Ursachen – Auswirkungen

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Geschichte und Geschehen – Oberstufe Rheinland-Pfalz
12. Vom 20. ins 21. Jahrundert – das Zeitalter der Globalisierung
Die Globalisierung der Wirtschaft: Ursachen – Auswirkungen – Bewertungen
Das weltweit größte Kreuzfahrtschiff „Freedom Of The Seas“ ist
weit mehr als eine schwimmende Marzipantorte. Es ist zugleich
das Wahrzeichen einer boomenden Milliardenbranche. Und sie
ist in all ihrer logistischen Effizienz, nimmermüden Mobilität
und Weltläufigkeit, in all ihrer Gier nach Größe und Profit vor
allem ein Fanal der Generation Globalisierung. Gebaut auf der
Aker-Werft im finnischen Turku, eingerichtet und fertiggestellt
in Hamburg, getauft in New York. Die „Freedom“-Reederei Royal Caribbean International (RCI) ist in Miami beheimatet, das
Schiff aber steuersparend und lohnkostensenkend auf den Bahamas registriert – wie die meisten der Branche. Zum Einsatzort
wird nun die Karibik.
Dieses Welt-Schiff ist ein multinationales Wunder wie seine
Crew: 1.400 Mitarbeiter aus 65 Ländern, und natürlich wird
auch hier an Bord die Führungsspitze noch immer von Amerikanern und Vertretern des alten Europa gebildet. Im hierarchischen Mittel- und vor allem Unterbau findet man schon
lange keine Deutschen mehr. Viele Jahre regierte dort der
Ostblock. Tschechen oder Polen galten als pünktlich und billig – wenn auch oft charmant wie ein eiserner Vorhang. Die
„Freedom“ erlebt auch da nun eine neue Freiheit – die der
EU-Erweiterung. Denn für viele Osteuropäer lohnt sich das
Meer plötzlich kaum noch. Also werden verstärkt Filipinos
eingestellt oder Inder. Auch Chinesen seien schwer im Kommen[…] Dieses Schiff […] ist ein 160.000 Bruttoregistertonnen
schweres Versprechen, dass der Kapitalismus gewonnen hat.
Dass es immer weitergeht. Vorwärts.
(Quelle: Spiegel.online vom 9.10.06;
www.spiegel.de/spiegel/0,1518,441721,00.html)
1. Was ist eigentlich so neu an der Globalisierung?
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Der obige Bericht über die „Freedom Of The Seas“ illustriert einige charakteristische Merkmale des aktuellen
Globalisierungsprozesses:
• globaler Tourismus als Milliardengeschäft;
• Arbeitsteilung und Spezialisierung zwischen verschiedenen
• Ländern und Standorten zur Produktion hochkomplexer Güter (wie Kreuzfahrtschiffe);
• Verlagerung von Unternehmen auf Standorte, die kostengünstig sind und Steuervorteile bieten;
• multinationale Zusammenarbeit bei der Bereitstellung
aufwändiger Dienstleistungen („1.400 Mitarbeiter aus
65 Ländern“ an Bord);
• Einbeziehung immer neuer Gruppen von Arbeitskräften je nach Lohnentwicklung in den Herkunftsländern
(erst Deutsche, dann Osteuropäer, jetzt Filipinos und
Chinesen bei ‚einfachen’ Jobs …);
• globaler Sieg des Kapitalismus: Luxus für Kreuzfahrttouristen bei weiterhin bestehender weltweiter Armut.
So anschaulich dieses Beispiel und die geschilderten Einzelheiten sind – wenn man verstehen will, was es mit der
Globalisierung auf sich hat, welche Triebkräfte dahinter
stecken und mit welchen Auswirkungen zu rechnen ist,
dann muss man doch etwas grundsätzlicher herangehen
und hinter die Kulissen schauen.
