I Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) Die Art und Weise, wie wir die Psychopathologie eines Patienten1 verstehen und einordnen, wirkt sich direkt auf das therapeutische Vorgehen bei diesem Patienten aus. Im vergangenen Jahrzehnt wurde immer deutlicher, dass sich eine Psychotherapie sowohl an der Phänomenologie der Störung des Patienten als auch an anderen, nicht rein diagnostischen Merkmalen orientieren muss (Beutler u. Clarkin 1990; Frances et al. 1984). Die Psychotherapie von Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung ist somit auf ein theoretisches Verständnis der Psychopathologie der Persönlichkeit angewiesen. Man kann sich von verschiedenen Perspektiven aus dem theoretischen Verständnis einer Persönlichkeitspsychopathologie nähern, wobei der psychodynamische, der interpersonale und der kognitive Ansatz am bedeutendsten sind (Clarkin u. Lenzenweger 1996). Die Schwerpunkte und strategischen Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (TFP)2 basieren auf einem objektbeziehungstheoretischen, psychodynamischen Verständnis der Persönlichkeitsstörung und werden im ersten Kapitel dieses Buches näher dargestellt. Darüber hinaus finden sich dort auch die grundlegenden allgemeinen Prinzipien einer psychodynamischen Psychotherapie. Die meisten Manuale zu Kurzzeittherapien beschreiben den Ablauf der Therapie von Stunde zu Stunde und leiten dazu an, den Fokus der Therapie zu bearbeiten und eine feste Abfolge der Sitzungen einzuhalten. Das vorliegende Manual steht in deutlichem Gegensatz zu einer solchen Vorgehensweise, was einerseits durch die Schwere der Erkrankung dieser Patienten und zum anderen durch die Besonderheit dieser psychodynamischen Therapie begründet ist. Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation sind schwer krank, und es bedarf daher einer Langzeittherapie, um Veränderungen sowohl auf der Verhaltensebene als auch auf der strukturellen Ebene zu bewirken. Eine psychodynamische Therapie bietet hier nicht nur eine solide Basis für ein theoretisches Verständnis der Borderline-Störung, sondern auch ein Repertoire von therapeutischen Techniken einer theoriegeleiteten Behandlung. Dieses Manual setzt sich zum Ziel, die praktische Anwendung der TFP darzustellen. Das Vorgehen bei der TFP lässt sich allerdings nicht auf eine Reihe aufeinander folgender Schritte reduzieren, da sonst die Individualität des Patienten unberücksichtigt bliebe. Das hier dargestellte Therapieverfahren ist primär darauf ausgerichtet, an den unreifen Abwehrmechanismen anzusetzen, wie sie für die Borderline-Störung charakteristisch sind. Diese Abwehrmechanismen erschweren es zwar dem Patienten, in der realen Welt zurechtzukommen, gleichzeitig ermöglichen sie ihm aber auch, sich – trotz der Einschränkungen durch mächtige innere Konflikte und äußere Stressoren – ein mehr oder weniger stabiles psychisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Da der Patient in seinem psychischen Funktionieren, so rudimentär dieses auch sein mag, abhängig von diesen primitiven Abwehrmechanismen ist, fällt es ihm schwer, eine Einsicht in sie zu gewinnen. Dies hat wiederum insofern Konsequenzen für 1 Trotz der vereinfachten männlichen Schreibweise sind in diesem Buch stets Patientinnen und Patienten sowie Therapeutinnen und Therapeuten gemeint. 2 Im Folgenden wird die Abkürzung TFP (Transference-Focused Psychotherapy) für die übertragungsfokussierte Psychotherapie verwendet. 2 I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) das therapeutische Vorgehen, als sich in der psychodynamischen Therapie eine spezifische Beziehung entwickelt, in der diese unreifen Abwehrmechanismen in ihrem vollen Ausmaß aktiviert werden. Der Therapeut versucht, diese Abwehr nicht zu unterdrücken, sondern sie dem Patienten verstehbar und in ihrer bisherigen Funktion bewusst zu machen. Wie schnell diese Arbeit voranschreitet, hängt sehr davon ab, wie stark der Patient an seinen Abwehrmechanismen festhält, oft so, „als gehe es um sein Leben“. Wir können daher nur ein bestimmtes Repertoire von Interventionstechniken und eine Vorstellung von den zu erwartenden Fortschritten anbieten, ohne mit Sicherheit sagen zu können, ob diese oder jene Wirkung in der Stunde 10, 12 oder 50 eintreten wird. Insgesamt hängt das Fortschreiten der Therapie von der Fähigkeit des Therapeuten ab, den Patienten beim Wahrnehmen und Hinterfragen, was er als objektive Realität erlebt, zu unterstützen, und von der Fähigkeit des Patienten, sich zunehmend von der Ausschließlichkeit seiner bisherigen Sicht der Welt zu distanzieren. Wir möchten dem psychodynamisch orientierten Therapeuten helfen, sich an die Empfehlungen dieser manualgeleiteten psychodynamischen Langzeittherapie zu halten, indem wir ihm hier eine ausführliche Beschreibung ihrer Ziele, strategischen Prinzipien, taktischen Vorgehensweisen und Interventionstechniken zur Verfügung stellen. Einem Therapeuten, der die Ziele und strategischen Prinzipien dieser Therapie richtig verstanden hat, wird es leichter fallen, sie zu befolgen und kompetent umzusetzen. Das Hauptziel der TFP besteht darin, die typischen Muster in den internalisierten Objektbeziehungen bei Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation zu verändern, die zu den wiederkehrenden fehlangepassten Verhaltensweisen und den chronischen affektiven und kognitiven Störungen führen, die für diese Psychopathologie charakteristisch sind. Aus unserer Sicht beinhaltet eine tiefgreifende Veränderung der psychischen Grundstruktur auch eine Lockerung der fixierten internalisierten Objektbeziehungen und eine Integration der abgespaltenen Selbst- und Objektrepräsentanzen in ausgewogenere, reifere und flexiblere Vorstellungen von sich selbst und den anderen. Die Fähigkeit, sich selbst und andere in der ganzen Komplexität anzuerkennen, anstatt in vereinfachten, polarisierten Schemata verhaftet zu bleiben, in denen es entweder nur Opfer oder Zerstörer, Gebende oder Ausbeutende, Liebende oder Hassende gibt, stellt eine Grundvoraussetzung für befriedigende Beziehungen dar. Da ausgewogene internalisierte Bilder von wichtigen Bezugspersonen das Individuum zu besserer Impulskontrolle und Affektmodulation befähigen, führt in der Therapie die Entwicklung gut integrierter Selbst- und Objektrepräsentanzen zu einer Reduktion impulsiver Verhaltensweisen und zu einer besseren Affektkontrolle. Eine derartige Veränderung in der inneren Repräsentanzenwelt des Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsorganisation wird schrittweise erreicht, indem er in der therapeutischen Beziehung erlebt, wie ihn der Therapeut immer wieder unterstützt, sich seiner gespaltenen und polarisierten Selbst- und Objektrepräsentanzen bewusst zu werden, die für die Heftigkeit und das Chaos in seinem subjektiven Erleben verantwortlich sind. Der Therapievertrag bzw. die darin vorgegebene Struktur schützt das therapeutische Vorgehen vor Reaktionen des Patienten, welche die Therapie gefährden könnten; solche Reaktionen treten häufig dann auf, wenn heftige Gefühle ausgelöst und die gewohnten Abwehrmechanismen des Patienten aktiviert werden. Die Therapieziele werden durch die drei folgenden therapeutischen strategischen Prinzipien erreicht (Kap. 2): z das Erkennen der dominanten Objektbeziehungsmuster des Patienten, wie sie sich in der Übertragungsbeziehung zwischen Therapeut und Patient darstellen z die Analyse des Rollenwechsels (beispielsweise wenn der Patient unbewusst zwischen der Opfer- und Täterrolle hin und her wechselt) z die Integration positiver und negativer Sichtweisen von sich selbst (Opfer–Täter) und wichtigen Bezugspersonen Die Ziele und strategischen Prinzipien der Behandlung kommen in dem taktischen Vorgehen jeder einzelnen Sitzung zum Ausdruck (Kap. 3). Der Therapeut fokussiert diejenige primitive Objektbeziehung, die gerade in der Sitzung affektiv dominiert. Hierbei kann es sich um eine in der Übertragung inszenierte