Fachbereich Psychosoziales / Prävention Fachbereich Psychosoziales / Prävention Kriseninterventionsstelle für Stricher (KISS) HEP-Test und medizinische Grundversorgung Jahresbericht 2015 AIDS-Hilfe Frankfurt e.V. • Fachbereich: Psychosoziales/Prävention • Friedberger Anlage 24 • 60316 Frankfurt am Main Tel. 069/405868-0 • Fax: 069/405868-40 • [email protected] • www.frankfurt-aidshilfe.de Fachbereich Psychosoziales / Prävention Inhalt Kriseninterventionsstelle für Stricher (KISS) / HEP-Test und medizinische Grundversorgung / Einleitung.................................................... 5 2 1. Wofür wir stehen������������������������������������������������������������������������������������������������ 6 1.1. Zielgruppe(n)....................................................................................................... 8 1.2. Was wir sind/bieten............................................................................................ 9 1.3. Gesundheit und Risikomanagement................................................................. 10 1.4. Gewaltpräventive Interventionen..................................................................... 11 1.5. Finanzierung..................................................................................................... 13 2. Arbeitsbereiche����������������������������������������������������������������������������������������������� 13 2.1. Kernbereiche.................................................................................................... 14 2.2. Angebote in der niedrigschwelligen Anlaufstelle............................................. 14 2.3. Beratung in und Begleitung aus der niedrigschwelligen Anlaufstelle.............. 15 2.4. Multiplikatorenarbeit....................................................................................... 16 2.5. Schwierige Ausgangssituation 2015................................................................ 17 2.6. Die sozialpädagogische Arbeit mit Freiern...................................................... 18 2.7. Zahlen und Fakten 2015 – niedrigschwellige Anlaufstelle............................... 19 2.7.1. Nationalitäten der Klienten in der Anlaufstelle 2015...................................... 19 2.7.2. Die Altersstruktur der Klienten in der Anlaufstelle 2015................................ 20 2.7.3. Geschlechtszugehörigkeit in der niedrigschwelligen Anlaufstelle.................. 20 2.7.4. Sexuelle Identitäten in der niedrigschwelligen Anlaufstelle........................... 20 2.8. Tagesruhebetten............................................................................................... 20 2.9. Aufsuchende Sozialarbeit / Streetwork / Straßensozialarbeit......................... 21 2.10. Migrant_innenarbeit......................................................................................... 23 2.10.1. Gesundheitsfördernde Maßnahmen für Migrant_innen.................................... 23 2.11. Onlineberatung bei „PlanetRomeo“.................................................................. 24 Fachbereich Psychosoziales / Prävention 2.12. Die virtuelle Anlaufstelle des AKSD und statistische Erhebungen.................. 25 2.13. Gesundheit, ärztliche Betreuung und KISS-Begleitungen................................ 26 2.14. Vernetzung........................................................................................................ 27 2.14.1. Dienstreise nach Rumänien.............................................................................. 27 2.14.2. Einladung BZgA zu Workshop........................................................................... 28 2.14.3. AKSD................................................................................................................. 28 2.14.4. Gesundheitsamt Frankfurt am Main................................................................. 28 2.15. Arbeitsbereich Öffentlichkeitsarbeit............................................................... 28 2.15.1. Kooperation mit der Frankfurt University of Applied Sciences. ................... 28 2.15.2. Informationsveranstaltungen und Lobbyarbeit................................................ 29 3 Fachbereich Psychosoziales / Prävention 4 KISS 2015 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention Kriseninterventionsstelle für Stricher (KISS) / HEP-Test und medizinische Grundversorgung Einleitung Das Berichtsjahr 2015 war sowohl von internen, strukturellen Veränderungen als auch, von Anfang bis Mitte des Jahres, von politischen Reformierungsbestrebungen des Prostitutionsgesetzes, ProstG, geprägt. Diese Debatte wurde durch die Asyl- und Flüchtlingsthematik abgelöst, ließ die kontroversen Diskussionen in den Hintergrund treten, so dass die anstehenden Gesetzesänderungen auf Anfang des Jahres 2016 verschoben worden sind. Wir erwarten also in gespannter Sorge, ob die anstehenden Veränderungen1 tatsächlich verabschiedet werden. KISS befürworten die Bemühungen der Regierung bezüglich einer Schaffung von Rechtssicherheit ohne Sondergesetze für alle in der Prostitution Tätigen. Leider lassen die Vorschläge für ein Prostituiertenschutzgesetz, ProstSchG, im sogenannten „Eckpunktepapier“2 wenig Willen erkennen, Prostituierte in ihrem Arbeitsalltag wirksam zu unterstützen, sondern zielen auf Kontrolle und wenden sich nicht gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung. Zusätzlich erhöhen Zwangsberatungen und Zwangsanmeldungen das Stigma und führen zu einer Schwächung der Position und der Handlungskompetenzen im sexuellen Dienstleitungsalltag von Prostituierten. Die Erfahrungen aus der seit fast drei Jahrzehnten bestehenden sozialpädagogischen und psychosozialen (Präventions- und Gesundheitsvorsorge-) Arbeit mit männlichen und transidenten Prostituierten und deren sozialen Umfeld zeigt auf, dass der Weg, nämlich nicht auf Kontrolle und Repression, sondern auf freiwillige Beratungen und Angebote zu setzen, der richtige war. Das Gesetz schützt vor allem konservative Moralverstellungen, statt diejenigen, um die es eigentlich gehen sollte, nämlich die Prostituierten. Das Gesetz bietet Scheinsicherheit statt wirksame Lösungsansätze, und die sogenannte „Zwangsprostitution“ wird das neue Gesetz nicht verhindern. Wir verwenden bewusst keine Begrifflichkeiten, die mit wirtschaftlicher Tätigkeit assoziiert werden (Sexarbeiter, Sexbusiness, Sexgewerbe etc.), da die männlichen und transidenten Prostituierten unter einer Vielzahl psychischer und sozialer Probleme leiden, die nicht nur durch die aktuelle Arbeits- und Lebenssituation verursacht wurden, sondern z.T. Ausdruck „schwieriger“ Biographien sind. Des Weiteren würden wir gerne den professionellen Aspekt der sexuellen Dienstleistung proklamieren, werden aber immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass wir auf Menschen in unserer sozialpädagogischen und psychosozialen Arbeit treffen, die nicht unbedingt immer selbstbestimmt und selbstbewusst anschaffen gehen und von Ausbeutung, Missbrauch und sozialer Ungleichheit betroffen sein können. Wir sind jedoch der Überzeugung, dass Prostituierte im Allgemeinen nicht per se Opfer sind, sie sind in ihrer spezifischen Situation nur vulnerabler als andere. Dies gilt insbesondere für Jungs und junge Männer, die unterwegs sind und anschaffen, Beschaffungsprostituierte und Prostituierte ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Unser Anliegen ist es daher nicht, der Diskussion um die ‚Opferrolle’ von Prostituierten Vorschub zu leisten. Zudem ist es erschwerend für unsere sozialpädagogische Arbeit, mit immer differenzierteren Darstellungen argumentieren zu müssen. Infolgedessen wird verständlich, dass in prekären Lebenssituationen die Abgrenzung zwischen ‚Freiwilligkeit’ und ‚Zwang’ in der Prostitution mehr als ein Definitionsproblem ist, weil die Menschen in bestimmten Situationen nur noch eingeschränkte Wahlmöglichkeiten haben und sich unter diesen Umständen für eine Überlebensstrategie entscheiden, die sie in anderen Situationen nicht wählen würden. Eine davon kann auch die mann-männliche Prostitution sein, weil in diesem Dienstleistungssektor nicht nach einer Ausbildung gefragt wird und die Tätigkeit freiberuflich, also in selbstständiger Tätigkeit ausgeübt werden kann. Obgleich die ‚Hurenbewegung’ in Deutschland viel erreicht hat, bleibt es jedoch schwierig, Strategien 1 Anmeldepflicht, ärztliche Gesundheitsberatung, Kondompflicht, Erlaubnispflicht und Zuverlässigkeitsprüfung für die Betreiber _ innen einer Prostitutionsstätte. 2 „Vereinbarungen der Koalitionsfraktionen zum Prostituiertenschutzgesetz“ vom 03.02.2015 in Ergänzung zu den im August 2014 vereinbarten Eckpunkten. 5 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 des Empowerments in den marginalisierten Bereichen der Prostitutionsszene zu etablieren. Infolgedessen reichen Legalisierung und Regulierung der Prostitution allein nicht aus. Sie müssen von ergänzenden Änderungen sowohl im Ausländerrecht als auch im Strafrecht bezüglich der Sperrgebietsverordnung, des Gewerberechts und des BtMG flankiert werden. Letztendlich stehen wir dafür ein, dass rechtliche, soziale und ökonomische Strukturen geschaffen werden müssen, um die Menschen im Allgemeinen, im Speziellen die Prostituierten, zu stärken und ihnen Handlungsmöglichkeiten anzubieten, damit Abhängigkeit, Ausbeutung und sexuelle Gewalt vermindert oder im besten Falle gar verhindert werden. Unsere internen, strukturellen Veränderungen fingen Anfang des Jahres mit Schimmelbefall im Erdgeschoss unserer Anlaufstelle an, auf die aus gesundheitspräventiver Sicht reagiert werden musste, was Mitte Februar zu der Entscheidung führte, dass die Anlaufstelle geschlossen werden wird, damit die Ursache behoben werden kann. Da wir davon ausgingen, dass es sich um kurzfristige Überbrückung handelte, boten wir als Alternative zur Anlaufstelle ab Mitte Februar unterschiedliche freizeitpädagogische Maßnahmen an und intensivierten unsere Streetwork-Angebote in der mann-männlichen Prostitutionsszene. Als es abzusehen war, dass die Verantwortlichkeiten für die Instandsetzung unserer Räumlichkeiten nicht so einfach zu klären waren, boten wir ab März im Gruppenraum des Switchboards in der Alte Gasse 36, ebenfalls ein Projekt der AIDS-Hilfe-Frankfurt e.V., eine Ausweichmöglichkeit und offerierten dort unser Angebot einer niedrigschwelligen Anlaufstelle an drei Tagen3 in der Woche. Das Tagesruhebettenangebot blieb in den alten Räumen bestehen, weil nur das Untergeschoss von Schimmel betroffen war, und war an fünf Tagen in der Woche4 für die Klienten geöffnet. Anfang August konnten wir wieder in die alte Anlaufstelle mit den gewohnten Öffnungszeiten5 zurückkehren. Anfang Dezember sind wir dann letztendlich in ganz neue Räumlichkeiten in der Wielandstraße 10-12 im Nordend, mit neuen Öffnungszeiten6, umgezogen. 