierungen der im Beobachter ablaufende Beurteilungsprozess wesentlich komplexer. 12 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Inhaltliche Merkmale sind nicht mit so hoher statistischer Objektivität und Reliabilität zu erfassen wie formale Merkmale. Aber der Abstand zwischen theoretischen Konstrukten und ihrer Operationalisierung in den Indikatoren ist weniger gross. Tendenziell wird der Kontext der Interaktion über inhaltsbezogene Kodierungen und Kodierungen der nonverbalen Interaktionsverhaltens mehr berücksichtigt. 18.3.3 Übersicht über die Kodierverfahren S. 393-405 Es folgt eine Übersicht die in Klinik und Forschung am häufigsten angewendeten Verfahren. Die genannten makroanalytischen Verfahren werden sowohl im klinischen als auch im wissenschaftlichen Kontext angewandt. Mikroanalytische Instrumente sind dagegen in der Regel nur für den wissenschaftlichen Kontext geeignet. Berücksichtigt werden nur Verfahren, die nicht nur in der entwickelten Gruppe, sondern in mehren Gebieten verwendet werden können und die die Gütekriterien Validität und Reliabilität hinreichend erfüllen. Jacob und Tennenbaum (1988) unterscheiden zwischen Quasibeobachtungssystemen, Kodierverfahren für naturalistische Beobachtungen und Kodierinstrumenten für Beobachtungen im Laborsetting. In diesem Beitrag wird der Schwerpunkt auf Laborverfahren gesetzt. Quasibeobachtungsmethoden sind Instrumente, mittels derer die Mitglieder einer Familie das Verhalten anderer Familienmitglieder selbst beobachten und es aus ihrer Perspektive heraus einschätzen. Diese meist makroanalytischen Verfahren werden zur Behandlung von Eheproblemen oder kindlichen Verhaltensstörungen und im naturalistischen Setting benutzt. Verwendete Instrumente sind IR (Interactional Records; Peterson), MSTL (Marital Satisfaction Time Lines; Williams) und SOC (Spouse Observation Checklist; Weiss und Perry). Methoden, mit deren Hilfe Eltern das Verhalten ihrer Kinder beobachten und kodieren, sind der PDR (Parent Daily Report; Patterson et al.), die PCOS (ParentChild-Observation Schedule; Grounds) oder der DBR (Daily Behavior Report; Christensen und Margolin). Die Kodierung von Beobachtungen der Interaktion zwischen Geschwistern kann mittels der SOS (Sibling Observation Schedule; Seilhamer) erfolgen. Die dieser Kategorie subsumierte Verfahren entsprechen den Kriterien der Validität und Reliabilität noch unzureichend. Mit Kodierinstrumenten für naturalistische Beobachtungen kann man Interaktionen von Familien unter häuslichen Bedingungen kodieren. Das FICS (Family Interaction Coding System; Patterson), ein mikroanalytisches Verfahren, hat die Arbeit auf diesem Gebiet beeinflusst. Es wurde im Zusammenhang mit der klinischen Behandlung von Familien mit aggressiven Kindern vor einem verhaltenstherapeutischen Hintergrund entwickelt. Es ist das am häufigsten verwendete naturalistische Kodierverfahren und weist eine gute Reliabilität und Validität auf. Es wird für Beobachtungen von Ehebeziehungen und Eltern-KindInteraktionen verwendet. Für Familien mit Schulkindern ist es das beste Kodierverfahren. Es beinhaltet 29 Kodierungen, die negatives und positives Verhalten, Verhaltensweisen mit dem Ziel, andere Familienmitglieder zu beeinflussen sowie Alltagsroutinetätigkeiten betreffen. Weiter naturalistische Verfahren sind die HOAM (Home Observation Assessment Method; Steinglass), ein makroanalytisches Verfahren, das eine Beschreibung der sozialen Ökologie von Familien in ihrer häuslichen Umgebung ermöglicht, das BCS (Behavioral Coding System; Patterson und Reid), das HISS (Home Interaction Coding System; Tennenbaum et al.). Seine Gütekriterien sind noch nicht geprüft. 13 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Mehrzahl der Kodierinstrumente für Beobachtungen im Labor ist für Untersuchungen von Interaktionsmustern in klinischen Populationen entwickelt worden. Aufgrund der Vielzahl unterscheiden die Autoren zwischen mikroanalytischen Kategorien-, Zeichensystemen und makroanalytischen Ratingverfahren. Mikroanalytische Kategoriensysteme: Die meisten Kodierverfahren für Beobachtungen im Labor sind mikroanalytische Kategoriensysteme. Fast alle Instrumente stützen sich auf die IPA (Interaction Process Analysis; Bales), einem Verfahren aus der Kleingruppenforschung, oder auf den IC (Interaction Code; Mishler und Waxler), aus der Schizophrenieforschung, die die IPA beinhaltet. In Tab. 18.2 sind die am häufigsten verwendeten mikroanalytischen Kategoriensysteme zusammengestellt. Die meisten mikroanalytischen Instrumente wurden in den USA entwickelt. Davon wurden wenige im dt. Sprachraum verwendet, z.B. die FIS (Family Interaction Scales; Riskin und Faunce), das MICS (Marital Interaction Coding System; Patterson et al.), das KPI (Kategoriensystem für partnerschaftliche Interaktion; Hahlweg et al.). Die FIS ist eines der ersten Kategoriensysteme. Untersucht wird der Sprechakt der Person. Jeder Sprechakt wird auf allen Subskalen (ursprünglich 7 Kategorien) des Instrumentes kodiert: „Wer spricht zu wem?“ Klarheit der Kommunikation Kontinuität des Themas Verpflichtung Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung Gefühlsintensität Beschaffenheit der Beziehung Das Verfahren verfügt über recht gute Reliabilität und Validität. Für den dt. Sprachraum wurde es mehrmals überarbeitet und enthält folgende Subskalen: Dauer des Sprechaktes „Wer zu wem?“ Unterbrechung Überlappung Einmischung Verhaltensaufforderung Ironie/Sarkasmus Deutlichkeit Thema Stellungnahme Übereinstimmung Affektive Intensität Beziehung Das MICS ist das am häufigsten verwendete Verfahren in der Paardiagnostik. Es basiert auf dem FICS und wurde 3x revidiert. Kodiereinheit ist ein Zeitintervall von 30 Sekunden. Die Kodierung bezieht sich auf positives verbales und nonverbales, auf negatives verbales und nonverbales Verhalten, auf Problemlösung- und auf das Zuhörerverhalten. Einzelne Kodierungen wurden in unterschiedliche Summencodes gruppiert, was die Analyse und Interpretation der Daten erleichtert, aber die Vergleichbarkeit der Ergebnisse verschiedener Studien erschwert. Das Instrument verfügt über sehr gute Reliabilität und Validität. Es misst den Erfolg ehetherapeutischer Interventionen und differenziert Paare mit und ohne Eheprobleme. 14 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Das KPI ist das einzige im dt. Sprachraum entwickelte und international anerkannte Beobachtungssystem. Es basiert auf dem KIK (Kategoriensystem für interpersonale Kommunikation), dem CISS und dem MICS. Das Verfahren erfasst verbales und nonverbales Verhalten und berücksichtigt das Verhalten des Sprechers und des Zuhörers. Die 12 verbalen Hauptkategorien sind unterteilt in positive, negative und neutrale Kategorien (Tab. 18.3). Jede verbale Kategorie ist mit einer nonverbalen Qualifizierung versehen – positiv, negativ oder neutral. Die Beurteilung erfolgt für Gesicht, Tonfall und Körperhaltung getrennt. Für jeden Aspekt sind positive und negative Ankerreize definiert (Tab. 18.4). Kodiereinheit des KPI ist die Sinneinheit. Die Kodierung wird am Videoband direkt ohne Rückgriff auf Transkripte vorgenommen, was die Auswertungszeit verkürzt. Das Verfahren ist für Sequenzanalysen nutzbar. Die Reliabilität ist gut, auch die Validität wurde mehrfach untersucht. Das Verfahren diskriminiert zwischen Paaren mit hoher und niedriger Ehequalität und ist sensitiv für Veränderungen im Laufe der Ehetherapie. Mit dem Verfahren kann man sehr gut die Kommunikations- und Problemlösefähigkeiten von Paaren und Familien erheben. Schwäche ist eine noch fehlende Konstruktvalidität. Es gibt viele Unterschiede zwischen den mikroanalytischen Verfahren. Die Kodiereinheiten variieren stark, die Samplingstrategien unterscheiden sich und die Kodiermanuale und die Anforderungen an die Beobachter sind sehr unterschiedlich. So wundern widersprüchliche Ergebnisse nicht. Dies liegt auch noch an anderen methodischen Problemen mikroanalytischer Kategoriensysteme: • Indikatorenproblematik: Bei mikroanalytischen Methoden besteht eine enorme Lücke zwischen hypothetischen Konstrukten und den zur Diagnostik verwendeten Operationalisierungen, die zu bedeutsamen Inferenzproblemen zwischen Abstraktions- und Beobachtungsebene führen. So entstehen mehrere Operationalisierungen für ein Konstrukt und eine Operationalisierung für unterschiedliche Konstrukte. • Mangelnde klinische Relevanz der Indikatoren: Indikatoren (z.B. Redezeit) sind zwar recht reliabel und valide zu erfassen, jedoch klinisch-therapeutisch irrelevant und trivial. Das RVT-Syndrom könnte zutreffen (hohe Reliabilität+hohe Validität ergeben hohe Trivialität). Zeichensysteme: Es werden aus der gesamten Interaktion nur die Auftretenshäufigkeit bestimmter vorher ausgewählter Verhaltensaspekte protokolliert. Diese Instrumente ähneln mikroanalytischen Kodiersystemen. Sie werden nur hinsichtlich 1 Dimension kodiert. Daher sind sie für die Verwendung im klinischen Bereich geeignet. Z.B. das AS (Affective Style-Kodierungssystem; Doane et al.) und das EE (Expressed emotion; Vaughn u. Leff). Das Verfahren soll den affektiven Gehalt von Familieninteraktionen erheben und relevante EE-Variablen (Feindseligkeit, Kritik, emotionale Überfürsorglichkeit) erfassen. Das AS beruht auf den Kategorien: Persönliche oder spezifische Kritik Kritisches und neutrales Gedankenlesen Schuldvorwürfe Unterstützung Validität und Reliabilität sind befriedigend. Sowohl die prädiktive Validität für Entstehung und Verlauf schwerer psychischer Störungen als auch diskriminative Validität werden als gesichert angesehen. Weitere Untersuchungen bestätigen den Zusammenhang zwischen EE-Einstellungen und tatsächlichem Interaktionsverhalten. Doch die Bedeutsamkeit der Intensität des Affekts bleibt unklar, wegen 15 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] methodischen Schwierigkeiten hinsichtlich der Differenzierung verschiedener Intensitätsstufen. Makroanalytische Ratingskalen: Viele makroanalytischen Ratingskalen wurden aus mikranalytischen Verfahren entwickelt. Die erhobenen Dimensionen entsprechen oft denen der mikroanalytischen Instrumente. Auch viele Indikatoren werden aus mikroanalytischen Verfahren entliehen. Es entsteht der Eindruck, dass diese makroanalytischen Skalen aufgrund ihrer leichten Erfassbarkeit ausgewählt werden, ihre inhaltliche Relevanz jedoch nur ungenügend reflektiert wird. Sie sind wegen dem zeitlich und materiell geringeren Aufwand besser als mikroanalytische Instrumente geeignet. Obwohl es eine Vielzahl davon gibt (Tab. 18.5 S. 401), werden nur wenige der Verfahren im klinischen Bereich angewendet. Im folgenden werden 3 makroanalytische Verfahren zur Kodierung von Beobachtungen im Laborsetting vorgestellt, die sowohl wissenschaftlich als auch klinisch relevant sind. Dies sind die CFSA (Communication Skills Test; Floyd und Markman) und die RPI. Die CFSA