oder auch um eine in der Außenwelt erlebte Beziehung handeln, über die der Patient in der Therapie mit heftigen Reaktionen spricht. Die charakteristischen Muster dieser I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) Beziehung werden vor allem in der Interaktion zwischen Therapeut und Patient herausgearbeitet; zudem wird die Funktion der dabei mobilisierten primitiven Abwehrmechanismen verdeutlicht, die den Patienten daran hindern, sich der zugrunde liegenden Muster bewusst zu werden. Die spezifischen taktischen Vorgehensweisen jeder einzelnen Sitzung bestehen darin, ein in der Sitzung vorherrschendes Thema für die weitere Bearbeitung auszuwählen, den Rahmen der Therapie zu schützen bzw. Grenzen zu setzen, die technische Neutralität aufrechtzuerhalten und die Interventionen aus der Position einer gemeinsam von Patient und Therapeut geteilten Realitätssicht zu entwickeln, bevor phantasierte Verzerrungen der Realität interpretiert werden. Weiterhin geht es darum, positive und negative Aspekte der Übertragung sowie unreife Abwehrmechanismen zu analysieren, sobald sie in der Übertragung manifest werden, und ständig auf die Gegenübertragung zu achten. Die drei Grundbestandteile der Interventionstechnik (Kap. 4) sind Klärung, Konfrontation und Deutung der Übertragungsbeziehung zwischen Therapeut und Patient im „Hier-und-Jetzt“. 3 1 Einführung in die TFP In diesem Kapitel sollen kurz die charakteristischen Eigenschaften von Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation beschrieben werden, die eine Zielgruppe unserer modifizierten psychodynamischen Psychotherapie bilden. Es folgt eine Darstellung der allgemeinen Grundlagen der psychodynamischen Therapie sowie eine Einführung in die erforderlichen Modifizierungen dieses Behandlungsverfahrens. Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation Die Persönlichkeitsstörungen im Bereich der Borderline-Persönlichkeitsorganisation, wie sie in der vierten Ausgabe des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-IV; Zyklothyme PS American Psychiatric Association 1994) beschrieben werden, schließen die folgenden Persönlichkeitsstörungen ein: z Borderline-Persönlichkeitsstörung z Schizoide Persönlichkeitsstörung z Schizotypische Persönlichkeitsstörung z Paranoide Persönlichkeitsstörung z Histrionische Persönlichkeitsstörung z Narzisstische Persönlichkeitsstörung z Antisoziale Persönlichkeitsstörung z Abhängige Persönlichkeitsstörung Darüber hinaus umfasst diese Gruppe auch eine ganze Reihe nicht im DSM-IV aufgeführter Persönlichkeitsstörungen, wie das Syndrom des malignen Narzissmus, die Hypochondrie, die Hypomanische und die Sadomasochistische Persönlichkeitsstörung (Kernberg 1996). Abbildung 1.1 stellt die Einteilung der Persönlichkeitsstörungen im Bereich der Borderline-Persönlichkeitsor- Histrionische PS Probleme mit Intimität Schizoide PS Narzisstische PS Sadomasochistische PS Paranoide PS Borderline-PS maligner Narzissmus Antisoziale PS introvertiert einige aggressive Anteile extrovertiert Abb. 1.1: Das Spektrum der Borderline-Persönlichkeitsorganisation (PS: Persönlichkeitsstörung) massive Aggression 5 6 I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) ganisation entsprechend unserem Ansatz dar, bei dem kategoriale (d.h. die einzelnen Störungen des DSM-IV betreffende) und dimensionale (d.h. das relative Ausmaß einer Beeinträchtigung durch Aggression und Intraversion versus Extraversion widerspiegelnde) Kriterien miteinander verbunden werden, um die Beziehungen zwischen den einzelnen Persönlichkeitsstörungen zu verdeutlichen. Die Borderline-Persönlichkeitsorganisation ist durch die folgenden drei strukturellen Charakteristika definiert, die allen oben genannten Persönlichkeitsstörungen gemeinsam sind: z das Syndrom der Identitätsdiffusion z das Vorherrschen unreifer (primitiver) Abwehrmechanismen, in deren Zentrum die Spaltung steht z das Aufrechterhalten der Realitätsprüfung Im Unterschied hierzu stehen die weniger schweren Persönlichkeitsstörungen im Bereich der neurotischen Persönlichkeitsorganisation, insbesondere die Hysterische, die Zwanghafte und die Depressiv-masochistische Persönlichkeitsstörung. Diese weisen folgende strukturelle Eigenschaften auf: z eine stabile Ich-Identität z ein Vorherrschen von Abwehrmechanismen, die um die Verdrängung zentriert sind z eine ausgezeichnete Realitätsprüfung, die ein differenziertes Gespür für soziales Taktgefühl und Sensibilität einschließt (Kernberg 1984) Eine durchgängig gestörte Realitätsprüfung ist hingegen zentrales Charakteristikum bei Patienten mit einer Persönlichkeitsorganisation auf psychotischem Niveau. Identitätsdiffusion Das Syndrom der Identitätsdiffusion ist durch das Fehlen eines integrierten Konzepts des Selbst und der wichtigen Bezugspersonen gekennzeichnet. Dieser Mangel an Integrationsfähigkeit zeigt sich schon während des Erstgesprächs und der Anamneseerhebung bei der Frage, wie sich der Patient selbst sieht und erlebt. Diese unzureichende Integrationsfähigkeit äußert sich sowohl in der aktuellen Situation als auch im weiteren Verlauf in unreflektierten, widersprüchlichen und chaotischen Beschreibungen des Patienten von sich selbst und anderen und zeigt sich auch in der Unfähigkeit, diese Widersprüche zu integrieren oder überhaupt wahrzunehmen. Dieser Mangel an Integration von Selbst- und Fremdkonzepten beeinflusst grundlegend, wie sich der Einzelne in der Welt sieht und erlebt. Unreife Abwehrmechanismen Das Einsetzen unreifer Abwehrmechanismen manifestiert sich in Verhaltensweisen, die den Patienten in seiner Beziehung zu sich und der Umwelt massiv beeinträchtigen und in der Therapie die Interaktion zwischen Patient und Therapeut verzerren. Diese Abwehr zentriert sich in erster Linie um Spaltung oder primitive Dissoziation und ist gekennzeichnet durch eine völlige emotionale Abspaltung widersprüchlicher IchZustände, indem Beziehungen zu bedeutsamen Bezugspersonen als ausschließlich idealisiert oder verfolgend erlebt werden. Durch projektive Identifikation, eine unreife Form der Projektion, werden solche Spaltungsmechanismen noch verstärkt. Die projektive Identifikation zeichnet sich durch die unbewusste Tendenz des Patienten aus, im Anderen die projizierten Anteile zu induzieren und dabei den Anderen, der unter dem Einfluss des projizierten Selbstanteils steht, unter Kontrolle zu haben. Omnipotenz, omnipotente Kontrolle, primitive Idealisierung, Entwertung und Verleugnung sind weitere bedeutsame unreife Abwehrmechanismen, die Spaltung und projektive Identifizierung ergänzen oder verstärken. Im Gegensatz hierzu führen die Abwehrmechanismen der neurotischen Persönlichkeitsorganisation, die sich um die Verdrängung zentrieren, nicht zu Verhaltensweisen, die unmittelbar die Interaktionen des Patienten mit der Umwelt verzerren. Sie werden vielmehr nur schrittweise im Verlauf der psychodynamischen Psychotherapie als Störungen der Kommunikation mit dem Patienten deutlich. Ihr anfängliches Fehlen oder Nicht-Auffallen steht im Gegensatz zu der typischen unreifen Abwehr von Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation, die schon bei der Erhebung des psychischen Befundes in Erscheinung tritt. 