Geschichte und Geschehen – Oberstufe Rheinland-Pfalz 12. Vom 20. ins 21. Jahrundert – das Zeitalter der Globalisierung Die Globalisierung der Wirtschaft: Ursachen – Auswirkungen – Bewertungen Das weltweit größte Kreuzfahrtschiff „Freedom Of The Seas“ ist weit mehr als eine schwimmende Marzipantorte. Es ist zugleich das Wahrzeichen einer boomenden Milliardenbranche. Und sie ist in all ihrer logistischen Effizienz, nimmermüden Mobilität und Weltläufigkeit, in all ihrer Gier nach Größe und Profit vor allem ein Fanal der Generation Globalisierung. Gebaut auf der Aker-Werft im finnischen Turku, eingerichtet und fertiggestellt in Hamburg, getauft in New York. Die „Freedom“-Reederei Royal Caribbean International (RCI) ist in Miami beheimatet, das Schiff aber steuersparend und lohnkostensenkend auf den Bahamas registriert – wie die meisten der Branche. Zum Einsatzort wird nun die Karibik. Dieses Welt-Schiff ist ein multinationales Wunder wie seine Crew: 1.400 Mitarbeiter aus 65 Ländern, und natürlich wird auch hier an Bord die Führungsspitze noch immer von Amerikanern und Vertretern des alten Europa gebildet. Im hierarchischen Mittel- und vor allem Unterbau findet man schon lange keine Deutschen mehr. Viele Jahre regierte dort der Ostblock. Tschechen oder Polen galten als pünktlich und billig – wenn auch oft charmant wie ein eiserner Vorhang. Die „Freedom“ erlebt auch da nun eine neue Freiheit – die der EU-Erweiterung. Denn für viele Osteuropäer lohnt sich das Meer plötzlich kaum noch. Also werden verstärkt Filipinos eingestellt oder Inder. Auch Chinesen seien schwer im Kommen[…] Dieses Schiff […] ist ein 160.000 Bruttoregistertonnen schweres Versprechen, dass der Kapitalismus gewonnen hat. Dass es immer weitergeht. Vorwärts. (Quelle: Spiegel.online vom 9.10.06; www.spiegel.de/spiegel/0,1518,441721,00.html) 1. Was ist eigentlich so neu an der Globalisierung? 12 Der obige Bericht über die „Freedom Of The Seas“ illustriert einige charakteristische Merkmale des aktuellen Globalisierungsprozesses: • globaler Tourismus als Milliardengeschäft; • Arbeitsteilung und Spezialisierung zwischen verschiedenen • Ländern und Standorten zur Produktion hochkomplexer Güter (wie Kreuzfahrtschiffe); • Verlagerung von Unternehmen auf Standorte, die kostengünstig sind und Steuervorteile bieten; • multinationale Zusammenarbeit bei der Bereitstellung aufwändiger Dienstleistungen („1.400 Mitarbeiter aus 65 Ländern“ an Bord); • Einbeziehung immer neuer Gruppen von Arbeitskräften je nach Lohnentwicklung in den Herkunftsländern (erst Deutsche, dann Osteuropäer, jetzt Filipinos und Chinesen bei ‚einfachen’ Jobs …); • globaler Sieg des Kapitalismus: Luxus für Kreuzfahrttouristen bei weiterhin bestehender weltweiter Armut. So anschaulich dieses Beispiel und die geschilderten Einzelheiten sind – wenn man verstehen will, was es mit der Globalisierung auf sich hat, welche Triebkräfte dahinter stecken und mit welchen Auswirkungen zu rechnen ist, dann muss man doch etwas grundsätzlicher herangehen und hinter die Kulissen schauen. Viele Unternehmen sind heute weltweit tätig und haben Niederlassungen und Produktionsstätten auf allen Kontinenten. Wirtschaften beruht auf Arbeitsteilung und Tausch; der Austausch arbeitsteilig produzierter Güter ermöglicht Spezialisierung (im Idealfall macht jeder, was er am besten kann); Spezialisierung führt zu steigender Produktivität und zu höherer Wertschöpfung. Diese Zusammenhänge gelten für eine Dorfgemeinschaft, auf nationaler Ebene und global. Auch die Weltwirtschaft beruht auf dem Austausch und der Kombination