2 Netzwerktheoretische Denkschulen und Forschungsbedarfe Die netzwerktheoretische Forschung nimmt ihren Anfang in der Soziologie, der Anthropologie und der Psychologie (vgl. Kappelhoff 2000: 25; Scott 2000; Powell/Smith-Doerr 2003; Grabher/Powell 2004) und erfreut sich seit zwei Jahrzehnten einer zunehmenden Anwendung in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie den Wirtschaftswissenschaften, den Politikwissenschaften und der Humangeographie. Umfangreiche Literaturbestände entwickeln sich sowohl disziplinär getrennt, überlappen und bereichern sich aber auch gegenseitig. Die Anwendung innerhalb eines breiten Spektrums von sozialwissenschaftlichen Disziplinen verleiht dem Netzwerkbegriff generische Eigenschaften und ermöglicht die Verständigung über fachliche Grenzen hinweg. Sie sorgt aber auch für Irritationen und erfordert präzise Definitionen in der jeweiligen Untersuchung und Methodik (vgl. Scott 2002: 1). Die vorliegende Arbeit versteht gemäß der Definition von Mitchell unter Netzwerk ganz grundsätzlich ein Set von Beziehungen zwischen einer abgegrenzten Menge von Akteuren17 (vgl. Mitchell 1969; Laumann/Pappi 1976: 16; Jansen 2006: 52), wobei sowohl individuelle als auch kollektive Akteure beteiligt sein können (vgl. Sydow 1992: 75)18. Die Vielfalt der Forschungsrichtungen macht deutlich, dass von einer geschlossenen, einheitlichen Netzwerktheorie nicht die Rede sein kann. Vielmehr handelt es sich um eine spezifische Perspektive zur Untersuchung sozialer Strukturen (vgl. Burt 1980; Emirbayer/Goodwin 1994: 1414). Emirbayer und Goodwin verweisen in diesem Zusammenhang auf die zentrale Annahme, auf der alle netzwerktheoretischen Zugänge – in ihrem grundlegenden Kern – basieren. Sie folgen vor allem dem Anticategorical Imperative (Emirbayer/Goodwin 1994: 1414), der Versuche zurückweist, menschliches Handeln oder soziale Prozesse allein aus den Attributen der beteiligten Akteure zu erklären19. Vorliegende 17 18 19 Der Arbeit liegt also kein normatives Verständnis von Netzwerken als einer besonders zielführenden oder effizienten Steuerungsform zugrunde. Über diese Basisdefinition hinaus ergänzen verschiedene Theorieschulen weitere Definitionskriterien wie beispielsweise Dauerhaftigkeit und wechselseitige Abhängigkeit (vgl. Grabher 1993; Mayntz 1993). „Absolute“ Merkmale von Akteuren, die einem individuellen oder kollektiven Akteur angehören und als unabhängig von seiner Einbettung in soziale Kontexte angesehen werden, bei- B. Lelong, Durchsetzungsprozesse in der Stadtentwicklungspolitik, Netzwerkforschung, DOI 10.1007/978-3-658-08092-1_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2015 36 2 Netzwerktheoretische Denkschulen und Forschungsbedarfe Untersuchung schließt sich dieser relationalen Schwerpunktsetzung an. Ihr Erkenntnisinteresse liegt vor allem an den relationalen Einflussfaktoren auf das Akteurshandeln. Auch wenn Attribute individueller Akteure eine bedeutende Rolle in stadtentwicklungspolitischen Prozessen spielen können, werden sie in diesem Untersuchungsansatz untergeordnet behandelt (s. Kap. 3.2 Strategische Netzwerkpositionen). Zugunsten der Klarheit und empirischen Überprüfbarkeit reduziert die Untersuchung bewusst die Komplexität sozialer Prozesse. Dies führt möglicherweise zu einer begrenzten Reichweite des Untersuchungsansatzes, soll jedoch den strukturalistisch-konstruktivistischen Fokus des analytischen Konzepts bewahren und es damit nicht zu sehr in eine sozialpsychologische 20 Perspektive rücken . Die nächsten Abschnitte stellen zwei soziologische und eine politikwissenschaftliche Forschungsrichtungen vor, auf deren Literaturbestände diese Arbeit im Wesentlichen zurückgreift. 