wurde darum entwickelt, die klinische Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie um den Bereich der direkt beobachtbaren Familieninteraktionen zu erweitern. Sie besteht aus 30 Ratingskalen mit je 5stufiger Metrik (Tab. 18.6 S.402). Bei den Skalen 1-20 handelt es sich um direkt beobachtbare Kategorien. Die Skalen 21-30 ergeben sich eher aus der klinischen Praxis und den familientherapeutischen Theorien, sind komplexer bzw. erfordern eine stärkere schlussfolgernde Beurteilung. Alle Skalen beziehen sich auf die Familie als Ganzes. Die Reliabilität ist eher ungenügend (.33), was an der Komplexität der Konzepte liegen mag. Zur Validität liegen keine Befunde vor. Der CST ist ein gängiges Verfahren, und besteht ausschliesslich aus einer Skala. Somit ist es in der klinischen Praxis gut verwendbar. Eingeschätzt wird die Qualität der verbalen Kommunikation auf einer 5stufigen Skala mit den Ausprägungen sehr negativ, negativ, neutral, positiv, sehr positiv. Jede Aussage wird kodiert, danach erfolgt eine Globaleinschätzung des nonverbalen Verhaltens beider Interaktionspartner. Beide Einschätzungen zusammen ergeben den Grad der „Positivität“ der Kommunikation. Reliabilität und Validität sind als gut bezeichnet. Das RPI wurde im dt. Sprachraum entwickelt und angewendet. Es besteht aus 6 Skalen: Selbstöffnung Akzeptanz Nichtübereinstimmung Abwertung und Kritik Problemlösung Einschätzung des nonverbalen Verhaltens Diese Dimensionen entsprechen denen des KPI. Die Einstufung erfolgt auf einer 5stufigen Skala von gering bis stark. Es verfügt über eine gute Reliabilität und Validität. Die Dimensionen der RPI trennen zwischen belasteten und unbelasteten Paaren und sind brauchbar im Rahmen der Evaluation verhaltenstherapeutischer Ehetherapie. Alle makroanalytischen Verfahren kranken an unzureichenden Gütekriterien, v.a. an geringer Interraterübereinstimmung und geringer inhaltlicher Validität. Dies hängt sicher mit der oft unsystematischen Kombination von Beobachtungs- und Interpretationsebene innerhalb der einzelnen Kategorien vor dem Hintergrund vager theoretischer Konzepte zusammen. 16 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] 17 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Kodierverfahren aus dem entwicklungspsychologischen Kontext: Im Unterschied zu klinisch orientierten Verfahren wurde diese Untersuchung für die kindliche Entwicklung in Normalfamilien konstruiert. Neben den 6 Grunddimensionen (Tab. 18.3) berücksichtigt sie auf kognitive Variablen. Für die Untersuchung des Einflusses der Familieninteraktion auf die Entwicklung älterer Kinder oder Jugendlicher eignen sich mehrere Verfahren, alle aus den USA. Aus dem dt. Sprachraum gibt es keine vergleichbare Verfahren. Die häufigsten sind das IPCS (Interaction Process Coding System; Bell et al.) und das CECS (Family Constraining and Enabling Coding System; Hauser et al.) Das IPCS ist ein sowohl mikro- als auch makroanalytisches Instrument. Es wird für die Erhebung des Effekte elterlicher Dominanz, Unterstützung und Anerkennung auf den Individuationsprozess von weiblichen Adoleszenten verwendet. Das CECS, ein mikroanalytisches Verfahren, soll durch eine Stimulierung der Interaktion mit Hilfe des Interviews zum moralischen Urteil von Kohlberg den Entwicklungsstand von Adoleszenten und die Auswirkungen von Kommunikationsproblemen auf die Ich-Entwicklung untersuchen. Für die Kodierung der Interaktion von Familien mit Kleinkindern werden das DPICS (Dyadic Parent-Child Interaction Coding System; Robinson und Eyberg), das sich auf den Zusammenhang zwischen elterlichen Kommandos und negativem Kindverhalten bezieht, oder die RCM (Response Class Matrix; Mash et al.) empfohlen. In der Säuglings- und Kleinkindforschung, besonders in der prospektiven Bindungsforschung, werden Beobachtungen der Mutter/Vater-Kind-Interaktion, meist im naturalistischen Setting, mit unterschiedlichen Verfahren kodiert. Dabei steht v.a. die Beziehung zwischen mütterlicher/väterlicher Feinfühligkeit und kindlichem Bindungsverhalten im Vordergrund. Ein oft benutztes Verfahren sind die Skalen zur Erfassung des mütterlichen Verhaltens (Ainsworth). Andere Kodierverfahren sind das HOME (Home Observation for Measurement of the Environment Inventory; Bradley u. Caldwell), mit dem die Qualität der Stimulation der kindlichen Umgebung erhoben wird und das Kategoriensystem zur Beschreibung familialer Interaktionen (Kreppner) 18.4 Die Wahl der Auswertungsmethodik S. 405-408 Die Auswertung der kodierten Familieninteraktion stellt den 3. Schritt einer familiendiagnostischen Beobachtung dar. Es gibt 2 Ansätze quantitativer Verarbeitung kodierter Daten: ereignisbezogene Auswertung über Frequenzanalysen oder zeit- bzw. prozessbezogene Verrechnung über Sequenzanalysen. Die Familieninteraktionsforschung stützt sich bis heute vorwiegend auf eine eregnisbezogene Verrechnung sowohl makro- als auch mikroanalytisch kodierter Daten. Dabei werden die Auftretenshäufigkeiten bestimmter Ereignisse über die Berechnung von Verhaltenssummenwerten erhoben. Bei makroanalytischen Ratingverfahren kommen nur frequenzanalytische Auswertungen in Frage, bei mikroanalytischen Kodiersystemen auch eine zeitbezogene Auswertung. Bisher wurden wenige sequenzanalytische Untersuchungen durchgeführt. Frequenzanalysen sind wichtig, um Verhalten deskriptiv zu erfassen. Die häufig verwendete Familientypologie (Olson et al.) beschreibt das Circumplexmodell, Kohäsion und Adaptabilität, 16 Familientypen. Eine andere Familientypologie (Reiss et al.) beschreibt aufgrund der Dimensionen Konfiguration, Koordination und Geschlossenheit 4 Familientypen: die umwelt-sensitiven, die (interpersonal) distanz-sensitiven, die erfolgs-sensitiven, die konsensus-sensitiven Familien. 18 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Die Beschränkung der Datenanalyse auf Frequenzanalyse führt zum Verlust der Informationen über den Interaktionsprozess. Vernachlässigt werden: Veränderungen der Interaktion über die Zeit, Antezedenz-Konsequenz-Ketten, Unterschiede in den Reaktionen von Familienmitgliedern auf andere Familienmitglieder Die Interpretation von Summenscores ist problematisch, da sich gleiche Summenscores unterschiedlich zusammensetzen können und damit nicht vergleichbar und ohne weiteres interpretierbar sind. Auch sind doppelte Bedeutungen einzelner Verhaltensweisen nicht auszuschließen (Lachen kann positive oder negative Aspekte haben). Ein prozessbezogener Auswertungsansatz mittels sequenzanalytischer Methoden fokussiert eher die Funktionalität bzw. Dysfunktionalität der Beziehungen zwischen den Personen und damit auch die Reziprozität der familialen Interaktionen. Damit können Verhaltensmuster entdeckt und Voraussagen über Verhaltenskombinationen gemacht werden, was mittels Frequenzanalyse nicht möglich ist. Grundannahme sequenzanalytischer Verfahren ist, dass die Erhebung der Vernetzung von Interaktionen innerhalb der Familie nur über den Umweg einer Ausdifferenzierung sequentiell angeordneter Einheiten erfolgt. Doch die Bildung von Verhaltensketten mittels Sequenzanalysen wird dem dynamischen und reziproken Charakter familialer Interaktionen nicht voll gerecht und bleibt linear-kausal, somit reduktionistisch, weil von einer „Wenn-dann-Prämisse“ ausgegangen wird. Die meist verwendeten sequentiellen statistischen Verfahren sind Lag-Analysen (Sackett) und Markov-Ketten-Analysen (Rausch et al.). Lag-Analysen geben Auskunft über die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Verhalten einem „Kriterienverhalten zu verschiedenen zeitlich geordneten Verhaltensschritten (lags) in einer fortlaufenden Interaktion folgt. Damit erhält man Infos über Beziehungen zwischen Verhaltenssequenzen, auf deren Basis Muster multipler Ereignisse identifiziert werden. Lag-Analysen und Markov-Modelle sind ähnlich, da sie Matrizen für Übergangswahrscheinlichkeiten zur Identifikation von Interakionsmustern benutzen. Markov-Modelle sind aber komplexer und erfordern stringentere statistische Annahmen als Lag-Analysen. Die Analyse von Interaktionsprozessen mittels Markov-Modellen wurden in der Forschung selten durchgeführt. Prozessorientierte Methoden ermöglichen die Untersuchung von Sequenzen unterschiedlicher Ordnung, dyadische Transaktionen (VA1-VB1), triadische Interaktionen (VA1-VB1-VA2) oder Transaktionen höherer Ordnung. Einheiten 2. Ordnung stellen das Minimum zur Identifizierung von Interaktionsmustern dar. Die Untersuchung von Einheiten 3. Ordnung sind aussagekräftiger; sie können den Rückbezug zum ersten Verhalten (VA1) und dessen Folgeverhalten (VB1) herstellen. Die Schwierigkeit beim Untersuchen 2. und 3. Ordnung ist die Erzeugung eines ausreichenden Datenpools und einer hohen Basisrate von Verhalten. Darum sollte man die Anzahl Dimensionen klein halten (8-10 Summendimensionen). Komplexere Sequenzen wurden selten untersucht, v.a. wegen der größeren, exponentiell zunehmenden Komplexität der Interaktionen und der zu geringen Auftretenshäufigkeit (Basisrate) von Ereignissen höherer Ordnung. Neben den quantitativen Auswertungsverfahren (Sequenz- und Frequenzanalysen) werden noch, insbesondere von Klinikern, qualitative, eher interpretative Methoden benutzt. Mittels dieser Vorgehensweise werden die jeweiligen Familiensysteme im Sinne einer bestimmten Familientherapiekonzeption ohne die vorherige quantitative Kodierung von Verhalten beschrieben. Die Einschätzungen begründen sich auf freie Beobachtungen oder Intuition. 