von spezialisierten Gütern (Produkten, Dienstleistungen, Kapital, Wissen). © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2010 | www.klett.de | Alle Rechte vorbehalten Von dieser Druckvorlage ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die Kopiergebühren sind abgegolten. Ein solcher Austausch findet statt, weil er den Beteiligten Nutzen bringt. Ohne wechselseitigen Nutzen würde ein Tausch unterbleiben. Tauschtransaktionen sind allerdings nur möglich, wenn sie nicht behindert werden – etwa durch Import- oder Exportverbote, hohe Zölle, technische Handelsbeschränkungen, Kapitalverkehrskontrollen, Abschottung von Märkten usw. Daraus ergibt sich als erste Bedingung für den Globalisierungsprozess die „Entgrenzung“ der nationalen Wirtschaften durch Abbau von Beschränkungen des grenzüberschreitenden Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs. Weltweiter Zollabbau und Deregulierung haben zu einer beispiellosen Intensivierung des Güteraustauschs geführt – die Exporte sind global sehr viel schneller gewachsen als das Weltinlandsprodukt. Der Begriff Globalisierung bezeichnet zum einen neuartige Formen der weltwirtschaftlichen Integration (internationaler Handel, zunehmende Verflechtung von Unternehmen und Standorten durch Direktinvestitionen, globale Finanz- und Kapitalmärkte, weltumspannende Transport-, Informations- und Kommunikationsnetze usw.); zum anderen schließt er auch kulturelle und weltgesellschaftliche Aspekte mit ein – nicht zuletzt eine Art globaler Sprache: „Sorry, der einzige hot spot für wireless LAN ist in der Hotellobby“ (Der Spiegel). Wertschöpfung entsteht in der Güterproduktion durch den Einsatz von Produktionsfaktoren. Die Wertschöpfung entspricht dem Marktwert der produzierten Waren und Dienstleistungen. Die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung wird im Bruttoinlandsprodukt erfasst. Übersicht 1 ISBN: 978-3-12-430019-5 1 Geschichte und Geschehen – Oberstufe Rheinland-Pfalz 12. Vom 20. ins 21. Jahrundert – das Zeitalter der Globalisierung Die Öffnung Osteuropas und Chinas haben dem Globalisierungsprozess noch zusätzlichen Schub verliehen. Gewiss gab es auch früher schon internationalen Handel und weltwirtschaftliche Arbeitsteilung. Das Besondere an der heutigen Globalisierung besteht in der neuen Qualität der weltwirtschaftlichen Verflechtung. Diese Verflechtung auf der Unternehmens- und Kapitalebene ist das Ergebnis von „Direktinvestitionen“ (Übersichten 1 und 2). In der Phase der Internationalisierung (bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts) exportierten die Industrieländer vor allem Industrieprodukte in die weniger entwickelten Länder und führten im Gegenzug Rohstoffe und Vorprodukte ein. Heute – in der Epoche der Globalisierung – errichten viele Unternehmen eigene Produktionskapazitäten auf den früheren Exportmärkten: So hat z. B. VW anfangs nur in Wolfsburg produziert und Autos von dort aus exportiert; heute produziert VW weltweit auf 30 Standorten, u. a. in Mexiko, Brasilien, Südafrika, China und Indien. Direktinvestitionen • Direktinvestitionen sind Sachkapitalanlagen von Unternehmen auf ausländischen Standorten. Damit werden Tochterunternehmen und Zweigniederlassungen errichtet oder Beteiligungen an Gemeinschaftsunternehmen erworben (‚joint ventures’). „Die internationale Kapitalverflechtung von Unternehmen ist in den letzten Jahren zum bedeutendsten Merkmal der Globalisierung geworden.