1. Einführung in die TFP Realitätsprüfung Patienten mit Borderline- und mit neurotischer Persönlichkeitsorganisation zeigen eine gute Realitätsprüfung, d.h. sie sind fähig, sich mit den gewöhnlichen sozialen Aspekten der Realität voll zu identifizieren, wenn die Konfrontation taktvoll erfolgt. Patienten mit neurotischer Persönlichkeitsorganisation verfügen zudem über ein feines Taktgefühl, Empathie, Diskretion und Selbstreflexion, im Gegensatz zu dem bei der Borderline-Persönlichkeitsorganisation typischerweise vorherrschenden unvernünftigen, impulsiven, chaotischen und affektiv schwankenden Verhalten, das relativ leicht von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsorganisation trotz erhaltener Realitätsprüfung rationalisiert und emotional angenommen wird. Die Realitätsprüfung des Borderline-Patienten ist Schwankungen unterworfen, wie sie sich bei neurotischen Patienten nicht finden; so regredieren Borderline-Patienten beispielsweise unter Stress leichter auf ein paranoides Niveau. Als Folge der Identitätsdiffusion und des Vorherrschens unreifer Abwehrmechanismen zeigen Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation zusätzlich wichtige charakteristische Merkmale: Es fehlt ihnen reife Empathie für andere und eine reife Wahrnehmung anderer Menschen, die von ihnen entweder als idealisierte, verfolgende und/oder entwertete Personen erlebt werden. Für diese Patienten ist es schwierig, intime Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten, sich einen passenden Partner zu suchen, ihre eigenen Interessen und Bindungen im Bereich von Arbeit, Beruf und Gesellschaft sowie ethische und ästhetische Ideale adäquat einzuschätzen. Ihre Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen sind daher oft chaotisch. Ein echtes Engagement in Beruf und Arbeit fällt ihnen schwer, soziale Beziehungen leiden unter ihren zwischenmenschlichen Schwierigkeiten, und sie weisen Zeichen einer allgemeinen IchSchwäche mit fehlender Impulskontrolle, mangelhafter Angsttoleranz und eingeschränkter Sublimierungsfähigkeit auf. Bei einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation treten als weitere Probleme häufig schwere Verhaltensstörungen auf: chronische, in der Charakterstruktur verankerte suizidale oder parasuizidale Verhaltensweisen, schwere Ess-Störungen, Anfälligkeit gegenüber Drogen- und Alkohol- missbrauch oder -abhängigkeit sowie antisoziales Verhalten. Antisoziales Verhalten bei Persönlichkeitsstörungen ist ein besonders ungünstiger prognostischer Faktor für alle psychotherapeutischen Vorgehensweisen. Die hohe prognostische Bedeutsamkeit ist nur vergleichbar mit dem Vorhandensein (bzw. völligen Fehlen) intensiver Beziehungen zu wichtigen Bezugspersonen, wie chaotisch oder gestört diese auch immer sein mögen. Je ausgeprägter das antisoziale Verhalten ist und je länger ein Patient sozial isoliert ist, umso schlechter ist die Prognose. Hingegen haben schwere Persönlichkeitsstörungen ohne antisoziales Verhalten und mit konstanten zwischenmenschlichen Beziehungen bei einer psychodynamischen Psychotherapie durchaus eine gute Prognose. Die schwereren Formen von Persönlichkeitsstörungen mit einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation sind im unteren Teil der Abbildung 1.1 aufgeführt. Sie weisen eine stärkere Beeinträchtigung des psychischen Erlebens durch Aggression auf. Die weniger schweren Formen (s. oberer Teil der Abb. 1.1) zeichnen sich durch eine größere Fähigkeit, vertraute Beziehungen mit bedeutsamen Anderen zu pflegen, durch ein verstärktes Engagement bei der Arbeit und in gesellschaftlichen Beziehungen sowie durch geringere unspezifische Anzeichen von Ich-Schwäche aus. Innerhalb der verschiedenen, in Abbildung 1.1 aufgeführten Formen der Borderline-Persönlichkeitsorganisation gibt es wiederum Substrukturen, deren Kenntnis für das Verständnis der Pathologie und für eine Therapieplanung von zentraler Bedeutung ist. Sie umfassen – entsprechend ihrem Schweregrad – die antisoziale Persönlichkeitsstruktur im eigentlichen Sinne, die Persönlichkeitsstruktur des malignen Narzissmus und die narzisstische Persönlichkeitsstruktur. Auf diese Substrukturen und die damit zusammenhängenden Übertragungsmuster wird im Folgenden immer wieder näher eingegangen. Die psychodynamische Behandlung von Patienten mit einer BorderlinePersönlichkeitsorganisation Die meisten Autoren, die sich heute für eine psychodynamische Psychotherapie von Borderline- 7 8 I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) Patienten aussprechen, gehen weit über die Auffassung von Zetzel (1971) hinaus, dass die Therapie im Wesentlichen supportiv und frei von der Erwartung sein sollte, die Patienten würden die Fähigkeit zur Autonomie erlangen. Die Frage, welche Art von Therapie für welchen Patienten mit welcher zu erwartenden Prognose am besten ist, bleibt dabei weiterhin von Bedeutung (Stone 1990). Unserer Erfahrung nach ermöglicht die in diesem Buch beschriebene modifizierte psychodynamische Psychotherapie einer großen Anzahl von Borderline-Patienten, sich von der Borderline-Pathologie hin zu einem neurotischen Organisationsniveau zu entwickeln. Unser Modell im Vergleich zu anderen Therapieverfahren Wie bereits von Waldinger (1987) zusammengefasst, stimmen die Hauptvertreter einer psychodynamischen Therapie von Borderline-Patienten in folgenden Prinzipien überein: z Schwerpunkt auf stabile therapeutische Rahmenbedingungen legen z stärkere Aktivität des Therapeuten in den Sitzungen im Vergleich zur Therapie von neurotischen Patienten wegen der intermittierend auftretenden Probleme des Borderline-Patienten in Bezug auf Realitätsprüfung, projektive Mechanismen und Verzerrungen z Toleranz gegenüber der sich im Rahmen der negativen Übertragung manifestierenden Feindseligkeit des Patienten z Verhindern selbstzerstörerischer Verhaltensweisen durch Klärung und Konfrontation mit dem Ziel, diese als Ich-dyston und unbefriedigend erlebbar zu machen z z z z Einsetzen von Deutungen, um dem Patienten dabei zu helfen, Verbindungen zwischen seinen Handlungen und seinen Gefühlen herzustellen Verhindern agierenden Verhaltens durch Grenzsetzung, wenn es den Patienten, andere Personen oder die Therapie gefährdet Fokussieren der aktuellen therapeutischen Aufgaben und Deutungen im „Hier-und-Jetzt“ mit geringerer Betonung der genetischen Hintergründe sorgfältige Beachtung der Gegenübertragungsgefühle Unser Therapiemodell schließt diese einzelnen Punkte mit ein, unterscheidet sich aber dennoch von anderen Ansätzen (s. Tab. 1.1). Der Unterschied zwischen dem hier beschriebenen Psychotherapieverfahren und der Psychotherapie von neurotischen Patienten wird wohl am ehesten durch die Aktivität des Therapeuten in den Sitzungen deutlich. Vor allem in Krisensituationen, die besonders in den frühen Phasen der Therapie gehäuft auftreten können (wenn beispielsweise die Gefahr eines Therapieabbruchs droht), übernimmt der TFP-Therapeut eine sehr aktive Rolle. Anhand einer Rangreihe von Prioritäten (s. Kap. 3) entscheidet er, was in der Sitzung am vorrangigsten zu bearbeiten ist. Die Entscheidung des Therapeuten, welches Thema zu einem bestimmten Zeitpunkt Vorrang hat, veranlasst ihn häufig dazu, so zu intervenieren, als ob er den freien Assoziationen des Patienten nicht mehr folgen würde. Allerdings besteht die Aufgabe des Therapeuten ja nicht ausschließlich darin, nur den verbalen Assoziationen des Patienten zu folgen. Gerade bei Borderline-Patienten ist vor allem zu Therapiebeginn die verbale Kommunikation (Kanal 1) oft nicht der wichtigste der drei Tab. 1.1: Vergleich der TFP mit benachbarten Therapieansätzen TFP Kohut (1971, 1973) Buie (1982) Supportive dynamische PT Kognitive VT Ratschläge Unterstützung Klärung Konfrontation + Deutung – x x x x x x x x x x x x x x x x x x x x + positive Übertragung – negative Übertragung 1. Einführung in die TFP möglichen Kommunikationskanäle (s. Tab. 1.2). Unter Umständen kann wesentliches Material abgespalten sein oder nur über die beiden anderen Kanäle kommuniziert werden, nämlich über das Verhalten des Patienten (Kanal 2) oder über die Gegenübertragung des Therapeuten (Kanal 3), so wie sie von primitiven Projektionen des Patienten beeinflusst wird. Aus diesem Grund muss der Therapeut das verbale Material immer im Kontext seiner Kenntnis der Vorgeschichte des Patienten, seiner Beobachtung von dessen Verhalten und seiner eigenen Gegenübertragung auf den Patienten sehen. Hinsichtlich der Austauschprozesse über die drei Kommunikationskanäle unterscheiden sich Patienten auf BorderlineNiveau von neurotischen Patienten folgendermaßen: Borderline-Patienten teilen zu Therapiebeginn bedeutsamere Informationen eher