Viele Unternehmen sind heute weltweit tätig und haben Niederlassungen und Produktionsstätten auf allen
Kontinenten. Wirtschaften beruht auf Arbeitsteilung und
Tausch; der Austausch arbeitsteilig produzierter Güter ermöglicht Spezialisierung (im Idealfall macht jeder, was
er am besten kann); Spezialisierung führt zu steigender
Produktivität und zu höherer Wertschöpfung. Diese Zusammenhänge gelten für eine Dorfgemeinschaft, auf nationaler Ebene und global. Auch die Weltwirtschaft beruht
auf dem Austausch und der Kombination von spezialisierten Gütern (Produkten, Dienstleistungen, Kapital, Wissen).
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Ein solcher Austausch findet statt, weil er den Beteiligten
Nutzen bringt. Ohne wechselseitigen Nutzen würde ein
Tausch unterbleiben. Tauschtransaktionen sind allerdings
nur möglich, wenn sie nicht behindert werden – etwa
durch Import- oder Exportverbote, hohe Zölle, technische
Handelsbeschränkungen, Kapitalverkehrskontrollen, Abschottung von Märkten usw.
Daraus ergibt sich als erste Bedingung für den Globalisierungsprozess die „Entgrenzung“ der nationalen
Wirtschaften durch Abbau von Beschränkungen des
grenzüberschreitenden Waren-, Dienstleistungs- und
Kapitalverkehrs. Weltweiter Zollabbau und Deregulierung haben zu einer beispiellosen Intensivierung des
Güteraustauschs geführt – die Exporte sind global sehr
viel schneller gewachsen als das Weltinlandsprodukt.
Der Begriff Globalisierung bezeichnet zum einen neuartige Formen der weltwirtschaftlichen Integration
(internationaler Handel, zunehmende Verflechtung
von Unternehmen und Standorten durch Direktinvestitionen, globale Finanz- und Kapitalmärkte, weltumspannende Transport-, Informations- und Kommunikationsnetze usw.); zum anderen schließt er auch
kulturelle und weltgesellschaftliche Aspekte mit ein –
nicht zuletzt eine Art globaler Sprache: „Sorry, der einzige hot spot für wireless LAN ist in der Hotellobby“
(Der Spiegel).
Wertschöpfung entsteht in der Güterproduktion durch
den Einsatz von Produktionsfaktoren. Die Wertschöpfung entspricht dem Marktwert der produzierten
Waren und Dienstleistungen. Die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung wird im Bruttoinlandsprodukt
erfasst.
Übersicht 1
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12. Vom 20. ins 21. Jahrundert – das Zeitalter der Globalisierung
Die Öffnung Osteuropas und Chinas haben dem Globalisierungsprozess noch zusätzlichen Schub verliehen.
Gewiss gab es auch früher schon internationalen Handel
und weltwirtschaftliche Arbeitsteilung. Das Besondere an
der heutigen Globalisierung besteht in der neuen Qualität
der weltwirtschaftlichen Verflechtung. Diese Verflechtung
auf der Unternehmens- und Kapitalebene ist das Ergebnis
von „Direktinvestitionen“ (Übersichten 1 und 2). In der
Phase der Internationalisierung (bis in die 70er Jahre des
letzten Jahrhunderts) exportierten die Industrieländer vor
allem Industrieprodukte in die weniger entwickelten Länder und führten im Gegenzug Rohstoffe und Vorprodukte
ein. Heute – in der Epoche der Globalisierung – errichten
viele Unternehmen eigene Produktionskapazitäten auf
den früheren Exportmärkten: So hat z. B. VW anfangs nur
in Wolfsburg produziert und Autos von dort aus exportiert; heute produziert VW weltweit auf 30 Standorten,
u. a. in Mexiko, Brasilien, Südafrika, China und Indien.
Direktinvestitionen
• Direktinvestitionen sind Sachkapitalanlagen von
Unternehmen auf ausländischen Standorten. Damit
werden Tochterunternehmen und Zweigniederlassungen errichtet oder Beteiligungen an Gemeinschaftsunternehmen erworben (‚joint ventures’).