2.1 Soziologische Netzwerkforschung 2.1 Soziologische Netzwerkforschung Die soziologische Netzwerkforschung kann in verschiedene Theorieschulen eingeteilt werden, die sich in ihren Analyseschwerpunkten und Definitionen unterscheiden. Als grundlegende Theorietraditionen gelten die Soziale Netzwerkanalyse, der Netzwerkgovernance-Ansatz und die Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Thompson 2003; Grabher/Powell 2004). Der Analyserahmen dieser Studie beruht auf der Sozialen Netzwerkanalyse und dem Netzwerkgovernance-Ansatz, welche im Folgenden erläutert werden. Die Akteur-Netzwerk-Theorie bietet zwar ebenfalls vielversprechende Konzepte für die Untersuchung der Forschungsfrage, ihre Perspektive basiert jedoch auf Grundannahmen, die von den beiden anderen Traditionen stark abweichen. Sie lässt sich daher schwer in einen kohärenten Analyserahmen integrieren. Aus Gründen der Stringenz wird hier auf 20 spielsweise Alter, Geschlecht, Hautfarbe, aber auch Persönlichkeitsmerkmale (Jansen 2006; 53). „The typical laundry list of variables of interest to social scientists – age, race, ethnicity, gender, class, etc.“ (Krippner 2001: 796). Viele empirische Studien im Bereich der Stadt- und Regionalforschung haben außerdem den Faktor der Persönlichkeit bereits ausführlich – und dabei häufig überbewertend – behandelt (vgl. Ibert/Lelong 2010). Auch Sozialpsychologen weisen auf die Überschätzung des Erklärungsgehaltes des Faktors „Persönlichkeit“ für das Verhalten von Menschen hin. Es sei ein „fundamentaler Attributionsfehler“, die Macht situativer sozialer Einflüsse zu unterschätzen (Aronson et al. 2008: 11). 2.1 Soziologische Netzwerkforschung 37 die Vorstellung der Akteur-Netzwerk-Theorie verzichtet, wohl aber ist die Untersuchung von ihr inspiriert worden21. 2.1.1 Soziale Netzwerkanalyse Der älteste Zweig der Netzwerkforschung ist die Soziale Netzwerkanalyse, die aus soziologischen und anthropologischen Studien hervorgegangen ist und die inzwischen in vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen und Forschungsfeldern Anwendung findet (vgl. Jansen 2006: 48ff). Strukturelle Eigenschaften der Netzwerke und spezifische Positionen einzelner Akteure erklären das Handeln der Akteure. Die Analyse verläuft sehr formal (vgl. Simmel 1992; Emirbayer/ Goodwin 1994: 1415; Kappelhoff 2000: 33f), indem Merkmale wie Größe, Dichte, Zentralitäten und Unterteilungen in Teilnetzwerke erfasst werden (vgl. beispielsweise Burt 1992; Wassermann/Faust 1994; Scott 2000). Anhand dieser Netzwerkstrukturdaten können erklärende Bedingungen herausgearbeitet werden sowohl für die Ermöglichung von Handlungen wie auch für deren Einschränkung (vgl. Emirbayer/Goodwin 1994: 1440; Grabher 2006: 80). Für die Berechnung von Netzwerkstrukturdaten sind inzwischen weit fortgeschrittene Verfahren, Algorithmen und Programme entwickelt worden. Die Entwicklung der Computertechnologie hat damit die Analyse und Visualisierung sehr komplexer und umfangreicher Netzwerke ermöglicht (vgl. beispielsweise Krempel 2010). Genese der Sozialen Netzwerkanalyse Simmel beginnt Ende des 19. Jahrhunderts damit, Individuen im Hinblick auf soziale Kreise und Gruppen zu betrachten und soziale Netzwerke mit formalen Kriterien zu beschreiben (vgl. Simmel 1992; Scott 2002: 1; Jansen 2006: 37ff). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bauen drei Traditionslinien auf den Arbeiten Simmels auf. Sie gelten als Vorläufer der heutigen Sozialen Netzwerkanalyse (Scott 2000: 7): In den USA beschäftigen sich Kognitions- und Sozialpsychologen mit soziometrischen Methoden. Ein Mitglied der Gruppe, Jacob Moreno, entwickelt 1934 erste systematisch-empirische Methoden zur Studie von sozialen Netzwerken (vgl. Scott 2000: 9f; 2002: 2). Seine entscheidende Innovation ist das der Geometrie entlehnte Soziogramm – eine analytische Darstellungsform zur Erfassung sozialer Beziehungen. Individuen werden als Punkte dargestellt, Relationen als Linien. Im gleichen Zeitraum arbeiten Anthropologen 21 Einen Vorschlag zur Integration von Sozialer Netzwerkanalyse und Akteur-Netzwerk-Theorie liefert zum Beispiel der Aufsatz von Mützel (2009). 