1. Wofür wir stehen Die Kriseninterventionsstelle für Stricher (KISS), ein Projekt der AIDS-Hilfe Frankfurt e.V., gegründet 1990, ist hessenweit seit 25 Jahren die einzige niedrigschwellige Einrichtung für männliche und seit längerem auch für transidente Prostituierte. Seit 2003 sind wir anerkannter Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe. Neben der sozialpädagogischen und psychosozialen Arbeit mit männlichen und transidenten7 Prostituierten soll durch Aufklärungs- und Informationsarbeit Einfluss auf andere Szenebeteiligte, soziale Einrichtungen, Ämter und Behörden sowie die (Fach)-Öffentlichkeit genommen werden. Damit möchten wir erreichen, dass die Interessen männlicher und transidenter Prostituierter und deren soziales Umfeld in der Gesellschaft stärker wahrgenommen und berücksichtigt werden. Aus Erfahrung wissen wir, dass sozialpädagogische und psychosoziale Arbeit mit männlichen und transidenten Prostituierten und deren sozialem Umfeld für viele Menschen ein „Buch mit sieben Siegeln“ ist, da sich der Tätigkeitsbereich sowie die Zielgruppen außerhalb der gesellschaftlich anerkannten Normen und Werte bewegen. Aufgrund dessen führt das Unverständnis für und die Unwissenheit über unsere Zielgruppen häufig dazu, dass unsere sozialpädagogische und psychosoziale Arbeit in der Öffentlichkeit zu wenig Anerkennung und Wertschätzung erfährt. Dabei wird die Tatsache übersehen, dass mit den niedrigschwelligen Hilfsangeboten, die gewaltpräventiv ausgerichtet sind, ein wichtiger Beitrag zur sozialen Sicherheit und Ordnung in der Stadt geleistet wird. 3 Dienstag, Donnerstag und Freitag von 13.00 Uhr-17.00 Uhr. 4 jeweils von 8.00 Uhr-14.00 Uhr. 5 Anlaufstelle: Montag-Mittwoch von 13.30 Uhr-16.30 Uhr, Donnerstag von 16.00 Uhr-20.00 Uhr, Freitag von 15.00 Uhr-19.00 Uhr; Tagesruhebetten: Montag-Mittwoch von 8.00 Uhr-15.30 Uhr, Donnerstag von 8.00 Uhr-19.00 Uhr, Freitag von 8.00 Uhr-18.00 Uhr. 6 Anlaufstelle: Montag und Dienstag von 12.00 Uhr-16.00 Uhr, Mittwoch ist Beratungstag und Termine werden nach Vereinbarung vergeben, Donnerstag von 16.00 Uhr-20.00 Uhr, Freitag von 14.00 Uhr-18.00. Uhr; Tagesruhebetten; Montag und Dienstag von 8.00 Uhr-15.00 Uhr, Mittwoch von 8.00 Uhr-14.00 Uhr, Donnerstag von 8.00 Uhr-19.00 Uhr, Freitag von 8.00 Uhr-17.00 Uhr. 7 Begriffserklärung vgl. Kap. 1.1. 6 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention Unsere Zielgruppen stehen einer Anzahl von Problemen gegenüber, die von Abhängigkeits- und Gewaltverhältnissen, Suchtverhalten, Wohnungslosigkeit bis zu risikoreichen Sexualpraktiken und den damit verbunden Infektionen, Erkrankungen und Krankheiten reichen können. Für unsere Arbeit bedeutet dies zum einen, über Infektionswege und Krankheiten zu informieren, Schutzmöglichkeiten und Risikominimierungsstrategien aufzuzeigen sowie Auffangmöglichkeiten für individuelle Bedürfnisse, Konflikte und Probleme anzubieten sowie zum anderen, bei Krisen, Halt und Stabilisation zu bieten. Dementsprechend sind weitere Zielsetzungen die Verbesserung sowohl der gesundheitlichen als auch der psychosozialen Situation von männlichen und transidenten Prostituierten. Wir stellen immer wieder fest, dass weit über die Hälfte unserer Klient _ innen am Rande der Gesellschaft stehen und dass nur wenige über ein bewusst professionelles Selbstverständnis ihres sexuellen Dienstleistungsangebotes verfügen. Dementsprechend haben die wenigsten „eine Identität als männlicher Prostituierter“ entwickelt, obwohl sie am Bahnhof, auf der Straße und auch in Wohnungen, in Kneipen oder in Pornokinos etc. anschaffen gehen. Aufgrund dieser Tatsache stehen im Fokus unserer sozialpädagogischen und psychosozialen Arbeit hauptsächlich diejenigen, die aufgrund finanzieller, materieller und psychischer Notlagen sich prostituieren und durch vielschichtige und vielfältige psychische, gesundheitliche und (psycho-)soziale Problemlagen aufgefallen sind. Gleichzeitig sind unsere Zielgruppen massiven gesellschaftlichen Ausgrenzungs-, Stigmatisierungs- und Diskriminierungsprozessen ausgesetzt, so dass es in der sozialpädagogischen und psychosozialen Arbeit mit männlichen und transidenten Prostituierten und deren sozialem Umfeld unabdinglich ist, lebensweltakzeptierend, anonym und niedrigschwellig ausgerichtet zu sein: Mit dem Angebot einer niedrigschwelligen Anlaufstelle bieten wir existentielle Überlebenshilfen an, wir suchen die mann-männliche Prostitutionsszene vor Ort auf (Streetwork), bieten individuelle Beratungen, Begleitungen und Betreuungen sowohl in der Szene als auch im Internet und stellen ein Angebot von Tagesruhebetten zur Verfügung. Da die Armuts- oder auch Notlagenprostitution in Deutschland zunimmt, ist es dringend erforderlich, unsere sozialpädagogische und psychosoziale Arbeit zu erhalten und fortzusetzen, gerne auch kontinuierlich weiter auszubauen, da die Anzahl derer, die ohne Kenntnisse und Wissen über Risikomanagementstrategien und Übertragungswege sind, genauso zunimmt wie die Anzahl derjenigen, denen wegen ihrer existentieller Not ein kleines Aufgeld für Sex ohne Kondom gerade recht kommt. Gerade diese Zielgruppen benötigen dringend Hilfe, und gegenwärtig sehen wir an dieser Stelle durch unsere Aufgabenbereiche und Zielvorstellung nachdrücklichen Handlungsbedarf. Wegen der zu wahrenden Anonymität und Freiwilligkeit führen wir keine personenbezogenen Erhebungen durch. Dennoch konnten wir durch die alltägliche Beziehungsarbeit Daten gewinnen, die eine zuverlässige Statistik entstehen lassen. In Bezug auf das sensible pädagogische Arbeitsfeld, die z.T. kurzen Kontakte und das bestehende Misstrauen der Klient _ innen sowie in Bezug auf Migrant _ innen und deren mangelnde Sprachkenntnisse konnten in manchen Fällen (Alter, sozialer Status, sexuelle Identität etc.) keine Angaben gemacht werden. Im Berichtsjahr 2015 haben wir insgesamt 420 Klient_innen mit 3544 Kontakten betreut, beraten und begleitet. Davon waren 327 männliche Prostituierte mit 2830 Kontakten, 11 weibliche Prostituierte mit 24 Kontakten und 12 transidente Personen mit 186 Kontakten. Insgesamt haben wir 35 Freier persönlich und telefonisch mit 186 Kontakten beraten. 15 Multiplikatoren mit 60 Kontakten sind im Berichtsjahr von uns beraten, betreut und mit Informationsmaterial ausgestattet worden. Durch das Kooperationsprojekt info4escort wurden 20 Klienten mit 42 Kontakten beraten. Insgesamt wurden 513 individuelle Online-Profile angeschrieben, die nicht in der Klient _ innenstatistik enthalten sind. 7 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 Für die einzelnen Arbeitsbereiche können wir folgende Angaben zu Anzahl der Klient _ innen sowie zu den Kontakten machen: Anlaufstelle: 226 mit 2328 Kontakten; Tagesruhebetten: 60 mit 473 Kontakten; Streetwork: 209 mit 705 Kontakten; Onlineberatung: 513 info4escort 20 mit 42 Kontakten 1.1. Zielgruppe(n) In erster Linie gehören zu unserer Zielgruppe männliche Jugendliche, junge Männer und Männer, die der Armuts- bzw. Notlagenprostitution nachgehen. Sie offerieren zwar gegen Bezahlung oder andere Leistungen sexuelle Handlungen, allerdings ist ihr Verdienst dem Niedriglohnpreissektor zuzuordnen und liegt zumeist unter dem Existenzminimum. Demzufolge weisen sie einen besonderen Handlungsbedarf auf, da sie aufgrund materieller und psychischer Notlagen anschaffen gehen und die Lebenssituation durch vielschichtige und vielfältige gesundheitliche, kulturelle, psychische, (psycho-)dynamische, -sexuelle und -soziale Probleme gekennzeichnet ist. Viele unserer Klienten haben nur wenig Zeit in der Schule verbringen können oder verfügen über keine schulische bzw. berufliche Ausbildung. Zudem sind sie ohne Unterkunft, verfügen über kein geregeltes Einkommen und leben mit einem hohen Risiko, sich mit sexuell übertragbaren Infektionen, einschließlich HIV, zu infizieren. Sie kommen aus oder geraten in Abhängigkeits- und Gewaltverhältnisse(n), erleben Ausgrenzung, Stigmatisierung, Diskriminierung, Entwertung sowie Respektlosigkeit und versuchen, die emotionalen, körperlichen und/oder sexuellen Gewalterfahrungen zu kompensieren. Die Suche nach sexueller und Geschlechts-Identität spielt ebenso eine Rolle wie die Suche nach Liebe, Geborgenheit, Verständnis, Beachtung, Anerkennung, einem Beziehungspartner oder „väterlichen“ Freund. Daraus ergeben sich für unsere Klienten eine Vielzahl von Problem und Zwangslagen, die zu Krisen führen können. Ein Großteil unserer Klienten mit Migrationshintergrund gehört einer diskriminierten Minderheit im Heimatland an. Demzufolge könne sie nur erschwert am offenen Arbeitsmarkt partizipieren. Daneben minimieren fehlende oder mangelnde Sprachkenntnisse und geringer Bildungsstand die Wahrnehmung möglicher Alternativen zur Prostitution. Suchtverhalten (Spielsucht, Alkohol- und Drogenkonsum) sowie geringe ökonomische und soziale Ressourcen führen nicht selten dazu, dass sich Armut in rechtswidrigem Verhalten niederschlägt. Somit bleibt den Betroffenen häufig nur der Weg in die mann-männliche Prostitutionsszene, weil es in diesem Dienstleistungssektor keiner Ausbildung bedarf und dieser freiberuflich ausgeübt werden kann. Im Laufe der Jahre wurden weitere Klient _ innengruppen neben der oben genannten Zielgruppe in die sozialpädagogische Arbeit mit aufgenommen: Es handelt sich um Menschen, die wissenschaftlich als trans* bezeichnet werden. In diesem Jahresbericht werden die Begriffe „transident“, „transsexuell“, „Transsexualität“ und gelegentlich auch „Transsexuelle(n)“ verwendet. Diese Wortbedeutungen sind stets im Sinne einer transsexuellen Symptomatik gemeint – unabhängig davon, ob der Wunsch nach „geschlechtskorrigierenden“ Operationen besteht bzw. ob die Indikation zu solchen gegeben ist. Deshalb wird in diesem Jahresbericht auch von Klient _ innen gesprochen. Für uns bedeutet Transsexualität keine Krankheitseinheit, sondern resultiert aus ganz unterschiedlichen psychischen bzw. psychopathologischen Entwicklungen, deren gemeinsame Charakteristika die gestörte und/oder konflikthafte Geschlechtsidentität sowie der Wunsch nach „Geschlechtsumwandlung“ sind. Unter Transsexualität verstehen wir in unserer sozialpädagogischen und psychosozialen Arbeit somit keine sexuelle, sondern eine Geschlechtsidentitätsstörung. Erweitert haben wir unsere Zielgruppe um all jene Personen, die aus der Prostitution ausgestiegen sind, aber dennoch beträchtlichen Bedarf an persönlicher Beratung, Betreuung und Unterstützung haben, sowie um Personen ihres sozialen Umfeldes, wie zum Beispiel Angehörige, Freund _ innen und Lebenspartner _ innen. 8 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention Außerdem subsumieren wir unter unsere Zielgruppe Multiplikator_innen, damit sind Freier _ innen und Barkeeper, Wirte, Betreiber und Mitarbeiter _ innen von Pornokinos etc. gemeint. Multiplikatoren sind Personen aus dem Lebensumfeld der Zielgruppe, wie Familienangehörige, Ehepartner _ innen, Freund _ innen, Lebenspartner _ innen sowie Freier _ innen, Wirte, Clubbesitzer und Kneipen-, Club- und Pornokinopersonal, die einen (un-)mittelbaren Einfluss auf die Lebenssituation der Zielgruppe nehmen können. Die Zielsetzung dieser Aufgabe besteht darin, zu sensibilisieren und Informationen zu vermitteln, um gegebenenfalls eine Verhaltensänderung herbeizuführen. Die Multiplikatorenarbeit mit Wirten und Clubbesitzern sowie Kneipen-, Club- und Pornokinopersonal ist in den Arbeitsbereich aufsuchende Arbeit eingebunden. Da ein wichtiger Bestandteil unserer sozialpädagogischen Arbeit die Lebensweisenakzeptanz ist, fühlen sich die Klienten ernst genommen und in ihrer Lebensrealität akzeptiert. Die Zielsetzung besteht darin, für verantwortungsbewusste Verhaltens- und Umgangsweisen zu sensibilisieren und Aufklärungsarbeit in Bezug auf gesundheitsfördernde Maßnahmen zu leisten. Für den Bereich Primärprävention verteilen wir kostenlos Kondome und Gleitmittel und geben oder legen Informationsmaterialien aus, die sich letztendlich auf den Schutz oder die Risikominimierungsbereitschaft der Zielgruppe(n) auswirkt. Neben den oben genannten Personengruppen kommen auch immer wieder junge Menschen zu uns, die nicht anschaffen gehen, sich aber aufgrund der ähnlich gelagerten Probleme und Konflikte im Umkreis der mann-männlichen Prostitutionsszene aufhalten. Wir geben ihnen Hilfsmöglichkeiten an die Hand und/ oder vermitteln sie direkt an andere kommunale/soziale Hilfsorganisationen weiter. Aufgrund der Tatsache, dass ein Großteil unserer Klient _ innen aus dem südosteuropäischen Raum stammt, finden in den letzten Jahren zunehmend auch Menschen den Weg in unsere Einrichtung, die nicht zu unseren eigentlichen Zielgruppen gehören. Dabei handelt es sich um Jungerwachsene und Männer, die wir als Arbeitsmigranten bezeichnen, und die wir, wenn möglich, an geeignete Institutionen in der Stadt weitervermitteln. Leider ist dies nur selten erfolgversprechend, weil die Zugangsvoraussetzungen zu diesen Hilfsangeboten viel zu hochschwellig für die Klienten sind. Zunächst stehen viele Klient _ innen den Hilfeangeboten skeptisch gegenüber. Deshalb ist es in unserer sozialpädagogischen Arbeit notwendig, die Zugangsbarrieren zu den Hilfsangeboten so niedrig wie möglich zu halten. 