"Versorgung mit Psychotherapie ist beschämend"

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PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN
"Versorgung mit Psychotherapie ist beschämend"
22. Jänner 2012 17:01
Der Bundesverband der Psychotherapeuten
fordert Maßnahmen vom Hauptverband der
Sozialversicherungsträger
Psychotherapie wird in Österreich viel zu selten
von den Krankenkassen finanziert, beklagt die
Psychotherapeutin Eva Mückstein. Christoph
Klein vom Hauptverband ortet historische
Ursachen.
Foto: Standard/Heribert Corn/corn.at
Christoph Klein und Eva Mückstein diskutierten
Standard: In Österreich wurde die
Psychotherapie erfunden, der Berufsverband der
Psychotherapeuten ortet aber eine krasse
Unterversorgung. Inwiefern?
Mückstein: Wir gehen davon aus, dass
mindestens 110.000 Menschen in Österreich eine
Psychotherapie bräuchten, denn laut Schätzungen hat jeder Vierte im Laufe seines Lebens ein
Risiko, psychisch zu erkranken. Nur 70.000 Menschen nehmen in Österreich Psychotherapie in
Anspruch. 35. 000 bekommen die Behandlung von den Kassen finanziert und werden in
Versorgungseinrichtungen betreut, 30.000 müssen die sogenannte Kostenzuschussregelung in
Anspruch nehmen, sie zahlen die Psychotherapie privat, bekommen aber von den Kassen pro
Sitzung nur 21,80 Euro ersetzt. Dieser Betrag wurde seit Jahren nicht erhöht. Mehr als die Hälfte der
Betroffenen hat entweder kein oder nur ein geringes Einkommen, sie können sich diese Therapie
also kaum leisten. Drastisch formuliert, werden psychisch Kranke in unserem Lande im Hinblick auf
die Behandlungsmöglichkeit Psychotherapie diskriminiert. Man könnte von unterlassener
Hilfeleistung sprechen.
Klein: Das stimmt so nicht. Psychotherapie ist eine wichtige, aber verglichen mit der Medizin junge
Leistung, die von den Kassen laufend ausgebaut wurde. Wir sind auf einem Niveau, das heute über
dem liegt, das der Gesetzgeber mit der dafür gewidmeten Beitragserhöhung zur Verfügung gestellt
hat. Zu den von Ihnen erwähnten 70.000 werden übrigens weitere 65.000 Menschen von Ärzten mit
psychotherapeutischer Ausbildung betreut. Das sind meist kürzere Behandlungen, die nicht
geringzuschätzen sind, zumal viele ja immer noch Scheu haben, zum Psychotherapeuten zu gehen,
diese Hilfe aber gut annehmen können. Wir wollen die Versorgung trotz des Drucks zu sparen weiter
verbessern, liegen aber auch jetzt nicht so schlecht, wie manchmal behauptet wird.
Mückstein: Die Behandlung durch einen Arzt mit Psy-Diplom ist aber doch keineswegs als
Psychotherapie einzustufen. Psychotherapie hat sehr geordnete Rahmenbedingungen. Sie ist
längerfristig angelegt, denn Veränderungs- oder Bewältigungsprozesse brauchen Zeit. Insofern ist
Ihre Rechnung falsch, ein Scheinargument, um die Situation besser darzustellen. Dazu der
internationale Vergleich: Bei uns liegt der Versorgungsgrad für Psychotherapie bei 0,8 Prozent,
europaweit ist das beschämend wenig. In den deutschsprachigen Nachbarländern nehmen 2,5
Prozent der Bevölkerung diese Behandlung in Anspruch - und zwar voll finanziert durch die
Krankenkasse.
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Standard: Konnte der Hauptverband eine Unterversorgung bei psychisch kranken Menschen durch
Psychotherapie feststellen?
Klein: Wir haben in Österreich generell zu wenig solide epidemiologische Daten, an denen
Versorgungspolitik ansetzen könnte. Weil psychische Gesundheit ein wichtiges Thema für uns ist,
sind wir dabei, eine Strategie zu entwickeln, die auf einem von uns selbst erhobenen und 2011
veröffentlichten Überblick über die Versorgungssituation beruht. Dem zufolge nehmen jährlich
900.000 Menschen in Österreich aufgrund psychischer Diagnosen das Sozialversicherungssystem in
Anspruch. Das heißt aber nicht, dass all diese Menschen psychotherapiebedürftig sind. Das für den
Versorgungsgrad wohl wichtigste Merkmal ist, ob Menschen, die Psychotherapie wollen, sie in
zumutbarer Zeit bekommen. In unserer Studie haben unsere Vertragspartner - meist sogenannte
Versorgungsvereine, die Psychotherapie auf Krankenschein anbieten - eine durchschnittliche
Wartezeit auf einen Therapieplatz zwischen null und fünf Monaten gemeldet.