38 2 Netzwerktheoretische Denkschulen und Forschungsbedarfe und Soziologen der Harvard Universität an der Weiterentwicklung von Konzepten des britischen Sozialanthropologen Radcliffe-Brown. Sie identifizieren unter anderem die Bedeutung von informellen Beziehungen in sozialen Systemen (vgl. Scott 2000: 16ff; Swedberg 2009: 70). Außerdem befasst sich eine dritte Forschergruppe von Anthropologen im britischen Manchester mit Konflikten in Gruppen und verbessert das methodische Zusammenwirken von Mathematik und Sozialwissenschaften (vgl. Scott 2000: 26ff; Jansen 2006: 42ff). Auch diese Forscher werden von Arbeiten Radcliffe-Browns inspiriert. Vor allem Barnes (1954), Mitchell (1969) und Bott (1957) setzen neue Impulse für die Soziale Netzwerkanalyse, indem sie sich vor allem auf Konflikte und Veränderungen konzentrieren. Eine Gruppe um den an der Harvard Universität lehrenden Harrison C. White vereint diese drei Linien in den 1960er- und 1970er-Jahren und entwickelt die zeitgenössische Soziale Netzwerkanalyse (vgl. Scott 2000: 33f). 2.1.2 Netzwerkgovernance-Ansatz Die Vertreter des Netzwerkgovernance-Ansatzes untersuchen Netzwerke mit dem Schwerpunkt auf Koordinations- beziehungsweise Steuerungsfragen (vgl. Sydow/Windeler 2000; Thompson 2003: 6; Grabher/Powell 2004: xii; Grabher 2006: 78). Sie analysieren die Mechanismen, „durch die Netzwerke initiiert, koordiniert, überwacht, modifiziert und aufgelöst werden“ (Grabher 2006: 78). Darunter fallen Fragen nach dem Entstehen von Relationen zwischen Akteuren, ihrer Aufrechterhaltung oder Pflege, mögliche Sanktionsmechanismen bei Fehlverhalten sowie Zugangskontrollmechanismen. Die Steuerungsmodelle können sich dabei sowohl auf die Steuerung zwischen Organisationseinheiten, also auf interorganisationale Netzwerke, als auch auf solche innerhalb der Einheiten beziehen. Netzwerke werden von den Vertretern des Netzwerkgovernance-Ansatzes als dritte Koordinationsform neben Markt und Hierarchie verstanden (vgl. Powell 1990): „Märkte sind durch das Nicht-Vorhandensein von struktureller Kopplung zwischen den Elementen gekennzeichnet, Hierarchie durch feste Kopplung, und Netzwerke, per definitionem lose gekoppelt, liegen dazwischen“ (Mayntz 1993: 44). Im Markt agiert idealtypisch der Preis als zentraler Steuerungsmechanismus. In hierarchischen Strukturen sollen Anweisungen und zentrale Ressourcenkontrolle für eine verbindliche Steuerung sorgen (vgl. Frances et al. 1991: 10; Schneider 2004: 5-6). Dagegen wirken in Netzwerken informelle Mechanismen wie Vertrauen, Reziprozität und Reputation um die Koordination der voneinander unabhängigen sozialen Elemente zu erreichen (vgl. beispielsweise Frances et al. 1991: 15; Jones et al. 1997: 914; Grabher/Powell 2004: xv). 