1.2. Was wir sind/bieten Prekär blieben die Umstände, unter denen unsere Klient _ innen ihr (Über-)Leben meistern müssen. Der Druck, für den Lebensunterhalt für sich selbst oder der Angehörigen aufzukommen, ist groß. Des Weiteren kommt das Risiko, sich mit einer sexuell übertragbaren Infektion oder Krankheit anzustecken, hinzu, wobei diese Problematik aufgrund fehlender Informationen und Bildung noch nicht einmal bewusst ist. Daneben birgt die Art und Weise der Ausübung sexueller Handlungen Gefahren und Risiken. Um all dem begegnen zu können, bietet KISS mit seinen Angeboten, Hilfen, Orientierung und Perspektiven. KISS bietet: • eine an den Lebensbedingungen der Klient _ innen ausgerichtete, szenenahe und niedrigschwellige sozialpädagogische Auffang-, Beratungs-, Hilfs- und Versorgungseinrichtung; • einen Ruhe-, Regenerations- und Schutzraum; • unbürokratische und konkrete Hilfestellungen; • Basisversorgungsangebote in Form von existentiellen Überlebenshilfen wie Essen, Getränke, Duschund Waschmöglichkeiten sowie Tagesruhebetten; • sozialpädagogische und psychosoziale Auffang-, Beratungs- und Versorgungsleistungen; • kulturelle Mediation als zusätzliches Angebot inner- und außerhalb der Anlaufstelle; • soziale Sicherheit und Ordnung; • Integrationsmaßnahmen und Umstiegshilfen („Ausstieg“ aus der Prostitution) in soziale und bürgerliche Zusammenhänge; • Lobbyarbeit sowohl bezogen auf die gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit inklusive dem Fachpublikum als auch auf politischer Ebene. 9 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 Des Weiteren tragen wir bei: • zur Beendigung der Vereinsamungs- und Verelendungstendenzen; • zur Motivation zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung; • zur (Re-)Integration in soziale Zusammenhänge; • zur Aufhebung der Stigmatisierungsprozesse hinsichtlich der Prostitution; • zur Verbesserung der Lebensqualität in Form von Perspektivenentwicklung und Orientierungshilfen. Ferner nehmen wir neben der sozialpädagogischen Arbeit mit männlichen Prostituierten und deren sozialem Umfeld durch Aufklärungsarbeit Einfluss auf soziale Einrichtungen, Ämter und Behörden sowie auf die Öffentlichkeit, damit in der Gesellschaft die Interessen männlicher Prostituierter und deren sozialem Umfeld stärker wahrgenommen und berücksichtigt werden. Die persönliche Beratung umfasst sowohl HIV- und STI-relevante Themen (sexually transmitted infections) als auch Klärung der allgemeinen Lebenssituation, Klärung der Hilfebedürftigkeit, körperliche, physische, psychische und sexuelle Gesundheit, Perspektivenentwicklung außerhalb der Prostitution (Schule, Arbeit, Wohnen, Leben), Bewerbungstraining, Ausstiegsberatung, Klärung von Anspruchvoraussetzungen und Zuständigkeiten, Hinführung und Anbindung an die Sozialgesetzgebung. Des Weiteren beraten wir zu Themen wie Familie, Partnerschaft, Beziehung, Sexualität, sexuelle und geschlechtliche Identität (Transidentität, Cming-out etc.), um nur ein paar zu nennen. 1.3. Gesundheit und Risikomanagement Nach der WHODefinition ist Gesundheit die Bezeichnung für einen Zustand des völligen „körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“8. Gesundheit ist ein mehrdimensionaler und dynamischer Prozess, demzufolge ist der Mensch nie ganz gesund, aber auch nie ganz krank. Somit gibt es immer gesunde Anteile, die gefördert werden können. Durch die Verringerung von Risikofaktoren, die Förderung von Schutzfaktoren und das Erlernen von Bewältigungsstrategien lassen sich günstigere Voraussetzungen für Gesundheit erreichen. Männliche Prostituierte müssen tagein, tagaus, bisweilen auch unter widrigen Umständen und unter Druck, (STI-)Risiken ab- und einschätzen und situativ sich für oder gegen Safer-Sex entscheiden. Das Einund Abschätzen ist von Situationen, Konstellationen, Abhängigkeiten, sexueller Orientierung, Ressourcen, etc. abhängig. Je größer die Ausstattung individuell protektiver Faktoren (Ressourcen), desto aktiver und selbstbewusster können die Bedingung, Kontrolle und Steuerung der sexuellen Interaktion beeinflusst werden. Eine weitere Strategie stellt das Beurteilen entlang des Geschlechts, der sexuellen Anziehung und Attraktivität, der Erscheinung und des Bekanntheitsgrades des/der Sexualpartner _ in dar. Ist diese Person zusätzlich noch im sozialen Umfeld verankert, vermittelt dies ein vermeintliches Gefühl von Vertrautheit und minimiert präventive Verhaltensstrategien, Schutzmassnahmen und Sexualpraktiken. Dies bezieht sich sowohl auf feste als auch auf Gelegenheitspartnerschafen. Des Weiteren ist auffällig, dass hetero- oder bisexuell Orientierte die Risiken je nach Geschlecht unterschiedlich einschätzen. Diese Abwägung bezieht sich nicht auf den biologischen Geschlechtsunterschied, sondern auf die kulturelle Zuschreibung der Geschlechter. Da Frauen als weniger sexuell aktiv und monogam eingeschätzt werden und Männern, insbesondere schwulen Männern, genau das Gegenteil bescheinigt wird, fallen die Risikomanagementstrategien unterschiedlich aus. Demzufolge fällt das Schutzbedürfnis und -verhalten bei Frauen geringer aus als bei Männern. Folglich muss aufgrund der Heterogenität in der mann-männlichen Prostitutionsszene eine Differenzierung der (Hilfs-)Angebote reflektiert werden. Nicht grundsätzlich sind alle männlichen Prostituierten schlecht integriert und gesundheitlich gefährdet. Jedoch können männliche Prostituierte aufgrund der prostitutiven Tätigkeit sowohl in der physischen als auch in der psychischen, einschließlich der sexuellen, reproduktiven Gesundheit gefährdet werden. Die Einschätzung der Vulnerabilität und Gefährdung ist für diejenigen am größten, die eine Ressourcenarmut und Problembelastung mitbringen. 8 WHO, 1964. 10 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention Des Weiteren sind nicht nur die männlichen Prostituierten, sondern auch deren soziales Umfeld, zu dem auch die Freier zählen, von gesellschaftlichen Stigmatisierungsprozessen betroffen, die die Dynamik unserer sozialpädagogischen Arbeit stark beeinflussen. Somit ist nicht nur die physische und psychische Gesundheit zu verbessern, sondern auch das psychosoziale Wohlbefinden der Einzelnen in der mannmännlichen Prostitutionsszene, das u.a. durch gesellschaftliche und soziale Integration erreicht werden kann. 1.4. Gewaltpräventive Intervention Gewalt wird nach der WHO wie folgt definiert: „Der absichtliche Gebrauch von angedrohten oder tatsächlichen körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.“9 Die Definition umfasst zwischenmenschliche Gewalt ebenso wie suizidales Verhalten oder bewaffnete Auseinandersetzungen. Da sie unterschiedliche Handlungen einschließt, reicht sie über das konkrete physische Handeln hinaus. Daneben werden auch Drohungen und Einschüchterungen in die inhaltliche Reichweite des Begriffs einbezogen. Abgesehen von Verletzung und Tod umfasst die Definition auch eine Unmenge der oftmals weniger offensichtlichen Folgen gewalttätigen Verhaltens, wie z.B. psychische Schäden. Deprivation und Fehlentwicklungen, die das Wohlergehen des Einzelnen, von Familien und Gemeinschaften gefährden. Nach der WHODefinition ist Gewalt permanent im Leben unserer Zielgruppe(n) präsent. Gewalt begegnet ihnen sowohl in Form von physischer, sexueller und psychischer Gewalt als auch in Form von Entwertungen, Respektlosigkeit, Fremdenfeindlichkeit, Zurückweisungen, Hass, Stigmatisierungen, etc., die auch auf die KISS-Mitarbeiter _ innen rückwirken. Da Gewalt ein äußerst diffuses und komplexes Phänomen ist, bleibt uns eine exakte (wissenschaftliche) Definition vorenthalten. Folglich ist eine Definition eher dem Urteil des Einzelnen überlassen. Die Vorstellung von sozial adäquaten, von akzeptablen und inakzeptablen Verhaltensweisen sowie die Grenzziehung, was als Gefährdung empfunden wird, unterliegt (sub-)kulturellen Einflüssen und ist fließend, da sich Wertvorstellungen und gesellschaftliche Normen ständig wandeln. Bezogen auf unsere Zielgruppen bedeutet dies, dass sowohl Aggression als auch Gewalt scheinbar anders gewichtet und interpretiert werden als von den KISS-Mitarbeiter _ innen, d.h., was von uns als erschreckend empfunden wird, müssen unsere Klient _ innen für sich ganz anders einordnen, um in der mann-männlichen Prostitutionsszene überleben zu können. Das kann dazu führen, dass Gewalt im Allgemeinen relativiert wird, dass man resigniert, ein Opferverhalten zeigt und/oder Aggression und Gewalt als eine legitime Form des Miteinanders interpretiert. Da das Umfeld oft äußerst destruktiv ist, besteht die Gefahr, dass Strukturen und Verhaltensmuster internalisiert werden, indem aggressives Verhalten verharmlost und Gewalt zum Alltag wird. Die männliche Sozialisation unterstützt zudem die Verdrängung oder Kompensation der Gewalterfahrung. Unsere Zielgruppen haben Vorerfahrungen (in ihren Familien, im Heim, im Heimatland etc.) mit aggressivem Verhalten sowie mit Gewalt und/oder üben gegen andere Gewalt aus. Mit diesen Vorerfahrungen kommen sie in die mann-männliche Prostitutionsszene, die sich nicht durch Feingefühl und Rücksichtnahme auszeichnet, sondern in der Grenzüberschreitungen auf beiden Seiten zur Tagesordnung gehören. Gewaltausübungen durch Freier _ innen können mit (kleineren) Grenzüberschreitungen beginnen, nehmen dann den Weg über das Nichteinhalten bzw. Nichtrespektieren von Vereinbarungen und enden mit sexuellen Handlungen und Praktiken gegen den Willen des Jungen oder (jungen) Mannes, die jeweils strafrechtlich schwer nachweisbar sind. Weitere Formen von Gewaltausübung können das Einsperren und Festketten in Wohnungen, körperliche Misshandlungen und psychische Demütigungen, unter Druck setzen, Erpressungen, in Abhängigkeit bringen bis hin zur Tötung sein. Gerade Jüngere oder Einzelgänger sind der Gewalt und Macht der Freier _ innen oft hilflos ausgeliefert. 9 Herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation unter dem Originaltitel „World report on violence and health: Summary 2002“, ursprüngliche ISBN 92 4 154562 3. 