Persönlichkeitsstörungen

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Die Kooperation mit Jugendhilfeeinrichtungen als
fester Bestandteil der AIT-Behandlung von
Jugendlichen mit Persönlichkeitsstörungen
Susanne Schlüter-Müller
Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
Psychotherapie
Frankfurt und Basel
11. Fachtagung „Borderline-Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter“
2
Was ist AIT und warum interessiert uns die Identität so
besonders?
.
Definition von Persönlichkeitsstörungen im DSM V:
Einschränkungen in den beiden zentralen
Funktionsbereichen:
1. „Selbst-bezogene Persönlichkeitsfunktionen“
(Identität und Selbstlenkung)
2. „Interpersonale Persönlichkeitsfunktionen“
(Empathie und Intimität)
 Störung der Identitätsentwicklung ist ein zentrales
diagnostisches Kriterium
Identitätsstörungen als Kernsymptom von
Persönlichkeitsstörungen
• Aktuelle Analysen (Sharp et al.2015; Sharp &
Fonagy 2015) zeigen, dass Borderline-Symptome
als Kernsymptome aller Arten von
Persönlichkeitsstörungen gesehen werden können.
• Es scheint einen generellen Faktor der
Persönlichkeits-Pathologie zu geben, bei dem
Identitätsstörungen die höchsten Ladungen auf
diesem Faktor haben.
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Identität aus Sicht von E.H. Erikson (1958, 1973)
Identität als ein fundamentales Organisationsprinzip,
das es Menschen nicht nur ermöglicht, unabhängig von
anderen zu funktionieren, sondern auch, zwischen sich
und anderen zu unterscheiden („uniqueness“).
Identitätsbildung als ein lebenslanger Prozess mit dem
Streben, ein Gefühl von Kontinuität innerhalb des
eigenen Selbst („self-sameness“) herzustellen.
Erik H. Erikson
1902-1994
«Changing while staying the same»
Adolescent Identity Treatment (AIT)
• Die Therapiemethode geht
davon aus, dass die zentrale
Problematik bei Persönlichkeitsstörungen die Störung der
Identität und der zwischenmenschlichen Beziehungen
(Intimität und Empathie) ist.
• Deshalb ist der Fokus auf die
Verbesserung der Identitätsproblematik sowie die Integration von sich selbst und
wichtigen Anderen gelegt.
Persönlichkeitsstörungen:
eine Störung der
zwischenmenschlichen Beziehungen
• Bei Jugendlichen stellt der Umgang mit den Peers
eine der entscheidenden Entwicklungsaufgaben dar.
• Bei persönlichkeitsgestörten Jugendlichen ist ein
eingeschränktes Repertoire an Fähigkeiten für den
Umgang mit anderen vorhanden.
• Emotionale Entwicklung verkümmert durch den
mangelnden wachstumsfördernden emotionalen
Austausch mit anderen Gleichaltrigen („Freunde
sind Entwicklungshelfer“).
Identitätskrise
Normale Herausforderungen, eine Identität
herauszubilden, können Identitätskrisen erzeugen.
• Z.B. rasch sich verändernde physische und
psychologische Erfahrungen
• Diskrepanz zwischen der Selbstwahrnehmung des
Adoleszenten und der Wahrnehmung durch andere
• Körperliche Intimität
• Berufswahl/Studienwahl
• Aktive Konkurrenz
Die Auflösung von Identitätskrisen führt zu einer gut
integrierten Identität.
Identitätsdiffusion
Wird als das Kernkriterium der Borderline-Persönlichkeitsorganisation
angesehen (Kernberg (1976), ICD, DSM)
• Fehlende Integration des Konzepts von sich Selbst und bedeutsamen
Anderen (unsichere Selbst- und Objektrepräsentanz)
• Unreflektierte, widersprüchliche oder chaotische Selbstbeschreibung
oder Beschreibung von Anderen und die Unfähigkeit diese Widersprüche
zumindest wahrzunehmen
• Mangelnde Fähigkeit allein sein zu ertragen, deshalb Defizite in der
Autonomieentwicklung
• Mangelnde Kohärenz (wer bin ich in unterschiedlichen Situationen)
• Mangelnde Fähigkeit der sexuellen Festlegung (mal so, mal so)
• Verlust der Kontinuität über die Zeit hinweg (Vergangenheit – Gegenwart
– Zukunft)
Eine Identitätsdiffusion führt bei Adoleszenten zu einem hohen Risiko, in
Schule, Familie oder interpersonellen Beziehungen Probleme zu
entwickeln.