2.1 Soziologische Netzwerkforschung 39 Der Netzwerkbegriff dieses Ansatzes setzt daher eine gewisse wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Akteuren (vgl. Mayntz 1993) und eine relative Dauerhaftigkeit der Beziehungen (vgl. Grabher 1993) voraus. Die Akteure können zwar autonom handeln, das heißt sie sind nicht weisungsgebunden oder an formale Verträge gekoppelt. Sie können jedoch nur gemeinsam Politik gestalten oder ein wirtschaftliches Vorhaben realisieren. Vertreter des Netzwerkgovernance-Ansatzes typologisieren Netzwerke unter anderem nach Dauer und Steuerungsform in informelle Netzwerke, Projektnetzwerke, regionale Netzwerke und Unternehmensnetzwerke (Grabher/Powell 2004: xvii), welche sich durch jeweils spezifische Steuerungsmechanismen auszeichnen. Langfristige Netzwerke profitieren beispielsweise von den Erfahrungen früherer Zusammenarbeit und den daraus resultierenden Einschätzungen wie sich Partner in zukünftigen Situationen verhalten werden. Kurzlebige Netzwerke wie zum Beispiel Projektnetzwerke sehen sich dagegen mit anderen Herausforderungen konfrontiert. Diese bestehen etwa in Koordination, Kontrolle und Lernen (Grabher/Powell 2004: xvii)22. Genese des Netzwerkgovernance-Ansatzes Soziologische und anthropologische Netzwerkforscher schenken ökonomischen Aktivitäten zunächst keine größere Aufmerksamkeit. Netzwerke finden erst in den 1980er-Jahren Eingang in die Ökonomie (vgl. Smith-Doerr/Powell 2005; Grabher 2006). Vertreter der Neuen Wirtschaftssoziologie (vgl. Swedberg 2009: 65) greifen den Netzwerkgedanken auf und wenden ihn auf die Beschreibung wirtschaftlicher Austauschprozesse an, die sie durch den Transaktionskostenansatz23 nur unzureichend erklärt sehen. Dieser Ansatz basiert auf Arbeiten von Coase (1937) und Williamson (1975, 1985), die damit die Kosten definieren, welche mit wirtschaftlichen Austauschprozessen verbunden sind. Diese entstehen beispielsweise bei der Informationsbeschaffung oder bei der Überwindung von Unsicherheiten. Neben dem Markt führen sie Unternehmen als weitere Koordinationsform wirtschaftlichen Handelns auf. Häufig wiederkehrende Transaktionen, so die Argumentation, werden in das eigene Unternehmen integriert, wenn ihre Abwicklung über den Markt zu hohe externe Kosten verursacht. 22 23 Ausführlich zu Typologien nach Dauer, Steuerungsform und Steuerungsebenen s. beispielsweise Grabher/Powell 2004 und Sydow/Windeler 2000. Der Transaktionskostenansatz betrachtet die Transaktion als grundlegende Analyseeinheit zur Untersuchung ökonomischer Organisationsformen (vgl. Williamson 1981: 548). Aus dieser Perspektive erklärt die Art der Transaktionskosten, die in einem wirtschaftlichen Austausch bewältigt werden müssen, das Auftreten einer bestimmten Organisationsstruktur wie zum Beispiel Markt oder Hierarchie. 40 2 Netzwerktheoretische Denkschulen und Forschungsbedarfe Powell und andere Vertreter der Neuen Wirtschaftssoziologie kritisieren den Transaktionskostenansatz als sozial zu wenig kontextbezogen. Sie begreifen stattdessen Netzwerke als Möglichkeit, dem übersozialisierten Ansatz der Soziologie und dem untersozialisierten Ansatz der Ökonomie einen dritten Ansatz entgegenzustellen: „In contrast to deterministic cultural (oversocialized) accounts, network analysis afforded room for human agency, and in contrast to individualist, atomized (undersocialized) approaches, networks emphasized structure and constraint“ (Smith-Doerr/Powell 2003: 1; vgl. Granovetter 1985: 483ff). Aus ihrer Perspektive ist ökonomischer Austausch ein sozialer Vorgang und deshalb immer in einen spezifischen Kontext sozialer Beziehungen eingebettet (vgl. Granovetter 1985; Grabher 2006: 107). Granovetter übernimmt den Begriff der Embeddedness den Texten Polanyis24 und legt mit seinem Artikel „Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness“ (1985) die Basis für das zentrale Organisationsprinzip der Neuen Wirtschaftssoziologie (vgl. Krippner 2001: 775, Swedberg 2009: 65). Powell kritisiert den Transaktionskostenansatz auch im Hinblick auf die unrealistische Trennung wirtschaftlicher Austauschprozesse in die beiden Organisationsformen Markt und Hierarchie: Empirische Studien würden vermehrt Koordinationsformen aufweisen, die weder den Kriterien von Markt noch Hierarchie genügen. Unternehmensgrenzen seien unscharf geworden, die Logik des Transaktionskostenansatzes könne die vielen intermediären Organisationsformen nicht mehr erklären (vgl. bei Grabher 2006: 77). In seinem Aufsatz „Neither Market nor Hierarchy: Network Form of Organization“ definiert er daher Netzwerke als zusätzliche Organisationsform (Powell 1990). 