11 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 Besonders männlichen Klienten fällt es außerordentlich schwer, die an ihnen verübten Gewalttaten zu thematisieren und sich dabei gleichzeitig eingestehen zu müssen, dass man in der Situation nicht stark genug war, sich zur Wehr zu setzen. Somit entstehen oder verfestigen sich Schuldgefühle, etwas zu der Tat beigetragen zu haben. Dies führt dazu, dass Jungs und Männer, die unterwegs sind und anschaffen gehen, sich häufig nicht gegenseitig vor gefährlichen Freier _ innen warnen und selten präventive Maßnahmen und Vorkehrungen treffen. Nicht nur körperliche Gewalt und emotionaler Druck, auch Verweigerung des vereinbarten Honorars werden von Freier _ innen genutzt, um den Willen durchzusetzen (in der mannmännlichen Prostitutionsszene ist es nicht üblich, Vorkasse zu leisten). Wiederum kann es auch an klaren Absprachen mangeln. Zusätzlich können Sprachbarrieren dazu beitragen, die Ungewissheiten bestehen zu lassen. Umgekehrt kann es sich aber genauso verhalten, und der/die Freier _ in wird zum Opfer. Entgegen der allgemein gängigen Meinung gibt es Freier _ innen, die sich verlieben und sich aus unterschiedlichen Beweggründen sehr um den Einzelnen bemühen, ohne dabei eine (sexuelle) Gegenleistung einzufordern. Diese Freier _ innen können leicht emotional, finanziell und materiell ausgebeutet und ausgenutzt werden. Das ‚Verhältnis’ oder die ‚Beziehung’ zwischen männlichen Prostituierten und ihren Freier _ innen ist häufig gekennzeichnet durch Übertragungen und Gegenübertragungen, durch Projektionen, (projektive) Identifizierungen, Ambivalenzen, Aggressionen, Angst, Unsicherheit etc.. Besonders männliche Prostituierte mit unklarer sexueller Identität fühlen sich in ihrer männlichen Identität durch schwule Männer oder homosexuelle Sexualpraktiken sehr leicht bedroht. Um sich ihrer Männlichkeit zu versichern, Ekel, Scham, Ohnmacht, Hass und Wut zu überwinden, können sie Gewalttätigkeiten bis hin zu Tötungsdelikten begehen. Erpressungsdelikte gegen Freier _ innen sind nach Aufhebung des generellen Verbots homosexueller Handlungen zurückgegangen; die Dunkelziffer ist wie bei anderen Verbrechen hoch. Männliche Prostituierte mit manifester heterosexueller Orientierung gehen häufig der Prostitution aufgrund einer existentiellen Notlage nach und sind damit häufig der Tatsache ausgesetzt, dass sie schneller an ihre eigenen Grenzen, ausgelöst durch den Ekel, den sie beim Ausüben homosexueller Sexualpraktiken verspüren, kommen. Ekel, Scham, Angst, doch homosexuell zu sein, Grenzüberschreitungen und Übergriffe des Freiers bis hin zu Vergewaltigung, finanzielle und materielle Abhängigkeit etc., all dies sind Aspekte, die dazu führen können, der aufgestauten Wut freien Lauf zu lassen. Da Scham oder auch der Aspekt des ungeregelten Aufenthaltsstatus eine Anzeige scheinbar unmöglich machen, nimmt somit die Aggressionsund Gewaltspirale ihren Anfang. Wer zusätzlich noch einen schwulen Mann oder einen Freier als wertlos erachtet, hat weniger Hemmung, gegen ihn vorzugehen. Ähnlich verhält es sich mit der ‚Gewalt untereinander’. Da Solidarität unter unserer Zielgruppe kaum zu finden ist (Konkurrenz, Beziehungslosigkeit, Ausländerfeindlichkeit, etc.) und die unterschiedlichen Gruppen oftmals nur Zweckgemeinschaften darstellen, wird ein Gemeinschaftsgefühl nur dann aufkommen, wenn man gemeinsam gegen einzelne oder gegen eine Gruppe vorgehen kann. Dies sind oftmals die Schwächsten der Szene, wie junge, verunsicherte Jungs, Beschaffungsprostituierte oder auch Transsexuelle. Die Gründe können Vorbehalte und Vorurteile, Konkurrenzkampf, Angst, einmal ‚so’ zu werden, Xenophobie etc. sein. Sie können die Auslöser für Übergriffe darstellen. Ebenso schwierig verhält es sich beim Installieren eines übergreifenden Informations- und Warnsystems (z.B. vor gefährlichen Freier _ innen). Oft müssen die KISS-Mitarbeiter _ innen diese Informationen an jeden einzelnen weitergeben. Abgesehen von der Gewalt in der Szene, kommt es immer wieder zu Aggressionen und Gewalt in den niedrigschwelligen Anlaufstellen: entweder untereinander oder gegen KISS-Mitarbeiter _ innen gerichtet. Das Konzept einer niedrigschwelligen Anlaufstelle bedingt die Tatsache, dass die KISS-Mitarbeiter _ innen nie eindeutig überblicken können, wer in die Anlaufstelle kommt und in welcher Verfassung die Person sich befindet. Dies führt zu zusätzlichen Belastungsmomenten für die Mitarbeiter _ innen. Diese Tatsache kann auch auf die aufsuchende Arbeit übertragen werden. Letztendlich stellen wir fest, dass Orientierungs- und Perspektivlosigkeit förderlich für die Aggressions- und Gewaltbereitschaft ist. Wer nichts mehr zu verlieren hat, kann letzten Endes bis zum Äußersten gehen. Durch die massiven Veränderungen in der Szene tauchen auch Freier _ innen aus Angst nicht mehr in der ‚offenen Szene’ auf. Das Angebot ist also größer als die Nachfrage. Somit erhöht sich der 12 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention Konkurrenzdruck unter den männlichen Prostituierten und leistet Neid, Aggression und Gewalt Vorschub. Nicht nur Aggression und Gewalt überschatten die mann-männliche Prostitutionsszene und unsere sozialpädagogische und psychosoziale Arbeit, sondern auch die Zunahme von psychisch schwer traumatisierten Klient _ innen, die in ihrem Verhalten (auto-)aggressiv und somit z.T. unberechenbar und für die KISS-Mitarbeiter _ innen untragbar sind, weil psychotherapeutische/psychiatrische Hilfen im Rahmen der niedrigschwelligen sozialpädagogischen Arbeit nicht geleistet werden können. Folgenschwer bleibt nach wie vor der Mangel an klinischen und psychotherapeutischen Einrichtungen gerade für diese Klient _ innen, die nicht nur eine Gefahr für sich, sondern manchmal auch für andere darstellen. 1.5. Finanzierung KISS erhält Zuwendungen vom Hessischen Sozialministerium, dem Gesundheitsdezernat und dem Jugendamt der Stadt Frankfurt am Main. Darüber hinaus wurde die Arbeit im KISS immer durch erhebliche Eigenmittel der AIDS-Hilfe Frankfurt, durch Spenden und Stiftungen, finanziert. Auch in 2015 hat die Stiftung R.E.S.P.E.K.T. durch eine großzügige Zuwendung ermöglicht, dass KISS – über die in der qua Leistungsbeschreibung durch die Stadt Frankfurt teilfinanzierten Angebote hinaus – auch wieder freitags geöffnet haben konnte. Durch die Stiftungsgelder konnte sowohl das entsprechende Arbeitskontingent eines KISS-Mitarbeiters bereitgestellt als auch die Präsenz einer kulturellen Mediatorin (Dolmetscherin) am Freitagnachmittag finanziell gedeckt werden. Für die Zuwendungen möchten wir uns bei den Zuschussgebern ganz herzlich bedanken. Sie ermöglichten, die sozialpädagogische Arbeit in der mann-männlichen Prostitutionsszene und deren sozialem Umfeld in 2015 aufrecht zu erhalten. 2. Arbeitsbereiche Jeder Arbeitsbereich im KISS steht für ein Tätigkeitsfeld, um sowohl die für ihn spezifischen Angebote als auch eigene Strukturen und Methoden zu gewährleisten. Jeder Arbeitsbereich ist weit gefasst, um den Bedürfnissen des Einzelnen bzw. den der Gruppe in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen gerecht zu werden. Dies erfordert sowohl Flexibilität als auch ein hohes Maß an Strukturierung, um sich diesen Erfordernissen anpassen zu können. KISS ist in vier Arbeitsbereiche unterteilt: • niedrigschwellige Anlaufstelle • Streetwork • Tagesruhebetten • Onlineberatung Aus den oben genannten Arbeitsbereichen haben sich folgende Kernbereiche herausgebildet: • Beratung, Betreuung und Begleitung • Einzelhilfe und Krisenintervention • Kulturelle Mediation und Migrant _ innenarbeit • Gewaltpräventive Maßnahmen und Interventionen • Gesundheitsfördernde Maßnahmen • Medizinische Versorgung • Multiplikatoren- inkl. Freierarbeit • Vernetzung • Öffentlichkeitsarbeit 13 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 2.1. Kernbereiche Den Zwängen des Prostitutionsalltags, die in Kombination mit negativen (Prostitutions-)Erfahrungen, Drogenkonsum und Schlafmangel zu aggressiven, gewaltbereiten sowie unsafen Sexualpraktiken führen können, treten wir entgegen, indem wir eine kurzfristige Alternative zum Prostitutionsalltag anbieten. Durch das Angebot unserer niedrigschwelligen, szenenahen und an den Grundbedürfnissen orientierten Einrichtung offerieren wir schnelle und unbürokratische Interventionen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht als individuelle Hilfe über den Leistungsbescheid der zuständigen Jugendhilfe-Einrichtungen, der Sozialrathäuser oder der ARGE abgesichert sind. Folgende Kernbereiche haben sich herausgebildet: gesundheitsfördernde Maßnahmen; • Kulturelle Mediation • Migrant _ innenarbeit • Psychosoziale Betreuung • Beratung und Begleitung • Einzelhilfe • Krisenintervention • Basisversorgung mit Nahrungsmitteln • Gewaltpräventive Interventionen • Medizinische Versorgung • Multiplikatoren- inkl. Freierarbeit • Vernetzung • Fortbildungen • Öffentlichkeitsarbeit • Peer-Involvement • Freizeitangebote und Spielaktivitäten Durch diese Ausrichtung ergeben sich folgende Arbeitsaufträge und Zielvorstellungen: • Primärpräventives Angebot in Bezug auf HIV/AIDS und andere sexuell übertragbare Infektionen. • Auf Verbesserung und Stabilisierung der Lebenssituation sowie der körperlichen und psychischen Konstitution hinwirken. • Gemeinsam (Lebens-)Perspektiven entwickeln. • Das Gesundheitsbewusstsein und Selbsthilfepotential stärken. • Umstiegs- sowie Professionalisierungshilfen offerieren. • Krisenintervention und gewaltpräventive Interventionen. 2.2. Angebote in der niedrigschwelligen Anlaufstelle Die Lebenswelten der in der Armutsprostitution Tätigen erfordern eine anders gestaltete Hilfestruktur als die konventionellen, eher mittelschichtsorientierten Beratungsangebote. Deshalb ist in der sozialpädagogischen Arbeit mit männlichen Prostituierten die Niedrigschwelligkeit der Angebote eine wichtige Grundvoraussetzung. Niedrigschwelligkeit bedeutet, die Barrieren für den Zugang zu den Angeboten möglichst gering zu halten. Demgemäß benötigt unsere Zielgruppe eine Anlaufstelle, die einfach zu erreichen ist, ohne so genannte hochschwellige Vorbedingungen. In herkömmlichen Beratungsstellen müssen z.B. Termine für eine Beratung oft schon im Voraus telefonisch vereinbart werden. Diese Hürde existiert in einer niedrigschwelligen Einrichtung wie der unseren nicht. Die Klienten können mit ihren akuten Anliegen während der Öffnungszeiten auf unbürokratische Weise jederzeit Hilfe erhalten. Demzufolge müssen die Öffnungszeiten auf die Lebensbedingungen der Klient _ innen abgestimmt sein. Die niedrigschwellige Anlaufstelle ist Dreh- und Angelpunkt unserer Einrichtung. Wir sind an allen Werktagen für die Klient _ innen erreichbar, um in weiterführende Hilfen vermitteln zu können. Wenn unsere 14 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention Hausregeln von den Klient _ innen geachtet und respektiert werden, kann grundsätzlich jeder/jede Einlass finden, der/die der mann-männlichen Prostitutionsszene angehört. Um die Durchsetzung der Hausregeln zu gewährleisten und aus Sicherheitsgründen muss die niedrigschwellige Anlaufstelle mit mindestens zwei KISS-Mitarbeiter _ innen besetzt sein, davon muss ein(e) KISS-Mitarbeiter _ in eine pädagogische Fachkraft sein. Einige unserer Klient _ innen haben vielfältige Erfahrungen mit sozialen Einrichtungen und stehen diesen meist skeptisch gegenüber, da sie Einrichtungen eher als Kontrollinstanz und weniger als Hilfsangebot erlebt haben. Herkömmliche sozialpädagogische Konzepte engen Menschen am Rande der Gesellschaft oft zu sehr ein, weil sie eine Anpassung der Zielgruppe an die Strukturen der Einrichtung sowie eine aktive Hilfesuche voraussetzen. Das nach wie vor in der Gesellschaft bestehende Dreifachtabu – Homosexualität, Prostitution, Migration – bedeutet ein zusätzliches Hindernis für diejenigen, die Hilfe brauchen, denn es führt häufig dazu, dass sie auch in sozialen Einrichtungen ausgegrenzt und diskriminiert werden. In der niedrigschwelligen, szenenahen Anlaufstelle werden sowohl physische als auch psychische Gründbedürfnisse abgedeckt sowie unbürokratische und konkrete Hilfestellungen angeboten. • Zubereiten von Mahlzeiten und Getränken • Duschen und die Ausgabe von Hygieneartikeln • Wäsche waschen und trocknen • Kostenlose Vergabe von Kondomen, Gleitmitteln und präventiven Printmedien • Vergabe von Secondhand-Bekleidung • Aufbewahrung privater Habseligkeiten in Schließfächern • Freizeitgestaltung in Form von Fernsehen, Musik hören Gesellschaftsspielen, Internetnutzung • Einrichten einer Postadresse • Ruhe- und Schutzraum für soziale Kontakte innerhalb der Peer-Group • Beratung, Betreuung, Begleitung sowie Information in Bezug auf Gesundheitsfördernde Maßnahmen und Stabilisierung der Lebenssituation • Krisenintervention • Kostenloses Telefonieren mit Ämtern, Behörden, Institutionen, Organisationen sowie mit Angehörigen • Clearingstelle sowie Weitervermittlung und Begleitung ins kommunale (Hilfs-)Netzwerk • Angebote medizinischer Beratungen und Behandlung inklusive des Angebots einer Hepatitis-Impfung • Angebote kultureller Mediation • Angebote von Beratung bei sexuellen Störungen und psychotraumatischen Erfahrungen und Erlebnissen • Angebot eines Kooperationsprojekts mit dem Amt für Gesundheit Im Berichtsjahr 2015 nahmen insgesamt 226 Prostituierte die Angebote der niedrigschwelligen Anlaufstelle in Anspruch. Davon waren 94 Klient_innen zum ersten Mal in der Anlaufstelle. Dabei kam es zu 2328 Kontakten. Auf die Öffnungszeit bezogen, kamen wir im Durchschnitt täglich auf 12,2 Klient_innen. Die Migrant_innen stellten innerhalb der Zielgruppe 90,4 Prozent der Hilfesuchenden in 2015. 