„Die internationale Kapitalverflechtung von Unternehmen ist in den letzten Jahren zum bedeutendsten Merkmal der Globalisierung geworden.“
(HWWA, Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv)
• Durch Direktinvestitionen wird aber nicht nur Kapital
auf ausländische Märkte und Standorte transferiert,
sondern – ganz wesentlich – auch technisches und
unternehmerisches Wissen (‚Know-how’, Patente
und Lizenzen).
• Global orientierte Unternehmen bauen über Direktinvestitionen eine eigene Präsenz in expandierenden Märkten auf (z. B. China, Indien, Lateinamerika).
Indem sie Vorleistungen von der heimische Zulieferindustrie beziehen, wird auch die Wirtschaft des
Gastlandes gestärkt.
• Leitendes Motiv für Direktinvestitionen ist weniger
die Ausnutzung von Kostenunterschieden als vielmehr die Sicherung und weitere Erschließung ausländischer Märkte, die Nähe zu den Kunden sowie
ein besserer Schutz vor Währungsschwankungen
und Handelsbeschränkungen. Entsprechend spielen
sich ca. 75 % der Direktinvestitionen innerhalb der
Industrieländer ab und weniger als 25 % entfallen
auf sogenannte Niedriglohnländer.
2. Ursachen der Globalisierung
Als komplexer weltgesellschaftlicher Entwicklungsprozess ist die Globalisierung durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt. Hier können nur die wichtigsten Ursachen
der weltwirtschaftlichen Globalisierung knapp zusammengefasst werden:
• Abbau von Handelshemmnissen, Zöllen, Kapital- und
Devisenverkehrsbeschränkungen, eine fortschreitende Öffnung der Märkte (Osteuropa, China, Indien) und
Deregulierung (Übersicht 2) der Weltwirtschaft.
• Technische Innovationen im Transportwesen (Containerschiffe, Flugverkehr, Pipelines usw.) und im Informations- und Kommunikationswesen (Computer,
Internet, Handy, Satellitenfunk usw.).
• Diese Innovationen führten zu einer beträchtlichen
Ausweitung der Transport- und Kommunikationskapazitäten und zu dramatischen Kostensenkungen.
Deregulierung
Abbau von Regulierungen, d. h. von staatlichen und internationalen Vorschriften, also Geboten, Verboten und
anderen Auflagen. Diese Liberalisierung soll Märkte und
marktwirtschaftliche Prozesse ermöglichen.
Modularisierung der Wertschöpfungskette
• Um z. B. einen VW-Golf auf den Markt zu bringen,
sind viele Schritte erforderlich – von der Planung
über die Produktion bis zu Verkauf und Finanzierung.
Den Gesamtprozess der wirtschaftlichen Leistungserstellung eines Unternehmens nennt man seine
‚Wertschöpfungskette’. Die einzelnen Elemente
(‚Module’) dieser Wertschöpfungskette bestehen
aus betrieblichen Teilleistungen (z. B. Beschaffung
und Einkauf, Forschung und Entwicklung, Design,
Produktion, Endmontage, EDV, Logistik, Marketing,
Kundenbeziehungen, Finanzierung, Gebäude- und
Anlagenmanagement, Weiterbildung, Beratung
usw.).
• Während früher alle Wertschöpfungsmodule meist
an einem Standort vereint waren (bei VW z. B. in
Wolfsburg), können heute einzelne Module aus der
Wertschöpfungskette herausgenommen und auf
kostengünstigere Standorte verlagert werden. Das
geschieht heute insbesondere bei arbeits- und also
lohnkostenintensiven Modulen. Gewinner solcher
Verlagerungen sind Länder/Standorte, in denen
neue Fabrikationsstätten und Arbeitsplätze entstehen. Verlierer sind Arbeitnehmer, deren Betriebe
geschlossen und verlagert werden; besonders betroffen sind hier Arbeitskräfte mit relativ niedrigen
Qualifikationen und deshalb geringeren Chancen
auf dem Arbeitsmarkt.