2.2 Politikwissenschaftliche Netzwerkforschung 2.2 Politikwissenschaftliche Netzwerkforschung Politiknetzwerkanalysen untersuchen zumeist Prozesse kollektiver Entscheidungsfindung und die Regelung und Steuerung komplexer gesellschaftlicher Sachverhalte (vgl. Mayntz 2004; Knill/Schäfer 2011: 212; Knoke 2011: 215ff). Empirische Studien umfassen alle Ebenen der Politik, von lokal bis global und unterschiedlichste Politikbereiche (vgl. Scott 2002: 15; Kenis/Raab 2008: 132; Schneider 2009: 7). Zur Vielfalt des Untersuchungsfeldes trägt auch ein umfassender Politikbegriff bei, der Aspekte von Politics, Policy und Polity25 berück24 25 Zum Beispiel Polanyi, K. (1968): Our Obsolete Market Mentality (vgl. Krippner 2001: 775). Deutsche Übersetzung der Begriffe: politics = Prozess der Politikproduktion inklusive Konflikt- und Verhandlungskampf; policy = politisches Programm, politischer Inhalt oder Themen; polity = das politische Regelsystem, beispielsweise eines Staates (vgl. Blum/Schubert 2009: 14). 2.2 Politikwissenschaftliche Netzwerkforschung 41 sichtigt (vgl. Schneider 2009: 7). Abhängig vom Begriffsverständnis können neben der Untersuchung öffentlicher Politiken also auch Beziehungen zwischen Organisationen allgemein oder sogar interne Unternehmenspolitiken in den Bereich der Politiknetzwerkanalyse fallen (vgl. Schneider 2009: 12). Die politikwissenschaftliche Netzwerkforschung beinhaltet sowohl eine analytische als auch eine deskriptive Komponente (vgl. Mayntz 1993; Schneider 2004; Kenis/Raab 2008: 133). Sie ermöglicht einerseits einen spezifisch analytischen Blick auf die soziale Welt und liefert eine Analytical Toolbox (Kenis/ Schneider 1991), einen analytischen Werkzeugkasten, mit dem alle Arten von Akteursstrukturen beschrieben und analysiert werden können (vgl. Kenis/ Raab 2008: 132). Andererseits wird mit dieser Forschungsrichtung auch die Feststellung verbunden, dass sich die politischen Entscheidungsstrukturen in den letzten Jahrzehnten nachweisbar verändert haben (vgl. Mayntz 1997: 241). In diesem Sinne beschreibt das Politiknetzwerk eine heterogene Akteurskonstellation aus staatlichen, privatwirtschaftlichen, zivilgesellschaftlichen oder intermediären Akteuren (vgl. Kenis/Raab 2008: 132), das immer häufiger „die Produktion öffentlicher Politiken“ übernimmt (Schneider 2004: 6). Die Schritte der Entscheidungsfindung, Programmformulierung und Implementation im Politikprozess werden zwar von autonomen Akteuren gestaltet; diese aber sind voneinander abhängig (vgl. Kenis/Schneider 1991: 41; Marin/Mayntz 1991: 18; Kenis/Raab 2008: 134). Untersuchungseinheiten können daher individuelle, kollektive oder korporative Akteure sein (vgl. beispielsweise Knill/Schäfer 2011: 191), wobei sich das Feld eventuell beteiligter Akteure immer weiter ausdifferenziert. Der Staat wird nicht mehr als hierarchische Organisation, sondern als „ein Netzwerk relativ autonomer Organisationen“ betrachtet (Schneider 2004: 14). „Neben der traditionellen Verwaltung gibt es nun öffentliche Anstalten, öffentliche Unternehmen und unabhängige Regulierungsbehörden […]. Auch die Gesellschaft verändert sich dahingehend, dass dem Staat nicht mehr nur Individuen gegenüber stehen, sondern eine wachsende Anzahl von […] formalen Organisationen, die das Gesicht der modernen Gesellschaft prägen“ (Schneider 2004: 