Mückstein: Aber wir wissen doch alle, dass die Praxis ganz anders aussieht. Ich bekomme zweimal
pro Woche Anrufe von Menschen, die eine Psychotherapie auf Krankenschein suchen. Aber die
Hürden sind enorm. Das System mit den Versorgungsvereinen, das im Jahr 2000 etabliert wurde, ist
gescheitert. Wir sehen über die Jahre, dass nicht sehr viel mehr Menschen zur Psychotherapie
kommen, obwohl sie dazu bereit wären.
Standard: Was wäre ein besseres Modell?
Mückstein: Ein Gesamtvertrag, wie er seit 20 Jahren gesetzlich vorgesehen ist und bei den Ärzten
praktiziert wird. Bei Kassen-Psychotherapeuten sollte es einen Tarif geben. Wer zum
Wahltherapeuten oder -therapeutin geht, sollte 80 Prozent des Tarifs zurückerstattet bekommen. Das
funktioniert ja auch im Wahlarztsystem so. Die Forschung belegt ja auch, dass die Behandlungen im
niedergelassenen Bereich nicht nur extrem kosteneffizient, sondern auch sehr erfolgreich sind.
Trotzdem verweigern die Kassen bis jetzt einen Gesamtvertrag.
Klein: Nicht ohne Grund. 2000 hat kurz vor Abschluss des unterschriftsreifen Gesamtvertrags der
Bundesverband der Psychotherapeuten angekündigt, alle Psychotherapeuten, die gegen den Vertrag
juristisch vorgehen wollen, zu unterstützen. So kann eine Vertragsbeziehung nicht funktionieren.
Stattdessen haben die Krankenkassen Verträge mit Gruppen von Psychotherapeuten
abgeschlossen, die Psychotherapie auf Krankenschein anbieten wollen, eben den
Versorgungsvereinen. Daneben gibt es den Zuschuss zu privat bezahlter Psychotherapie, der
bewusst nicht angehoben wurde, um die vorhandenen Mittel auf den Ausbau der kassenfinanzierten
Psychotherapie in den Versorgungsvereinen zu konzentrieren. Eine Erhöhung des Zuschusses
würde den Patienten dagegen nur teilweise zugute kommen.
Standard: Inwiefern?
Klein: Mangels Richttarif gäbe es keinerlei rechtliches Hindernis, die privat verlangten Honorare um
den gleichen Betrag zu erhöhen wie den Zuschuss - aus Patientensicht ein Nullsummenspiel.
Mückstein: Es ist ärgerlich, wie Sie wesentliche Details dieser Kontroverse ausklammern. Der
Rahmenvertrag 2000 kam deshalb nicht zustande, weil er in der Form damals für zwei Drittel aller
Psychotherapeuten das berufliche Aus bedeutet hätte. Sie wären nicht mehr abrechnungsberechtigt
gewesen. Dagegen musste man sich wehren. Ihrer Logik zufolge müssten Psychotherapeuten dann
wohl auch ihre Honorare reduzieren, wenn der Zuschuss weniger wird. Ich verweise noch einmal auf
das Wahlarztsystem, das durchaus gut funktioniert.
Standard: Im Bericht des Hauptverbandes ließ eine Zahl besonders aufhorchen: Für
Psychopharmaka werden 250 Millionen Euro ausgegeben. Gibt es eine Erklärung?
Klein: Medikamente sind gerade bei schweren psychischen Erkrankungen oft ein unverzichtbarer
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Beitrag zur Lebens- und Arbeitsfähigkeit der Betroffenen. In unserer Studie haben wir aber
festgestellt, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil bestimmter Medikamente nur ein Mal verschrieben
wurde, obwohl sie nur bei längerer Einnahme wirksam und sinnvoll sind. Unsere Erklärung: Es dürfte
zum Teil an der Compliance, also der Therapietreue von Patienten, zum Teil an der Präzision der
Verschreibungen liegen, deren Hauptlast die Allgemeinmediziner tragen. Wir werden den Dialog mit
der Ärzteschaft in dieser Frage suchen.
Mückstein: Aus unserer Sicht gibt es drei Gründe für die hohen Medikamentenkosten. Die
Marketingstrategien der Pharmaindustrie, der Zeitmangel der Ärzte und die fehlende Kontrolle. 78
Prozent der Psychopharmaka werden von Hausärzten verschrieben, ein Besuch dort dauert
durchschnittlich sechs Minuten. Eine Diagnose kann in dieser Zeit nicht gestellt werden. Dabei
wissen wir, dass bei leichten und mittelgradigen Störungen Psychotherapie erfolgreicher als
Psychopharmakatherapie ist. Bei mittleren bis schweren Störungen sollten Psychopharmaka und
Psychotherapie kombiniert werden. Auch das ist in Deutschland bereits Standard.
Klein: Sie sprechen schwierige Abgrenzungsfragen an. Psychotherapie ist auch ein wichtiger Ansatz
für Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung. Die Krankenversicherung darf aber nur zahlen, wenn
auch tatsächlich eine Krankheit vorliegt.
Mückstein: Da schauen wir sehr genau hin.
Klein: Psychotherapeuten sind keine Vertragspartner der Kassen.
Standard: Wer indiziert denn die Psychotherapie?
Klein: Nach derzeitiger Rechtslage ist eine ärztliche Untersuchung Voraussetzung für
Psychotherapie als Kassenleistung. Nach den ersten zehn Stunden braucht es eine chefärztliche
Bewilligung. Auch eine Diagnostik durch klinische Psychologen kann ärztlich angeordnet werden.
Mückstein: ... obwohl Psychotherapeuten genauso wie Ärzte zur eigenständigen Diagnostik
berechtigt und ausgebildet sind. Das System traut sich nur nicht, bei den Ärzten einzugreifen, bei den
Psychotherapeuten hat man weniger Hemmungen. Menschen wird Therapie verwehrt, die bereit
sind, sich behandeln zu lassen. Das geht nur, weil psychische Erkrankungen immer noch ein
Tabuthema sind und psychischKranke keine laute Stimme haben, um aufzuschreien.
Standard: Ließen sich nicht Kosten zum Beispiel für Psychopharmaka zugunsten von
Psychotherapie umverteilen?
Klein: Wie? Wenn ein Patient zum Arzt geht und dieser nicht Psychotherapie vorschlägt, sondern ein
Medikament verschreibt, liegt das in der gesetzlichen Behandlungsfreiheit. Wir geben heute für
Psychotherapie und klinisch psychologische Diagnostik 70 Millionen Euro aus. Ohne rechtliche
Möglichkeit der von Ihnen angesprochenen Umverteilung bräuchte es für eine schnelle Aufstockung
zusätzliches Geld. Politik und Öffentlichkeit aber sagen: Ihr habt Schulden von mehr als einer halben
Milliarde, ihr müsst konsolidieren. Wir sind also in der Klemme. Auf der einen Seite sagt man uns:
Macht mehr für psychisch Kranke, auf der anderen Seite sollen wir sparen. Psychologisch gesehen
ist das ein sogenannter Doublebind. Es ist unmöglich, beides zu erfüllen.
Mückstein: Man muss der Politik aber auch vorwerfen, dass seit 1992 der gesetzlich vorgesehene
Ausbau von Psychotherapie nicht umgesetzt wurde. Nur ein geringer Teil all jener Menschen, die
Psychotherapie in Anspruch nehmen wollen, bekommen sie finanziert. Das derzeitige
Versorgungssystem ist gescheitert. Man sollte nicht rückwärtsgewandt sondern zukunftsorientiert
agieren und an einem neuen Gesamtvertrag nach dem Muster des ärztlichen Systems arbeiten.
(Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 23.01.2012)
Eva Mückstein ist Präsidentin des Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie. Sie arbeitet als klinische
Psychologin, Psychotherapeutin und Supervisorin.
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Christoph Klein ist seit 2008 stellvertretender Generaldirektor im Hauptverband der Sozialversicherungsträger. Der
Jurist und Sozialexperte war zuvor in der Arbeiterkammer in Wien.
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