“ (HWWA, Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv) • Durch Direktinvestitionen wird aber nicht nur Kapital auf ausländische Märkte und Standorte transferiert, sondern – ganz wesentlich – auch technisches und unternehmerisches Wissen (‚Know-how’, Patente und Lizenzen). • Global orientierte Unternehmen bauen über Direktinvestitionen eine eigene Präsenz in expandierenden Märkten auf (z. B. China, Indien, Lateinamerika). Indem sie Vorleistungen von der heimische Zulieferindustrie beziehen, wird auch die Wirtschaft des Gastlandes gestärkt. • Leitendes Motiv für Direktinvestitionen ist weniger die Ausnutzung von Kostenunterschieden als vielmehr die Sicherung und weitere Erschließung ausländischer Märkte, die Nähe zu den Kunden sowie ein besserer Schutz vor Währungsschwankungen und Handelsbeschränkungen. Entsprechend spielen sich ca. 75 % der Direktinvestitionen innerhalb der Industrieländer ab und weniger als 25 % entfallen auf sogenannte Niedriglohnländer. 2. Ursachen der Globalisierung Als komplexer weltgesellschaftlicher Entwicklungsprozess ist die Globalisierung durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt. Hier können nur die wichtigsten Ursachen der weltwirtschaftlichen Globalisierung knapp zusammengefasst werden: • Abbau von Handelshemmnissen, Zöllen, Kapital- und Devisenverkehrsbeschränkungen, eine fortschreitende Öffnung der Märkte (Osteuropa, China, Indien) und Deregulierung (Übersicht 2) der Weltwirtschaft. • Technische Innovationen im Transportwesen (Containerschiffe, Flugverkehr, Pipelines usw.) und im Informations- und Kommunikationswesen (Computer, Internet, Handy, Satellitenfunk usw.). • Diese Innovationen führten zu einer beträchtlichen Ausweitung der Transport- und Kommunikationskapazitäten und zu dramatischen Kostensenkungen. Deregulierung Abbau von Regulierungen, d. h. von staatlichen und internationalen Vorschriften, also Geboten, Verboten und anderen Auflagen. Diese Liberalisierung soll Märkte und marktwirtschaftliche Prozesse ermöglichen. Modularisierung der Wertschöpfungskette • Um z. B. einen VW-Golf auf den Markt zu bringen, sind viele Schritte erforderlich – von der Planung über die Produktion bis zu Verkauf und Finanzierung. Den Gesamtprozess der wirtschaftlichen Leistungserstellung eines Unternehmens nennt man seine ‚Wertschöpfungskette’. Die einzelnen Elemente (‚Module’) dieser Wertschöpfungskette bestehen aus betrieblichen Teilleistungen (z. B. Beschaffung und Einkauf, Forschung und Entwicklung, Design, Produktion, Endmontage, EDV, Logistik, Marketing, Kundenbeziehungen, Finanzierung, Gebäude- und Anlagenmanagement, Weiterbildung, Beratung usw.). • Während früher alle Wertschöpfungsmodule meist an einem Standort vereint waren (bei VW z. B. in Wolfsburg), können heute einzelne Module aus der Wertschöpfungskette herausgenommen und auf kostengünstigere Standorte verlagert werden. Das geschieht heute insbesondere bei arbeits- und also lohnkostenintensiven Modulen. Gewinner solcher Verlagerungen sind Länder/Standorte, in denen neue Fabrikationsstätten und Arbeitsplätze entstehen. Verlierer sind Arbeitnehmer, deren Betriebe geschlossen und verlagert werden; besonders betroffen sind hier Arbeitskräfte mit relativ niedrigen Qualifikationen und deshalb geringeren Chancen auf dem Arbeitsmarkt. 