19 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Minuchin verwendet einen „Lageplan“ der Familie, mit dem sich Koalitionen und Grenzen des Systems beschreiben und Rückschlüsse auf die Funktionalität des Familiensystems ziehen lassen. Was die klinische Relevanz der quantitativen Auswertungsverfahren betrifft, eignen sich frequenzanalytische Methoden auch für Auswertungen im klinischen Kontext, während Sequenzanalysen aufgrund ihrer (statistischen) Komplexität der Anwendung im Forschungskontext vorbehalten sind. 18.5 Schlussfolgerungen S. 408-411 In diesem Kapitel ging es um die Analyse der familiären Interaktion mittels Beobachtungsmethoden. Es wurde deutlich, dass familiendiagnostische Beobachtungsmethoden (bis auf einige Ausnahmen) eher wissenschaftlich als klinisch relevant sind. Der Erfolg einer Beobachtung ist abhängig von einer dezidierten Planung (unter Berücksichtigung der Fragestellung und zeitlichen und ökonomischen Ressourcen der Untersucher) und der Auswahl der geeigneten Verfahren. Es gibt noch methodische Probleme bezüglich der Konzeption der Beobachtungssituation, der Konstruktion von Kodierinstrumenten und der Auswahl der Auswertungsmethoden. Die eher unsystematische Konstruktion von Kodierinstrumenten hat zu mangelnder Vergleichbarkeit der Studien geführt. Zudem gibt’s bis heute keine Einigkeit, welche Aspekte der familialen Interaktion als valide Indikatoren für eine gestörte Kommunikation betrachtet werden können und in welchem Zusammenhang diese mit der Entwicklung psychischer Störungen stehen. Diese Unklarheit hat wiederum unzureichende Konzeptualisierung von Familienprozessen und mangelnde theoretische Fundierung vieler Kodier- und Ratingsysteme zur Folge. Auch die unzureichende Differenzierung zwischen Inhalt, Funktion und formalen Anteilen der Interaktion, zwischen nonverbaler und verbaler Interaktion, zwischen personaler und interaktionaler Systemebene oder zwischen Beschreibung und Deutung hängt mit dieser Unklarheit zusammen. Die Beziehungen zwischen theoretischen Konzepten und empirischen Indikatoren müssen noch mehr differenziert und spezifiziert werden. Es ergeben sich auch Probleme hinsichtlich der Gütekriterien. Validität wurde meist nur als Übereinstimmungs- und Vorhersagevalidität überprüft. Konstrukt- oder kriterienbezogene Validität sind unzureichend nachgewiesen. Bezüglich Reliabilität gibt es zu wenig abgesicherte Ergebnisse. Wenig untersucht wurde die zeitliche Stabilität der Messungen in Abhängigkeit von situativen Bedingungen, d.h. Retestreliabilität. Künftig sollte auf die Weiterentwicklung von Beobachtungsund Protokollierungsmethoden und auf gründliche Vorbereitung und Schulung der Beobachter geachtet werden, um Mildefehler, Haloeffekte, Nähe- und Kontrastfehler zu vermindern. Viele Verfahren stellen aufgrund der Komplexität der Ratings hohe Anforderungen an die Rater und darum muss ein Training der Wahrnehmungsschärfe, der Beobachtung nach Teilaspekten und der sprachlichen Sicherheit in der Beschreibung erfolgen. Im gesamten Beobachtungsprozess, speziell bei der Auswertung und Interpretation der kodierten Beobachtungen, sind mehr als bisher die Stellung der Familie im Familienlebenszyklus sowie kulturelle Randbedingungen der familialen Interaktion als Aussenkriterien zu berücksichtigen. Denn solange es noch keine aufeinander abgestimmten Normen für die Interaktionsprozesse in verschiedenen Phasen des Familienlebenszyklus und für Familien verschiedener kultureller Gruppen gibt, sind immer noch Verzerrungen der Ergebnisse zu erwarten. 20 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Aus den bisherigen empirischen Beobachtungsstudien ergeben sich viele gegensätzliche Resultate. Dafür gibt’s v.a. 2 Gründe: Eine Folge mangelnder und teils sehr unterschiedlichen theoretischen Fundierung und Operationalisierung von Variablen. Mit unterschiedlichen Verfahren werden unterschiedliche Aspekte des gleichen Verhaltens erhoben. Für die widersprüchlichen Ergebnisse scheint die zumeist nur häufigkeitsbezogene Auswertung der kodierten Daten ein Grund zu sein. Auf der Basis frequenzanalytischer Auswertungen haben sich keine eindeutigen empirischen Ergebnisse hinsichtlich kommunikativer Unterschiede zwischen gestörten und „normalen“ Familien ergeben. Die Annahme, dass bestimmte Kommunikationsmerkmale bei dysfunktionalen Familien häufiger vorkommen, konnte bislang nicht bestätigt werden; es gibt sogar entgegengesetzte Ergebnisse. Ein durchgängig beobachtetes Ergebnis in frequenzanalytischen Studien ist, dass negativer Affekt eher als positiver Affekt eine wichtige diskriminierende Variable zwischen belasteten und unbelasteten Paaren bzw. Familien darstellt. Die meist widersprüchlichen frequenzanalytisch ermittelten Ergebnisse können bedeuten, dass die Operationalisierungen keine gute Indikatoren für die theoretischen Konstrukte darstellen. Sie können auch darauf zurückzuführen sein, dass die Unterschiede zwischen klinischen Paaren/Familien und Kontrollpaaren und –familien subtiler sind, als erwartet, oder dass sie sich nicht über Verhaltensfrequenzen erheben lassen. Die wenigen sequenzanalytischen Untersuchungen weisen darauf hin, dass negative Eskalationszyklen als wichtige Indikatoren für eheliche und familiale Probleme angesehen werden müssen und ein Zusammenhang zwischen der Qualität der Kommunikationsprozesse und der Entwicklung von späteren Ehe- und Familienproblemen besteht. Aufgrund der vielversprechenden Ergebnisse sequenzanalytischer Studien wird eine Verstärkung der Forschung mittels mikroanalytischen Kodiersystemen und sequenzanalytischen Auswertungsverfahren empfohlen. Weitere Fortschritte gibt’s nur durch eine Spezifizierung der theoretischen Konzepte. Die tatsächliche Entwicklung ging in den letzten Jahren in Richtung einer „Feldforschung“ im therapeutischen Setting mittels makroanalytischer Verfahren und es wurde auf sequenzanalytische Auswertungen weitgehend verzichtet. Diese Tendenz zeigt sich darin, dass in den letzten Jahren fast keine neuen Interaktionsaufgaben entwickelt wurden und die meisten neu konstruierten Kodierverfahren aus vorhandenen mikroanalytischen Verfahren abgeleitete makroanalytische Verfahren darstellen. Es gibt noch zu wenig Erkenntnisse über die Interaktion in „normalen“ Familien. Die Notwendigkeit einer Abgrenzung dysfunktionaler von „normaler“ Familieninteraktion erfordert eine verstärkte Bemühung um eine Untersuchung von Normalfamilien. Auch sollten verstärkt Vergleichsstudien klinischer und nichtklinischer Gruppen erfolgen, wobei mehr als bisher Homogenität und Größe der Stichprobe sowie Vergleichbarkeit der verwendeten Verfahren zu achten ist. Erforderlich sind noch Studien aus verschiedenen Perspektiven, durch „Outsider“ oder „Insider“. Zusammenfassend kann man sagen, dass Beobachtungsmethoden trotz der methodischen Probleme in der Familiendiagnostik eine grosse Bedeutung zukommt. Diese Verfahren stellen eine wertvolle Ergänzung familiendiagnostischer Selbstberichtmethoden dar. Sie können – wenn sie in Zukunft systematischer weiterentwickelt werden – einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung des Verständnisses von Familien und Partnerschaft leisten. 21 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] 19 Prozessmodelle und Ratingskalen (V. Thomas) S. 413 3 theoretische Modelle ermöglichen die Erfassung und Beschreibung von günstigen und weniger günstigen Mustern von Familienbeziehungen und –strukturen durch externe Beobachter und durch die Sebstberichte der Familienmitglieder: das Circumplex Model of Marital and Family Systems (Olson et al., 1979) das Beavers Systems Model (Beavers et al., 1990) McMaster Model of Family Functioning (Epstein et al., 1978) Die 3 Modelle und ihre Untersuchungsinstrumente werden beschrieben. 19.1 Einleitung S. 413-414 Ratingskalen stellen keine Daten zur Verfügung, die die „objektive“ Realität von Familien widerspiegeln. Sie reflektieren Auffassungen von Beobachtern und liefern zusätzliche Informationen über Familienbeziehungen und –strukturen. Sie basieren auf theoretischen Modellen, die von der Systemtheorie abgeleitet sind. Für die 3 Modelle liegen Selbstbeobachtungsinstrumente vor, welche eine multimethodale Familiendiagnostik ermöglichen. Es ist sehr wichtig, Fragebogen und Ratingskalen gleichzeitig anzuwenden. Diese theoretischen Modelle untersuchen Familienprozesse mit dem Ziel, verschiedene klinische und empirische Befunde mit unterschiedlichem theoretischen Hintergrund zu integrieren. Mit den Modellen kann man günstige und weniger günstige Muster von Familienbeziehungen und –strukturen erfassen und beschreiben. Alle Modelle versuchen, die Familie als Ganzes zu begreifen und ihre Struktur zu analysieren. Die 3 folgenden Modelle basieren auf der Systemtheorie, deren Grundanahmen lauten (Epstein): • Die Teile (Mitglieder) einer Familie sind aufeinander bezogen • Ein Teil des Familiensystems kann nicht in Isolation von den anderen Teilen verstanden werden • Der Funktionsgrad einer Familie kann nicht vollständig erfasst werden, indem man sich lediglich auf die Einzelteile bezieht • Die Struktur und der Organisationsgrad einer Familie sind wichtige Faktoren, welche das Verhalten von Familienmitgliedern bestimmen • Beziehungsmuster gehören zu den bedeutendsten Variablen, welche das Verhalten von Familienmitgliedern beeinflussen Es werden Ratingskalen vorgestellt, welche die Klassifizierung von Familien durch Beobachtungen ermöglichen. Sie werden auf ihre Testgütekriterien untersucht und ihre klinische Anwendbarkeit und Nützlichkeit wird diskutiert. Es werden Trainingsund Auswertungsfragen behandelt. Interessant ist die Tatsache, dass die Modelle bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt wurden. 19.2 Das „Circumplex Model of Martial and Family Systems“ 19.2.1 Das Modell S. 414-417 Ursprünglich wurde das Modell als Brücke zwischen 2 Gebieten errichte: Die allgemeine Familientheorie bzw. Familienforschung Die klinische Theorie und Familientherapie Olsen wollte damit die Familie als komplexes Gebilde auf überschaubare Konzepte reduzieren, um Paar- und Familiensysteme einer empirischen Untersuchung zugänglich zu machen. Er leitete sein Modell von einer Vielzahl familientheoretischer und –therapeutischer Konzepte deduktiv ab. Das Modell basiert auf den Dimensionen Kohäsion und Adaptabilität, später kam noch die „unterstützende“ Dimension Kommunikation hinzu, welche aber nicht in das zweidimensionale Grundmodell (Abb.19.1) eingeschlossen wurde. 22 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Kohäsion ist definiert als das „Ausmaß emotionaler Verbindung, die Familienmitglieder miteinander haben“. Adaptabilität ist definiert als die Fähigkeit eines Paar- bzw. Familiensystems, seine Machtstrukturen, Rollenbeziehungen und Beziehungsregeln entsprechend den situativen und entwicklungsbedingten Belastungen zu verändern. Diese Dimensionen basieren auf dem Konzept der „dynamischen Veränderung“. Das Modell arbeitet mit der Hypothese, dass sowohl Morphogenese als auch Morphstase notwendig sind für die Lebensfähigkeit eines Familiensystems. Zu viel Veränderung, die zum Chaos führt, oder zu wenig Veränderung, die Rigidität nach sich zieht, werden als dysfunktional angesehen. Entsprechend wird die Dimension Adaptabilität in 4 Bereiche unterteilt (Abb.19.1): Extrem hohe wird Chaos genannt (chaotisch) Extrem niedrige heisst Rigidität (rigid) Mittlere Bereiche heissen Strukturiertheit und Flexibilität (strukturiert, flexibel) und entsprechen einer Balance zwischen Stabilität und Veränderung Die Dimension Kohäsion wird ebenfalls in 4 Bereiche unterteilt: Losgelöst Getrennt Verbunden Verstrickt Kombiniert man die je 4 Bereiche der 2 Dimensionen, ergeben sich 16 Quadranten. Olson postuliert die allgemeine Hypothese einer kurvilinearen Beziehung zwischen den Dimensionen Kohäsion und Adaptabilität bezüglich effizientem Funktionieren der Familie. Extrem hohe und extrem niedrige Ausprägungen beider Dimensionen werden als pathologisch angesehen. Die vier Quadranten im Zentrum des Modelles repräsentieren moderate Ausprägungen. Im schraffierten Mittelbereich befinden sich Paare und Familien mit einer extremen Ausprägung auf einer Dimension und einer moderaten auf der anderen. Kommunikation wurde als unterstützende Dimension nachträglich eingefügt. Paare bzw. Familien, die im Zentrum des Modells liegen, weisen tendenziell einen positiveren Kommunikationsstil auf als Paare und Familien in den Extremen. Umgekehrt kann man sagen, dass Paare/Familien im Zentrum aufgrund positiver Kommunikationsstile es leichter haben, ihre Ausprägung von Kohäsion und Adaptabilität zu verändern, als Paare/Familien in den Extremen. Ein positiver Kommunikationsstil beinhaltet das Senden von klaren und kongruenten Botschaften, Empathie, unterstützende Aussagen und effiziente Problemlösungsmöglichkeiten. Andere Autoren führten Untersuchungen zum Konzept der Kohäsion durch mit Familien, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe und ethnische Zugehörigkeit aufwiesen. Die Ausprägung bezüglich Kohäsion variiert je nach soziokulturellem und ethnischem Hintergrund sehr stark. Man fand extrem niedrige Werte für Kohäsion bei Familien mit delinquenten Jugendlichen. Anderseits ergeben sich hohe Werte für Kohäsion bei Familien mit einem schizophrenen Mitglied. Im Bereich ethnischer Familienforschung berichtete Strodtbeck extrem hohe Werte für jüdische USFamilien. 