durch die Kanäle 2 und 3 als durch Kanal 1 mit, wohingegen neurotische Patienten von Anfang an eher über den Kanal 1, also mehr über die Sprache kommunizieren. Mit anderen Worten: Je weniger sich ein Patient seines eigenen subjektiven Erlebens bewusst ist, umso mehr wird dies in seinem Verhalten und in der Gegenübertragung des Therapeuten zum Ausdruck kommen. Dem Therapeut kann auffallen, dass sich im „freien Diskurs“ des Patienten ein Widerstand manifestiert, zumal wenn aus der Vorgeschichte oder dem Verhalten des Patienten innerhalb oder außerhalb der Sitzungen hervorgeht, dass wichtige Themen in der Stunde nicht zur Sprache gebracht werden. Bei Borderline-Patienten geschieht dies meist zu Beginn und auch in der mittleren Phase der Therapie, ebenso wie die von ihnen gewählten Themen oftmals dem Einfluss innerer Spaltungen unterliegen, indem die abgespaltenen Anteile des inneren Erlebens ausgeblendet und zu diesem Zeitpunkt nur durch Handeln ausgedrückt werden können. Ein wichtiges Prinzip der hier dargestellten Therapie besteht darin, ausgeprägte psychische Tab. 1.2: Die drei Kommunikationskanäle zwischen Patient und Therapeut Kanal 1: die verbale Kommunikation des Patienten Kanal 2: die nonverbale Kommunikation des Patienten Kanal 3: die Gegenübertragung des Therapeuten als Informationsquelle für projektive Prozesse des Patienten und gelegentlich auch somatische Symptome als Folge psychischer Konflikte zu verstehen. Dieses Prinzip mag selbstverständlich erscheinen, dennoch zeigt unsere klinische Erfahrung, dass viele Therapeuten den Patienten zu schnell einer medikamentösen Behandlung zuführen, sobald er Depressionen, Suizidgedanken, Angst oder halluzinatorische Phänomene erkennen lässt. Obwohl die Pharmakotherapie in der Behandlung von Borderline-Patienten sicher eine bedeutsame Rolle spielt (s. Kap. 16), lenkt ein übereiltes Ausweichen auf eine Medikation Patient und Therapeut oft von der Bearbeitung bedeutsamen Materials ab, welches von großem Nutzen sein kann, wenn es zunächst näher analysiert wird. Ein typisches klinisches Beispiel hierfür ist ein Patient, dessen Suizidgedanken oder Pseudo-Halluzinationen eine direkte Manifestation innerer Konflikte darstellen, die durch Klärung, Konfrontation und Deutung angesprochen und gelöst werden können und nicht als rein biologische Phänomene aufzufassen sind. Die grundlegende Überzeugung, dass die meisten Symptome der Borderline-Pathologie auf einen psychischen Ursprung zurückgehen, prägt unser Denken und unseren therapeutischen Ansatz. Alternative psychodynamische Therapieansätze Die verschiedenen Schulen der psychodynamischen Therapie von Borderline-Patienten gehen von differenten Vorstellungen über die Ätiologie der Borderline-Pathologie aus und legen eine unterschiedliche Gewichtung auf bestimmte Aspekte der Behandlungstechnik und den Umgang mit der Zeit. Was die Ätiologie betrifft, verstehen Masterson und Rinsley (1975) ebenso wie Buie und Adler (1982) die Instabilität und die Wut des Patienten vor allem als eine Reaktion auf dessen reales Erleben einer eindeutig defizitären mütterlichen Versorgung, die internalisiert wurde. Wir hingegen sehen eine Verbindung von konstitutionell bedingter emotionaler Responsivität mit Umwelteinflüssen, die zur Entwicklung einer psychischen Struktur mit verzerrten, primitiven, voneinander abgespaltenen Bildern führt, die sich bis in das Erwachsenenalter fortsetzt. Was die Behandlungstechnik betrifft, legt unser Modell einen Schwerpunkt auf die frühe 9 10 I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) Deutung negativer Übertragungen, während andere Therapieansätze an dieser Stelle die haltende Funktion des Therapeuten und den Aufbau einer therapeutischen Allianz in der Behandlung betonen. Eigentlich geht es darum, wie die therapeutische Allianz am wirksamsten gestärkt wird. Einige Autoren sind der Überzeugung, dass eine Betonung der positiven Aspekte der Übertragung bisher das wirksamste Mittel zur Erreichung dieses Ziels darstellt. Unserer Vorstellung nach wird jedoch die therapeutische Allianz dadurch hergestellt, dass der Therapeut sein Einfühlungsvermögen auf das gesamte subjektive Erleben des Patienten lenkt, also auch auf dessen negativste, wütendste und feindseligste Anteile. Indem der Therapeut seine Fähigkeit und seinen Willen zum Ausdruck bringt, diese Anteile des Patienten zu ertragen und mit ihnen zu arbeiten, gibt er dem Patienten die Sicherheit, dass diese Therapie die Intensität und Verwirrung in seinem Erleben auffangen und kontrollieren kann. Insbesondere Buie und Adler (1982) unterscheiden sich von uns am deutlichsten in ihrem Verständnis der haltenden Funktion. Sie gehen davon aus, dass die Borderline-Pathologie auf einem Entwicklungsdefizit, d.h. einem Mangel an haltenden und beschwichtigenden Introjekten beruht, und empfehlen, der Therapeut sollte diese haltenden und beschwichtigenden Funktionen für den Patienten übernehmen, da der Patient dies noch nicht für sich selbst leisten kann. Die Rolle des Therapeuten geht hier über die Therapiesitzungen hinaus, indem er auch in realen Lebenssituationen dem Patienten als haltendes Selbst-Objekt zur Verfügung steht. Beispielsweise nimmt der Therapeut Telefonanrufe des Patienten auch zwischen den Sitzungen entgegen oder schickt ihm Postkarten während der Therapieunterbrechungen. Nach Ansicht von Buie und Adler sind diese Verhaltensweisen – dieses teilnehmende Erleben des Therapeuten – wichtiger als Deutungen. Sie zielen darauf ab, dem Patienten eine stabile abrufbare Erinnerung an einen ihn zuverlässig haltenden Therapeuten zu vermitteln, eine Basis, von der aus der Patient sich ein haltendes Introjekt schaffen kann. Erschwerend auf dieses Vorgehen wirkt sich die Wut des Patienten aus, die der Therapeut aushalten und mit der er umgehen muss, um den Patienten eine Beziehung erleben zu lassen, die sein inneres Erleben als Ganzes aufnehmen kann. Aus unserer Sicht besteht in diesem ansonsten viel ver- sprechenden Behandlungsmodell die Gefahr der Beeinträchtigung der intensiven negativen Übertragung, die es, wie wir meinen, schon zu Beginn der Therapie erforderlich macht, mehr Gewicht auf die Deutungen der Übertragung zu legen, als es den Empfehlungen von Buie und Adler entspricht. Bei der TFP achtet der Therapeut nicht nur darauf, was er dem Patienten gegenüber empfindet (beispielsweise Erregung), sondern er beobachtet auch sich selbst in seiner Reaktion auf den Patienten und analysiert diese von einem objektiven beobachtenden Standort aus, der außerhalb der umittelbaren Interaktion liegt. Ziel ist es zu verstehen, wie sich die eigene Reaktion einfügt in das dynamische Widerspiegeln von Aspekten der Objektbeziehungsparadigmen, welche die innere Welt des Patienten, sein Erleben und Handeln in der realen Welt bestimmen. Der Therapeut befindet sich also gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Interaktion mit seinem Patienten. Er versteht die Kompliziertheit der Dynamik des Patienten nur dadurch, indem er innerlich auf die vom Patienten in ihm induzierten Rollen reagiert und auch seine Reaktionen als primäre Informationsquelle verwendet. Der Therapeut muss auf verschiedene charakteristische Merkmale der Gegenübertragung achten. Wie Racker (1957) in seinem mittlerweile klassischen Artikel ausführte, kann diese entweder konkordant oder komplementär sein. Zu einer konkordanten Gegenübertragung kommt es, wenn sich der Therapeut mit dem gegenwärtigen zentralen, subjektiven Erleben des Patienten, etwa dessen Gefühl, ein Opfer zu sein, identifiziert. Komplementäre Gegenübertragung erfolgt dann, wenn sich der Therapeut mit dem inneren Anderen identifiziert, auch wenn dieser vom Patienten als abgespalten und projiziert erlebt wird. Aufgrund der instabilen psychischen Struktur des Borderline-Patienten können die Übertragungs- und Gegenübertragungsrollen von einem Augenblick zum anderen wechseln. Bei neurotischen Patienten findet