12 Übersicht 2 © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2010 | www.klett.de | Alle Rechte vorbehalten Von dieser Druckvorlage ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die Kopiergebühren sind abgegolten. ISBN: 978-3-12-430019-5 2 Geschichte und Geschehen – Oberstufe Rheinland-Pfalz 12. Vom 20. ins 21. Jahrundert – das Zeitalter der Globalisierung Sinkende Transaktionskosten und hohe Geschwindigkeiten bei Transport und Kommunikation machen es ökonomisch lohnend, den Wertschöpfungsprozess in Teilbereiche aufzuspalten, zu modularisieren (siehe Übersicht 2). Dadurch können einzelne Wertschöpfungsmodule auf die jeweils günstigsten Standorte verlagert werden. Dezentralisierte Wertschöpfungsnetze erfordern einen hohen Aufwand an Koordination und Austausch, der nur mit leistungsfähigen und kostengünstigen Techniken zu bewältigen ist. • Direktinvestitionen (Übersicht 2) schaffen eine weltwirtschaftliche Verflechtung auf der Unternehmensund Kapitalebene. Unternehmen bauen in anderen Ländern Produktionsstätten auf und/oder beteiligen sich an dortigen Unternehmen (‘joint ventures’). Damit sind sie mit Wertschöpfungskapazitäten auf ihren früheren Exportmärkten und auf den neuen Wachstumsmärkten unmittelbar präsent. • Der Wunsch vieler Menschen nach einem besseren Leben: Alle zuvor genannten technischen und politischen Faktoren wären belanglos, wenn es nicht diesen unbändigen Wunsch der Menschen nach einer Verbesserung ihrer Lebenssituation gäbe – bei uns, aber noch virulenter in weniger entwickelten Regionen wie Mittel- und Osteuropa oder Südostasien. Diese Motivation ist eine wichtige Triebkraft der Globalisierung. Der ökonomische Kern der weltwirtschaftlichen Verflechtung besteht somit in der Ausweitung und Liberalisierung der Märkte, in der Beseitigung von bislang bestehenden Handelshemmnissen, in einer Intensivierung der internationalen Arbeitsteilung und daraus folgend in der zunehmenden Integration der Weltwirtschaft. Diese vielfältigen Prozesse der Vernetzung werden durch Fortschritte in der Telekommunikation und im Transportwesen ermöglicht und beschleunigt. Am Ende dieser Entwicklung steht die ‚Aufhebung der Entfernung’: Räumliche Distanzen spielen dann im Vergleich zu den Produktions- und Standortkosten keine wesentliche Rolle mehr. Vielmehr rücken nun die Vor- und Nachteile der verschiedenen Standorte ins Zentrum der unternehmerischen Kalkulation. 3. Auswirkungen der Globalisierung 12 3.1 Verdoppelung des Arbeitskräfteangebots Die weltweite Öffnung der Märkte im Zuge der Globalisierung hat effektiv zu einer Verdopplung des globalen Arbeitskräfteangebots geführt. Wenn Fahrräder, Spielzeug, Waschmaschinen oder Autos billiger in Südkorea oder China produziert und Callcenter günstiger in Indien betrieben werden können, dann entsteht zwischen den dortigen Arbeitskräften und den Arbeitskräften hier eine Konkurrenz um Wertschöpfungschancen und Arbeitsplätze. Diese Konkurrenz führt hier zu einem Druck auf die Löhne insbesondere der gering Qualifizierten – während in vielen NIC’s (Newly Industrialised Countries) die Löhne und Einkommen derjenigen steigen, die eine Erwerbsarbeit finden. Beschäftigte z. B. bei Siemens China oder bei © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2010 | www.klett.de | Alle Rechte vorbehalten Von dieser Druckvorlage ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die Kopiergebühren sind abgegolten. VW do Brasil werden überdurchschnittlich gut bezahlt; folglich reißen sich die Leute dort um diese Jobs. In dem Maße, wie deutsche Unternehmen zum „global sourcing“ übergehen, d. h. Vorleistungen und Zulieferungen von kostengünstigeren ausländischen Anbietern beziehen, entfällt die entsprechende Wertschöpfung hier auf dem Standort Deutschland. Unter dem Druck dieser Konkurrenz kommt es zu Betriebsstilllegungen und Verlagerungen, also auch zum Abbau von Arbeitsplätzen; davon sind Arbeitskräfte in Hochlohnländern wie Deutschland seit längerem negativ betroffen. Eine neue Beschäftigung ist dann häufig mit Lohneinbußen und/oder Umzug und/oder Mehrarbeit verbunden, und setzt häufig auch höhere Qualifikationen voraus. Fehlt es an diesen Qualifikationen oder sind Erwerbspersonen nur schwer qualifizierbar, dann sinken ihre Arbeitsmarktchancen rapide. Allerdings muss man auch sehen, dass osteuropäische oder chinesische Arbeitskräfte nicht etwa auf der Basis von Lohnkosten mit den deutschen Arbeitskräften konkurrieren, sondern auf der Basis von Lohnstückkosten, in deren Berechnung die Produktivität eingeht (Lohnstückkosten = Verhältnis von Arbeitskosten zu Produktivität). In dem Maße, wie die Produktivität (= Wertschöpfung je Arbeitsstunde) bei uns höher ist, können hier auch höhere Löhne bezahlt werden, ohne dass dadurch die Konkurrenzähigkeit gefährdet wird. 3.2 Verschärfter Standortwettbewerb Entscheidend für die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen sind unternehmensspezifische Faktoren wie Kompetenz und Motivation von Unternehmensleitung und Mitarbeitern, Produktivität, Kosteneffizienz, Innovativität, Service usw. Bei vergleichbar effizienten Unternehmen entscheiden dann die unterschiedlichen Standortbedingungen über Markterfolg und Rentabilität. Zu den Standortbedingungen gehören Infrastruktur, politische und gesellschaftliche Stabilität, das Ausbildungs- und Hochschulsystem, die Forschungslandschaft, die Steuern- und Abgabenbelastung, die Dauer von Genehmigungsverfahren, der Grad der Arbeitsmarktregulierung bis hin zur Reformbereitschaft einer Gesellschaft. Es geht also bei der globalen Standortkonkurrenz keineswegs allein um die Arbeitskosten, sondern um ein ganzes Bündel von standortspezifischen Kosten- und Nutzenfaktoren. Wenn Konsumgüter kostengünstig auf Standorten in Osteuropa und Asien produziert werden, dann drängt dieses Güterangebot auch auf unsere Märkte; nach dem Beitritt Chinas zur WTO (World Trade Organization; Welthandelsorganisation) haben sich die chinesischen Exporte innerhalb von drei Jahren verdoppelt (Financial Times,15. 3. 06, S. 13). Infolge dieser Konkurrenz sinken bei vielen Gütern die Preise; dies kommt den Konsumenten zugute, weil deren Kaufkraft dadurch steigt. Bei uns sind bestimmte Gruppen von Produzenten = Arbeitskräften die Verlierer der verschärften Standortkonkurrenz, qualifizierte Mitarbeiter und die Gruppe der Konsumenten dagegen sind die Gewinner. ISBN: 978-3-12-430019-5 3 Geschichte und Geschehen – Oberstufe Rheinland-Pfalz 12. Vom 20. ins 21. Jahrundert – das Zeitalter der Globalisierung Wenn Kaufkraft frei wird (sowohl durch steigende Einkommen als auch durch sinkende Preise), dann kann sich diese zusätzliche Kaufkraft auf höherwertige Güter, insbesondere Dienstleistungen verlagern (z. B. Gesundheit und Wellness, Beratung und Kommunikation, Bildung und Kultur), also auf Bereiche, die dem Globalisierungsdruck nicht oder nur in geringem Maße ausgesetzt sind. Hier liegen Chancen für neue, qualifizierte (Dienstleistungs-) Angebote und für neue Beschäftigungssegmente. Globalisierung bedeutet Verschärfung der Weltmarktkonkurrenz und Erhöhung des Rationalisierungsdrucks. Dadurch steigen zwar weltweit Produktivität und Wertschöpfung, doch es kommt auch zu ‚Freisetzungen’ von Arbeitskräften in solchen Bereichen, die an Konkurrenzfähigkeit verlieren. Chancen und Risiken der Globalisierung liegen eng beieinander; es gibt, wie in allen Prozessen des sozialen Wandels, Gewinner und Verlierer. Die politische Herausforderung besteht darin, die Verlierer aus den Gewinnen so weit zu unterstützen, dass sie eine faire Chance haben, wieder Anschluss an die Arbeitsgesellschaft zu finden. Exklusion und Hoffnungslosigkeit der Verlierer können für eine Gesellschaft gefährlich werden. 