2.3. Beratung in und Begleitung aus der niedrigschwelligen Anlaufstelle Die psychosoziale Beratung unserer Klient _ innen sowie die Betreuung und Begleitung in/zu Einrichtungen, Abteilungen des Jugend- und Sozialamtes, Ämter, Behörden und Polizei, Ärzten, Anwälten, Krankenhäusern, Kliniken, Straßenambulanzen, zum Amt für Gesundheit ist ein Kernbereich unserer Arbeit. Im Fokus steht die gezielte Einzelhilfe, resultierend aus Beratungs-, Betreuungs- und Begleitungsverhältnissen, die finanziell nicht als individuelle Hilfe über den Leistungsbescheid des zuständigen Jugend- oder Sozialamtes und die Hilfeplanung abgesichert sind. Die Beratung umfasst sowohl psychische und physische als auch psychosoziale und psychosexuelle Komponenten und beinhaltet u.a. Krisenintervention, Paar-, Sexual- und Psychotraumaberatung, Media- 15 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 tion, Ausstiegshilfen und lebenspraktische Unterstützungsleistungen. So kann z.B. das Einrichten einer Postadresse für obdachlose Klient _ innen bei KISS ein erster Schritt sein, um überhaupt eine Kontaktaufnahme seitens der Ämter und Behörden zu gewährleisten. Daraus kann sich dann durch vertrauensbildende Maßnahmen und durch Beziehungsarbeit eine längerfristige Betreuung ergeben und folglich Begleitung zu Institutionen im Rahmen von Ausstiegshilfen und/oder gesundheitsfördernden Maßnahmen resultieren. Hinzu kommt, dass durch biografische Erfahrungen, verbunden mit der aktuellen Lebenssituation in der Szene, die Klient _ innen vereinsamen können. Es entstehen starke und ausgeprägte Beziehungswünsche, die an die KISS-Mitarbeiter _ innen gerichtet werden und die sich in Form des Bedürfnisses nach Beratung, Betreuung und Begleitung ausdrücken. Dieses zu erkennen, es zu thematisieren sowie das professionelle Verständnis von Nähe und Distanz einzuhalten, ist ebenso wichtig wie die Zielvorgabe, dass der/die Einzelne lernt, die persönlichen Angelegenheiten selbstständig und sozial adäquat zu regeln. In Anbetracht des hohen Migrant _ innenanteils und der mangelnden Sprachkenntnisse sowie des zunehmenden Unvermögens der Klient _ innen, sich alltagspraktisch zurechtzufinden, sind Begleitungen durch KISS-Mitarbeiter _ innen unbedingt erforderlich. Ein Großteil der Klient _ innen weist beträchtliche Defizite und Unzulänglichkeiten bei der Gestaltung und Strukturierung der Alltagspraxis und des Lebensalltags auf. Die vielfältigen Probleme, die sie mitbringen, nehmen sie so sehr ein, dass sie schnell überfordert reagieren. Die Einsicht in Notwendigkeiten, sich z.B. behandeln zu lassen oder Terminen nachzukommen, wird durch die aktuellen und/oder akuten Probleme derart überlagert, dass sie den Weg ohne unsere Begleitung nicht antreten würden. Zudem bauen wir durch diese Hilfs- und Unterstützungsleistungen eine stabile und vertrauensvolle Beziehung auf, um Klient _ innen in ihrer individuellen Lebensgestaltung und der eigenen Zielfindung zu unterstützen. Die Schwelle, sich an andere zu wenden, wird zum einen von den Klient _ innen als außerordentlich hoch erlebt. Um ein perspektivisches Arbeiten und einen Ausstieg zu gewährleisten, unterstützten wir die Klient _ innen durch Begleitungen zu Ämtern und Behörden des Magistrats, zu Spezialberatungsstellen, zu Wohneinrichtungen, Krankenhäusern, Ärzt _ innen, Polizei, Drogeneinrichtungen, Anwält _ innen und vielen weiteren Stellen. Im Berichtsjahr 2015 kam es zu insgesamt 29 Begleitungen, die sich wie folgt zusammensetzen: Sowohl 11 Klient_innen nahmen das Angebot, zu Rechtsberatungsstellen, Polizei, Jobcentern, Wohnungsbaugesellschaften, Bankfilialen etc. begleitet zu werden, wahr als auch 18 Klient_innen, die im Rahmen medizinischer Versorgungsangebote unser Hilfestellungsangebot benötigten. Daraus resultierten sehr zeitintensive, mehrmalige Begleitungsangebote, die in zeitintensive Beratungen übergingen. Neben der Beratung und Begleitung bieten wir auch Unterstützungsleistungen bei konkreten Anliegen, wie z.B. der Formulierung von Briefen/Anträgen an Behörden, dem Ausfüllen von Formularen, das Telefonieren mit Ämtern, Behörden, Institutionen, Ärzten etc. sowie Kriseninterventionen oder Mediationen an. Je nach Intensität und angepasst an die Bedürfnisse der Klient _ innen, bieten wir Beratung und Unterstützung sowohl während als auch außerhalb der Öffnungszeiten. Neben der persönlichen Beratung bieten wir auch (anonyme) telefonische Beratung an. Insgesamt wurden wir 187-mal telefonisch kontaktiert. Davon waren 37 Anrufe anonyme Telefonberatungen, 69 Telefonberatungen mit uns bekannten Klienten _ innen. Die Beratungsinhalte erstreckten sich über Wissensvermittlung bis hin zu Kriseninterventionen. Ein Klient kontaktierte uns regelmäßig aus einer JVA, ein weiterer Klient hielt während eines psychiatrischen Klinikaufenthaltes ständigen Kontakt zu uns. 2.4. Multiplikatorenarbeit Als „Multiplikatoren“ werden jene Personen bezeichnet, die aus dem (unmittelbaren) Lebensumfeld unserer Zielgruppen stammen. Es sind Familienangehörige, Freund _ innen, Lebenspartner _ innen sowie Freier _ innen, Wirte, Clubbesitzer und Stricherkneipen-, Club- und Pornokinopersonal, die einen (un-) mittelbaren Einfluss auf die Lebenssituation unserer Klient _ innen nehmen können. Die Zielsetzung dieser Aufgabe besteht darin, sie zu sensibilisieren, Informationen zu vermitteln, um gegebenenfalls eine Verhaltensänderung herbeizuführen. 16 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention Da die „Akzeptanz der Lebenswelt“ ein wichtiger Bestandteil unserer sozialpädagogischen und psychosozialen Arbeit ist, fühlen sich die Klient _ innen ernst genommen und in ihrer Lebensrealität akzeptiert. Die Zielsetzung besteht darin, für verantwortungsbewusste Verhaltens- und Umgangsweisen zu sensibilisieren und Aufklärungsarbeit in Bezug auf gesundheitsfördernde Maßnahmen zu leisten. Für den Bereich Primärprävention verteilen wir kostenlos Kondome und Gleitmittel und geben oder legen Informationsmaterialien aus, die sich letztendlich auf den Schutz der Klienten auswirken. Durch diese Kontaktpflege kommen auch gerade Wirte und Thekenpersonal mit spezifischen Anliegen in unsere Einrichtung. Die Anliegen setzten sich aus folgenden Themenschwerpunkten zusammen: • HIV-, AIDS- und STI-Prävention • Hilfe im Umgang mit suizidgefährdeten männlichen Prostituierten • Drogenkonsum von männlichen Prostituierten und Freiern • Migrant _ innen in der Prostitution • Anbindung an die Schwulenszene • Kontaktaufnahme zu männlichen Prostituierten, die nicht ins KISS kommen wollen • Klärung von Fragestellung und Auswirkungen des Prostitutionsgesetzes • Gewalttätige Übergriffe und aggressives Verhalten von Szenemitgliedern • Aggressive und gewaltbereite Verhaltensweisen von Einzelnen/Gruppen außerhalb der mann-männlichen Prostitutionsszene 2.5. Schwierige Ausgangssituation 2015 Leider konnten im Berichtsjahr 2015 aufgrund des Schimmelbefalls im Erdgeschoss die beiden medizinischen Angebote der niedrigschwelligen Anlaufstelle nur eingeschränkt durchgeführt werden. Leider ermöglichten die veränderten Öffnungszeiten10 und die Verlegung der niedrigschwelligen Anlaufstelle in den Gruppenraum des Switchboards es sowohl räumlich als auch zeitlich nicht, die medizinischen Sprechstunden auf einen unserer Öffnungstage zu legen. Als abzusehen war, dass die Instandsetzung länger als angenommen dauern würde, wurde die Leitung „Medizinische Dienste und Humanitäre Sprechstunden“ des Gesundheitsamtes schriftlich über den Sachverhalt in Kenntnis gesetzt. Glücklicher- und dankenswerterweise hatten wir it der behandelnden Ärztin des Gesundheitsamtes, deren Angebot in der KISS eher allgemeinmedizinisch ausgerichtet war, die Absprache treffen können, sie in Akut-Fällen dienstags kontaktieren zu können. Unsere internen strukturellen Veränderungen fingen Anfang des Jahres mit Schimmelbefall im Erdgeschoss unserer Anlaufstelle an, auf die aus gesundheitspräventiver Sicht reagiert werden musste, was Mitte Februar zu der Entscheidung führte, dass die Anlaufstelle geschlossen wird, damit die Ursache behoben werden kann. Da wir davon ausgingen, dass es sich um kurzfristige Überbrückung handelte, boten wir als Alternative zur Anlaufstelle ab Mitte Februar unterschiedliche freizeitpädagogische Maßnahmen an und intensivierten unsere Streetworkangebote in der mann-männlichen Prostitutionsszene. Als abzusehen war, dass die Verantwortlichkeiten für die Instandsetzung unserer Räumlichkeiten nicht so einfach zu klären sein würden, boten wir ab März im Gruppenraum des Switchboards in der Alten Gasse 36, ebenfalls ein Projekt der AIDS-Hilfe-Frankfurt e.V., eine Ausweichmöglichkeit und offerierten dort unser Angebot einer niedrigschwelligen Anlaufstelle an drei Tagen in der Woche. Das Tagesruhebettenangebot blieb in den alten Räumen bestehen, weil nur das Untergeschoss von Schimmel betroffen war, und war an fünf Tagen in der Woche für die Klienten geöffnet. Anfang August konnten wir wieder in die alte Anlaufstelle mit den gewohnten Öffnungszeiten zurückkehren. Anfang Dezember sind wir dann schließlich in ganz neue Räumlichkeiten in der Wielandstraße 10-12 im Nordend mit neuen Öffnungszeiten umgezogen. Trotz des Angebots fielen im Berichtsjahr die Kontaktzahlen für diesen Arbeitsbereich leider sehr gering aus, infolgedessen wurden keine expliziten statistischen Angaben für diesen Bereich erhoben. Dass die Kontaktzahlen so niedrig waren, ist sicherlich auch dem Lebensalltag unserer Klient _ innen geschuldet, 10 siehe Abschnitt „Einleitung“ des Jahresberichts 2015. 17 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 da dieser häufig unstrukturiert ist und die Alltagsbewältigung im Vordergrund steht. Die Lebensplanung, selbst auf die nahe Zukunft bezogen, tritt in den Hintergrund. Deswegen ist es für die Klienten oft schwierig, Termine einzuhalten bzw. sich einen Termin in der Woche zu merken. 