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Übersicht 2
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Sinkende Transaktionskosten und hohe Geschwindigkeiten bei Transport und Kommunikation machen es
ökonomisch lohnend, den Wertschöpfungsprozess in
Teilbereiche aufzuspalten, zu modularisieren (siehe
Übersicht 2). Dadurch können einzelne Wertschöpfungsmodule auf die jeweils günstigsten Standorte
verlagert werden. Dezentralisierte Wertschöpfungsnetze erfordern einen hohen Aufwand an Koordination und Austausch, der nur mit leistungsfähigen und
kostengünstigen Techniken zu bewältigen ist.
• Direktinvestitionen (Übersicht 2) schaffen eine weltwirtschaftliche Verflechtung auf der Unternehmensund Kapitalebene. Unternehmen bauen in anderen
Ländern Produktionsstätten auf und/oder beteiligen
sich an dortigen Unternehmen (‘joint ventures’). Damit sind sie mit Wertschöpfungskapazitäten auf ihren
früheren Exportmärkten und auf den neuen Wachstumsmärkten unmittelbar präsent.
• Der Wunsch vieler Menschen nach einem besseren
Leben: Alle zuvor genannten technischen und politischen Faktoren wären belanglos, wenn es nicht diesen unbändigen Wunsch der Menschen nach einer Verbesserung ihrer Lebenssituation gäbe – bei uns, aber
noch virulenter in weniger entwickelten Regionen wie
Mittel- und Osteuropa oder Südostasien. Diese Motivation ist eine wichtige Triebkraft der Globalisierung.
Der ökonomische Kern der weltwirtschaftlichen Verflechtung besteht somit in der Ausweitung und Liberalisierung
der Märkte, in der Beseitigung von bislang bestehenden
Handelshemmnissen, in einer Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung und daraus folgend in der zunehmenden Integration der Weltwirtschaft. Diese vielfältigen
Prozesse der Vernetzung werden durch Fortschritte in der
Telekommunikation und im Transportwesen ermöglicht
und beschleunigt. Am Ende dieser Entwicklung steht die
‚Aufhebung der Entfernung’: Räumliche Distanzen spielen
dann im Vergleich zu den Produktions- und Standortkosten keine wesentliche Rolle mehr. Vielmehr rücken nun
die Vor- und Nachteile der verschiedenen Standorte ins
Zentrum der unternehmerischen Kalkulation.
3. Auswirkungen der Globalisierung
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3.1 Verdoppelung des Arbeitskräfteangebots
Die weltweite Öffnung der Märkte im Zuge der Globalisierung hat effektiv zu einer Verdopplung des globalen
Arbeitskräfteangebots geführt. Wenn Fahrräder, Spielzeug, Waschmaschinen oder Autos billiger in Südkorea
oder China produziert und Callcenter günstiger in Indien
betrieben werden können, dann entsteht zwischen den
dortigen Arbeitskräften und den Arbeitskräften hier eine
Konkurrenz um Wertschöpfungschancen und Arbeitsplätze. Diese Konkurrenz führt hier zu einem Druck auf die
Löhne insbesondere der gering Qualifizierten – während
in vielen NIC’s (Newly Industrialised Countries) die Löhne
und Einkommen derjenigen steigen, die eine Erwerbsarbeit finden. Beschäftigte z. B. bei Siemens China oder bei
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VW do Brasil werden überdurchschnittlich gut bezahlt;
folglich reißen sich die Leute dort um diese Jobs.
In dem Maße, wie deutsche Unternehmen zum „global
sourcing“ übergehen, d. h. Vorleistungen und Zulieferungen von kostengünstigeren ausländischen Anbietern
beziehen, entfällt die entsprechende Wertschöpfung
hier auf dem Standort Deutschland. Unter dem Druck
dieser Konkurrenz kommt es zu Betriebsstilllegungen
und Verlagerungen, also auch zum Abbau von Arbeitsplätzen; davon sind Arbeitskräfte in Hochlohnländern
wie Deutschland seit längerem negativ betroffen. Eine
neue Beschäftigung ist dann häufig mit Lohneinbußen
und/oder Umzug und/oder Mehrarbeit verbunden, und
setzt häufig auch höhere Qualifikationen voraus. Fehlt
es an diesen Qualifikationen oder sind Erwerbspersonen
nur schwer qualifizierbar, dann sinken ihre Arbeitsmarktchancen rapide.