3.3 „Race to the bottom” – Abwärtsspirale? Manche Beobachter verbinden mit der Globalisierung die Befürchtung, dass sich die Löhne, die sozialstaatlichen Leistungen, die Umweltstandards und andere Errungenschaften der modernen Industrieländer im Zuge der Standortkonkurrenz nach unten anpassen könnten. Wenn nun auch solche Länder/Standorte in die globale Konkurrenz eintreten, die wesentlich niedrigere Standards bezüglich der sozialen Leistungen, des Arbeitsschutzes, des Umweltschutzes, der Mitbestimmung usw. haben, dann könnten die europäischen Sozialstaaten genötigt sein, einen Teil ihrer Errungenschaften aufzugeben und sich an einem Wettrennen der Standorte um die (kosten-) günstigsten Bedingungen zu beteiligen – an einem ‚race to the bottom’ Wenn es tatsächlich so wäre, dass »die kapitalistischen Wirtschaften sich ihrem ganzen Wesen nach die Orte suchen, an denen sie mit den wenigsten Vorschriften und sozialen Auflagen zu rechnen haben« (Thurow 1996, S. 190), dann müssten inzwischen alle Unternehmen in Bangladesch oder Burundi versammelt sein, weil es dort (vermutlich) die »wenigsten Vorschriften und sozialen Auflagen« gibt. Da diese logischen Konsequenzen in der Realität bislang nicht zu beobachten sind, muss die Hypothese falsch sein. Offenbar hängen Standortentscheidungen noch von weiteren Faktoren ab, zum Beispiel von der Nähe zu den wichtigsten Märkten, von öffentlichen Leistungen und Infrastrukturen, von Kontakten zu anderen Unternehmen, von der Qualifikation der Arbeitskräfte. Im globalisierten Weltmarkt kommt es beim Wettbewerb um Investoren nicht auf die geringsten Sozialabgaben an, sondern auf die Gesamtbilanz von Belastungen und Vorteilen, also auf den Saldo von Kosten und Erträgen. © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2010 | www.klett.de | Alle Rechte vorbehalten Von dieser Druckvorlage ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die Kopiergebühren sind abgegolten. 4. Bewertung der Globalisierung 4.1 Die Globalisierung ist kein „Nullsummensspiel” Wenn Wertschöpfungsmodule – sagen wir aus Westeuropa nach Mittel- und Osteuropa oder nach Indien – verlagert werden, dann verbessert sich dadurch langsam, aber stetig auch die wirtschaftliche Lage in den ‚Empfängerländern’. Produktion schafft Einkommen, Einkommen schafft Nachfrage, Nachfrage schafft zusätzliche Wertschöpfung. Der Markt ist kein Nullsummenspiel, sondern ein Positivsummenspiel. Am Ende der Kette und auf längere Sicht steigt das Einkommens- und Wohlstandsniveau bei allen Beteiligten (wenn auch nicht unbedingt proportional). Dies ist die eigentliche und entscheidende Chance der Globalisierung. Aber, wie erwähnt, auf dem Weg dahin gibt es nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland und der steigende Import von Vorleistungen haben in Deutschland zu Arbeitsplatzverlusten geführt, zugleich aber auch verbleibende Arbeitsplätze produktiver gemacht und damit erhalten. Das Problem ist nicht, dass konkurrenzunfähig gewordene Arbeitsplätze wegfallen, sondern dass zu wenig neue, produktive und rentable Arbeitsplätze entstehen. Durch die fortschreitende Liberalisierung der Märkte erzeugt die Globalisierung zusätzlichen Konkurrenzdruck; sie erzwingt Innovationen, stärkere Orientierung an den Kundenwünschen und -ansprüchen und fordert den Unternehmen und ihren Mitarbeitern mehr Flexibilität, höheres Tempo, verstärkte Wissensbasierung, Lern- und Innovationsfähigkeit ab. Diese Entwicklung erscheint dauerhaft – und am Ende auch vorteilhaft für Kunden und Konsumenten. Ob sie sich per saldo günstig für die Erwerbstätigen und die Beschäftigung auswirken wird, muss sich erst noch zeigen. Welche unterschiedlichen Bewertungen die Globalisierungstendenzen in der Wirtschaft erfahren, stehen im folgenden Abschnitt 4.2 als Diskussionsangebot. 