ein Rollenwechsel weniger schnell statt, und die Identifizierung des Therapeuten – unabhängig, ob konkordant oder komplementär – erfolgt mit einer der fest verankerten Instanzen des Patienten, d.h. mit dem Ich, Es oder Über-Ich (beispielsweise kann sich in einer komplementären Gegenübertragung der Therapeut mit dem Über-Ich des Patienten identifizieren, während dieser sich mit seinem Es identifi- 1. Einführung in die TFP ziert). Da diese Instanzen aber bei BorderlinePatienten nicht fest aufgebaut sind, erfolgt die Identifizierung des Therapeuten auf einem niedrigeren und labileren Niveau mit der in der jeweiligen Situation aktivierten Selbst- oder Objektrepräsentanz. Supportive Ansätze Neben anderen Formen psychodynamischer Psychotherapien finden sich in der aktuellen Literatur und Praxis sowohl psychodynamisch-supportive als auch andere, nicht psychodynamische Therapieformen. Rockland (1992) geht in Übereinstimmung mit den meisten anderen Autoren davon aus, dass die „gegenwärtigen Psychotherapien aus variablen Mischungen sowohl supportiver als auch explorativer Interventionen bestehen“ und der Therapeut dabei das „angemessene Verhältnis von supportiven und explorativen Interventionen für jeden einzelnen Patienten zu einem bestimmten Zeitpunkt“ (a.a.O., S. 39f) festlegen muss. Obwohl wir uns der supportiven Elemente unseres therapeutischen Ansatzes – wie sicherer Rahmen, konstante Zuwendung, Aufmerksamkeit und Interesse des Therapeuten – bewusst sind, meinen wir, dass der Therapeut keine supportiven Techniken, wie Ermutigung oder Ratschläge, in seine Interventionen einschließen sollte. Wir sehen in solchen Techniken ein Abweichen von der technischen Neutralität. Obwohl in der Therapie von Borderline-Patienten ein Abweichen von der technischen Neutralität gelegentlich notwendig ist (s. Kap. 3), sehen wir im Allgemeinen im Gebrauch einer supportiven Technik oder auch schon in der Versuchung des Therapeuten, sich einer solchen zu bedienen, einen Anlass für den Therapeuten, auf seine Gegenübertragung zu achten, um die vom Patienten in ihm induzierte Übernahme einer bestimmten Rolle zu verstehen. Supportive Techniken haben die Tendenz, den Therapeuten verstärkt zu einer „realen“ Person im Leben des Patienten werden zu lassen und damit die Fokussierung auf die Übertragung zu behindern. Außerdem überlagern sie sich störend mit dem therapeutischen Ziel, die Autonomie des Patienten zu fördern, da sie die Abhängigkeit des Patienten vom Therapeuten verstärken. Kognitiv-behaviorale Therapieansätze Der von Linehan (1993) entwickelte kognitivbehaviorale Therapieansatz, die so genannte Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), findet zurzeit viel Beachtung. Wie die Verhaltenstherapien im Allgemeinen, so geht auch diese Therapieform nicht von einem Modell des psychischen Funktionierens aus, sondern lässt die Psyche als „black box“ erscheinen und richtet das Augenmerk auf durch Umweltreize ausgelöste Reaktionsmuster. Dieses Modell geht von einem biologischen Defizit in der Emotionsregulation des BorderlinePatienten aus. Die Probleme der Emotionsregulation werden von den frühen Pflegepersonen des späteren Borderline-Patienten nicht erkannt und setzen somit eine Kette chronischer Behinderungen seiner emotionalen Reaktionen in Gang, wodurch diese immer heftiger werden und in den Augen anderer inadäquat erscheinen. Der spätere Patient entwickelt unzureichende Bewältigungsstrategien im Umgang mit Belastungen und Anforderungen des täglichen Lebens. Er kann nur auf die ihm verfügbaren Bewältigungsstrategien zurückgreifen, wobei Selbstverletzungen – als Versuche, intensive Affekte zu bewältigen – von anderen oft nicht als Bewältigungsversuche verstanden werden. Das kognitiv-behaviorale Modell betont ebenso wie unser Therapieansatz die Bedeutung eines klar umrissenen und stabilen therapeutischen Rahmens. Es validiert die Erlebnisse und Reaktionsweisen des Patienten auf der Grundlage seiner früheren Erfahrungen und versucht, ihm zu helfen, ein gesünderes Repertoire an Verhaltensmustern zu entwickeln. Auch unser psychodynamisches Modell kann zunächst den Weg einschlagen, die verzerrte Wahrnehmung des Patienten zu benennen, bevor zu einer Konfrontation und Interpretation dieser Verzerrung übergegangen wird, wie etwa in dem folgenden Beispiel: „Wenn ich in der Tat das Ungeheuer bin, als das Sie mich wahrnehmen, dann macht es natürlich Sinn, dass Sie sich vor mir verschließen und mir nicht Ihre Gedanken mitteilen. Wenn diese Wahrnehmung jedoch falsch ist, dann reagieren Sie wohl auf einen gefährlichen Anteil in sich selbst, den Sie in mir sehen.“ 11 12 I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) Das kognitiv-behaviorale Modell postuliert keine innere psychische Struktur und geht auch nicht davon aus, dass Borderline-Patienten ein besonderes Problem mit Aggression haben. Wir hingegen konzentrieren uns ganz besonders auf die Manifestationsformen der Aggression des Patienten und versuchen ihm zu helfen, sich der für gewöhnlich abgespaltenen aggressiven Anteile seiner selbst bewusst zu werden, um sie anschließend in ein ausgewogeneres Ganzes zu integrieren. Die dialektisch-behaviorale Therapie hingegen versteht die aggressiven Handlungen des Patienten als die bisher beste von ihm erlernte Möglichkeit zur Bewältigung bestimmter Situationen und versucht, bei der Entwicklung adaptiverer Bewältigungsstrategien behilflich zu sein. Grundlegende Konzepte der Transference-Focused Psychotherapy Das grundlegende Konzept der psychodynamischen Therapie von Persönlichkeitsstörungen besteht darin, die Pathologie des Patienten als eine im „Hier-und-Jetzt“ stattfindende unbewusste Wiederholung pathogener, internalisierter Beziehungserfahrungen aus der Vergangenheit anzusehen. Unbewusste Konflikte der Vergangenheit, die als internalisierte Beziehungsmuster in der Psyche des Patienten verankert sind, werden symbolisch immer wieder reinszeniert und vom Patienten als aktuelle Realität erlebt. Das dynamische Unbewusste ist das Motivationssystem der Psyche; es umfasst Libido und Aggression, Liebe und Hass. Diese Kräfte werden in internalisierte Objektbeziehungen integriert. Objektbeziehungen sind Repräsentanzen von sich und anderen, die über einen spezifischen Affekt miteinander verbunden sind und beim Betreffenden die Wahrnehmung der äußeren Realität beeinflussen. Bei Borderline-Patienten sind die inneren Repräsentanzen von einer besonders unreifen Ausprägung, rigide, wie Karikaturen wirkende Bilder des Selbst und der anderen, die nicht miteinander verbunden sind. Eine einfache grafische Darstellung der internalisierten Objektbeziehungen in der Psyche des Patienten und in der therapeutischen Dyade soll die Grundkonzepte der Therapie verdeutlichen (Abb. 1.2). Abbildung 1.3 zeigt, welchen Einfluss die innere Welt der Objektbeziehungen des Patienten auf seine Wahrnehmung des Therapeuten innerhalb des therapeutischen Rahmens hat und wie die Arbeit des Therapeuten mit diesen Wahrnehmungen, welche die Übertragung ausmachen, den Hauptzugang zu dieser inneren Welt des Patienten erschließt. Die inneren Selbst-Objekt-Dyaden bestimmen die Art und Weise, wie das Individuum das „Hierund-Jetzt“ wahrnimmt. Erfahrungen im „Hierund-Jetzt“ aktivieren diese affektgeladenen Beziehungsmuster des Individuums, die ihrerseits wiederum die Wahrnehmung des aktuellen Erlebens ausformen. Das „Zusammenpassen“ der äußeren Realität und der inneren Objektbeziehungsdyade kann – wann immer aktiviert – mehr oder weniger zutreffend sein, was jedoch vom psychischen Entwicklungsstand des Individuums abhängt. Bei Personen mit Borderline-Persönlichkeits-Organisationsniveau liegen die Selbst-Objekt-Dyaden in einer unreifen, voneinander dissoziierten Form vor, was zu innerer Verwirrung und einem chaotischen subjektiven Erleben führt – charakteristisch hierfür ist die so genannte Identitätsdiffusion. Das unreife Muster von Selbst- und Objektrepräsentanzen