Allerdings muss man auch sehen, dass osteuropäische
oder chinesische Arbeitskräfte nicht etwa auf der Basis
von Lohnkosten mit den deutschen Arbeitskräften konkurrieren, sondern auf der Basis von Lohnstückkosten, in
deren Berechnung die Produktivität eingeht (Lohnstückkosten = Verhältnis von Arbeitskosten zu Produktivität).
In dem Maße, wie die Produktivität (= Wertschöpfung je
Arbeitsstunde) bei uns höher ist, können hier auch höhere Löhne bezahlt werden, ohne dass dadurch die Konkurrenzähigkeit gefährdet wird.
3.2 Verschärfter Standortwettbewerb
Entscheidend für die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen sind unternehmensspezifische Faktoren wie Kompetenz und Motivation von Unternehmensleitung und Mitarbeitern, Produktivität, Kosteneffizienz, Innovativität,
Service usw. Bei vergleichbar effizienten Unternehmen
entscheiden dann die unterschiedlichen Standortbedingungen über Markterfolg und Rentabilität. Zu den Standortbedingungen gehören Infrastruktur, politische und
gesellschaftliche Stabilität, das Ausbildungs- und Hochschulsystem, die Forschungslandschaft, die Steuern- und
Abgabenbelastung, die Dauer von Genehmigungsverfahren, der Grad der Arbeitsmarktregulierung bis hin zur Reformbereitschaft einer Gesellschaft. Es geht also bei der
globalen Standortkonkurrenz keineswegs allein um die
Arbeitskosten, sondern um ein ganzes Bündel von standortspezifischen Kosten- und Nutzenfaktoren.
Wenn Konsumgüter kostengünstig auf Standorten in Osteuropa und Asien produziert werden, dann drängt dieses
Güterangebot auch auf unsere Märkte; nach dem Beitritt
Chinas zur WTO (World Trade Organization; Welthandelsorganisation) haben sich die chinesischen Exporte innerhalb von drei Jahren verdoppelt (Financial Times,15. 3. 06,
S. 13). Infolge dieser Konkurrenz sinken bei vielen Gütern
die Preise; dies kommt den Konsumenten zugute, weil
deren Kaufkraft dadurch steigt. Bei uns sind bestimmte
Gruppen von Produzenten = Arbeitskräften die Verlierer
der verschärften Standortkonkurrenz, qualifizierte Mitarbeiter und die Gruppe der Konsumenten dagegen sind
die Gewinner.
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12. Vom 20. ins 21. Jahrundert – das Zeitalter der Globalisierung
Wenn Kaufkraft frei wird (sowohl durch steigende Einkommen als auch durch sinkende Preise), dann kann sich
diese zusätzliche Kaufkraft auf höherwertige Güter, insbesondere Dienstleistungen verlagern (z. B. Gesundheit
und Wellness, Beratung und Kommunikation, Bildung und
Kultur), also auf Bereiche, die dem Globalisierungsdruck
nicht oder nur in geringem Maße ausgesetzt sind. Hier
liegen Chancen für neue, qualifizierte (Dienstleistungs-)
Angebote und für neue Beschäftigungssegmente.
Globalisierung bedeutet Verschärfung der Weltmarktkonkurrenz und Erhöhung des Rationalisierungsdrucks.
Dadurch steigen zwar weltweit Produktivität und Wertschöpfung, doch es kommt auch zu ‚Freisetzungen’ von
Arbeitskräften in solchen Bereichen, die an Konkurrenzfähigkeit verlieren. Chancen und Risiken der Globalisierung
liegen eng beieinander; es gibt, wie in allen Prozessen des
sozialen Wandels, Gewinner und Verlierer. Die politische
Herausforderung besteht darin, die Verlierer aus den Gewinnen so weit zu unterstützen, dass sie eine faire Chance haben, wieder Anschluss an die Arbeitsgesellschaft
zu finden. Exklusion und Hoffnungslosigkeit der Verlierer
können für eine Gesellschaft gefährlich werden.