12 ISBN: 978-3-12-430019-5 4 Geschichte und Geschehen – Oberstufe Rheinland-Pfalz 12. Vom 20. ins 21. Jahrundert – das Zeitalter der Globalisierung 4.2 Stellungnahmen zur Globalisierung – Diskussionspunkte Die Globalisierung geht weiter „The global economy has proved to be resilient and ­supple. The world continues to globalise“ (Allan Beattie, Hard to shock. In: Financial Times, 15. 3. 06, S. 13) Märkte werden tyrannisch „Wichtige Dimensionen von Wohlstand wie gleichmäßige Verteilung von Vermögen, Chancen und Einkommen, Schutz der Natur, soziale Sicherheit, eine stabile, möglichst wenig krisenhaften Wirtschaftsentwicklung, VerbraucherInnenschutz usw. können von Märkten nicht aus sich heraus erreicht werden. Ohne einen strengen sozial-ökologischen Regulierungsrahmen werden Märkte vielmehr tyrannisch.“ (Sven Giegold, Die Tyrannei des freien Marktes. In: Frankfurter Rundschau, 14. 10. 2006, S. 7) Die „brutale Dimension der Globalisierung“ Im Jahr 2005 übertrug der Siemens-Konzern seine kränkelnde Handy-Sparte dem taiwanesischen Unternehmen Benq. Ein Jahr später meldete Benq Konkurs für die ehemaligen Siemens-Produktionstätten an. In einem Interview äußerte sich der Ökonom Rudolf Hickel dazu: ? Was sagt der Fall aus über die Veränderungen in der internationalen Wirtschaft? Hickel: Der Fall zeigt eine neue brutale Dimension der Globalisierung. Bisher [...] haben internationale Konzerne ratzfatz Arbeitsplätze hier ab- und in Niedriglohnländern wieder aufgebaut. Jetzt hat sich erstmals ein seriöses Unternehmen wie Siemens auf einen internationalen Konzern eingelassen, dessen rücksichtslose Geschäftsstrategien bekannt sind. Siemens hätte wissen müssen, dass nach Auslaufen der Standortgarantie die Gefahr der Schließung enorm groß sein wird. Benq ist nun der alleinige Gewinner, verloren haben die 3.000 Beschäftigten in Deutschland, denen Arbeitslosigkeit droht. Wir erleben, wie Globalisierung zum Albtraum wird. 12 ? Was kann man gegen diese Globalisierungsfolgen tun? Hickel: [...] Es müssen weltweit verbindliche Regeln erstellt werden, die das Fehlverhalten multinationaler Konzerne verbieten. (Südwestpresse Ulm: Schwerer Fehler, Interview mit dem Ökonomen Rudolf Hickel, 6.10.2006, InterviewerPatrick Guyton) Pauschale Kritik ist falsch Die empirische Evidenz stützt vorerst die These, dass Teilnahme an der Globalisierung Wachstum und Wohlfahrt steigert. Die pauschale Kritik der Globalisierungsgegner geht bis auf weiteres an den empirischen Tatsachen vorbei, nicht aber die Kritik in konkreten Punkten. (Dieter Duwendag: Globalisierung im Kreuzfeuer der Kritik: Gewinner und Verlierer – globale Finanzmärkte – Supranationale Organisationen – Job-Experte, Baden Baden: Nomos 2006, S. 43) © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2010 | www.klett.de | Alle Rechte vorbehalten Von dieser Druckvorlage ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die Kopiergebühren sind abgegolten. [Die globale Wirtschaft hat sich als widerstandsfähig und flexibel erwiesen. Die Welt wird weiter globalisieren.] Entglobalisierung Kommunalisierung „Wenn wir die genannten Probleme wirklich lösen wollen, …, muss die Gesellschaft genau den entgegengesetzten Weg einschlagen. Anstatt auf die Schaffung einer einzigen globalen Wirtschaft hinzuarbeiten, die von riesigen und immer weniger kontrollierbaren transnationalen Konzernen kontrolliert wird, müssen wir eine Vielfalt locker miteinander verbundener kommunaler Wirtschaftssysteme anstreben.