14-15). Darunter fallen zunehmend international tätige Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace, Attac etc. Die Analyse konzentriert sich demnach auf die Identifizierung der relevanten Akteure, auf die Beschreibung und Erklärung ihrer Interaktionsstrukturen und auf Erklärungen für den Verlauf sowie das Ergebnis der Prozesse (vgl. Kenis/Raab 2008: 132; Knoke 2011: 210). Zentrale Ansatzpunkte sind die Untersuchung der Struktureigenschaften durch Methoden der Sozialen Netzwerkanalyse, vor allem im Hinblick auf Macht (vgl. beispielsweise Laumann/Pappi 1976; Scott 2002: 15), und die Herausarbeitung von Koordinationsmechanismen zwischen Akteuren wie Tausch und Aushandlung oder Verhandlung (vgl. Weyer 42 2 Netzwerktheoretische Denkschulen und Forschungsbedarfe 2011: 51). Hier überlappen sich politikwissenschaftliche Netzwerkforschung und Netzwerkgovernance-Ansatz: Die lose gekoppelten Akteure können zur Durchsetzung ihrer Interessen nicht auf die Mechanismen Preis (Markt) oder Weisungsrecht (Hierarchie) zurückgreifen (vgl. Mayntz 1997: 247). Häufig wird auf den Austausch von Informationen als netzwerkbildende Relation verwiesen wie zum Beispiel auf Fachwissen oder Prozesswissen (vgl. Leifeld/Schneider 2010: 3). 2.3 Entwicklung der Netzwerkforschung und Forschungsbedarfe 2.3 Entwicklung der Netzwerkforschung und Forschungsbedarfe Als Stärke der Netzwerkforschung gilt ihre strukturierte und formal präzise Herangehensweise (vgl. Kappelhoff 2000: 34; Grabher 2006: 107; Jansen 2006: 175; Kenis/Raab 2008: 144). Neben einer breiten empirischen Anwendbarkeit und vielfältigen theoretischen Anknüpfungsmöglichkeiten zählt dazu auch das Potenzial Makro und Mikro oder Struktur und Handeln zu integrieren: Sowohl die „Eigenschaften und Dynamiken auf der Ebene von zusammengesetzten Einheiten“ als auch das „absichtvolle Handeln von Individuen“, die sich wechselseitig unterstützen oder einschränken, können erfasst werden (Jansen 2006: 17). Die Netzwerkforschung ermöglicht damit eine Verknüpfung von mikrosoziologischen Akteur- und Handlungstheorien mit makrosoziologischen „Theorien über Institutionen, Strukturen und Systeme“ (Jansen 2006: 11ff). Die große und vielfältige Zahl der netzwerkanalytischen empirischen Studien und theoretischen Beiträge hat neben den erwähnten Vorteilen aber auch eine umfangreiche kritische Diskussion über Defizite und weitere Forschungsbedarfe oder theoretische Entwicklungsnotwendigkeiten hervorgebracht (vgl. SmithDoerr/Powell 2005: 37ff; Jansen 2006: 275ff). In der Literatur gibt es eine ausführliche Debatte darüber, ob man überhaupt von einer eigenständigen Netzwerktheorie im Sinne einer Sozialtheorie sprechen könne oder die Netzwerkforschung nicht lediglich eine „lose Ansammlung von Methoden“ sei (vgl. Burt 1980; Emirbayer/Goodwin 1994: 1414; Kappelhoff 2000; Stegbauer 2008: 13). Die meisten Autoren stimmen darin überein, dass diese Forschungsansicht eine spezifische theoretische Perspektive auf die soziale Welt bereitstellt und diese mit einem spezifischen Set an Methoden untersucht (vgl. Emirbayer/Goodwin 1994: 1414; Scott 2000: 37; Jansen 2006: 11; Haas/Mützel 2008: 49). Die Debatte soll hier nicht weiter ausgeführt werden, da sich diese Untersuchung auf die Entwicklung eines tragfähigen Analyserahmens konzentriert, der mehrere Ansätze kombiniert und zur konzeptionellen Weiterentwicklung der Netzwerkforschung beitragen soll. 2.3 Entwicklung der Netzwerkforschung und Forschungsbedarfe 43 Die Entwicklung der Netzwerkforschung Emirbayer und Goodwin (1994) identifizieren drei Stufen in der allgemeinen theoretischen Entwicklung der Netzwerkforschung (vgl. Kappelhoff 2000: 40): (1) den strukturalistischen Determinismus, (2) den