3.3 „Race to the bottom” – Abwärtsspirale?
Manche Beobachter verbinden mit der Globalisierung die
Befürchtung, dass sich die Löhne, die sozialstaatlichen
Leistungen, die Umweltstandards und andere Errungenschaften der modernen Industrieländer im Zuge der
Standortkonkurrenz nach unten anpassen könnten. Wenn
nun auch solche Länder/Standorte in die globale Konkurrenz eintreten, die wesentlich niedrigere Standards
bezüglich der sozialen Leistungen, des Arbeitsschutzes,
des Umweltschutzes, der Mitbestimmung usw. haben,
dann könnten die europäischen Sozialstaaten genötigt
sein, einen Teil ihrer Errungenschaften aufzugeben und
sich an einem Wettrennen der Standorte um die (kosten-)
günstigsten Bedingungen zu beteiligen – an einem ‚race
to the bottom’
Wenn es tatsächlich so wäre, dass »die kapitalistischen
Wirtschaften sich ihrem ganzen Wesen nach die Orte
suchen, an denen sie mit den wenigsten Vorschriften
und sozialen Auflagen zu rechnen haben« (Thurow 1996,
S. 190), dann müssten inzwischen alle Unternehmen in
Bangladesch oder Burundi versammelt sein, weil es dort
(vermutlich) die »wenigsten Vorschriften und sozialen
Auflagen« gibt. Da diese logischen Konsequenzen in der
Realität bislang nicht zu beobachten sind, muss die Hypothese falsch sein. Offenbar hängen Standortentscheidungen noch von weiteren Faktoren ab, zum Beispiel von
der Nähe zu den wichtigsten Märkten, von öffentlichen
Leistungen und Infrastrukturen, von Kontakten zu anderen Unternehmen, von der Qualifikation der Arbeitskräfte.
Im globalisierten Weltmarkt kommt es beim Wettbewerb
um Investoren nicht auf die geringsten Sozialabgaben
an, sondern auf die Gesamtbilanz von Belastungen und
Vorteilen, also auf den Saldo von Kosten und Erträgen.
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4. Bewertung der Globalisierung
4.1 Die Globalisierung ist kein „Nullsummensspiel”
Wenn Wertschöpfungsmodule – sagen wir aus Westeuropa nach Mittel- und Osteuropa oder nach Indien – verlagert werden, dann verbessert sich dadurch langsam, aber
stetig auch die wirtschaftliche Lage in den ‚Empfängerländern’. Produktion schafft Einkommen, Einkommen schafft
Nachfrage, Nachfrage schafft zusätzliche Wertschöpfung.
Der Markt ist kein Nullsummenspiel, sondern ein Positivsummenspiel. Am Ende der Kette und auf längere Sicht
steigt das Einkommens- und Wohlstandsniveau bei allen
Beteiligten (wenn auch nicht unbedingt proportional).
Dies ist die eigentliche und entscheidende Chance der
Globalisierung. Aber, wie erwähnt, auf dem Weg dahin
gibt es nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer.
Die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland
und der steigende Import von Vorleistungen haben in
Deutschland zu Arbeitsplatzverlusten geführt, zugleich
aber auch verbleibende Arbeitsplätze produktiver gemacht und damit erhalten. Das Problem ist nicht, dass
konkurrenzunfähig gewordene Arbeitsplätze wegfallen,
sondern dass zu wenig neue, produktive und rentable
Arbeitsplätze entstehen.
Durch die fortschreitende Liberalisierung der Märkte erzeugt die Globalisierung zusätzlichen Konkurrenzdruck;
sie erzwingt Innovationen, stärkere Orientierung an
den Kundenwünschen und -ansprüchen und fordert den
Unternehmen und ihren Mitarbeitern mehr Flexibilität,
höheres Tempo, verstärkte Wissensbasierung, Lern- und
Innovationsfähigkeit ab.