19.2.2 Olson’s Klinische Ratingskala (OKRS) S. 417-420 Olson und seine Mitarbeiter entwickelten diese Skala, deren Manual 1990 überarbeitet wurde. Die OKRS operationalisiert die 3 Dimensionen des Circumplexmodells. 23 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Kohäsion besteht aus den Skalen: Emotionale Bindung Familiäres Einfühlungsvermögen Eltern-Kind-Beziehungen Intrafamiliäre Grenzen (Zeitgestaltung, physische Raumaufteilung, Eintscheidungsprozesse) Extrafamiliäre Grenzen (Freunde, Interessen, Aktivitäten) Allgemeine Kohäsion Totaro Tamara [email protected] und emotionale Adaptabilität umfaßt die Skalen: Familienführung (Kontrolle) Disziplin Verhandlungsstil Rollenverteilung Regeln Allgemeine Adaptabilität Kommunikation schliesst die Skalen ein: Fähigkeit zuzuhören Ausdrucksmöglichkeiten (in bezug auf sich selbst und andere) Bereitschaft über sich selbst zu sprechen Klarheit im Ausdruck Kontinuität und Aufmerksamkeit Respekt und Einfühlungsvermögen Allgemeine Kommunikation Die Skalen der 3 Dimensionen sind mit den Items identisch. Die Kohäsions- und Adaptabilitätsitems werden auf einer Antwortskala beschrieben, die von 1-8 reicht. Die Antwortskala ist bipolar, d.h. sehr niedrige und sehr hohe Werte reflektieren niedrige Funktionsgrade der Familie, mittlere Werte repräsentieren hohe Funktionsgrade. Diese bipolare Anordnung spiegelt den kurviliearen Charakter des Circumplexmodells wider. Die 4 Bereiche der beiden Dimensionen sind im Manual detailliert beschrieben und bilden die Grundlage für die Einstufung durch den Beobachter. Nachdem der Beobachter alle Kohäsions- und Adaptabilitätsitems mit einem Wert zwischen 1-8 versehen hat, nimmt er die allgemeine Bewertung vor. Die beiden Werte werden ins Circumplexmodell eingetragen. Da die 3. Dimension, Kommunikation, unipolar angelegt ist, steht dem Beobachter eine Antwortskala von 1-6 zur Verfügung, wobei niedrige Werte schlechte Kommunikation und hohe eine gute Kommunikation bedeuten. Der allgemeine Wert wird nicht ins Circumplexmodell eingetragen, er wird lediglich mit der Position der Familie im Modell verglichen. Als Grundlage für die Bewertung dient entweder ein klinisches Interview mit der Familie oder eine 30minütige Videoaufzeichnung davon, wie die Familie die folgenden Fragen diskutiert: Diskussion über Nähe und Distanz zwischen Familienmitgliedern Wie würde die Familie DM 200 zusammen ausgeben? Wie sieht ein typischer Abend in der Familie aus? Wieviel Zeit verbringen Familienmitglieder miteinander? Was ändert sich in der Familie, wenn die Mutter für einen Monat verreisen muss? Welche Stärken hat die Familie? 24 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Um Beobachter mit der OKRS vertraut zu machen, wurde ein Trainingsprogramm entwickelt, das folgende Materialien enthält: Eine Zusammenfassung der wichtigsten Informationen zum Circumplexmodell sowie ein Manual der OKRS Ein Video mit Ausschnitten von Spielfilmen, welche die extremen Familientypen im Circumplexmodell darstellen Ein Video, welches klinische Beispiele der extremen Familientypen im Modell aufzeigt Das Training dauert ca. 6-8 Stunden und soll den Beobachter in der Anwendung des OKRS schulen. Die OKRS weist gute Reliabilität und Validität auf (Tab. 19.1). Die Validität kann als gut eingestuft werden, doch gibt es keine Untersuchungen zur Kriteriumsvalidität, jedoch eine sehr gute Konstruktvalidität. Die Diskriminierung zwischen klinischen und nichtklinischen Familien ist sehr gut. Man fand eine gute Unterstützung für die Kurvilinearitätshypothese des Circumplexmodells. Die klinische Anwendbarkeit der OKRS kann als sehr gut eingeschätzt werden. Ein vertrauter Beobachter kann eine Familie in wenigen Minuten beurteilen und die Werte ins Modell eintragen. Der „klinische Report“ fasst die Fragebogenwerte des FACES III und anderer Selbstbeobachtungsinstrumente sowie die Beobachtungswerte der OKRS zusammen. Das Circumplexmodell fällt durch die Klarheit und Leichtigkeit auf, mit der Familien typologisiert werden können. Die OKRS bietet dem Kliniker und Forscher ein reliables und valides Beobachtungsinstrument, das die klinische Beurteilung einer Familie sehr erleichtert. Allerdings hat das Modell Grenzen, indem es nur einen geringen Ausschnitt der Familiendynamik abbilden kann. Zusammen mit dem Fragebogeninstrument FACES III stellt die OKRS eine gute Ergänzung für die Beurteilung einer Familie dar. 19.3 Das „Beavers Systems Model“ 19.3.1 Das Modell S. 420-423 Das Modell entstand nach langjähriger klinischer Entwicklung. Beavers und seine Mitarbeiter entwickelten es, um zwischen klinischen und „normalen“ Familien zu unterscheiden. Das Modell basiert auf 2 Dimensionen: Familienkompetenz: Sie beschreibt, wie sich eine Familie als interaktionelle Einheit organisiert. Kompetente Familien haben einen demokratischen Führungsstil, die Eltern operieren in enger Koalition und die generativen Grenzen sind klar umschrieben. Sie haben ein gutes Konfliktlösungsverhalten und kommunizieren offen und direkt miteinander. Familienstil: Er bezieht sich auf zentrifugale (ausstoßende) und zentripetale (bindende) Kräfte in Familien. Das Modell fasst diese Dimensionen so zusammen, dass der Funktionsgrad einer Familie über den Familienentwicklungsprozess hinweg verfolgt werden kann (Abb.19.2). Die Autoren unterscheiden 5 Klassen von zentripetalen (gebundenen), zentrifugalen (ausgestoßenen) oder gemischten Familienstilen in gradueller Abstufung der Familienkompetenz (schwer gestört, „borderline“, durchschnittlich, angemessen, optimal). 25 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Die 5 Klassen sind folgendermaßen charakterisiert und mit klinischen Phänomenen verknüpft: • Optimale Familien: Klare Grenzen in der Familie und mit der Außenwelt Kontextuelle Klarheit der Rollenverteilung Relativ gleiche Machtverteilung Einleuchtende Regeln, welche das Zusammenleben in der Familie regulieren Angemessene Autonomie für alle Familienmitglieder Gute Kommunikation Hoher Grad an Zufriedenheit Hoher Grad an Kompromissbereitschaft Flexibilität Anpassungsfähigkeit innerhalb des familiären Lebenszyklus • Angemessene Familien: Recht effektive und kompetente Familie Kontrolle spielt eine wichtige Rolle Konflikte durch Drohungen regulieren anstatt Verhandlungen/Kompromisse • Durchschnittliche Familie: Diese Klasse umfaßt die grösste Zahl von Familien. Mitglieder sind meist recht funktionsfähig, aber anfällig für psychische Erkrankungen. Kontrolle spielt eine grosse Rolle, was den Grad der Zufriedenheit sehr einschränken kann. Durchschnittliche, zentripetale (bindende) Familien: Autoritäre Regeln und Kontrolle sind sehr wichtig Aggressionen müssen unterdrückt werden Frustration ist untersagt Konflikte dürfen nicht ausgetragen werden Allgemeine Unterdrückung von Gefühlen Angstzustände, milde Depressionen, psychosomatische Erkrankungen sind häufig Durchschnittliche, zentrifugale (ausstoßende) Familien: Interne Kontrolle funktioniert nicht Kontrolle wird auf Außenwelt projiziert Häufige Beschuldigungen u. Manipulationen anderer Familienmitglieder Aggressionen offen ausdrücken Elterliche Dyade ist durch Konflikte gekennzeichnet Verhaltungsstörungen bei den Kindern sind häufig Durchschnittliche, gemischte Familien: Schwankend zwischen bindendem und ausstoßendem Verhalten was Rigidität verringert aber Verhaltensmuster in der Familie weniger überschaubar macht • „Borderline-Familien“: Kontrolle ist noch wichtiger als in durchschnittlichen Familien. Grenzstörungen sind sehr ausgeprägt. Affektive Befindlichkeit von Familienmitgliedern schwankt zwischen Depression und Aggression mit geringen Anzeichen von Zufriedenheit. „Borderline“, zentripetale (bindende) Familien: Ambivalenz wird selten erlebt was zu inkohärenten Interaktionen führt Zwangssymptome, schwere Depressionen, Essstörungen 26 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] „Borderline“, zentrifugale (ausstoßende) Familien: Ausagieren von Aggressionen Ambivalenz ist offensichtlich und dramatisch, wird aber verleugnet Klassische „Borderline-Charakterstörungen“ - Schwer gestörte Familien: Sie sind kaum fähig, Konflikte auszutragen und sich den entwicklungspsychologischen Anforderungen und situationsbedingten Krisen zu stellen. Kinder können kein gutes Selbstgefühl entwickeln. Schwer gestörte, zentripetale (bindende) Familien: Undurchlässige Grenzen zur Außenwelt Vollständig auf sich selbst bezogen Von anderen als seltsam erlebt Intrafamiliäre Grenzen sind schwer gestört Kommunikationsmuster sind äusserst verwirrend Schizophrene Erkrankungen sind häufig Schwer gestörte, zentrifugale (ausstoßende) Familien: Äusserst durchlässige Aussengrenzen Organisation der Familie ist extrem labil Häufige Trennung der Eltern Kinder laufen von zu hause weg Unklar, wer zur Familie gehört Häufig soziopathische oder antisoziale Charakterstörungen Studien zur Validierung des Modells haben gezeigt, dass Kompetenz und Stil die Anpassungsprozesse von Familien mit unterschiedlichen medizinischen und psychiatrischen Problemen messen können. Dies wurde für Familien mit einem geistig behinderten Kind gezeigt. Das Modell wird verwendet, um den Erfolg von Familien in psychiatrischer Behandlung nachzuweisen. Je kompetenter Familien sind, desto besser sind ihre Behandlungschancen. Das Modell kann nicht direkt zur Diagnose von psychiatrischen Erkrankungen beitragen, sondern lediglich Unterschiede in Kompetenz und Stil dieser Familien im Vergleich zu anderen Familien feststellen. • 19.3.2 Die Beavers Interaktionsskalen: I Familienkompetenz und II Familienstil S. 423-424 Beavers et al. haben ein 2teiliges Beobachtungsinstrument vom Beavers System Modell abgeleitet: die FKS (Familienkompetenzskalen) und die FSS (Familienstilskalen). Die FKS umfassen 6 Skalen mit insgesamt 13 Items: Familienstruktur (offene Machtverteilung, elterliche Koalitionen, Verbundenheit) Realitätsbezug Zielgerichtete Verhandlungsfähigkeit Autonomie (Klarheit im Ausdruck, Verantwortungsbewusstsein, Grenzendurchlässigkeit) Familienaffekt (Spannweite von Gefühlen, Gefühlslage, -ton, unlösbare Konflikte, Empathie) Allgemeine Befindlichkeit Die Items werden im Manual detailliert beschrieben und werden vom Beobachter auf eine 5-Punkt-Skala (mit ½ Punktschritten) beurteilt. Die Allgemeine-Kompetenzskala umfaßt eine 10-Punkte-Antwortskala. Der Summenwert wird in Kombination mit dem FSS-Wert ins Modell eingetragen. 