2.6. Die sozialpädagogische Arbeit mit Freiern Freier sind erwachsene Männer aller Altersklassen, die ungeachtet ihrer eigenen sexuellen Orientierung oder Lebensweise gelegentlich oder regelmäßig sexuelle Dienstleistungen, sexuelle Handlungen und/oder Gesellschaft von männlichen Prostituierten Anspruch nehmen. Die Entlohnung kann je nach Professionalität und Selbstdefinition des Einzelnen materiell oder immateriell sein (Geld, legale und illegale Drogen, Kleidung, Nahrungsmittel, Zuneigung, Liebe, Zärtlichkeit, Bestätigung, Gesellschaft, Schlaf- und Wohnmöglichkeit etc.).11 Die Kontaktaufnahme sowie die (sexuellen) Dienstleistungen bzw. Handlungen finden zum Teil in (halb-) öffentlichen Räumen (Toiletten-, Grünanlagen, Bahnhöfen, Kneipen, Bars, Saunen etc.), durch private Kontakte oder durch organisierte Vermittlungen (Escort-Service, Inserate in Zeitungen, Internet, private Clubs, Apartments), über direkte Ansprache, über Handys und/oder Festnetz sowie in Wohnungen, Hotelzimmern und in Autos statt.12 Eine spezielle Form von Beratung für Freier ist weiterhin aus inhaltlichen Gründen nicht als Angebot im Arbeitskonzept der KISS verankert. Nach wie vor wenden sich jedoch Freier und auch Freierinnen als Hilfesuchende an eine Mitarbeiterin von KISS, um bei problematischen Beziehungen zu männlichen Prostituierten Rat zu bekommen. In diesen Beratungen wird deutlich, dass es sich vorrangig um Freier handelt, die in einer kontinuierlichen Beziehung zu männlichen Prostituierten stehen und sich als schwul definieren, aber nicht unbedingt offen schwul leben. Die Kontaktaufnahme von bzw. zu verheirateten Freiern ist durch die Tabuisierung der Freierrolle und des Doppellebens eher selten. Diese Männer leugnen im Allgemeinen ihre sexuellen Interessen und/ oder Kontakte zu männlichen Prostituierten und imaginieren sich eher als „väterlichen Freund, der sein allgemeines Interesse am Schicksal des männlichen Prostituierten bekundet. Die Doppelmoral und das Doppelleben des Freiers haben natürlich eine verunsichernde und Misstrauen erzeugende Wirkung auf den männlichen Prostituierten. Allgemein erleben sich Freier oftmals als isoliert und trauen sich aus Scham nicht, mit ihren Problemen konventionelle Beratungsstellen aufzusuchen. Da KISS ein Schutzraum für männliche und transidente Prostituierte ist, wurden telefonische und nur außerhalb der KISS-Öffnungszeiten auch persönliche Beratungen mit Freiern durchgeführt. Eine reflektierte Sichtweise von Freiern hinsichtlich ihrer eigenen Verstrickung in „Beziehungen“ mit männlichen und transidenten Prostituierten kann auch zu einer Entlastung des/der jeweils involvierten Klient _ in führen. Ebenso können Freier u.U. als Multiplikatoren in der Präventionsarbeit gesehen werden, wenn sie sich ihrer Verantwortung als Freier bewusst sind bzw. bewusst werden. In der Anlaufstelle und außerhalb der offiziellen Öffnungszeiten sowie beim Streetwork nahmen insgesamt 26 Freier persönlich mit 168 Kontakten unser Beratungsangebot in Anspruch. Insgesamt wurden 6 Freier 15-mal telefonisch beraten. Darunter subsumiert sind zwei Beratungsgespräche mit Freiern, die sowohl zu weiblichen als auch zu männlichen Prostituierten gehen und sich als heterosexuell definieren. Im Juli des Berichtsjahr 2015 wurde ein Freierworkshop abgehalten (vgl. Kap. 2.12.2.). Von neun Anmeldungen kamen 5 Personen zur Veranstaltung, davon haben sich drei Personen als Freier geoutet. Nach wie vor hat die Anonymität in den meisten Beratungsgesprächen oberste Priorität. Weil der Bedarf an persönlicher Beratung notwendig wurde, wurden sowohl ein Freier mit einem KISSKlienten als auch ein Freier mit einer KISS-Klientin kontinuierlich über das Berichtsjahr verteilt zu Beratungssitzungen ins KISS eingeladen. Des Weiteren kam es zu kontinuierlichen Paarberatungssitzungen bei zwei Paaren, deren Schwerpunktthemen „Anschaffen innerhalb einer Partnerschaft“, „Ausstieg aus der 11vgl.: Fink/Werner: „Stricher – Ein sozialpädagogisches Handbuch zur mann-männlichen Prostitution“, Pabst-Verlag, 2005. 12vgl.: dies., ebd. 18 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention Prostitutionsszene“ sowie das „Verarbeiten von Gewalterfahrungen in der Prostitution“ u.v.m. waren. Mehrere Paarberatungssitzungen konnten nur in Anwesenheit einer kulturellen Mediatorin durchgeführt werden, da es ansonsten zu vielen Missverständnissen gekommen wäre, die die Krise nur verstärkt hätten. Die Inhalte der Beratungsgespräche setzten sich wie folgt zusammen: • Infektionsrisiken und Testberatung • Adressenweitergabe von Amt für Gesundheit, Schwerpunktpraxen etc. • Aggressionen und gewalttätige Übergriffe • Diebstahl • Gewaltpräventive Interventionen • Ausländerrechtliche Fragestellungen • Sprachverwirrung, Sprachlosigkeit, und die Muttersprache • Verliebtsein, Partnerschaft und Verpartnerschaftlichung • Sicherheit • Einsamkeit und Vereinsamung • Krisenintervention • Alter • Funktionelle Sexualstörungen • Abhängigkeit • Drogen beim Anschaffen • Beziehungsprobleme und Krisen in einer Beziehung • Hilfestellungen in Bezug auf Ausstieg • Sexuelle und körperliche Gewalt • Monogamie • Psychotraumata 2.7. Zahlen und Fakten 2015 – niedrigschwellige Anlaufstelle 2.7.1. Nationalitäten der Klienten in der Anlaufstelle 2015 Deutschland 19 USA 01 Bulgarien 126 Chile 01 Rumänien 56 Iran 01 Türkei 03 Kosovo 01 Italien 03 staatenlos 01 Brasilien 02 unbekannt 10 Marokko 02 Nach wie vor führen wir die ethnische Gruppe der Roma nicht gesondert auf, weil aufgrund der persönlichen Erfahrungen von Diskriminierung und Stigmatisierung dieses Thema für unsere Klient _ innen hoch tabuisiert ist. Die Herkunft bzw. die Zugehörigkeit gerade der diskriminierten Minderheit der Sinti und Roma kann erst durch die intensivierte Beziehungsarbeit thematisiert werden. Wir vermuten, dass sowohl unter den Klient _ innen mit bulgarischer und rumänischer als auch unter jenen mit südosteuropäischer Herkunft zahlenmäßig viel mehr Roma resp. Sintis etc. vertreten sind, als bisher angenommen. 19 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 2.7.2. Die Altersstruktur der Klienten in der Anlaufstelle 2015 < 18 Jahre: 05 Klient _ innen 18 – 22 Jahre: 19 Klient _ innen 23 – 27 Jahre: 18 Klient _ innen 28 – 32 Jahre: 15 Klient _ innen 33 – 37 Jahre: 07 Klient _ innen 38 – 42 Jahre: 09 Klient _ innen > 11 Klient _ innen 43 Jahre: unbekannt 142 Klient _ innen 2.7.3.Geschlechtszugehörigkeit in der niedrigschwelligen Anlaufstelle männlich 217 Es bezeichneten sich als transident 3 weiblich 6 2.7.4.Sexuelle Identitäten in der niedrigschwelligen Anlaufstelle heterosexuell 24 homosexuell 15 bisexuell 09 keine Angaben 178 2.8. Tagesruhebetten Unser anonymes, gesundheitsförderndes und gewaltpräventives Angebot der Tagesruhebetten richtet sich in erster Linie an die mehrfach benachteiligte Gruppe der minderjährigen und heranwachsenden Prostituierten. Da unser Tagesruhebettenkonzept nicht auf transidente Klientinnen abgestimmt ist, können nur männliche Prostituierte das Angebot nutzen. Da keine Notschlafstellen und Übernachtungseinrichtungen außerhalb der klassischen Wohnsitzlosen-Einrichtungen und Übergangswohnheime vorhanden sind, ist es nach wie vor dringend erforderlich, eine Alternative bereitzustellen. Das allgemeine Ziel des Arbeitsbereichs ist es, sowohl die Zwangslagen der Prostitution zu unterbrechen als auch den Klienten eine Herauslösung aus Abhängigkeits- und Gewaltverhältnissen zu ermöglichen. Wir wollen mit diesem Angebot einen wichtigen Beitrag zur sozialen Sicherheit und Ordnung leisten und der zunehmenden Gewalt in der mann-männlichen Prostitutionsszene entgegentreten. Die Tagesruhebetten haben somit die Funktion, übernächtigte und womöglich unter dem Einfluss von Aufputschmitteln, Drogen oder Alkohol stehenden jungen Männern eine Alternative bereitzustellen, damit die hohe Bereitschaft, in Konflikten gewalttätig aufzutreten oder in ihrer Unzufriedenheit Konflikte sogar anzufachen, unterbunden wird. Ausgeschlafen zeigen sie sich in unseren Räumlichkeiten offen für Gespräche und Präventionsangebote. Das Angebot der Tagesruhebetten hat sich somit auch erfolgreich als ein Mittel der gewaltpräventiven Intervention bewährt. Die Zieldefinition der Tagesruhebetten bezieht sich auf primär- und sekundärpräventive Angebote und wird wie folgt benannt: Die primärpräventiven Angebote sind die Verhütung und Vorbeugung • von Krankheiten und Infektionen, 20 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention • von Gewalt, • des Einstiegs in die mann-männliche Prostitutionsszene, • die Aufklärungsarbeit und das Stärken der Entscheidungs- und Handlungskompetenz sowie Deeskalationsstrategien. Ziel der sekundärpräventiven Angebote ist die Verhütung und Vorbeugung • des erneuten Auftretens oder Ausbrechens von Krankheiten und Infektionen, • von Verelendungs- und Verwahrlosungstendenzen sowie von Übermüdungserscheinungen, • von Gewalt, • die Hinführung zum Ausstieg und die Stärkung der Entscheidungs- und Handlungskompetenz in Richtung einer realistischen Perspektivenentwicklung. Im Verlauf des Berichtsjahres nahmen 60 Klienten mit 473 Kontakten das Angebot der Tagesruhebetten in Anspruch. Diese Klienten sind alle unter die Erhebungen der niedrigschwelligen Anlaufstelle subsumiert, da sie neben den Tagesruhebetten auch die Angebote in der Anlaufstelle nutzten. Angehörige folgender Nationalitäten haben das Tagesruhebetten-Angebot genutzt: Bulgarien 40 Rumänien 18 Deutschland 02 2.9. Aufsuchende Arbeit / Streetwork / Straßensozialarbeit Während der aufsuchenden Sozialarbeit begeben wir uns direkt in das Lebensumfeld der Zielgruppe und suchen all die Orte auf, an denen sie sexuelle Dienste/Handlungen anbieten und/oder an denen sich in ihrer Freizeit aufhalten. Die Orte oder (halb-)öffentlichen Plätze sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Durch die Regelmäßigkeit des Angebots konnten wir ein Vertrauensverhältnis zu jenen aufbauen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in die Anlaufstelle vermittelt werden wollen, aber „vor Ort“ durch gezielte Hilfsangebote betreut werden können. Dazu gehören beispielsweise die Begleitung zur Polizei oder zu Einrichtungen der Jugend- und/oder Drogenhilfe. Im Berichtsjahr 2015 wurden durch Streetwork insgesamt 250 Klient _ innen mit 857 Kontakten angetroffen, die sich wie folgt zusammensetzen: Von den 250 Klient _ innen waren 215 Prostituierte, davon 199 männliche Prostituierte mit 665 Kontakten, 10 Trans* mit 40 Kontakten und 06 weibliche Prostituierte mit 7 Kontakten. 19 Freier mit 85 Kontakten wurden beraten. 13 Multiplikatoren (Thekenpersonal, Betreiber von Pornokinos, Wirte etc.) mit insgesamt 58 Kontakten wurden fortwährend beraten und mit Printmedien und Kondomen ausgestattet. 01 Partner eines Prostituierten mit 02 Kontakten wurde beraten und 63 Neu-Klient_innen wurden insgesamt angetroffen. 21 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 Die Nationalitäten der Klient_innen im Arbeitsbereich Streetwork insgesamt im Überblick: Bulgarien 113 Kolumbien 01 73 Marokko 01 Deutschland 30 Spanien 01 Türkei 05 Albanien 01 Italien 05 Kroatien 01 Iran 04 Tunesien 01 Brasilien 01 Polen 01 staatenlos 01 keine Angaben 10 Rumänien Afghanistan 01 Von den männlichen Prostituierten im Arbeitsbereich Streetwork kamen 103 Albanien 01 Rumänien 70 Marokko 01 Deutschland 05 Spanien 01 Iran 04 Kolumbien 01 Türkei 02 staatenlos 01 Afghanistan 01 keine Angaben 08 Tunesien 01 Bulgarien Die Nationalitäten der transidenten Prostituierten im Arbeitsbereich Streetwork setzen sich wie folgt zusammen: Bulgarien 05 Deutschland 03 Brasilien 01 Italien 01 Von den weiblichen Prostituierten im Arbeitsbereich Streetwork kamen Bulgarien Rumänien Keine Angaben 22 04 ^01 01 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention 2.10. Migrant_innenarbeit In unserer psychosozialen und sozialpädagogischen Arbeit werden wir immer wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass kaum vorhandene Deutschkenntnisse die Kontaktaufnahme erschweren und dass das Sprechen über bestimmte Themenschwerpunkte die Gefahr in sich birgt, kulturell bedingte Tabus zu überschreiten. Deshalb müssen Beratungen durch „kulturelle Mediation“ gesichert sein. HIV-, AIDS-, STIPrävention und die gesundheitsfördernden Maßnahmen im Allgemeinen bei Migrant _ innen bedeuten in erster Linie interkulturelle Kommunikation, d.h. die verbale und/oder nonverbale Weiterleitung von Informationen verschiedenster Art, unter Einbeziehung von Besonderheiten in Sprache, Wertsystem, Glauben und Empfindung. Die Möglichkeiten, die das soziale Hilfssystem bietet, sind für Migrant _ innen, die keinen geregelten Aufenthaltsstatus besitzen oder als Tourist _ innen unterwegs sind, kaum nutzbar. Zielorientierte Einzelhilfe ist in vielen Fällen bei Migrant _ innen nicht möglich, da sie aus ausländerrechtlichen Gründen keine Perspektive in Deutschland haben. Auch die Abhängigkeit von der Prostitution oder die Gefahr, in Abhängigkeits- und Gewaltverhältnisse in der Prostitution zu geraten, ist bei Migrant _ innen höher. Sie sind häufig noch weniger informiert und aufgeklärt und müssen sich eher auf risikoreiche Sexualpraktiken einlassen. Ziele in diesem Arbeitsbereich sind, die • Vorbeugung vor neuen Infektionen oder Krankheiten, • Behandlung bestehender Infektionen oder Erkrankungen, • Förderung vorhandener gesundheitsstabilisierender Verhaltensweisen und Ressourcen. Neben den oben beschriebenen Funktionen bedeutet kulturelle Mediation in unseren Zusammenhängen auch die Vermittlung zwischen Herkunftskultur und der Kultur des Aufenthaltslandes, der szenespezifischen Kultur und dem Anliegen der sozialen Institution). Die Rolle des/der Kulturmediators _ in erfordert also nicht nur sprachliche Kompetenzen (Dolmetschen), sondern interkulturelle Kompetenzen in einem viel umfassenderen Sinne. Durch unsere studentischen Aushilfen konnten wir im Berichtsjahr Bulgarisch, Türkisch und Rumänisch anbieten. Außerdem konnten durch die pädagogischen Fachkräfte die Sprachen Englisch und Italienisch abgedeckt werden. Durch eine Sozialarbeiterin des Gesundheitsamtes, die einmal in der Woche zu den Öffnungszeiten der Anlaufstelle verfügbar war, konnte zudem auch Beratung in spanischer Sprache angeboten werden. 