Diese Entwicklung erscheint dauerhaft – und am Ende
auch vorteilhaft für Kunden und Konsumenten. Ob sie
sich per saldo günstig für die Erwerbstätigen und die Beschäftigung auswirken wird, muss sich erst noch zeigen.
Welche unterschiedlichen Bewertungen die Globalisierungstendenzen in der Wirtschaft erfahren, stehen im
folgenden Abschnitt 4.2 als Diskussionsangebot.
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4.2 Stellungnahmen zur Globalisierung –
Diskussionspunkte
Die Globalisierung geht weiter
„The global economy has proved to be resilient and ­supple.
The world continues to globalise“
(Allan Beattie, Hard to shock. In: Financial Times, 15. 3. 06, S. 13)
Märkte werden tyrannisch
„Wichtige Dimensionen von Wohlstand wie gleichmäßige Verteilung von Vermögen, Chancen und Einkommen, Schutz der Natur, soziale Sicherheit, eine stabile,
möglichst wenig krisenhaften Wirtschaftsentwicklung,
VerbraucherInnenschutz usw. können von Märkten nicht
aus sich heraus erreicht werden. Ohne einen strengen
sozial-ökologischen Regulierungsrahmen werden Märkte
vielmehr tyrannisch.“
(Sven Giegold, Die Tyrannei des freien Marktes. In: Frankfurter Rundschau,
14. 10. 2006, S. 7)
Die „brutale Dimension der Globalisierung“
Im Jahr 2005 übertrug der Siemens-Konzern seine kränkelnde Handy-Sparte dem taiwanesischen Unternehmen
Benq. Ein Jahr später meldete Benq Konkurs für die ehemaligen Siemens-Produktionstätten an. In einem Interview äußerte sich der Ökonom Rudolf Hickel dazu:
? Was sagt der Fall aus über die Veränderungen in der internationalen Wirtschaft?
Hickel: Der Fall zeigt eine neue brutale Dimension der
Globalisierung. Bisher [...] haben internationale Konzerne
ratzfatz Arbeitsplätze hier ab- und in Niedriglohnländern
wieder aufgebaut. Jetzt hat sich erstmals ein seriöses Unternehmen wie Siemens auf einen internationalen Konzern
eingelassen, dessen rücksichtslose Geschäftsstrategien bekannt sind. Siemens hätte wissen müssen, dass nach Auslaufen der Standortgarantie die Gefahr der Schließung enorm groß sein wird. Benq ist nun der alleinige Gewinner,
verloren haben die 3.000 Beschäftigten in Deutschland,
denen Arbeitslosigkeit droht. Wir erleben, wie Globalisierung zum Albtraum wird.
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? Was kann man gegen diese Globalisierungsfolgen tun?
Hickel: [...] Es müssen weltweit verbindliche Regeln erstellt
werden, die das Fehlverhalten multinationaler Konzerne
verbieten.
(Südwestpresse Ulm: Schwerer Fehler, Interview mit dem Ökonomen Rudolf
Hickel, 6.10.2006, InterviewerPatrick Guyton)
Pauschale Kritik ist falsch
Die empirische Evidenz stützt vorerst die These, dass Teilnahme an der Globalisierung Wachstum und Wohlfahrt
steigert. Die pauschale Kritik der Globalisierungsgegner
geht bis auf weiteres an den empirischen Tatsachen vorbei,
nicht aber die Kritik in konkreten Punkten.
(Dieter Duwendag: Globalisierung im Kreuzfeuer der Kritik: Gewinner und
Verlierer – globale Finanzmärkte – Supranationale Organisationen – Job-Experte, Baden Baden: Nomos 2006, S. 43)
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[Die globale Wirtschaft hat sich als widerstandsfähig und flexibel erwiesen.
Die Welt wird weiter globalisieren.]