Erfassen von Identitätsstörungen mit dem
Personality Assessment Interview (PAI)
(Paulina Kernberg)
Im Verlauf des Interviews werden Fragen gestellt wie:
• Wer bist Du und wie bist Du?
• Wer sind die anderen und wie sind sie („Zeig mir Deine
Freunde und ich sag Dir wer Du bist“)
• Wer bin ich und wie bin ich?
• Was machst Du und was mache ich?
Die Fragen beziehen sich auf Selbst- und
Objektrepräsentanzen, Ich-Beobachtung und Empathie. Es
wird auch auf Affekte und Kognition des Patienten
geachtet.
•
G. Northoff (Ottawa):
Brain and Self – A neurophilosophical account
•
D. Sollberger:
On identity: From a philosophical point of view
•
Schmeck, Schlüter-Müller, Foelsch, Döring:
The role of identity in the DSM-5 classification of personality
disorders
•
Jung, Pick, Schlüter-Müller, Schmeck, Goth:
Identity development in adolescents with mental problems
•
Kazin, De Castro, Arango, Goth:
Psychometric properties of a cultural adapted Spanish version of
AIDA (Assessment of Identity Development in Adolescence) in
Mexico
AIT (Adolescent Identity Treatment)
AIT ist eine integrative
Behandlungsmethode, die auf
Behandlungskonzepte von Paulina
Kernberg zurückgeht und folgendes
integriert:
• Modifizierte Elemente der
übertragungsfokusierten
Psychotherapie (TFP) von Clarkin et
al (2001)
• Psycho-Edukation
• Verhaltenstherapeutisch orientierter
“Homeplan”
• Vertrag
• Intensive Einbeziehung der Familien,
um den therapeutischen Prozess des
Jugendlichen zu unterstützen
Behandlungstechniken von AIT
Klärung:
Aufforderung durch den Therapeuten, jede Information, die
unklar, verwirrend, chaotisch, vage, widersprüchlich ist zu
erklären.
Der Therapeut zeigt sich als „nicht perfekt“!
Beispiele: „ich habe noch nicht alles verstanden und brauche
Zeit dazu“, „was meinst du mit…“, „was heißt das, dass…“,
„ich habe das noch nicht richtig verstanden, könntest du mir
ein Beispiel geben…“etc).
Behandlungstechniken von AIT
Konfrontation:
Wird angewendet, um dem Patienten widersprüchliche
Anteile seiner Mitteilung bewusst zu machen und ihn auf
Informationen zu lenken, die er bisher nicht
wahrgenommen oder total normal gefunden hat.
Zentral ist die Wahrnehmung von Diskrepanzen zwischen
verbalen und nonverbalen Informationen sowie der
Gegenübertragung.
Behandlungstechniken von AIT
Deutung/Mentalisierung:
• Deutungen werden, ebenso wie Konfrontationen, als
Hypothesen angeboten, die den Adoleszenten zum Nachdenken
anregen und Unbewusstes ins Bewusstsein rufen sollen
(Mentalisierung).
• Deutungen fokussieren auf die intrapsychischen Vorgänge, die
durch vorausgegangene Klärungen und Konfrontationen
beleuchtet wurden.
• Anders als Konfrontationen, die Widersprüche ins Bewusstsein
bringen sollen, helfen Deutungen dem Adoleszenten,
Vorstellungen über die Bedeutung seiner Gedanken und
Handlungen zu bekommen.
• Die Art zu deuten unterscheidet sich bei Adoleszenten und
Erwachsenen. Bei Jugendlichen werden sie spielerischer
gemacht und oft mit Geschichten oder Metaphern verdeutlicht.
Perspektivenwechsel
Bei Jugendliche kann die Aufforderung zu
Perspektivenwechsel (sehr wichtig zur
Selbst/Objektdifferenzierung) am besten spielerisch
erfolgen, indem sie aufgefordert werden sich selbst in
die Position des andern zu begeben und sich
vorzustellen, wie dieser fühlen, denken oder sich
verhalten könnte. Dies kann auch auf die Übertragung
ausgedehnt werden, indem man den Jugendlichen
auffordert, sich vorzustellen, was der Therapeut in
dieser Situation wohl tun würde.