27 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Die FSS sind analog zu den FKS aufgebaut. Sie enthalten 8 Skalen, die mit den Items identisch sind: Abhängigkeitsbedürfnisse Konflikt zwischen Erwachsenen Körperliche Nähe Soziale Präsentation und Auftreten Ausdruck von gefühlsmäßiger Nähe Aggressivität Globaler Familienstil Die Beschreibung der Skalen und die Antwortskalen entsprechen denen der FKS. Der Summenwert wird in Kombination mit dem FKS-Wert ins Modell eingetragen. Die Einschätzung der Beobachter sollten aufgrund eines 15minütigen Videos erfolgen, bei dem die Familie folgende Fragen diskutiert: Planung eines Familienausflugs Bedeutung von gefühlsmäßiger Nähe Was bereitet der Familie zur Zeit die grössten Sorgen? Familienstärken Klinische Familien diskutieren auf einem 15minütigen Video die Aufgabe: „...diskutieren Sie miteinander, was Sie in Ihrer Familie verändert sehen möchten“. Die Rater werden mit dem Modell vertraut gemacht, sie erhalten ein sehr ausführliches Manual, und sie benötigen ca. 30 Minuten, um eine Familie zu beurteilen und die errechneten Werte ins Modell einzutragen. Die FKS und FSS weisen gute Reliabilität und Validität auf. Die Anwendbarkeit wird als gut eingeschätzt. In weniger als 30 Minuten kann eine Familie beobachtet und eingestuft werden. Der Infogehalt ist für Kliniker und Forscher gut. Im Unterschied zum Circumplexmodell ist diese Modell unipolar. Es ist komplexer in seiner klinischen Anwendbarkeit, es ist auch komplizierter und aufwendiger, einen Wert zu berechnen, der in das Modell eingetragen werden kann. Beide Modelle überschneiden sich auf konzeptioneller Ebene. Daher zeigen sich die Beobachtungsinstrumente sehr gut zur gegenseitigen Validierung. 19.4 Das „McMaster Model of Family Functioning 19.4.1 Das Modell S. 425-427 Es geht auf Westley und Epstein zurück, welche die Beziehung zwischen individueller emotionaler Befindlichkeit und dem Familiensystem untersuchten. Es basiert auf der systemischen Theorie der Familie und schliesst normative Faktoren ein, welche den Funktionsgrad der Familien bestimmen. Das Modell hat Prozesscharakter, indem es durch verschiedene Normen je nach dem Entwicklungsstand der Familie im Lebenszyklus gekennzeichnet ist. Das Modell wurde induktiv aus Daten der ersten Studie entwickelt. Es umfaßt 6 gleichberechtigte Dimensionen: Problemlösung Kommunikation Rollen Emotionalität Affektive Beziehungsaufnahme Verhaltenskontrolle 28 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Diese bilden die Vielfalt und Reichhaltigkeit der Familieninteraktion in all ihrer Komplexität ab, erlauben aber darum keine graphische Darstellung. • Problemlösung ist definiert als Fähigkeit der Familie, Probleme in einem Grade zu lösen, welcher die Funktionsfähigkeit der Familie aufrechterhält. Dabei geht es um handlungsorientierte und emotionale Probleme. Die effektive Problemlösung beinhaltet 7 Schritte: Problemidentifizierung Kommunikation über das Problem Entwicklung von alternativen Lösungen Entscheidung für eine Lösung Durchführung der Lösungsstrategie Kontrolle der Durchführung Bewertung der Effektivität der Problemlösung • Kommunikation ist gekennzeichnet durch den Austausch von Informationen innerhalb der Familie. Es wird zwischen handlungsorientierten und emotionalen Bereichen unterschieden. Die Rollendimension ist die komplizierteste des Modells. Rollen sind sich wiederholende Verhaltensmuster, durch welche die Familienmitglieder ihre Funktionen und Aufgaben wahrnehmen. Zu diesen Funktionen und Aufgaben gehören: Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Unterkunft Emotionaler Beistand Sexuelle Befriedigung Persönlichkeitsentwicklung Sicherung und Erhaltung des Familiensystems (Entscheidungsprozesse, intra- und extrafamiliäre Grenzen, Verhaltenskontrolle, Familienfinanzen, Gesundheitsversorgung) Wichtig sind die Rollenverteilung innerhalb der Familie sowie der Grad des Verantwortungsbewusstseins bei der Ausführung der Rollen. • • Emotionalität beinhaltet die Fähigkeit der Familienmitglieder, mit einem angemessen Ausmaß von Gefühlen aufeinander zu reagieren und aufeinander einzugehen. Quantitativer und qualitativer Ausdruck von Gefühlen ist gleichrangig. Die Autoren unterscheiden 2 Kategorien: Versorgungsgefühle: Affekt, gefühlsmäßige Wärme, Zärtlichkeit, Mitgefühl, Freude, Glück... Notfallgefühle: Reaktionen wie Ärger, Angst, Traurigkeit, Enttäuschung, Depression... • Affektive Beziehungsaufnahme bezeichnet das Ausmaß, in dem Familienmitglieder an den Aktivitäten und Neigungen anderer Familienmitglieder Interesse zeigen (bipolares Kontinuum mit 6 Typen): Keine affektive Beziehungsaufnahme Beziehungsaufnahme, die Gefühle vermeidet und weitgehend intellektueller Natur ist Narzisstische Beziehungsaufnahme, die ausschliesslich im eigenen Interesse vorgenommen wird Empathische Beziehungsaufnahme (overinvolvement) Symbiotische Beziehungsaufnahme, die als pathologisch angesehen wird 29 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Verhaltenskontrolle definiert Verhaltensmuster der Familienmitglieder auf 3 Gebieten: Situationen, welche die körperliche Gesundheit gefährden Situationen, welche den Ausdruck von psychischen Bedürfnissen und Trieben notwendig machen Situationen, welche soziale Interaktionen innerhalb und ausserhalb der Familie erfordern Die Autoren fanden 4 Stile von Verhaltenskontrolle: Rigide Verhaltenskontrolle Flexible Verhaltenskontrolle Laissez-faire-Verhaltenskontrolle Chaotische Verhaltenskontrolle Die Dimensionen affektive Beziehungsaufnahme und Verhaltenskontrolle sind den Dimensionen des Circumplexmodells Kohäsion und Adaptabilität konzeptionell sehr ähnlich. Frühe Studien erforschten die Anwendbarkeit des Modells an Familien mit 1 psychisch kranken Mitglied und untersuchten die Effektivität von familientherapeutischer Behandlung. Neuere Studien ergaben eine gute Diskriminierung zwischen klinischen und nichtklinischen Familien. Das Modell misst den Funktionsgrad von Familien mit Kleinkindern besonders gut. Meistens geschieht die Operationalisierung mittels des FAD (Family Assessment Device). • 19.4.2 Die McMaster Klinische Ratingskala (MKRS) S. 427-428 Die Skala besteht aus 6 Dimensionen: Problemlösung Kommunikation Rollen Emotionalität Affektive Beziehungsaufnahme Verhaltenskontrolle Die Items entsprechen den Dimensionen, ein 7. Item misst den allgemeinen Funktionsgrad der Familie. Sie werden auf einer Antwortskala von 1-7 gemessen (schwer gestört-hervorragend). Bewertungen zwischen 1-4 besagen, dass Familien therapeutische Behandlung benötigen, Ratings zwischen 5-7 bedeuten geringfügige Störungen, und die Familie benötigt keine Behandlung. Im 1.Schritt wird entschieden, ob die Familie so gestört ist, dass sie eine Therapie bedarf. Dann wird das Ausmaß der Störung bzw. der Grad der guten Funktionsfähigkeit angegeben. Das Manual beschreibt die Dimensionen ausführlich: Dimension wird definiert Verhaltensmuster werden bestimmt (Kriterien einer gestörten Familie bestimmen; eine nichtklinische Familie definieren; eine hervorragende Familie bestimmen) Allgemeine Regeln für die Bewertung der jeweiligen Dimension angeben Nach der Itembewertung werden die Werte auf ein Profil eingetragen. Grundlage für die Einschätzung der Beobachter ist ein klinisches Interview. Der Vorgang dauert weniger als einige Stunden. Geübte können eine Familie nach dem Erstinterview in wenigen Minuten bewerten und ein Profil erstellen. Die Reliabilität und Validität ist recht gut, aber unvollständig. Die MKRS wird wenig angewendet, vielleicht weil die Standardisierung des Instruments fehlt, was erschwert, das Profil zu interpretieren. Es werden keine Werte für interne Konsistenz angegeben. Die inhaltliche Validität ist gut, die Diskriminierung zwischen klinischen und nichtklinischen Gruppen ist sehr gut, ebenso die klinische Anwendbarkeit. 30 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Die Anwendbarkeit des Modells ist gleichzeitig seine grösste Stärke und Schwäche. Die Bewertung der Familie ist schnell vorgenommen, jedoch ist das Ergebnis für sich genommen wenig aussagefähig, da jeglicher Bezug zu Normen fehlt. Der Kliniker oder Forscher hat die Möglichkeit, die durch Selbsteinschätzung gewonnenen Profile der einzelnen Familienmitglieder für die 7 Dimensionen mit dem Fremdbeobachtungsprofil der Raters zu vergleichen. Die MKRS kann sehr gut mit den Beavers Interaktionsskalen eingesetzt werden, da mit diesen recht gute Korrelationen berechnet wurden. 19.5 Zusammenfassung S. 428-429 Obwohl sich die 3 Modell konzeptuell ähneln, sind die Raingskalen sehr unterschiedlich aufgebaut. Die Items der 3 Instrumente überschneiden sich stark (Tab. 19.2). So offensichtlich die konzeptionelle Ähnlichkeit der Ratingskalen ist, so verblüffend sind die Unterschiede in ihrer Operationalisierung. Die Schlussfolgerungen und Interpretationen aus den Bewertungen sind sehr unterschiedlich: OKRS: sie liefert Infos, wie Familienmitglieder flexibler und verbundener miteinander umgehen können FKS und FSS: sie stellen das Familienverhalten in den klinischen Zusammenhang von individuellen Diagnosen (z.B. Schizophrenie, Borderline) MKRS: sie kann als Vergleichsgrundlage angesehen werden in bezug auf Fremdbeobachtung und Selbstbeobachtung von 6 spezifischen Verhaltens- und Beziehungsmustern Die Skalenunterschiede zeigen, dass die Resultate von Fremdbeobachtungen nicht als „objektive Realität“ der untersuchten Familie zu betrachten ist, sondern im Zusammenhang mit allen anderen familiendiagnostischen Daten. Es ist wichtig, die Profile der Familienmitglieder mit denen der Beobachter zu vergleichen (McMaster ermöglicht nichtstandardisierte Profile). Erst die Anwendung von multiplen Methoden (Selbsteinschätzung via Fragebögen + Fremdbeobachtung via Ratingskalen) zeigen die klinische Realität einer Familie den Umständen entsprechend vollständig. Eine einzige Methode liefert ein unvollständiges Bild. Das kann leicht zu Trugschlüssen führen, was die Relevanz von familiendiagnostischen Instrumenten in Frage stellen kann. 20 Die familiendiagnostischen Fragebogeninventare S. 431 Es werden Fragebogeninventare als Werkzeuge vorgestellt, wobei 3 Gruppen von Verfahren unterschieden werden. Danach werden 5 Inventare, mit denen Familien theorie- und schulübergreifend beschrieben werden ausführlich besprochen. Es folgt eine kritische Diskussion der Instrumente und der Hintergrund der Nützlichkeit für den Praktiker. 