Entglobalisierung  Kommunalisierung
„Wenn wir die genannten Probleme wirklich lösen wollen,
…, muss die Gesellschaft genau den entgegengesetzten
Weg einschlagen. Anstatt auf die Schaffung einer einzigen
globalen Wirtschaft hinzuarbeiten, die von riesigen und
immer weniger kontrollierbaren transnationalen Konzernen kontrolliert wird, müssen wir eine Vielfalt locker miteinander verbundener kommunaler Wirtschaftssysteme
anstreben.“
(Edward Goldsmith: Das letzte Wort: Ein persönlicher Kommentar. In: Jerry
Mander/Edward Goldsmith (Hg.): Schwarzbuch Globalisierung, München,
Der Riemann Verlag, 2002, S. 485 Übers.: Helmut Dierlamm/Ursel Schäfer)
Arbeitnehmer – Verbraucher – Kritiker
„Globalisierung hat viele Gesichter: Sie sorgt für Wohlstand und Armut, für neue Medikamente und Preise, die
sie den Armen vorenthalten, entwurzelt indische Bauern
und gibt zugleich einer Minderheit unter ihnen Chancen
in der gloablen Softwareindustrie. Sie dient Politikern als
Vorwand für Sozialabbau und Steuersenkungswettläufe
zugunsten der Konzerne und bietet den Globalplayern in
deren Top-Etagen die Legitimation für die Verschwendung
von Fusions-Millarden [= Kosten für Unternehmensaufkäufe oder -zusammensschlüsse], nur um auf der Weltmachtskala ein paar Ränge nach oben zu rutschen. Doch
eine globalisierte Ökonomie braucht nicht nur globale
politische Institutionen für faire Spielregeln und sozialen
Ausgleich, sondern auch die internationale Vernetzung
der Arbeitnehmer, Verbraucher und Kritiker als Regulativ.”
(Roland Bunzenthal: Globallspiele. In. Frankfurter Rundschau, 26. 1. 2004,
S. 9)
Es gibt keine Verlierer
„Im Gegensatz zu den Globalisierungskritikern meine ich,
dass es keine wirklichen Verlierer durch die Globalisierung
gibt. Zwar gibt es Gesellschaften, die hinter andere zurückfallen, insbesondere in Afrika, aber eher dadurch, dass sie
an der Globalisierung nicht teilnehmen als umgekehrt [...]
Einige Länder kommen in der Tat im Verlauf der Globalisierung schlecht weg, z. B. diejenigen, die sich weigern,
sich den schnellen Veränderungen anzupassen.“
(Heinz-Olaf Henkel, Das sympathische Dreieck. in: Frankfurter Rundschau
14. 10. 2006, S. 7)
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Arbeitsvorschläge
Aufgabe 1
Lesen Sie bitte den Vorspann zum Thema „Die Globalisierung der Wirtschaft“ durch:
a) Welche Länder bzw. Regionen sind an der Produktion des Kreuzfahrtschiffs und welche
an der Produktion der Dienstleistung ‚Kreuzfahrt’ beteiligt?
b)Überprüfen Sie, welche Distanzen zwischen diesen Orten liegen.
Aufgabe 2
Wirtschaftsstandorte stehen im Wettbewerb untereinander (siehe Abschnitt 3.2):
a) Worum geht es beim Standortwettbewerb?
b)Wonach schauen Unternehmen, wenn sie sich für einen Standort entscheiden?
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Aufgabe 3
Im Abschnitt 3.3 geht es um mögliche Folgen internationaler wirtschaftlicher
Konkurrenz:
a) Was ist damit gemeint, wenn ein „race to the bottom” befürchtet wird?
Aufgabe 4
In 4.2 werden unterschiedliche Standpunkte zur wirtschaftlichen Globalisierung
aufgeführt:
a) Verteilen Sie diese Standpunkte untereinander und vertreten Sie die Ihnen zugeteilte
oder auch zugeloste Position: Welche Annahmen und welche Forderungen stehen jeweils dahinter? Versuchen Sie, möglichst überzeugende Argumente für die von Ihnen
zu vertretende Position zu finden – und Gegenargumente gegen die der anderen.
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