Psychoedukation
•
•
•
•
Jugendlicher:
Über die Diagnose, was die Störung bedeutet, welche
Schwierigkeiten es gibt. Z.B. Schaubild über überschiessende
Affektantwort zeigen
Eltern:
Über die Diagnose, was die Störung bedeutet, welche
Schwierigkeiten es gibt. Z.B. Schaubild über überschiessende
Affektantwort zeigen, Theorie über Entstehungsursachen etc.
Über besondere Empfindsamkeiten des Kindes gegenüber
emotionalen Reizen, besonders zwischenmenschlichen
Stressoren wie Kritik, Zurückweisung und Trennung.
Was ist die normale adoleszente Entwicklung, was kann man
von einem Jugendlichen erwarten, „step back but don„t leave“
etc.
Dysfunktionale Affektregulation bei BorderlinePersönlichkeitsstörungen
New, A. (2014)
• hohe Sensitivität gegenüber
emotionalen Reizen
• heftige Reaktionen auch
auf schwache Reize
• verzögerte Rückkehr der
Affektlage zum Ausgangsniveau (Linehan, 1989)
Dysfunktionen bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung
in neuronalen Netzwerken, die eine Verbindung zwischen
kortikalen Bereichen und dem limbischen System herstellen
(Herpertz et al., 2001)
Störung der Persönlichkeitsentwicklung
Biologische
Konstitution
Temperament
Allgemeine
Entwicklungsaufgaben
Belastende
Lebensereignisse
PersönlichkeitsStruktur
unflexible und
nicht-funktionale
Bewältigungsmuster
Interpersonelle
Krisen
Psychosoziale
Überforderung
zunehmende Störung der
Identitätsentwicklung
und Beziehungsregulation
PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG
Schmeck, Schlüter-Müller
Vertrag mit Patient
Der Vertrag, der zwischen dem Jugendlichen und dem
Therapeuten geschlossen wird, dient dazu, klare Bedingungen
sowohl für den Jugendlichen als auch für den Therapeuten
festzulegen.
Patient:
• lässt sich – zumindest für einen gewissen Zeitraum – auf die
Therapie ein. Dann wird neu verhandelt.
• Er erzählt alles, was bedeutsam ist („freie Assoziation“)
Therapeut:
• Schweigepflicht (Ausnahmen: starker Drogenkonsum,
Suizidalität, Schwangerschaft, Fremdgefährdung)
• Unterstützung, dass der Jugendliche die Therapie nicht
(wieder) abbricht
Homeplan
• Da die meisten Adoleszenten im Familiensystem, oder, wenn
das nicht mehr geht, in Jugendhilfeeinrichtungen leben,
müssen diese in die Behandlung einbezogen werden
• Um zuhause oder in Einrichtungen leben zu können müssen
Jugendliche basale Verhaltensstandards erfüllen, deshalb
sind
verhaltensbezogene Interventionen oft notwendig
• Zusätzlich zu dem individuellen Vertrag wird ein deshalb ein
Homeplan erstellt. Teile des Vertrags werden darin
aufgenommen.
• Darin sind auch Anforderungen an die Eltern/die Betreuer der
Jugendhilfeeinrichtung enthalten!
• Der Homeplan wird im Laufe der Behandlung immer wieder
modifiziert und den neuen Bedingungen angepasst.
Themen für den Homeplan: z.B. Umgang mit
selbstverletzendem Verhalten
Sehr klares Vorgehen bei SVV festlegen mit klarem
Procedere, z.B.:
- Verbinden der Wunde ohne spezielle Zuwendung
- falls Wunde zu tief – Chirurgie
- Im Homeplan Vergünstigungen streichen
- Skalierungsfragen im Homeplan einführen
(Einschätzung Ritzdruck)
Bedeutung der Elternarbeit
• Eltern sind keine Feinde, auch die von BorderlinePatienten nicht!
• Heraushalten der Eltern unterschätzt die Bedeutung
familiärer Interaktion für das Fortbestehen der Probleme.