20.1 Einleitung S. 431-432 Fragebogeninventare sind als methodischer Zugang lange aus 2 Gründen eher vernachlässigt worden: • Familientherapie ist ein junger Zweig innerhalb der Psychotherapie. Um Familientherapie als eigenständiges Verfahren zu etablieren muss man Theorien, auf der Grundlage familiäre und familientherapeutische Prozesse adäquat beschreiben. 31 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik • Totaro Tamara [email protected] Fragebogeninventare wurden wegen der Komplexität des Gegenstandes vernachlässigt. Will man Familien in der Gesamtheit erfassen, stellt sich das Problem der Datenaggregation. Dokumentiert jedes Familienmitglied seine eigene Sicht der Familie auf verschiedenen Dimensionen, ist damit noch keine Aussage über die Familie als Ganzes gemacht. Unterschiedliche Sichtweisen der Familienmitglieder und verschiedene Dimensionen der Beurteilung müssen theoretisch und methodisch fundiert integriert werden. Fremdbeurteilung aus der Aussenperspektive vereinfacht die Datenaggregation. Daher wird die Familie so beschrieben wie der Beurteiler sie sieht, was nicht gleichbedeutend mit der Sicht der Familie von sich selbst sein muss. Damit Einzelteile sinnvoll interpretiert werden können, ist eine fundierte theoretische Einbettung und eine ausgereifte Methodik für familiendiagnostische Inventare eine zwingende Voraussetzung. 20.2 Die unterschiedlichen Arten von familiendiagnostischen Inventaren S. 432433 Es gibt 3 verschiedene Arten von Fragebogenverfahren: Verfahren, die einzelne Konstrukte aus bestimmten Theorien operationalisieren Verfahren, die auf bestimmten singulären Theorien beruhen und häufig schulenspezifisch sind. Damit will man Familien aus der Perspektive einer Theorie bzw. einer familientherapeutischer Schule zu sehen und zu beschreiben Verfahren, die auf umfassenden Familienmodellen beruhen. Man will über den Horizont einer Theorie hinaus Familien und deren Veränderung beschreiben. Die vorliegende Übersicht beschränkt sich auf zuletzt genannte Verfahren. 20.2.1 Konstruktgebundene Fragebogenverfahren S. 433-434 Sowohl das FILE (Family Inventory of Life Events and Changes, McCubbin et al., 1988) als auch das F-COPES (Family Coping Strategies Scale, McCubbin et al., 1982) basieren auf dem ABC-X-Modell von Hill (Abb. 20.1). Dieses Modell beschreibt die Adaptationsfähigkeiten von Familien an belastenden Ereignisse. Aus A (belastendes Ereignis), das mit B (Ressourcen zur Krisenbewältigung) und C (Definition, die die Familie dem Ereignis gibt) interagiert, entsteht X (Krise). Man konzentriert sich zunächst auf die Wirkung eines belastenden Ereignisses auf die Familie. Im Pile-up-Konzept (Mederer und Hill, 1983) geht man davon aus, dass die Fähigkeit einer Familie, mit einem bestimmten Stressor umzugehen, davon abhängt, wie stark sie schon unter vorausgegangenen belastenden Ereignissen gelitten hat. Hat die Familie bisher wenig belastende Ereignisse erlebt, kann sie einen singulären Stressor adäquater verarbeiten. Hat die Familie eine Geschichte von Veränderungen, Krisen und belastenden Ereignissen hinter sich, ist ihre Fähigkeit, sich an neue Stressoren anzupassen, u.U. erschöpft. McCubbin und Patterson erweiterten demzufolge das ABC-X-Modell um jeweils eine Komponente pro Faktor. Neben der aktuellen Situation wird die historische Dimension miteinbezogen. Es wird erfragt, welchen Stressoren die Familie bisher schon ausgesetzt war (Faktor A), welche Copingstrategien sie verwenden konnten (Faktor B), welche subjektive Wertigkeit die Familie diesen Ereignissen jeweils beigemessen hat (Faktor C) und welche Krisen für die Familie aus diesem Prozess resultierten. Die Autoren sprechen vom „doppelten ABC-X-Modell“; jeweils eine aktuelle und historische Komponente pro Faktor. 32 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Das FILE erfasst die Aufsummation von Lebensereignissen, die eine Familie insgesamt erlebt. Man nimmt an, dass ein Ereignis, das einem Familienmitglied widerfährt, zu einem bestimmten Ausmaß auch auf die anderen Familienmitglieder betrifft (systemtheoretisch). Der kumulierte Stress macht die Familie vulnerabler für zukünftige Ereignisse. FILE soll diese Vulnerabilität der Familie messen. Die F-COPES operationalisieren die Copingdimensionen des ABC-X-Modells auf 2 Ebenen: Umgang mit internen Stressoren, d.h. Schwierigkeiten, die zwischen den Familienmitgliedern entstehen Umgang mit externen Stressoren, d.h. Problemen, die von aussen an die Familie herantreten. Familien mit Copingressourcen können auf beiden Ebenen erfolgreich mit kritischen Situationen und Ereignissen umgehen. FILE und F-COPES sind interessante Instrumente für Stressforschung und Praktiker, der den Einfluss von Belastungen auf eine Familie in seinen diagnostischen und therapeutischen Überlegungen einbeziehen möchte. Für das FILE braucht es noch Forschungsarbeit, um die Testgütekriterien zu verbessern. Für beide Instrumente muss man Beziehungen zu anderen Instrumenten herstellen und die klinische Nützlichkeit weiter dokumentieren. Die Instrumente sind nicht in dt. Version veröffentlicht. 20.2.2 Theoriegebundene Fragebogenverfahren S. 434-435 Die SFIS (Structural Family Interaction Scale, Perosa et al., 1981) und der PAFS-Q (Personal Authority in the Family System Questionnaire, Bray et al., 1984) nehmen Bezug auf wichtige Theorien in der Familienforschung und –therapie. Die SFIS Perosa will damit Minuchins (1977) strukturelles Modell als Fragebogen operationalisieren und übernimmt die beiden Dimensionen: Grenzen, die entlang dem Kontinuum zwischen diffus (losgelöst) und rigide (verstrickt) operationalisiert wurden Dimension, wie sich die Familie an Stress und Konflikte anpassen kann. In diesem 85-Item-Fragebogen ergaben sich 13 Subskalen. Der PAFS-Q Er will speziell die mehrgenerationale Perspektive erfassen. Der Fragebogen operationalisiert die Beziehungen innerhalb der Familie über die Generationsgrenzen hinweg, so wie sie die Familienmitglieder wahrnehmen. „Personal Authority“ meint die Fähigkeit des Erwachsenen, Autonomie zu wahren bei gleichzeitiger altersentsprechender Bindung an die Herkunftsfamilie. Der PAFS-Q umfaßt 8 Subskalen mit 132 Items. Die Subskalen müssen einzeln interpretiert werden. In den Skalen fehlen wesentliche Dimensionen wie Affekte, affektive Beziehungsaufnahme, Werte und Normen. Der Gültigkeitsbereich bleibt beschränkt. 33 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] 20.2.3 Theorieübergreifende Verfahren in der Familiendiagnostik S. 435-436 Es wird auf Verfahren eingegangen, die folgenden 4 Bedingungen genügen: auf einem umfassenden theorie- und schulenübergreifenden Familienmodell beruhen den Funktionsgrad von Familien insgesamt in unterschiedlichen Bereichen erfassen (z.B. Struktur, Affektivität...) Gesamtfamilie untersuchen eine Status- und Prozessdiagnostik erlauben. Es bleiben 5 Fragebogeninstrumente (Tab. 20.1) die über diese Bedingungen hinaus den statistischen Kriterien Reliabilität und Validität entsprechen. 20.3 Überblick über fünf theorieübergreifende Fragebogeninstrumente S. 436 Die Testgütekriterien werden nicht im einzelnen diskutiert. 20.3.1 Die Family Environment Scale (FES) (dt.: Familienklimaskala FKS) S. 436-440 a) zugrundeliegendes Familienmodell: Sie war eines der ersten Fragebogeninstrumente, die spezifisch zur Erfassung der Familie entwickelt wurde. Sie ermittelt die perzipierten Familienumwelt, d.h. wie der Mensch seine Umwelt subjektiv erlebt und nicht wie diese objektiv gestaltet ist. Somit steht sie in der kognitiven Wende der psychologischen Forschung. In einem umweltpsychologischen Ansatz wird der Mensch als eingebettet in seine Umwelt und mit ihr in ständiger Wechselwirkung stehend gesehen. Diese Wechselwirkung verändert die individuellen kognitiven Repräsentationen der Familie, was sich wiederum auf die Familie als Umweltentität auswirkt. Es ist ein reziproker Prozess. Die FES basiert nicht auf einem familientherapeutischen sondern auf einem sozialpsychologischen Modell. b) Darstellung der Bereiche: Die Wahrnehmungen der einzelnen Familienmitglieder bezüglich der eigenen Familie werden auf 3 verschiedenen Dimensionen mit 10 Subskalen gemessen: Beziehung: Kohäsion; Offenheit; Konfliktneigung Persönlichkeitsreifung: Selbständigkeit; Leistungsorientierung; intellektuelle, kulturelle Orientierung; aktive Freizeitgestaltung; moralisch-religiöse Normen und Werte Systemerhaltung: Organisation; Kontrolle. Zwar wurden die einzelnen Konstrukte auf den 10 Subskalen gut definiert, jedoch die Verbindung unter den Konstrukten kann nicht detailliert genug beschrieben werden (Skinner, 1987). Es ist unklar, wie die einzelnen Konstrukte miteinander in Zusammenhang stehen und wie sie im familiendynamischen Prozess miteinander verbunden sind. Der theoretische Schwerpunkt liegt auf der Interaktion der Einzelpersonen und der Familie mit der Umwelt. Dennoch genügt die FES dem Kriterium eines theorieübergreifenden Modells. c) Untersuchungseinheit: Es wird die Familie als Ganzes untersucht. Die Wahrnehmung jedes Familienmitglieds über die Gesamtfamilie wird erfasst. Es liegen 3 Versionen vor: Realeinschätzung erfasst die Wahrnehmung der gegenwärtigen Familienumwelt Idealversion versucht, die Idealkonzeption der Familienumwelt abzufragen Erwartungsversion konzentriert sich auf die Erwartungen der einzelnen über die Familienumwelt. 34 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] d) Status- und Prozessdiagnostik: Es liegen Hinweise über Möglichkeiten zur Prozessdiagnostik mit der FES vor. In einer neueren Untersuchung konnte Kröger (1994) die Änderungssensitivität der dt. Version der FES bei der Therapie von Alkoholikern zeigen. e) Anwendungen: Moos et al. (1981, 1982) veröffentlichten Normwerte für 500 sog. dysfunktionale Familien. Die Autoren forschten hauptsächlich mit Alkoholikerfamilien. Es konnte gezeigt werden, dass in Familien mit höher wahrgenommener Kohäsion bessere Ergebnisse in der Alkoholtherapie zu erwarten sind als in Familien mit geringer Kohäsion. Auch bei Familien mit Patientinnen mit Essstörungen wurde die FES eingesetzt. Das Diskriminanzvermögen zwischen verschiedenen Essstörungssubgruppen und Kontrollfamilien konnte anhand einiger Skalen gezeigt werden. Man versuchte Familientypologien zu bilden. Die klinische Nützlichkeit kann als belegt bezeichnet werden. Wegen der fehlenden theoriegeleiteten Interpretation der statistisch bedeutsamen Unterschiede zwischen funktionalen und dysfunktionalen Familien ist es schwierig zu sagen, bei welchen konkreten Fragen der Praktiker die FES einsetzen soll. Die FES ist sehr leicht anwendbar und für Kinder ab 14 Jahren geeignet. Die Items können relativ leicht eingestuft und verrechnet werden. Zur Zeit gibt es keine klinische Ratingskala zur Fremdbeurteilung. f) Familienskalen (FKS): Schneewind hat die FES ins Deutsche übersetzt und geringfügig modifiziert. Ausserdem besteht eine Kurzform mit 49 Items. Schneewind gibt gute Werte für die interne Konsistenz der Subskalen an. Auch Skaleninterkorrelationen sind zufriedenstellend niedrig. Er berichtet eine 3faktorielle Struktur der FKS mit den Faktoren: positiv-emotionales, anregendes und normativautoritatives Klima. Es handelt sich bei der FES um ein umfassendes Selbstbeobachtungsverfahren in der Familiendiagnostik mit guten Testgütekriterien, das die Familie als Ganzes in verschiedenen Bereichen erfasst. Die klinische Nützlichkeit ist zwar gegeben, jedoch fehlt eine eindeutige theoretische Einbettung der FES in familientherapeutisches Vorgehen. Die Eignung der FES als Instrument zur Prozessdiagnostik bedarf weiterer empirischer Prüfung. 