strukturalistischen Instrumentalismus und (3) den strukturalistischen Konstruktivismus. Sie sehen in diesen drei Stufen ein jeweils nuancierteres Erfassen der komplexen Beziehungen zwischen Netzwerken, Kultur und Handeln (Emirbayer/Goodwin 1994: 1415). (1) Der strukturalistische Determinismus berücksichtigt nach Emirbayer und Goodwin allein strukturelle Merkmale als Erklärungsfaktoren für Handlungen der Akteure und schließt alle nicht-relationalen Kategorien als Einflussgrößen oder Akteursattribute in der Netzwerkanalyse aus (vgl. Emirbayer/Goodwin 1994: 1415). Damit vernachlässigt er „the potential causal role of actor’s beliefs, values, and normative commitments – or, more generally, of the significance of cultural and political discourses in history“ (Emirbayer/Goodwin 1994: 1425). Außerdem kritisieren Emirbayer und Goodwin, dass der strukturalistischdeterministische Ansatz Prozesse der Veränderung von Netzwerken nicht berücksichtigt, sondern nur statische Momentaufnahmen von Netzwerken liefert (Emirbayer/Goodwin 1994: 1425). (2) Als zweite Stufe definieren Emirbayer und Goodwin den strukturalistischen Instrumentalismus (vgl. Emirbayer/Goodwin 1994: 1428; Jansen 2006: 25). Grundlegend für diesen ist die Annahme der Rational-Choice-Theorie, dass alle individuellen und kollektiven Akteure durch Nutzenmaximierung angeleitet werden. Vertreter des strukturalistischen Instrumentalismus gehen daher davon aus, dass die Akteure grundsätzlich nur materielle Interessen wie Reichtum, Status und Macht verfolgen (Emirbayer/Goodwin 1994: 1428). Die so motivierten Handlungen werden durch relationale Einflussfaktoren begrenzt oder ermöglicht (vgl. Jansen 2006: 25). (3) Die dritte Stufe umfasst nach Emirbayer und Goodwin den strukturalistischen Konstruktivismus (vgl. Emirbayer/Goodwin 1994: 1431; Jansen 2006: 25), der sowohl die soziale Struktur, die kulturelle Interpretation und das Handeln als eigene Dimensionen berücksichtigt (vgl. Emirbayer/Goodwin 1994: 1431). Der strukturalistische Konstruktivismus integriert damit die Forderungen vieler Autoren nach einer gemeinsamen Analyse von Struktur, Handeln und Kultur, um umfassend die Prozesse kollektiver sozialer Gebilde und die sie einschränkenden sowie begünstigenden Einflussfaktoren verstehen zu können (vgl. Emirbayer/ Goodwin 1994; Hays 1994; Knoke 2004; Janning et al. 2009: 60ff). Außerdem berücksichtigt diese Stufe eine Veränderung der Akteure im Verlauf des Prozesses; eine Veränderung ihrer Identität oder ihrer Motive (vgl. McAdam 1988: 51; Emirbayer/Goodwin 1994: 1432; Jansen 2006: 25). Emirbayer/Goodwin sehen in 44 2 Netzwerktheoretische Denkschulen und Forschungsbedarfe Whites neuesten Schriften einen relevanten Schritt in die richtige Richtung (beispielsweise „Identity and Control“ 1992). Auch Jansen (2006) findet die Forderung „kulturelle Deutungsmuster und Identitäten“ zu berücksichtigen, „inzwischen in vielen empirischen netzwerkanalytischen Studien“ erfüllt (Jansen 2006: 25). Kapitel 3 stellt das analytische Konzept dieser Untersuchung vor, welches eine strukturalistisch-konstruktivistische Perspektive einnimmt. Die zeitliche Dimension: Untersuchung der Netzwerkdynamik Die konstruktivistische Sicht auf Netzwerke fordert auch die Analyse der Netzwerkdynamik, also der Entstehung, Veränderung und Auflösung von Gesamtnetzwerken (vgl. Powell et al. 2005: 4; Holstein 2006: 22; Glückler 2007). Jansen (2006) vertritt den Standpunkt, dass in der Vergangenheit die passenden Instrumente gefehlt hätten, um Prozesse „kausal erfassen und überprüfbar“ machen zu können (Jansen 2006: 275). Auch Stegbauer und Rausch weisen darauf hin, dass zwar bereits Radcliffe-Brown auf die Bedeutung der Veränderung