2.10.1. Gesundheitsfördernde Maßnahmen für Migrant_innen Migrant _ innen in der Prostitution stellen keine homogene Zielgruppe dar, sondern zeichnen sich durch Nationalität, Sprache, Kultur und Religion, durch ihr spezifisch geprägtes Normen und Wertesystem etc. aus. Aufgrund der beschriebenen Vielfalt darf das Aufklärungsmaterial nicht einfach aus dem Deutschen in die jeweilige Muttersprache übersetzt werden, da bei den Übersetzungsarbeiten kulturelle Besonderheiten zu berücksichtigen sind. Das heißt, der Schwerpunkt der Präventionsarbeit mit Migrant _ innen muss darauf ausgelegt werden, Informationen so weiterzugeben und Diskussionen so zu gestalten, dass sich daraus eine kulturgemäße Kommunikation ergibt. Der/die Migrant _ in soll in der Beratungssituation motiviert werden, aktiv am Dialog teilzunehmen, um gemeinsam Lösungswege und Lösungsstrategien zu finden. Wie bei deutschen bzw. Deutsch sprechenden Klient _ innen, können verschiedene Medien (z.B. mehrsprachige Flyer, Aufklärungsvideos etc.) auch ein Bestandteil der primär-präventiven Arbeit mit Migrant _ innen sein. Jedoch zeigen unsere Erfahrungen sowohl in den niedrigschwelligen Anlaufstellen und auch beim Streetwork, dass Veränderungen im Präventionsverhalten der Klient _ innen oftmals nur durch persönliche Gespräche, durch die Beziehungsarbeit, durch Beratung und Begleitung etc. also durch den persönlichen Kontakt zu KISS-Mitarbeiter _ innen entstehen. Die sozialpädagogische und psychosoziale Arbeit orientiert sich immer – nicht nur im Falle der Mi- 23 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 grant _ innen – an den Bedürfnissen der/des Einzelnen. Für die unterschiedlichen Migrant _ innengruppen bestimmt weitgehend der vorhandene aufenthaltsrechtliche Status das Angebot. Je ungeregelter der Aufenthaltsstatus ist, desto schwieriger ist es, staatliche Hilfsangebote anzubieten und zu nutzen. Dennoch ist das Wenige, das angeboten werden kann, für Migrant _ innen überlebensnotwendig. Um überhaupt präventiv arbeiten zu können, besteht die allererste, grundlegende Aufgabe darin, körperliches und psychisches Überleben auf der Straße und auf dem Strich zu gewährleisten sowie darauf bedacht zu sein, dass Körper und Seele keinen Schaden nehmen. 2.11.Onlineberatung bei „PlanetRomeo“ Planet Romeo ist ein Datingportal im Internet für Männer, die Sex mit Männern haben (MSM). Dieses Portal verfügt über einen eigenen Bereich für männliche Escorts. Dem Wunsch von Klienten entsprechend, auch kurzfristig und vom Standort unabhängig KISS-Mitarbeiter _ innen kontaktieren zu können, wurde das Beratungsangebot zu einem weiteren eigenständigen Arbeitsbereich innerhalb des KISS-Projektes. Mehrmals in der Woche war im Berichtsjahr ein KISS-Mitarbeiter online und stand für Chats zur Verfügung. Aber auch außerhalb der Präsenzzeiten konnten die Ratsuchenden eine Nachricht senden, die dann umgehend beantwortet wurde. Mit diesem Beratungsangebot können wir die Erreichbarkeit unserer Zielgruppe erweitern, da der Großteil der Klienten, die wir online antreffen, nicht zur klassischen Klientel der Anlaufstelle gehört bzw. sich auch nicht so definieren würde. Die Anzahl derer, die ihre sexuellen Dienste im World Wide Web anbieten, war auch in diesem Berichtsjahr hoch. Insgesamt wurden 2015 über 500 Escort-Profile neu angeschrieben, d.h., dass es sich hierbei um Profile handelt, die neu hinzugekommen sind und die noch nicht kontaktiert wurden. Dennoch möchten wir trotz der Fallzahlen kritisch anmerken, dass eine genaue statistische Erhebung im Rahmen der virtuellen Beratung im Onlineportal nur schwer möglich ist, weil die Profile zum einen immer wieder überarbeitet und zum anderen, damit einhergehend, auch die Profilnamen (Nicknames) verändert werden, wodurch dem Berater nicht unbedingt ersichtlich ist, ob es sich bei einem Profil um ein neues oder ein bereits bekanntes handelt. Des Weiteren sind viele der Escorts mobil und ziehen von Stadt zu Stadt, von Land zu Land. Anzumerken ist, dass auf dem Online-Portal nicht ersichtlich ist, ob die angeschriebene Person tatsächlich in Frankfurt wohnt oder ob diese sich nur zeitweise in der Stadt aufhält. Trotz aller Anmerkungen bleiben die Anzahlen im Berichtsjahr 2015 beeindruckend: Wir haben insgesamt 513 individuelle Profile (Personen) neu angeschrieben, um sie über unser Beratungsangebot im KISS zu informieren. Von der im Netz angetroffenen anonymen Zielgruppe konnten 5 Personen, darunter 3 Deutsche, 2 Brasilianer, in die niedrigschwellige Beratungsstelle des KISS vermittelt werden. Obwohl im Vergleich zu den angeschriebenen Profilen die Anzahl derer, die wir ins KISS-Projekt vermitteln konnten, gering ist, werten wir dies dennoch als großen Erfolg, da aus Sicht der Klienten eine beachtliche Hemmschwelle überwunden werden muss, um als Ratsuchender aus der virtuellen Anonymität des Internets herauszutreten und eine real existierende Beratungsstelle aufzusuchen. Im Berichtsjahr standen diesmal mehr prostitutionsspezifische Fragestellungen im Vordergrund, wie z.B. Besteuerung der Prostitution und Zugang zum medizinischen Versorgungssystem. Nach wir vor ist unser Angebot, kostenlos Kondome und Gleitmittel zur Verfügung zu stellen, ein wichtiger Anreiz, die virtuelle Welt zu verlassen und in die „reale Welt“ unserer niedrigschwelligen Anlauf- und Beratungsstelle zu kommen. Über die Nationalitäten können wir nur bedingt Aussagen treffen, da diese meist in den Profilen nicht explizit angegeben werden. Unsere Vermutung, dass die deutschen Klienten eher in der virtuellen Welt ihr sexuelles Dienstleistungsangebot offerieren, konnten wir mit unserem Online-Beratungsangebot mittlerweile bestätigen. Ebenso vermuteten wir, dass ein Großteil der Südamerikaner ins Netz abgewandert ist, um online sexuelle Dienste anzubieten. Auch diese Annahme konnten wir im Berichtsjahr unter Zuhilfenahme kultureller Mediator _ innen wieder bestätigen. 24 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention 2.12.Die virtuelle Anlaufstelle des AKSD (Arbeitskreis deutschsprachiger Stricherprojekte) und statistische Erhebungen Die Kontaktanbahnung in der mann-männlichen Prostitutionsszene findet seit einigen Jahren nicht mehr nur in der realen Szene statt, sondern hat sich mittlerweile auch auf die virtuellen Medien ausgedehnt. Diese Tendenz hat die AKSD-Mitarbeiter _ innen vor neue Herausforderungen gestellt, da deutlich wurde, dass die Mitgliedsorganisationen des AKSD ihre sozialpädagogische Arbeit ergänzend auch im virtuellen Bereich anbieten müssen. Um die Strukturen und den konkreten Bedarf der Zielgruppe im Internet zu ermitteln, wurde 2004 von der Deutschen AIDS-Hilfe (DAH) eine Studie beim Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) in Auftrag gegeben, an der drei AKSD-Mitgliedsorganisationen teilnahmen. Die Studie wurde im Frühjahr 2005 durchgeführt. Die unveröffentlichten Ergebnisse der Studie legen dar, dass im Netz ein Bedarf nach Beratung, im Speziellen für den Bereich HIV-Prävention, Aufklärung über sexuell übertragbare Infektionen und allgemeine Hilfestellungen für die Zielgruppe „Jugendliche und junge Männer, die im Internet anschaffen“ vorhanden ist. Professionell arbeitende Callboys werden explizit von uns in diesem Angebot nicht beraten, aber an eine Callboy-Hotline weitervermittelt. Ein weiteres Ergebnis der Studie war, dass es einen großen Aufklärungs-, Beratungs- und Hilfebedarf für Jungen und junge Männer gibt, die Geld mit Sex im Internet verdienen. Dieses Ergebnis führte dazu, dass das bestehende und bisher bewährte Angebotsspektrum der Zugangswege zur Zielgruppe erweitert werden musste. Dieser Zielsetzung geschuldet ist die seit 2006 online geschaltete Internetplattform http://www.info4escorts.de. Für diejenigen, die jünger sind und sich weder als Stricher noch als Escort verstehen, wurde die Internetadresse www.info4taschengeldjungs.de. eingerichtet. Das Beratungssystem „beranet“ wurde eingekauft und die Kolleg _ innen für das System geschult. Mit diesen Seiten werden sowohl Einzel- und Gruppenchat als auch E-Mail-Beratung angeboten. Auf diesen Seiten können Klienten die wichtigsten Informationen zu HIV-/AIDS- und STI-Prävention sowie zu gesundheitsfördernden Maßnahmen im Allgemeinen erhalten. Des Weiteren wird in einem Forum der Austausch unter den Klienten ermöglicht. Die Koordination der Onlineberatungsstelle liegt beim Verein zur Förderung von Jugendlichen e.V., einem der Träger der Anlauf- und Beratungsstelle Café Strich-Punkt in Stuttgart. Da das Internet nicht regionalisierbar ist, sondern es sich um einen virtuellen Ort handelt, wird diese Homepage von fünf AKSD-Einrichtungen gemeinsam betrieben. Entstehende Synergie-Effekte werden somit sinnvoll eingesetzt. Folgende Zielvorstellungen werden definiert: • Informations- und Präventionsberatungen zu: Safer Work, aktueller Kenntnistand zu HIV/AIDS und anderen sexuell übertragbaren Infektionen etc. • Angebot eines moderierten Austausches für die Zielgruppe (im Chat und Forum). • Beratung zu individuellen und aktuellen Problemlagen. • Angebot von themenspezifischen Sequenzen, um der Zielgruppe aktuelle, für die Prostitutionstätigkeit relevante Informationen zukommen zu lassen. • Möglichkeit zum Hinterfragen und Diskutieren über die dargestellten Informationen, wie z.B. Sucht, Gewalt, Gesundheit, sexuelle Identität etc. • Weitervermittlung zu real existierenden, nicht nur auf den AKSD begrenzten Organisationen, Beratungsstellen, Institutionen etc. KISS bot regelmäßig von September 2007 bis Dezember 2009 Gruppenchats im Netz an. Aus personellen Gründen ruhte die Kooperation bis zum Berichtsjahr 2015. Seit Juli 2015 können wir wieder Präsenzzeiten durch einen KISS-Mitarbeiter anbieten. Des Weiteren kommen Vertretungszeiten und E-MailBeratungen außerhalb der regulären Angebote hinzu sowie die wöchentlich einstündige Teamsitzung per 25 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 Telefonkonferenz. Des Weiteren müssen wir uns über das soziale Netzwerk, Beratungsstellen, Ärzt _ innen, Therapeut _ innen etc. anderer Städte informieren, um den Klienten im Netz konkrete weiterführende Hilfen an die Hand geben zu können. Folgende Mitgliedsorganisationen des AKSD nehmen an diesem Projekt teil: • BASIS-Projekt, Hamburg • Café Strich-Punkt, Stuttgart • KISS, Frankfurt/Main • LOOKS e.V., Köln • Marikas, München • SUB/WAY berlin, Berlin Im letzten Halbjahr des Berichtsjahrs 2015 Jahr hat der AKSD vier Gruppenchats wöchentlich angeboten: • montags von 15.00-16.00 Uhr, • dienstags von 20.30-21.30 Uhr, • mittwochs von 17.30-18.30 Uhr, • donnerstags von 17.30-18.30 Uhr. Insgesamt hat ein KISS-Mitarbeiter im letzten Halbjahr 2015 • 19 Gruppenchats13, • 1 Vertretung im Gruppenchat angeboten. • 20 Klienten wurden mit 42 Kontakten beraten. Bundesweit ermöglichen insgesamt sieben Kolleg _ innen des AKSD dieses regelmäßige Angebot im Internet. Die gemeinsam erstellte Statistik für das gesamte Jahr 2015 setzt sich wie folgt zusammen: • 6.830mal wurde die Internetseite aufgerufen, • 68 Klienten wurden beraten, • im Verlauf des Jahres kam es zu 146 Kontakten, • 162 Monitorings (148 Gruppenchat+16 Mailanfragen) wurden erstellt, • 21 E-Mail-Beratungen, • 83 Gruppenchats. 