führt bei diesen Menschen zu einem verzerrten, gleichsam karikierten Erleben von sich und anderen, dem die reiche Farbigkeit und feine Nuancierung realer Personen fehlt. Darüber hinaus sind diese primitiven inneren Bilder derartig starr, dass sie keine Affektmodulation oder Anpassung an die Komplexitäten realer anderer Personen und realer Situationen erlauben. Personen, die auf diesem Organisationsniveau funktionieren, setzen unreife Abwehrmechanismen, vor allem Spaltung und projektive Identifizierung ein, um heftige Affekte zu bewältigen. Im Unterschied dazu erleben Personen auf neurotischem Organisationsniveau eine gut integrierte Identität, in der primitive, extreme Vorstellungen von sich selbst und anderen in ein umfassendes Konzept integriert wurden. Das neurotische Abwehrrepertoire dieser Menschen umfasst Verdrängung und andere reifere Abwehrmechanismen wie Intellektualisierung, Rationalisierung, Ungeschehenmachen und Reaktionsbildung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die innere Welt der Objekte – und ihr Ausmaß an 1. Einführung in die TFP O1 S1 S2 a2 O2 a1 S1 S2 a2 O1 O2 S3 a3 O3 S3 das Selbsterleben des Patienten der Therapeut aus der Sicht des Patienten Abb. 1.2: Die innere Welt des Patienten Abb. 1.3: Die innere Welt des Patienten und die Wahrnehmung des Therapeuten S1 = unterwürfig, missbraucht O1 = streng, missbrauchend a1 = Angst S3 = stark, kontrollierend O3 = schwach, sklavenähnlich a3 = Wut S2 = kindlich-abhängig O2 = ideal, versorgend a2 = Liebe Fragmentierung bzw. Integration – die Grundlage für die Persönlichkeitsstruktur, Integrationsfähigkeit bzw. Identitätsdiffusion und für das Niveau der Abwehrorganisation bildet. Die psychodynamische Psychotherapie von Borderline-Patienten fokussiert genau diese Bereiche mit dem Ziel, dem Patienten zu helfen, sich von einer fragmentierten, starren und verarmten Welt hin zu einer besser angepassten inneren Welt zu bewegen, um dadurch besser mit den inneren Affekten und der äußeren Realität umgehen zu können. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive beziehen sich die Hauptziele der frühen Therapiephase von Borderline-Patienten im Allgemeinen auf die präödipale Phase der Entwicklung. Diese umfasst die Befriedigung und Frustration in der Beziehung zu der frühen Bezugsperson und das Interagieren dieser Erfahrungen mit konstitutionellen Faktoren bei der Entwicklung von libidinösen und aggressiven Impulsen. Wenden wir uns beispielsweise einem Säugling zu, der (S = Selbstrepräsentanz) (O = Objektrepräsentanz) (a = Affekt) hungrig ist und genährt werden möchte. Einmal wird die Mutter verfügbar sein, dieses Bedürfnis stillen und damit eine liebevolle Bindung fördern, ein anderes Mal wird sie nicht verfügbar sein und damit den Säugling frustrieren und bei ihm Wut und Hass erzeugen. Aus diesen Erfahrungen entwickeln sich aus objektbeziehungsdynamischer Sicht zwei internalisierte Beziehungsmuster oder Beziehungsdyaden: zum einen das zufriedene, entspannte Selbst, das über den Affekt der Liebe mit einer nährenden Mutter verbunden ist; zum anderen das bedürftige und vernachlässigte Selbst, das Hass gegenüber dem frustrierenden Anderen empfindet. Ein Säugling erlebt den befriedigenden und den frustrierenden Anderen als eigenständige und voneinander getrennte Personen. In der Entwicklung eines neurotischen Menschen werden diese beiden Bilder des befriedigenden und frustrierenden Anderen integriert, und es entsteht ein komplexes Bild der anderen Person, die sowohl befriedigend als auch zeitwei- 13 14 I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) lig frustrierend sein kann. Hier besteht eine Verbindung zu Melanie Kleins (1957) depressiver Position, bei der ein Individuum im Rahmen seiner Entwicklung den Verlust des idealen Versorgers betrauert, damit jedoch gleichzeitig einen Zugang zu wirklicher menschlicher Liebe findet. Der Affekt, der einer solchen komplexeren Wahrnehmung des Anderen in der depressiven Phase entspricht, ist ebenfalls differenzierter, d.h. mit den inneren Bildern sind nicht mehr nur Liebe oder nur Hass assoziiert. Im Unterschied zur depressiven Position ist die primitivere paranoide Position auf der Basis gespaltener Repräsentanzen mit nur-guten oder nur-bösen Objekten (und korrespondierenden Selbstrepräsentanzen) organisiert. Die paranoide Position schützt das unrealistische idealisierte Bild vom perfekten Versorger vor Unvollkommenheit, indem mithilfe von Spaltung alles Böse einem ebenso unrealistischen verfolgenden Objekt zugeteilt wird. Das Individuum befindet sich damit in einer Vorstellungswelt, in der es zum Gegenstand der Verfolgung wird, um das Bild des perfekten Anderen aufrechterhalten zu können, der in der Realität niemals zu finden sein wird. Dies entspricht genau der inneren Welt des Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsorganisation. Das Therapieziel besteht darin, die Entwicklung hin zu einer depressiven Position zu bahnen. Der Patient muss den Verlust des primitiven Idealobjekts überwinden, dabei jedoch gleichzeitig die Fähigkeit zu echten Beziehungen in der realen Welt gewinnen und erfahren, dass andere Personen ihm echte, wenn auch nicht vollkommene Liebe und Zuwendung entgegenbringen und dass auf diese Weise gegenseitige und nicht von Ausbeutung geprägte Beziehungen möglich sind. Im Laufe der Integration von frühen primitiven inneren Objektbeziehungen entwickeln sich in psychologisch reiferen Individuen die inneren Objektbeziehungsdyaden zu umfassenderen, reiferen Organisationsstrukturen, die den psychischen Apparat bilden: das Es, das Ich und das Über-Ich. Bei Borderline-Patienten haben sich diese übergeordneten psychischen Strukturen nicht gefestigt. Bei ihnen sind die unreifen inneren Repräsentanzen der frühen Lebenszeit erhalten geblieben, die nicht notwendigerweise exakte Repräsentanzen darstellen. Zum einen führen diese zu einer Weltsicht, in der versorgende und strafend-vernachlässigende Objekte ohne realistische Zwischenstufen nebeneinander vorkom- men, zum anderen haben sie ein nur schwach entwickeltes Selbstwertgefühl zur Folge, bei dem das Selbsterleben (mehr oder weniger bewusst) zwischen einem bedürftigen, hilflosen und einem omnipotenten Selbst schwankt. Ein typisches Verhaltenskorrelat zu dieser diffusen, fragmentierten und verarmten Identität ist das Oszillieren zwischen unterwürfiger Hilflosigkeit und ärgerlicher, wütender, tyrannischer Aggression gegenüber sich oder anderen Personen. Vielfältige andere Verhaltenskorrelate zur beschriebenen Borderline-Struktur bestehen in emotionaler Labilität, Wut, zwischenmenschlichem Chaos, impulsivem selbstzerstörerischen Verhalten und einer Anfälligkeit für Schwächen in der Realitätsprüfung. Ähnlich wie die mehr verhaltensorientierten Behandlungsverfahren berücksichtigt auch unser Therapieansatz diese Phänomene. Im Gegensatz zu den Verhaltenstherapien sehen wir in der Strukturierung der Therapie und im Setzen von Grenzen nicht das eigentliche Ziel, sondern vielmehr eine Notwendigkeit, um zu verhindern, dass diese Verhaltensweisen den Zugang zu den tieferen Ebenen der psychischen Struktur stören. Der zentrale Ansatzpunkt unserer Therapie ist in Abbildung 1.4 dargestellt. Unsere Therapie konzentriert sich auf die Analyse der Übertragung, denn die innere Welt der Objektbeziehungen und Abwehrmechanismen manifestiert sich in den Übertragungs-/Gegenübertragungsmustern, die im therapeutischen Raum auftauchen, nachdem die Epiphänomene der Borderline-Pathologie auf der Verhaltensebene durch Strukturierung und Grenzsetzung aufgefangen sind. Kommen wir zu allgemeineren Überlegungen zum intrapsychischen Konflikt zurück, so lässt sich die Organisation der inneren Welt des Patienten nicht mehr nur im Sinne eines individuellen Repertoires an Objektbeziehungsdyaden verstehen. Wir haben bereits die voneinander getrennte, unzusammenhängende Natur innerer Selbst- und Objektrepräsentanzen betont, Repräsentanzen, die im Inneren voneinander abgespalten sind. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein statisches System, sondern es gibt Wechselbeziehungen zwischen diesen Teil-Selbst- und TeilObjektrepräsentanzen. Ein erstes Muster besteht darin, dass die Rollenverteilung innerhalb jeder beliebigen Dyade oszillieren kann, d.h. die Eigenschaften des Selbst können plötzlich dem Objekt zugeordnet und dessen Eigenschaften dann wiederum auf das Selbst übertragen werden (s. Abb. 1. Einführung in die TFP konstitutionelle Faktoren emotionale Labilität sozialer Kontext frühe Entwicklung Wut Familie unreife Abwehr zwischenmenschliches Chaos Sozialisation Objektbeziehungen impulsive autodestruktive Verhaltensweisen Identitätsdiffusion, Leere Anfälligkeit für Psychosen die Therapie fokussiert hierauf wir greifen therapeutisch hier ein, wenn Störungen auftreten Abb. 1.4: Der zentrale Kern der psychischen Struktur (beeinflusst von den Faktoren auf der linken Seite und manifestiert in den Erscheinungsformen auf der rechten Seite) Opfer Verfolger Verfolger Opfer umsorgtes Kind perfekter Versorger (das Oszillieren findet in der Regel auf der Verhaltensebene statt und ist nicht bewusst) der Verwirrung durch Identitätsdiffusion mit sich bringen. Zu Therapiebeginn liegt bei Borderline-Patienten die hasserfüllte Dyade meist näher an der Oberfläche. Das innere Erleben, geliebt und versorgt zu werden, ist eher versteckt und fragil, es äußert sich lediglich in Anflügen von Sehnsüchten, die der Therapeut aufmerksam beachten gegensätzliche Dyade 1.5). Dieses abrupte Oszillieren erklärt einen Teil der Verwirrung im subjektiven Erleben des Borderline-Patienten und in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen. Ein zweites Muster erkennt man daran, dass in diesem inneren Repräsentanzensystem sehr gegensätzliche Dyaden vorkommen (s. Abb. 1.5), wobei eine von ihnen bewusstseinsnäher sein kann, was das besondere Problem der Spaltung ausmacht. Spaltung ist nicht nur einfach ein starrer Gegensatz zwischen guten Selbst- und bösen Objektrepräsentanzen innerhalb derselben Dyade, sondern stellt eine unüberbrückbare Kluft dar zwischen einer Dyade, die von einem völlig negativen, hasserfüllten Affekt durchdrungen ist, und einer nur von einem positiven, liebenden Affekt erfüllten Dyade. Beide Dyaden existieren gleichzeitig nebeneinander, sind aber voneinander vollkommen getrennt. Diese Dissoziation dient der Abwehr, indem sie jede Dyade vor einer Kontamination oder Zerstörung durch die entgegengesetzte Dyade schützt. Die Abspaltung schützt die liebende, versorgende Dyade vor dem Hass der entgegengesetzten Dyade, wie die Spaltung auch die hasserfüllte Dyade vor einer Durchmischung mit einem positiven Affekt schützt. Zunächst mag nicht ganz einleuchten, warum die hasserfüllte Dyade geschützt werden sollte, jedoch kann in der Borderline-Pathologie ein klares, unverfälschtes Gefühl von Hass eine zeitweilige Befreiung von Abb. 1.5: Eine Objektbeziehung kann sowohl oszillieren (d.h. Selbst- und Objektrepräsentanzen austauschen) als auch eine Abwehr gegen eine entgegengesetzte Objektbeziehungsdyade bilden. 15 16 I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) muss. Hilft er dem Patienten, an Stelle von Hass seine innere Liebesbereitschaft zu erkennen, so hilft er ihm auch zu verstehen, dass die Intensität seines Hasses lediglich einen verzweifelten Versuch darstellt, das fragile Verlangen nach Liebe zu verstecken und es so vor dem Risiko der Zerstörung zu schützen, wenn es ans Tageslicht kommen würde. In dem soeben beschriebenen Beispiel findet sich die für Borderline-Patienten klassische, prototypische Form einer Objektbeziehungsdyade in ihrer Abwehr einer gegensätzlichen Dyade. Jedoch kann in diesem System innerer Objektbeziehungen jede spezifische Dyade zur Abwehr einer anderen Dyade dienen, die den jeweils entgegengesetzten Pol eines intrapsychischen Konflikts darstellt. Die inneren, spezifisch affektgeladenen Dyaden können libidinöse oder aggressive Impulse repräsentieren, die mit internalisierten Verboten oder auch untereinander in Konflikt geraten. Dabei werden sowohl die triebhaften Impulse als auch die internalisierten Verbote intrapsychisch durch Objektbeziehungsdyaden repräsentiert. Beispielsweise kann eine libidinös besetzte Dyade aus einer sexuell erregten Selbstrepräsentanz und einer mütterlichen Objektrepräsentanz bestehen und zugleich in Konflikt mit einer angstbesetzten Dyade stehen, die ein furchtsames Selbst und eine bedrohliche Vaterimago repräsentiert. Wie ein weiteres Beispiel zeigt, kann auch eine libidinös besetzte Dyade, die sich aus einer passiven, unterwürfigen Selbstrepräsen- aggressives, ehrgeiziges Selbst liebes, freundliches, unterwürfiges Selbst S1 S2 Ärger Wut Liebe, Verlangen O1 O2 bedrohlich, aggressiv, tyrannisch erlebte Vaterimago starke, verweigernde Vaterimago der Impuls wird repräsentiert durch eine fixierte, unbewusste dyadische Phantasie jede Dyade kann die jeweils gegensätzliche abwehren Abb. 1.6: Beispiel einer Objektbeziehungsdyade in Abwehr der ihr entgegengesetzten Dyade tanz und einer mächtigen, distanzierten väterlichen Objektrepräsentanz zusammensetzt, in Konflikt mit einer aggressiv besetzten Dyade stehen, die eine unbarmherzige und ehrgeizige, durch Wut an eine bedrohliche, tyrannische väterliche Objektrepräsentanz gefesselte Selbstrepräsentanz beinhaltet (s. Abb. 1.6). Je nach strukturellem Aufbau des Individuums könnte jede einzelne dieser Dyaden mehr bewusst sein und durch ihre Dominanz die andere, in der Regel unterdrückte Dyade abwehren. Im Unterschied zum neurotischen Patienten, der in gewisser Weise Ambivalenz und innere Konflikte empfinden kann, hat der Borderline-Patient keine bewusste Wahrnehmung der unterdrückten, abgespaltenen Dyade (die in agierendem Verhalten zum Vorschein kommen kann). Konflikte, die vom Bewusstsein ferngehalten werden, können entweder auf der Verhaltensebene ausagiert werden oder sich als körperliche Symptome im Sinne einer Somatisierung manifestieren. Ein Zwischenstadium zwischen vorhandener und fehlender Wahrnehmung von Konflikten bilden Pseudo-Halluzinationen. Wie bereits beschrieben, ist es ein zentrales Anliegen dieses Therapieverfahrens, grundlegende unbewusste Konflikte des Patienten in der Therapie wiederzubeleben. Dies erfordert das Herstellen eines therapeutischen Rahmens durch einen Therapievertrag, in dem die Reinszenierung der unbewussten Konflikte in der Beziehung zum Therapeuten aufgefangen und deren Bearbeitung so wirksam wie möglich gestaltet werden kann. Aus diesem Grund fokussiert unser Therapieansatz die Übertragung, wie der Patient subjektiv seinen Therapeuten erlebt, wobei sich unbewusst pathogenetische Objektbeziehungen aus der Vergangenheit in der Beziehung mit dem Therapeuten wiederholen. Der Therapievertrag, der im Detail in Kapitel 6 und 7 ausführlich vorgestellt wird, konzentriert sich auf das für den jeweiligen Patienten typische agierende Verhalten und bestimmt die Parameter vor allem für den Umgang mit Verhaltensweisen, die eine Fortführung der Therapie gefährden könnten. Der Therapeut muss ebenso auf Somatisierungen wie auf Pseudo-Halluzinationen achten, die eine indirekte Manifestation innerer Konflikte darstellen können. Somatisierungen können die Überweisung zu einer medizinischen Untersuchung erforderlich machen, um organische Ursachen auszuschließen. Das Auftreten halluzinatorischer Phänomene in der Therapie erfordert eine genaue 1. Einführung in die TFP Überprüfung durch den Therapeuten. Allzu oft schließen Therapeuten bei halluzinatorischen Phänomenen gleich auf das Vorliegen einer Psychose, noch ehe sie diese Symptome gründlich untersucht haben. Es ist ganz wichtig, zwischen echten Halluzinationen und Pseudo-Halluzinationen zu unterscheiden. Bei Letzteren handelt es sich nicht um echte Wahrnehmungsstörungen; sie besitzen keine vollständige sensorische Qualität. Der