von Netzwerken als Forschungsgegenstand hingewiesen habe, eine befriedigende Erfassung der Netzwerkdynamik bis heute jedoch ausstehe (vgl. Stegbauer/Rausch 2006). Interessant für die qualitative Forschung sind Ansätze, die oben genannte Wechselwirkungen zwischen nicht-relationalen Attributen der Akteure, ihrem strategischen Handeln und den Eigenschaften der Netzwerkstrukturen über einen längeren Zeitraum untersuchen (vgl. Jansen 2006: 276). Hier erscheint Whites Ansatz fruchtbar (vgl. White 1992; Emirbayer/Goodwin 1994; Grabher 2006). An die Stelle der klassischen Frage zur Entstehung sozialer Ordnung untersucht White die Frage wie neues Handeln in sozialen Strukturen entsteht und Innovationen durchgesetzt werden können. White bezeichnet dies als Fresh Action oder Getting Action (White 1992: 254ff). Denn soziale Strukturen sind häufig äußerst stabil, so dass Veränderungen und ihre Wirkungsmechanismen selten sichtbar werden (vgl. Jansen 2006: 277). Die Thematik der Netzwerkdynamik nimmt in der Empirie der vorliegenden Arbeit einen breiten Raum ein, da in den Fallstudien jeweils historische Prozesse über fünf Jahre untersucht wurden (beispielsweise Kap. 3, 5 und 6). Kritik an der Sozialen Netzwerkanalyse und am Netzwerkgovernance-Ansatz Die Soziale Netzwerkanalyse wird häufig für ihre sehr statische Betrachtungsweise kritisiert, aber auch dafür, dass sie die Qualität der Relationen ignoriere (vgl. Smith-Doerr/Powell 2003: 37ff; Grabher 2006: 100). So fordert Uzzi 2.3 Entwicklung der Netzwerkforschung und Forschungsbedarfe 45 (1997) eine differenzierte Betrachtung der Relationen, statt deterministisch von der Struktur auf das Verhalten der Akteure zu schließen. Uzzi führt als Beispiel für die wirkmächtige Relevanz der Relationsqualitäten seine Studie der New Yorker Textilindustrie an, in der er unterschiedliche Qualitäten identifiziert. Sogenannte Embedded Ties und Arm’s-Length-Ties verursachen jeweils unterschiedliche Auswirkungen auf den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen. In der Studie zeigt sich, dass diejenigen Unternehmen bessere Überlebenschancen haben, die beide Arten Ties miteinander kombinieren (vgl. Uzzi 1997; Krippner 2001: 795; s. auch Kap. 3.3 Abschnitt Strong Ties und Weak Ties). Im Gegenzug kritisiert Kappelhoff (2000) den Netzwerkgovernance-Ansatz, der sich vor allem mit der Qualität der Relationen auseinandersetzt, für seine Einengung des Netzwerkbegriffs auf „Fragen der Steuerung wirtschaftlicher und sozialer Prozesse“ (Kappelhoff 2000: 34). Auch der NetzwerkgovernanceAnsatz, so Kappelhoff, sollte Netzwerke zunächst abstrakt als ein „System sozialer Wechselwirkungen“ verstehen. Damit bezeichnet er eine „Menge von Akteuren“ und die „sozialen Beziehungen“, die zwischen ihnen bestehen (Kappelhoff 2000: 34). Für Kappelhoff ist aber auch die Reduzierung der Netzwerkforschung auf eine Strukturanalyse zu wenig. Er stimmt Emirbayer und Goodwin (1994) zu, dass sich die Soziale Netzwerkanalyse vom reinen Strukturalismus hin zu einem strukturalistischen Konstruktivismus weiterentwickelt hat und plädiert für eine „konstruktivistisch-dynamische Sicht von Netzwerken“ (Kappelhoff 2000: 26). Grabher (2006) schlägt unter anderem vor, Konzepte und Erkenntnisse von Sozialer Netzwerkanalyse und Netzwerkgovernance-Ansatz miteinander zu vergleichen und gegebenenfalls zu kombinieren (vgl. Grabher 2006: 100; s. auch Hollstein 2010: 467). Das folgende Kapitel stellt nun das analytische Konzept vor. In den nachfolgenden Ausführungen sollen die genannten Kritiklinien aufgenommen, mehrere Forschungstraditionen kombiniert und anschließend an zwei Fallstudien empirisch überprüft werden. http://www.springer.com/978-3-658-08091-4