20.3.2 Der Family Assessment Device (FAD) S. 440-442 a) zugrundeliegendes Familienmodell: Der FAD basiert auf dem McMaster Model of Family Functioning von Epstein et al. (1978). Es liegt ein systemischer Ansatz zugrunde, der durch kommunikations- und lerntheoretische Aspekte ergänzt wird. Die Familie wird als interaktionales System gesehen, dessen Struktur, Organisation und Interaktionsformen das Verhalten seiner Mitglieder mitbestimmt. Intrapsychische Prozesse einzelner Familienmitglieder werden nicht berücksichtigt. Trotz guten Eigenschaften hat er im dt. Sprachraum wenig Beachtung gefunden. 35 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] b) Darstellung der Bereiche: Er besteht aus 6 theoretische abgeleiteten Dimensionen: Problemlösung: Problemlöseprozess in 7 Phasen auf der instrumentellen und affektiven Ebene Kommunikation: Austausch von Informationen innerhalb der Familie auf der verbalen Ebene (instrumentell und affektiv); klare vs. verdeckte und direkte vs. indirekte Kommunikation werden einander gegenübergestellt Rollen: inwieweit erfüllen einzelne Familienmitglieder ihre Funktionen innerhalb der Familien (Zurverfügungstellen von Ressourcen, Ernährung und Unterstützung, sexuelle Erfüllung, Fertigkeiten zur Lebensbewältigung und – aufrechterhaltung, Umgang mit Familiensystem) Emotionalität: Fähigkeit, auf Anforderungen mit den in Intensität entsprechenden Gefühlen zu reagieren; ob die Gefühle in einem weiten Spektrum differenziert ausgedrückt werden können und ob sie mit der Situation übereinstimmen Affektive Beziehungsaufnahme: Ausmaß des Interesses, das die Familie an den Wertvorstellungen und Aktivitäten ihrer Mitglieder zeigt Verhaltenskontrolle: Sozial- und Kontrollverhalten wird anhand von 4 verschiedenen Stilen beschrieben: rigide, flexibel, „laissez faire“, chaotisch. Diese 6 Dimensionen sind in je einer Subskala operationalisiert. Zusätzlich enthält es eine Skala zur Einschätzung des generellen Funktionsniveaus der Familie (12 Items). c) Untersuchungseinheit: Die Familie als Ganzes wird untersucht. d) Status- und Prozessdiagnostik: Er kann wegen seiner guten Test-Retest-Reliabilität zur Prozessdiagnostik eingesetzt werden. e) Anwendungen: Er diskriminiert sehr gut zwischen nichtklinischen und klinischen Gruppen. Miller et al. (1992) belegten den Zusammenhang zwischen Familienfunktionalität und der Dauer der Rekonvaleszenz bei Patienten mit depressiver Episode. Ähnliche Ergebnisse wurden für die Rehabilitation nach einem Schlaganfall gefunden. Wegen des zugrundeliegenden klinischen Konzeptes ist die klinische Brauchbarkeit sehr gut. Der Zeitaufwand für Familien und Diagnostiker ist gering. Ab 12 Jahren sind Mitglieder in der Lage, die Fragen zu verstehen. Der FAD ist ein klinisch orientiertes Instrument, das aus Erfahrungen in der Familientherapie erwachsen ist. Er kann gut in der Forschung und Praxis eingesetzt werden. Die empirische Absicherung in verschiedenen Anwendungsbereichen bedarf noch Forschung. Der Vergleich mit der auf dem McMaster of Family Functinoinig basierenden klinischen Ratingskala lässt für die Zukunft interessante Ergebnisse zur Validität des FAD erwarten. 20.3.3 Die Familienbögen (FB) S. 442-444 a) zugrundeliegendes Familienmodell: Sie beruhen auf dem in Kap.1 beschriebenen Familienmodell. Jedes Familienmitglied hat die Möglichkeit, aus seiner Sicht seine Familie entlang der im Familienmodell vorgegebenen Dimensionen zu beschreiben. Die rezipierten Familienprobleme werden auf einer 4stufigen Ratingskala eingeschätzt. 36 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] b) Darstellung der Bereiche: Es werden folgende Dimensionen operationalisiert: Aufgabenerfüllung, Rollenverhalten, Kommunikation, Emotionalität, affektive Beziehungsaufnahme, Kontrolle, Werte und Normen. c) Untersuchungseinheit: Die Familie als Ganzes wird untersucht. Der modulare Aufbau ermöglicht es, je nach Fragestellung auch nur einen bestimmten Bogen herauszugreifen oder verschiedene Bögen miteinander zu kombinieren. Dies gewährleistet eine ökonomische und problemadäquate Familiendiagnostik. Das Testsystem besteht aus 3 Modulen: FB-A: im allgemeinen Familienbogen wird die Familie als System fokussiert FB-Z: der Zwischenbeurteilungsbogen untersucht die Beziehungen zwischen bestimmten Dyaden FB-S: Im Selbstbeurteilungsbogen wird nach der Funktion des einzelnen Familienmitglieds in der Familie gefragt. d) Status- und Prozessdiagnostik: Es wurden für 5 lebenszyklische Phasen Referenzwerte erarbeitet, die eine entwicklungsorientierte Familiendiagnositk ermöglichen, womit den Veränderungen und Anpassungsleistungen Rechnung getragen wird. Das Modell betont über mehrere Generationen hinweg den Entwicklungscharakter von Familien und definiert kritische Phasen: Phase 1: werdende Familie: Paare, die ihr erstes Kind erwarten Phase 2: Familie mit 1 Säugling: Paare nach der Geburt des 1. Kindes Phase 3: Familien mit jüngeren Kindern: ältestes Kind im Haushalt 1-11 Jahre Phase 4: Familien mit Kindern in der Pubertät und Adoleszenz: ältestes Kind im Haushalt mind. 12 Jahre Phase 5: Paare in der Lebensmitte nach Auszug der Kinder Bei der Erstellung der Referenzwerte wurde die unterschiedliche Wahrnehmung des familiendynamischen Prozesses von Müttern, Vätern und Kindern berücksichtigt. Die Sensitivität für therapeutische Veränderungen wird überprüft. e) Anwendungen: Sie werden in vielen Institutionen routinemäßig sowohl im klinischen Setting als auch als Forschungsinstrument eingesetzt. Befunde zeigen, dass klinische von nichtklinischen Gruppen getrennt werden können und dass sich familiäre Prozesse auf den FB differenziert abbilden. Auch spezifische Gesichtspunkte können diagnostiziert werden. Beispiele: Kinder, deren Mütter sich in Einzeltherapie befinden, schützen die Familie und ihre Beziehung zur Mutter, indem sie sie positiver darstellen. Sie schätzen die familiäre Kommunikation, die Kontrolle und Emotionalität. Die Geburt des 1. Kindes hat einen Einfluss auf die Beziehung der Eltern zueinander. Die Auseinandersetzungen um die Rollenverteilung hat Bedeutung für die Paardynamik. Väter erleben die grössere Verunsicherung als Mütter. Sie sind ab 12 Jahren geeignet und ihre Handauswertung ist mit Auswertschablonen möglich. Eine computergestützte Auswertung kann mit einem PC-Programm (FB-PC) erfolgen. Eine klinische Ratingskala liegt noch nicht vor. 37 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Die FB unterscheiden sich von anderen familiendiagnostischen Fragebögen hauptsächlich durch 3 Charakteristika: • Sie basieren auf einem Prozessmodell • Der familiäre Prozess ist aus 3 Perspektiven beschreibbar: individuell, dyadisch, gesamtfamiliär • Es existieren Referenzwerte für 5 lebenszyklische Phasen Insgesamt geben die FB eine Übersicht über die Funktionalität und Ressourcen der Familie und ermöglichen eine unabhängige Überprüfung der klinischen Einschätzung. Sie identifizieren Bereiche von familiären Problemen und machen quantitative Aussagen über die Funktionalität/Dysfunktionalität von Familien. Sie erlauben eine Diagnostik familiärer Veränderungen und sind durch ihre theorieübergreifende Konstruktion vielseitig verwendbar. 20.3.4 Family Adaptability & Cohesion Evaluation Scales (FACES) S. 444-446 Sie sind mit ihren verschiedenen Versionen die international am weitesten verbreiteten und bekanntesten Fragebogeninventare in der Familiendiagnostik. Folgende Darstellung beschränkt sich auf die aktuelle Version (FACES III). a) zugrundeliegendes Familienmodell: Sie basieren auf dem Circumplex Model of Martial and Family Systems (Olson et al., 1979b). Die Familie wird anhand von 2 unabhängigen Dimensionen beschrieben: Kohäsion (familialer Zusammenhalt) Adaptabilität (Anpassungsfähigkeit der Familie) b) Darstellung der Bereiche: „Kohäsion“ wird in 6, „Adaptabilität“ in 4 Subskalen operationalisiert. Die Itemzahl wurde auf je 10 für beide Dimensionen festgelegt (Tab. 20.3 Itemaufteilung). c) Untersuchungseinheit: Familie wird als Ganzes untersucht. Es liegen diverse Paar- & Familienversionen vor. d) Status- und Prozessdiagnostik: Die Sensitivität für therapeutische Veränderungen ist belegt. e) Anwendungen: Die Werte, die die Familien auf den beiden Dimensionen erreichen, können 4 verschiedene Familientypen zugeordnet werden (Tab. 20.4). Die Zuordnung ist nach einem linearen Prinzip. Die Funktionalität der Familie steigt mit höheren Werten für Kohäsion und Adaptabilität. Dysfunktionale Familien entsprechen einem extremen Familientyp, funktionale Familien einem balancierten. Sie sind in folgenden Forschungsprojekten eingesetzt worden: Familie mit Gewalt- und Inzestproblematik Familie mit schizophrenen und depressiven Jugendlichen Familie mit alkoholabhängigen Mitgliedern. Insgesamt sind sie recht einfach anzuwenden. Allerdings führen sie dazu, die Einstufung mit der realen Situation gleichzusetzen. Mit Möglichkeiten und Grenzen der Anwendbarkeit hat sich Olson nur sehr wenig auseinandergesetzt. Im engl. Original können Kinder ab 12 Jahren den Fragebogen ausfüllen, in der dt. Übersetzung gibt es Zweifel an der Altersschwelle, da es zu früh erscheint. Eine klinische Ratingskala existiert. 38 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] FACES sind bislang in der familientherapeutischen Forschung am häufigsten eingesetzt worden. Dies kann als gelungene theorieübergreifende Konstruktion gewertet werden. Die Einstufung der Familie nach verschiedenen Familientypen gibt eine relativ einfache Vorlage; Funktionalität/Dysfunktionalität von Familien werden beurteilt und der Behandlungsverlauf wird dokumentiert. Aufgrund der Kürze sind die Informationen, die sie liefern, wenig detailliert und in ihrer Aussagekraft begrenzt. 