“ (Edward Goldsmith: Das letzte Wort: Ein persönlicher Kommentar. In: Jerry Mander/Edward Goldsmith (Hg.): Schwarzbuch Globalisierung, München, Der Riemann Verlag, 2002, S. 485 Übers.: Helmut Dierlamm/Ursel Schäfer) Arbeitnehmer – Verbraucher – Kritiker „Globalisierung hat viele Gesichter: Sie sorgt für Wohlstand und Armut, für neue Medikamente und Preise, die sie den Armen vorenthalten, entwurzelt indische Bauern und gibt zugleich einer Minderheit unter ihnen Chancen in der gloablen Softwareindustrie. Sie dient Politikern als Vorwand für Sozialabbau und Steuersenkungswettläufe zugunsten der Konzerne und bietet den Globalplayern in deren Top-Etagen die Legitimation für die Verschwendung von Fusions-Millarden [= Kosten für Unternehmensaufkäufe oder -zusammensschlüsse], nur um auf der Weltmachtskala ein paar Ränge nach oben zu rutschen. Doch eine globalisierte Ökonomie braucht nicht nur globale politische Institutionen für faire Spielregeln und sozialen Ausgleich, sondern auch die internationale Vernetzung der Arbeitnehmer, Verbraucher und Kritiker als Regulativ.” (Roland Bunzenthal: Globallspiele. In. Frankfurter Rundschau, 26. 1. 2004, S. 9) Es gibt keine Verlierer „Im Gegensatz zu den Globalisierungskritikern meine ich, dass es keine wirklichen Verlierer durch die Globalisierung gibt. Zwar gibt es Gesellschaften, die hinter andere zurückfallen, insbesondere in Afrika, aber eher dadurch, dass sie an der Globalisierung nicht teilnehmen als umgekehrt [...] Einige Länder kommen in der Tat im Verlauf der Globalisierung schlecht weg, z. B. diejenigen, die sich weigern, sich den schnellen Veränderungen anzupassen.“ (Heinz-Olaf Henkel, Das sympathische Dreieck. in: Frankfurter Rundschau 14. 10. 2006, S. 7) ISBN: 978-3-12-430019-5 5 Geschichte und Geschehen – Oberstufe Rheinland-Pfalz 12. Vom 20. ins 21. Jahrundert – das Zeitalter der Globalisierung Arbeitsvorschläge Aufgabe 1 Lesen Sie bitte den Vorspann zum Thema „Die Globalisierung der Wirtschaft“ durch: a) Welche Länder bzw. Regionen sind an der Produktion des Kreuzfahrtschiffs und welche an der Produktion der Dienstleistung ‚Kreuzfahrt’ beteiligt? b)Überprüfen Sie, welche Distanzen zwischen diesen Orten liegen. Aufgabe 2 Wirtschaftsstandorte stehen im Wettbewerb untereinander (siehe Abschnitt 3.2): a) Worum geht es beim Standortwettbewerb? b)Wonach schauen Unternehmen, wenn sie sich für einen Standort entscheiden? 12 Aufgabe 3 Im Abschnitt 3.3 geht es um mögliche Folgen internationaler wirtschaftlicher Konkurrenz: a) Was ist damit gemeint, wenn ein „race to the bottom” befürchtet wird? Aufgabe 4 In 4.2 werden unterschiedliche Standpunkte zur wirtschaftlichen Globalisierung aufgeführt: a) Verteilen Sie diese Standpunkte untereinander und vertreten Sie die Ihnen zugeteilte oder auch zugeloste Position: Welche Annahmen und welche Forderungen stehen jeweils dahinter? Versuchen Sie, möglichst überzeugende Argumente für die von Ihnen zu vertretende Position zu finden – und Gegenargumente gegen die der anderen. © Ernst Klett Verlag GmbH, Stuttgart 2010 | www.klett.de | Alle Rechte vorbehalten Von dieser Druckvorlage ist die Vervielfältigung für den eigenen Unterrichtsgebrauch gestattet. Die Kopiergebühren sind abgegolten. ISBN: 978-3-12-430019-5 6