2.13.Gesundheit, ärztliche Betreuung und KISS-Begleitungen Aufgrund des primärpräventiven Auftrags möchten wir durch diesen Arbeitsbereich das Gesundheitsbewusstsein und die Gesundheitsfürsorge unserer Klient _ innen fördern sowie unmittelbare medizinische Hilfen, speziell für nicht-krankenversicherte Klient _ innen, ermöglichen. Kosten für das klassische Gesundheitssystem können somit vermieden oder sogar gesenkt werden. Infektionen und Krankheiten können auch auf mangelndes Gesundheitsbewusstsein und fehlende Körpersensibilität zurückgeführt werden, die aus dem Leben auf der Straße resultieren. Deshalb sind anfänglich praktische Hilfestellungen die Grundlage jeder Infektionsprophylaxe. Für unsere Zielgruppen ist es wichtig, dass sie die Möglichkeit haben, ihrer Körperhygiene nachgehen zu können. Mangelndes Interesse am Schutz vor sexuell übertragbaren Infektionen steht mit der stetigen Entwicklung der Medikation in der HIV-Therapie in Zusammenhang. Ungeschützter Sexualkontakt ist eine Realität und wird zudem von Freier _ innen verlangt. Männliche und transidente Prostituierte, Freier _ innen oder die jeweiligen Partner _ innen sind somit dem Risiko einer HIV- und/oder anderer ST-Infektion besonders stark ausgesetzt. Durch die seit Jahren bestehende gute und intensive Kooperation mit dem Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt am Main, die durch die regelmäßige Präsenz einer Sozialpädagogin im KISS gegeben ist, werden eine fachkompetente Beratung sowie schnelle und unmittelbare Hilfe bei sexuell übertragbaren Infektio13 Den Gruppenchat können bis zu acht Klienten besuchen. 26 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention nen ermöglicht. Außerhalb unserer medizinischen Angebotes werden kranke Klient _ innen an die Elisabethen–Straßenambulanz (Ambulante Pflege für Wohnungslose, Caritas), zu den Maltesern (Migrantenmedizin im Markuskrankenhaus) und/oder an das Gesundheitsamt (Humanitäre Sprechstunde, STD-Stelle, Studentische Poliklinik) weitervermittelt und begleitet. Die statistischen Angaben zur Begleitung der Klient _ innen an externe Stellen sind in Kapitel 2.3. aufgeführt. 2.14.Vernetzung Die besonderen Problemkonstellationen unserer Klient _ innen und deren sozialem Umfeld sind häufig so kompliziert und vielgestaltig, dass eine erfolgreiche Interventionsstrategie nur mithilfe weiterer sozialer Einrichtungen und Institutionen gelingen kann. Diese sozialen Netzwerke sind im Sinne unmittelbarer Handlungsfähigkeit in erster Linie auf regionaler Ebene bedeutsam, damit unseren Klient _ innen bei akuten Problemen frühzeitig, schnell und effektiv geholfen werden kann. Da unserer Zielgruppen sehr mobil sind, bieten sich Vernetzungen sowohl auf kommunaler und regionaler als auch auf nationaler oder sogar internationaler Ebene an. 2.14.1. Dienstreise nach Rumänien Im Berichtsjahr 2015 unternahmen eine KISS-Mitarbeiterin und deren Rumänisch sprechende Jahrespraktikantin gemeinsam mit einer Mitarbeiterin der STD-Stelle des Stadtgesundheitsamtes Frankfurt am Main eine Dienstreise nach Brasov/Kronstadt14. Die Idee zu einer Dienstreise nach Rumänien entstand aufgrund einer Anfrage der Universität Transilvania in Brasov, an vier Vormittagen Fachvorträge für Studierende der Fachbereiche „Soziologie, Soziale Arbeit und Kommunikation“ zu den Themengebieten „mann-männliche Prostitution, Prävention, Streetwork und Gesundheitsfördernde Maßnahmen“ abzuhalten. Des Weiteren sollten erste Kooperationsgespräche bezüglich einer Zusammenarbeit zwischen der Universität Transilvania und der AIDS-Hilfe Frankfurt e.V. stattfinden, um rumänischen Studierenden über das Erasmus-Plus-Projekt der EU die Möglichkeit zu bieten, Praktika in den Einrichtungen der AIDS-Hilfe Frankfurt zu absolvieren. An den Nachmittagen haben wir unterschiedliche Institutionen, Organisationen und soziale Brennpunkte besucht, um Informationen über das Gesundheits- und Sozialsystem Rumäniens zu erhalten, Kontakte und Vernetzungen zu knüpfen sowie direkte Ansprechpartner _ innen für die unterschiedlichen Anliegen und Belange unserer Klient _ innen in Rumänien zu bekommen. Folgende Einrichtungen etc. haben wir aufgesucht: • Einrichtung für jugendliche Gewalt- und Sexualstraftäter • Arbeits- und Informationstreffen mit dem Präsidenten der staatlichen Krankenkasse und der Leiterin der Rechtsabteilung • Besuch einer Tuberkulose-Klinik mit Zwangsquarantäne • Besuch und Informationsaustausch mit dem Bürgermeister in S˘cele a a • Besuch und Besichtigung des Roma-Dorfes S˘cele/Gârcini • Besuch der Schule des Roma-Dorfes sowie Informationsaustausch mit dem Schuldirektor und Polizeistationschef • Besuch des Kreiskrankenhaus in Brasov und Informationsaustauschtreffen mit der Direktorin des medizinischen Sektors • Nachtstreetwork im gesamten Stadtgebiet von Bukarest mit Mitarbeiter _ innen der Organisation Centrul Arena im Krankenhaus Matei • Arbeitstreffen mit der Geschäftsführerin von ARAS Bukarest – der Rumänischen Anti-AIDS Gesellschaft • Die Zusage, eine Justizvollzugsanstalt in Bukarest besuchen und besichtigen zu können, konnte uns 14 23.05.2015-31.05.2015. 27 Fachbereich Psychosoziales / Prävention KISS 2015 trotz langer Vorbereitung nur kurzfristig zugesagt werden. Leider war dies ein Termin, zu dem wir nicht mehr in Rumänien zugegen waren. • Arbeitstreffen mit der Geschäftsführerin eines Projekt für Familienförderung in Ferentari, einem der ärmsten Stadtteile von Bukarest – Asociatia Valentina Bukarest 2.14.2. Einladung BZgA zu Workshop KISS folgte einer Einladung der BZgA15 zu einem Workshop „Forschungs- und Präventionsbedarfe im Bereich der mann-männlichen Sexarbeit“. Im Workshop sollte erarbeitet werden, welche Zugänge und Bedarfe es für Forschung sowie für Interventionen gibt und welche möglichen Studiendesigns für weitere Forschung in Frage kommen könnten. Weitere Einladungen ergingen an Kolleg _ innen anderer Einrichtungen für männliche Prostituierte sowie an Mitarbeiter _ innen des BMG16, der BZgA, des RKI17 und der DAH18. 2.14.3. AKSD Im Rahmen des Arbeitskreises der Stricher-Einrichtungen in Deutschland (AKSD) hat sich ein fachkundiges Weiterbildungsgremium mit Untergruppen gebildet, das sich regelmäßig trifft, um inhaltliche Konzepte und Positionen in der sozialpädagogischen Arbeit mit männlichen (und transidenten) Prostituierten zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Hier werden neue Impulse für weiterführende Konzepte gegeben sowie Leitlinien und Qualitätsstandards für professionell sozialpädagogisches Arbeiten in der mann-männlichen Prostitutionsszene definiert. KISS ist Initiator und Gründungsmitglied diese Arbeits- und Fachkreises. Im Berichtsjahr nahm KISS an einem von zwei bundesweiten AKSD-Arbeitstreffen teil. 2.14.4. Gesundheitsamt Frankfurt am Main Durch das außerordentliche Engagement der Leiterin „Medizinische Dienste und Humanitäre Sprechstunden des Gesundheitsamtes der Stadt Frankfurt am Main“ kam es zu einem Arbeitstreffen und einer Informationsveranstaltung mit der Studentischen Poliklinik im Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt am Main, um die bestehende Kooperation auszubauen und zu intensivieren. In Kooperation mit der Untersuchungs- und Beratungsstelle für sexuell übertragbare Infektionen und Krankheiten war auch in diesem Jahr wieder eine Sozialpädagogin dieser Abteilung während der Öffnungszeiten der niedrigschwelligen Anlaufstelle im KISS vertreten, um fachkompetente Beratung sowie schnelle und unmittelbare Hilfe bei sexuell übertragbaren Infektionen zu ermöglichen. 2.15. Arbeitsbereich Öffentlichkeitsarbeit Im Monat August des Berichtsjahres 2015 gestaltete KISS eine Radio-Sendung von Radio Sub inhaltlich mit. Die Sendung wurde live übertragen. Inhalte der Sendung waren die Vorstellung der KISS, die Frankfurter mann-männliche Prostitutionsszene sowie das Pro und Contra des neuen Prostituiertenschutzgesetzes. 2.15.1. Kooperation mit der Frankfurt University of Applied Sciences Da es kein explizites Studienfach für diesen gesellschaftspolitischen (Problem-)Bereich gibt, sind wir hessenweit die einzige Fachstelle für den Bereich mann-männliche Prostitution. Inzwischen erkennen Fachhochschulen und Universitäten diesen Arbeitsbereich innerhalb der Psychologie und (Sozial)-Pädagogik an, indem wir als Expert _ innen eingeladen werden oder wir die Seminarteilnehmer _ innen zu uns in die Einrichtung einladen. Die Frankfurt University of Applied Sciences, Fachbereich 4 „Soziale Arbeit und Gesundheit“, bot KISS eine Dozent _ innentätigkeit für das Modul „Reflexion und interdisziplinäre Fallarbeit“ an. Inhalte des drei15Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 16 Bundesministerium für Gesundheit 17 Robert-Koch-Institut 18Deutsche AIDS-Hilfe 28 KISS 2015 Fachbereich Psychosoziales / Prävention tägigen Blockseminars19 waren u.a. Übungen in denen die Grundlagen zum Erwerb berufsbezogener Reflexion gelegt werden sollen. Die Reflexion bezieht sich zum einen auf Praxiserfahrungen, eigenes Wahrnehmen und Handeln in der Sozialen Arbeit, zum anderen auf das Verstehen der Verhaltensweisen von Klient _ innen und auf die Aufgabe der Nähe-Distanz-Balance in beruflichen Beziehungen. Die Reflexion schließt auch die derzeitige Praxis als Studierende/r mit ein, die den Weg zum eigenen beruflichen Handeln prägt und die aktuelle professionsbezogene Erfahrung darstellt. 2.15.2. Informationsveranstaltungen und Lobbyarbeit Im Rahmen von Informationsveranstaltungen für Studierende und Interessierte, für Einrichtungs- und Projektmitarbeiter _ innen sowie für wissenschaftlich Arbeitende erhielten im Berichtsjahr insgesamt 54 Personen fachspezifische Informationen: Insgesamt wurden 16 Informationsveranstaltung, acht Gruppen mit insgesamt 46 Personen und acht Einzelinformationssitzungen angeboten. KISS nahm als einzige hessische Fachberatungsstelle für männliche und transidente Prostituierte neben anderen Fachberatungsstellen für weibliche Prostituierte am „Fachgespräch Prostitution im Bahnhofsviertel“, initiiert durch ein Frankfurter Beratungs- und Informationszentrum für Migrantinnen und deren Angehörige, teil. Zur Öffentlichkeitsarbeit gehört nicht nur die medienspezifische Informationsarbeit, sondern auch eine professionelle Lobbyarbeit, um eine gesellschaftliche und politische Sensibilisierung für unsere Zielgruppen zu erreichen. KISS bot Anfang Juli des Berichtsjahres in Kooperation mit einem deutschen Callboy einen Freierworkshop mit dem Titel „Bezahlen für Sex?!“ – Workshop für schwule Männer an. Die Idee eines Freier-Workshops entstand aus zahlreichen Beratungsgesprächen, weil in der schwulen Szene wenig oder gar nicht über „Sex gegen Geld“ gesprochen wird. Weitere Fragestellungen des Workshops waren: • Fundierte Informationen anstelle von Vorurteilen und Klischees über Kunden und Anbieter? • Gibt es überhaupt DEN Stricher/Callboy/Escort und DEN Kunden? • Warum bezahlen schwule Männer für Sex? • Warum schaffen junge Männer an? • Motive – Bedürfnisse – wechselseitige Erwartungen • Von der Kontaktaufnahme bis zur Verabschiedung: Tipps zum Gelingen • Respektvoller Umgang in der schwulen Szene mit jenen, die für Sex zahlen oder Geld für Sex nehmen? • Wenn Störungen, Enttäuschungen, Frustrationen oder Konflikte auftreten: Tipps zur Problemlösung und für einen respektvollen und fairen Umgang miteinander. 19vom 12.10.2016-14.10.2016, von 10.15 Uhr -17.30 Uhr, 24 Lehreinheiten zu 45 Minuten 29