20.3.5 Das Self-Report Family Inventory (SFI) S. 446-448 a) zugrundeliegendes Familienmodell: SFI basiert auf dem Beavers Systems Model of Family Functioning, welches aus systemtheoretischen Annahmen, klinischer Erfahrung und familientherapeutischer Forschung abgeleitet wurde. Die grundlegenden Prinzipien sind: Funktionalität von Familien wird auf einem Kontinuum beschrieben und nicht in Form von diskreten Familientypen Familienkompetenzen bei der Lösung von Problemen wird erfasst Funktionsstil von Familien, der unabhängig von der Kompetenz sein kann, wird erfasst Modell ist kompatibel mit klinischen Konzepten familiären Zusammenlebens. b) Darstellung der Bereiche: Die Dimensionen „Familienkompetenz“ und „familiärer Stil“ werden in 5 Skalen operationalisiert. Das Instrument besteht aus 36 Items: • Gesundheit/Kompetenz: globale familiäre Kompetenz in verschiedenen Bereichen (z.B. klare Generationsgrenzen und individuelle Verantwortlichkeit) • Konflikt: Grad an ungelösten Konflikten und das Problemlöseverhalten • Kohäsion: Fähigkeit der Familie, Zufriedenheit und Glücklichsein durch Zusammenhalt und familiäre Geschlossenheit zu erleben • Führung: Konsistenz der elterlichen Führung in der Familie • Emotionaler Ausdruck: Fähigkeit der Familie, Gefühle und Bezogenheit wahrzunehmen und positive Gefühle physisch und verbal zum Ausdruck zu bringen. c) Untersuchungseinheit: Die Familie wird als Ganzes untersucht. d) Status- und Prozessdiagnostik: Da es auf einem klinischen Modell basiert, kann angenommen werden, dass Veränderungsmessungen möglich sind, jedoch Untersuchungen stehen noch aus. e) Anwendungen: Es wurde v.a. im Vergleich mit anderen Fragebogeninventaren in der Familiendiagnostik zur Überprüfung seiner Gütekriterien eingesetzt. Allein eine Pilotstudie, in der klinische von nichtklinischen Familien getrennt und den Dimensionen zugeordnet wurden (Beavers und Hampson), sind keine Untersuchungen veröffentlicht. Zur Zeit wird in einer Reihe von Projekten erprobt. Die 36 Items können in relativ kurzer Zeit von Kindern ab 12 Jahren bearbeitet werden. Eine klinische Ratingskala liegt vor. Das SFI wurde nicht ins Deutsche übersetzt. 39 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Insgesamt ist das SFI ein für Forschung und Praxis gut geeignetes Instrument; wegen der Orientierung an klinischen Beobachtungen bei der Konstruktion des Inventars. Die Berücksichtigung klinischer Erfahrung geht dabei nicht zu Lasten der theoretischen Fundierung. Die Anlehnung an systemtheoretische Annahmen macht es kompatibel für Therapeuten verschiedener familientherapeutischer Schulen. Der Einsatz kann die klinische Diagnostik des Praktikers bereichern. Weitere Untersuchungen zur klinischen Anwendbarkeit stehen noch aus. 20.4 Diskussion S. 448-452 20.4.1 Zur Theorieentwicklung Es werden noch einmal die Kriterien für die Auswahl der beschriebenen Verfahren diskutiert. Familiendiagnostische Fragebogeninventare sollten: • auf einem umfassenden theorie- und schulenübergreifenden Familienmodell beruhen • den Funktionsgrad von Familien insgesamt in unterschiedlichen Bereichen erfassen. Interessant ist ein Vergleich der in den Fragebogen angewandten Kategorien. Sind die Modelle der einzelnen Fragebogenmethoden tatsächlich theorieübergreifend, können sie in bezug auf die relevanten Kategorien konvergieren. Diese Diskussion ist an Fishers Schema (1976) anlehnend, der in seiner Literaturübersicht über die klinischen Erhebungsinstrumente für Familien die von den Autoren benutzten Kriterien in verschiedene Bereiche aufgeteilt hat. Er entwickelte eine Liste mit 5 Dimensionen, die wesentlich und notwendig zur Erfassung der gesamten Familiendynamik sind: strukturelle Merkmale Kontrolle Emotionen und Bedürfnisse Kulturelle Aspekte Entwicklungspsychologische Aspekte. Die Kategorien aus den 5 Fragebogeninventaren werden den einzelnen Dimensionen von Fisher zugeordnet (Tab. 20.5). Problemlöseorientierung hat sich als wichtige Dimension in den Fragebogen herausgestellt (Tab. 20.5). Die Tabelle zeigt, dass die strukturellen Merkmale jene Dimension darstellen, die von den meisten Forschern als wesentlich zur Beschreibung der Familiendynamik erachtet wird. Diese Dimension ist möglicherweise auch am leichtesten zu identifizieren. Die klinische Relevanz von strukturellen Merkmalen ergab sich auch bei einer Befragung von 50 klinisch erfahrenen Familientherapeuten nach relevanten Interaktionskriterien. Kohäsion scheint auch ein grundlegendes Konstrukt zu sein, sowie auch Kontrolle und affektive bzw. emotionale Offenheit. Unterschiede zwischen den Verfahren gibt es in den Bereichen Problemlöseorientierung und kulturelle Kriterien. FES: Herausstellung kultureller Aspekte wird deutlich FAD/SFI: aufgrund der Orientierung an klinischer Beobachtung auf strukturelle Merkmale, Kontrolle, Emotionalität und Problemlösekompetenz konzentriert FAD/SFI: Einbettung der Familie in die Umwelt wird testpsychologisch nicht ausreichend gewürdigt Insgesamt deutet die Analyse der als relevant erachteten Konstrukte auf eine Konvergenz der Verfahren hinsichtlich der betrachteten Dimensionen hin. Am stärksten ist die Konvergenz für die Dimensionen Struktur, Affektivität und Kontrolle. 40 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] Empirische Vergleichsuntersuchungen der Instrumente stützen diese Überlegungen. Es stellt sich die Frage nach der Übereinstimmung zwischen den einzelnen Kategorien. Selbst wenn 2 Verfahren dasselbe Konstrukt messen sollten, ist fraglich, ob mit den Kategorien von den jeweiligen Autoren dasselbe gemeint ist. Bloom führte eine Faktorenanalyse über 4 familiendiagnostische Selbstberichtsinventare durch, um reliable Dimensionen zu identifizieren, mit denen Familien beschrieben werden können. Durch Korrelationsberechnungen zwischen den Skalen der FES, FAM, FACES und Family-Concept Q-Sort mit anschließender faktorenanalytischer Auswertung fanden sich 15 Dimensionen mit insgesamt 75 Items. Die Konsistenzprüfung ergab, dass die Skalen relativ unabhängig voneinander sind. Dieses 75-Item-Instrument diskriminiert gut zwischen einer klinischen und einer Normalpopulation. Viele der Items in den einzelnen Instrumenten ähneln sich und meinen inhaltlich dasselbe. Vor diesem Hintergrund können die Kriterien der theorieübergreifenden Konstruktion und der umfassenden Beurteilung des familiären Funktionsgrades für die vorgestellten Verfahren als weitgehend erfüllt bewertet werden. Familiendiagnostische Fragebogeninventare sollten: • die Gesamtfamilie als Untersuchungseinheit haben: Alle hier vorgestellten Instrumente haben den Anspruch, die Familie als Ganzes zu erfassen. Um ein vollständiges Bild familiären Zusammenlebens zu erhalten sollten die Inventare immer von allen Familienmitgliedern ausgefüllt werden. Durchschittswerte für die Gesamtfamilie sind ebenso bedeutsam wie Angaben des einzelnen Mitglieds. Die FB bieten zusätzlich die Möglichkeit, familiäre Dyaden und die Selbstbeurteilungen der einzelnen Familienmitglieder zu diagnostizieren. • nicht nur eine Statusdiagnostik, sondern auch eine Prozessdiagnostik erlauben: Hierzu bedarf es bei allen Instrumenten bezüglich Prozessdiagnostik weitere Forschungsarbeiten. Studien, in denen Fragebogen therapiebegleitend eingesetzt wurden, sind selten geblieben. Allein für die FACES liegen hier Arbeiten vor. Entwicklungspsychologische Aspekte werden schon bei der Konstruktion der Instrumente weitgehend ausgeklammert. Die Schwierigkeiten bei der Operationalisierung dieser Dimensionen sind evident. Qualitative Evaluationen erlauben eher Aussagen darüber, wie sich die Familie in kritischen und schwierigen lebenszyklischen Phasen verhält. Die FB gehen mit ihrer Normierung für unterschiedliche lebenszyklische Phasen auf diesen Bereich ein. Die Theoriebildung in der familiären Fragebogendiagnostik ist vorangeschritten. Das Circumplexmodell, McMaster-Modell, Familienmodell und das Modell von Beavers können als deutlicher Fortschritt verstanden werden, um zu einem Verständnis über die Struktur von und die Prozesse in Familien zu kommen. Unter den genannten ist das Familienmodell, das den FB zugrunde liegt, das umfassendste, weil es die komplexe Interaktion individueller und interindividueller Aspekte mit dem Gesamtsystem in sich vereint. Für die Zukunft ist eine weitere externe Validierung der Verfahren notwendig. Insbesondere zur Konstruktvalidität, zur prädiktiven Validität und zur Beschreibung therapeutischer Prozesse müssen Studien durchgeführt werden. Daher dürfte sich weitere Forschung auf dem Gebiet familiendiagnostischer Fragebogeninventare demnächst auf diesem Feld bewegen. 41 Manfred Cierpka (1996) Handbuch der Familiendiagnostik Totaro Tamara [email protected] 20.4.2 Zur Praxis Im Gegensatz zur psychologischen Einzelfalldiagnostik werden Testinstrumente in der Familiendiagnostik noch nicht routinemäßig eingesetzt. Ein Grund kann die relativ aufwendige Handhabung der bislang existierenden Fragebögen sein. Für die einzelnen Familienmitglieder müssen zwischen 15-90 Minuten gerechnet werden (Tab. 20.2), für das Berechnen der Skalen-, Summenwerte und Profile muss der Diagnostiker einige Zeit investieren. FACES III können mit ihren 20 Items insgesamt am schnellsten ausgefüllt und berechnet werden. Vielleicht wird es darum am häufigsten angewandt. Ein anderer Grund für die Zurückhaltung der Praktiker ist sicher, dass die Items der meisten Fragebögen sich erst für ältere Kinder (meistens ab 13) eignen. Für die Instruktion liegt diese Grenze noch höher. Die Altersgrenze liegt meist höher als von den Autoren angegeben. Das Sprachvermögen der Kinder sollte immer in Rechnung gestellt werden. Von den Praktikern wird zurecht mangelnde klinische Aussagekraft beklagt. Die Theorieentwicklung in diesem Bereich ist jedoch vielversprechend. Fragebogeninventare FAD, FB, SFI sind als Diagnostika aussagekräftig. Praktiker, die v.a. an perzipierten Familienumwelten interessiert sind, sollten auf den FKS zurückgreifen. Als Hilfestellung für den Praktiker gilt ausserdem, dass die Interpretation über Differenzwerte diagnostisch u.U. sinnvoller ist, als die Festlegung von und die Orientierung an Normwerten. Da sich die Werte einzelner Familienmitglieder unterscheiden können, ist die alleinige Berücksichtigung von Gesamtfamilienmittelwerten nicht aussagekräftig genug. z.B. könnten sich die Werte bei einer 4köpfigen Familie gerade in den 4 Extremen eines Modells abbilden, was durch die Bildung eines Mittelwertes vollständig verdeckt wird. Diskrepanzwerte enthalten dagegen häufig wertvolle Informationen für den Kliniker. Die Kombination mit familiären Durchschnittswerten vor dem Hintergrund eines Familienmodells bildet einen Schlüssel zur Komplexität familiärer Systeme. Erfahrungen zeigen, dass Fragebogenmethoden immer mehr in die klinische Praxis familientherapeutischen Handelns integriert werden und die Therapeuten ihren Wert als diagnostische Hilfestellung zunehmend schätzen. 42