• Die Sicht des Patienten von den bösen, verfolgenden Eltern
wird u.U. übernommen und lässt ausser Acht, dass
Borderline Patienten dazu neigen, frühere Bezugspersonen
zu entwerten
• Die Chance, die Eltern als wichtige Ressource zu nutzen
wäre vertan und der Therapeut würde sich durch
übermässige Verantwortung überfordern!
• Auch sehr kompetente Eltern können unter der Belastung
durch ein Kind mit einer Persönlichkeitsstörung pathologisch
erscheinen.
• Auch bei sehr gestörten Eltern gibt es eine intensive Bindung
des Kindes an diese!
Besondere Anforderungen an Mitarbeiter von
Jugendhilfeeinrichtungen
Sie sollten:
• an die Veränderungsfähigkeit der Jugendlichen glauben
• Entwertungen aushalten (inneres Schild: „ich bin nicht
gemeint!“)
• Ständigen Spaltungsversuchen standhalten
• Eine gute Ausbildung und Fortbildungen zum
Störungsbild haben, um Verhaltensweisen besser
einschätzen zu können
• Einen guten Zusammenhalt im Team haben (um mit
Spaltungen umgehen zu können)
• Lust an der Arbeit mit gestörten/kranken Jugendlichen
haben
Jugendhilfeeinrichtungen als therapeutischer
Raum
• Spaltung als zentrales Symptom der BorderlineStörung
• Mitarbeiterteam als ganzes Objekt mit allen
Möglichkeiten der pädagogischen Hilfe zur Nachreifung
• Fördernde und verlässlich haltende Umwelt
• Nicht Verwalter einer Technik sondern affektiv in den
Prozess mit einbezogen
• Positive Erfahrung am neuen Objekt: Heilkraft der
Objektbeziehung (Balint)
Manipulation als Versuch der Kontrolle
• Übermässige Aufregung im Umfeld des Patienten („slow
down the beginning“)
• Gegenübertragung beachten (ich mache Dinge, die ich
eigentlich gar nicht will/ich fühle mich wie
fremdgesteuert/ich falle immer wieder darauf rein,
dass….)
• Enge Absprachen im Team, sehr genaue Übergaben
• Sich nicht gegeneinander ausspielen lassen
• Supervision
EAST-Studie
• Psychotherapie-Outcome-Studien können zwar die
Wirksamkeit einer Therapieform belegen, aber nur wenig
zum Verständnis der spezifischen Wirkmechanismen
beitragen.
• Voraussetzung für die gezielte Weiterentwicklung von
psychotherapeutischen Interventionen ist deshalb ein
besseres Verständnis psychotherapeutischer Prozesse.
• Aus diesem Grund fokussieren wir in der AITEvaluationsstudie neben dem Outcome vor allem auf
Prozesse, um Wirkmechanismen therapeutischer
Interventionen bei Adoleszenten mit Persönlichkeitsstörungen zu erforschen.
EAST-Studie
Kontrollierte klinischen Studie vergleicht
• die beiden Verfahren zur Behandlung von Jugendlichen
mit Persönlichkeitsstörungen AIT (Adolescent Identity
Treatment) und DBT-A (Dialektisch-Behaviorale
Therapie).
Beteiligte Zentren:
• Kinder- und Jugendpsychiatrische Klinik der
Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel
• Kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik der Universität
Heidelberg
• Universidad Católica Santiago de Chile
Durchführung der Prozessforschung
• Im Rahmen der Prozessforschung werden alle
therapeutischen Sitzungen auf Video aufgezeichnet und
die Herzratenvariablität sowie Saliva-Cortisol bei Patient
und Therapeut erfasst.
• In der Videoanalyse konzentrieren wir uns neben der
Untersuchung von Veränderungsmomenten (Change
Episodes) auf Brüche in der therapeutischen Beziehung
und deren Auflösung (Alliance Rupture Episodes und
Rupture Resolution).
MitarbeiterInnen der AIT-Studie
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Marc Birkhölzer
Veronika Burger
Lukas Fuerer
Emanuel Jung
Sabrina Brunner-Kunz
Schewaz Kamal Mohammad
Anne-Catherine von Orelli
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Oliver Pick
Nathalie Schenk
Susanne Schlüter-Müller
Klaus Schmeck
Christian Schrobildgen
Anina Schwander
Ronan Zimmermann
IACAPAP Durban August 2014 |
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