Patient merkt selbst, dass die Pseudo-Halluzinationen etwas Krankhaftes widerspiegeln, d.h. er weiß, dass die Stimme/die Halluzination/das Körperempfinden keine wirklichen äußeren Erscheinungen sind. Pseudo-Halluzinationen stehen im Zusammenhang mit dem aktuell dominanten inneren Konflikt; sie verkörpern die Projektion eines Teils dieses Konflikts, der im Zusammenhang mit dem inneren Konflikt gedeutet und verstanden werden kann. Ein Beispiel für eine Pseudo-Halluzination findet sich in Kapitel 16 („Medikamentöse Behandlung“). Bei Patienten mit Persönlichkeitsstörung kann die Übertragung sehr rasch wechseln, entsprechend der gerade wiedererlebten internalisierten Beziehung bzw. je nachdem, welche Rolle innerhalb dieser Beziehung unbewusst dem Patienten oder dem Therapeuten zugeordnet ist. Trotz schnell wechselnder Übertragungen wird der Borderline-Patient eine vorherrschende Übertragung in die Therapie bringen, die sich, wenn die Behandlung wirksam ist, mit der Zeit entfalten wird. Rasche Veränderungen können eine Variation der zugrunde liegenden vorherrschenden Übertragung darstellen oder aber auch eine andere, vorübergehend an die Oberfläche tretende Übertragung bedeuten. Das Fokussieren auf die Übertragung des Patienten bedingt, dass sich der Therapeut ständig fragt: „Warum sagt der Patient mir das gerade jetzt? Wie sieht mich der Patient? Wie behandelt mich der Patient? Was macht der Patient mit mir?“ Diese Fragen erfordern, dass der Therapeut seine Gegenübertragung, seine inneren Reaktionen auf den Patienten und die Wirkung der vom Patienten eingesetzten unreifen Abwehrmechanismen, insbesondere diejenige der projektiven Identifikation, aufmerksam beobachtet. Zum Verstehen der Übertragung mag für den Therapeuten die Definition hilfreich sein, dass jede Reaktion des Patienten, die von einer normalerweise zu erwartenden Reaktion in einer gegebenen Situation abweicht, als Übertragung angesehen werden kann. Sagt der Therapeut beispielsweise „Guten Morgen“, und der Patient reagiert hierauf, als habe sich der Therapeut über ihn lustig gemacht oder ihm ein großes Geschenk überreicht, so ist in dieser Reaktion des Patienten eine Übertragung enthalten. Nachdem nun die Basis für ein grundlegendes Verständnis geschaffen wurde, sollen im Folgenden die zentralen Behandlungstechniken der TFP diskutiert werden. Der Ablauf der Therapie: Auffangen, Lenken in eine neue Richtung, Deuten Vorrangige Aufgabe dieser Therapie ist es, den psychischen Konflikten des Patienten innerhalb des therapeutischen Rahmens und innerhalb der Übertragung Raum zu geben. Die Übertragung stellt einen konstanten Bezugspunkt dar, und der Therapeut betrachtet und deutet Agieren und die Somatisierung in Beziehung zur Übertragung. Auf diese Weise wird seine Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Verhaltensweisen und Symptomen gelenkt, die in der dyadischen therapeutischen Beziehung zum Vorschein kommen. Aufgrund des Agierens müssen in der Therapie denjenigen Verhaltensweisen Grenzen gesetzt werden, welche die Therapie zerstören könnten. Dies erfolgt schon zu Beginn der Therapie durch die Vereinbarung des Therapievertrags. Das Setzen von Grenzen bringt nicht nur das Verhalten des Patienten unter Kontrolle, sondern erleichtert es auch, die innere Dynamik des Patienten in den Grenzen eines definierten Rahmens zu sehen. Nach dem Vereinbaren klarer Bedingungen für die Therapie stellt jedes Verhalten des Patienten, das in Beziehung zu diesen Bedingungen steht, gleichsam eine kontrollierte Form des Agierens dar. Durch das Ansprechen dieser Verhaltensweisen können Therapeut und Patient gemeinsam deren zugrunde liegende Bedeutung verstehen und ein heftigeres Ausagieren über den therapeutischen Rahmen hinaus vermeiden. Wenn beispielsweise vereinbart wurde, dass Telefonanrufe zwischen den Sitzungen auf Notfälle begrenzt sein sollten, der Patient jedoch auch ohne Anlass anruft, so sollte dieses Verhalten in der nächsten Sitzung Gegenstand genauerer Klärung werden. Es folgt ein spezifisches Beispiel für dieses Eingrenzen und dessen Bedeutung für den Klärungsprozess: 17 18 I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) Bei der Abklärung von plötzlich einsetzenden Telefonanrufen einer Patientin wurde deutlich, dass sie die Vorstellung hatte, ihr Therapeut werde die Therapie beenden, wenn sie ihn zwischen den Sitzungen anrufe. Es stellte sich heraus, dass die Patientin sich suizidal fühlte, jedoch eine Situation herzustellen versuchte, die den Anschein vermitteln sollte, als habe der Therapeut durch die Beendigung der Therapie ihre destruktive Handlung initiiert. Die weitere Analyse ergab, dass die Patientin mit ihrem Verhalten auf ein bestrafendes inneres Objekt reagierte, das sie auf den Therapeuten als Ausdruck ihrer Verleugnung projizierte, dass eine derartige Aggression und Zerstörungskraft ein Teil ihrer selbst waren. Die Patientin gab zu, die von ihm verschriebenen Tabletten gehortet zu haben. Hätte der Therapeut nicht ihrer beider Aufmerksamkeit auf die zugrunde liegende Bedeutung der Telefonanrufe gerichtet, wäre es zur Einnahme einer Überdosis dieser Medikamente gekommen – in Form einer suizidalen Handlung, die sie als vom Therapeuten ausgehend hätte erleben können. Somatisierung schließt eine Reihe von Phänomenen ein, die der Therapeut besonders zu berücksichtigen hat. Es kann erforderlich sein, den Patienten einem Internisten oder einem anderen Facharzt vorzustellen, um eine organische Ursache der Symptome auszuschließen. Somatische Beschwerden können auf einen dominanten Affekt hinweisen, dessen emotionale Bedeutsamkeit vom Patienten verleugnet und der nur in seiner somatischen Ausprägung toleriert wird. Somatische Symptome können auch hysterische Konversionsreaktionen darstellen (d.h. unbewusste Kompromissbildungen zwischen Impuls und Verbot), deren symbolische Bedeutung gedeutet werden muss. Beispielsweise kann eine Lähmung des rechten Armes bei einer Patientin sowohl den Impuls, ihren Vater zu erschießen, als auch das Verbot dieser Tat beinhalten. Häufig findet sich bei Borderline-Patienten eine allgemeine hypochondrische Haltung, bei der die Beziehung des Patienten zu seinem Körper als Ersatz für tiefe emotionale Beziehungen zu anderen Personen dient. Neben verarmten Beziehungen zu anderen findet sich hier typi- scherweise eine herabgesetzte Schwelle gegenüber somatischen Symptomen. Innere Objektbeziehungen werden dann in Verbindung mit den somatischen Symptomen ausgelebt. Beispielsweise konnte eine Patientin ihre Wut auf ihre Kinder, die sie frustrierten, nicht ertragen, da sie diesen Affekt nicht in ihr Bild einer liebenden Mutter integrieren konnte. Kopfschmerzen traten auf, die in ihrer Heftigkeit zum Mittelpunkt ihres Lebens wurden und auch das Leben der gesamten Familie beherrschten. Die Einstellung der Patientin zu den real vorhandenen Kopfschmerzen machte ihre Charakterpathologie deutlich. Ihre nahezu ausschließliche Beschäftigung mit den Schmerzen war sowohl Ausdruck ihres Narzissmus als auch ihrer paranoiden Haltung, denn die bedeutsamste Beziehung in ihrem Leben – diejenige zu ihrem Symptom – war bestrafend und verfolgend. Gleichzeitig beinhaltete die Situation eine Rollenumkehr, omnipotente Kontrolle und projektive Identifikation, da die Patientin ihre Familie quälte, kontrollierte und letztlich auch – durch ihre ausschließliche Beschäftigung mit ihrem Symptom – sehr wütend machte. Sowohl beim Agieren wie bei der Somatisierung wird durch das therapeutische Vorgehen versucht, das Symptom innerhalb der Übertragung in einen analysierbaren Zusammenhang zu bringen. Beispielsweise können sich hypochondrische Symptome bei der Manifestation in der Übertragung derart umgestalten, dass sich das Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper in ein Misstrauen gegenüber dem Therapeuten verwandelt. Bei der beschriebenen Patientin änderte der Therapeut die Strategie des zuvor behandelnden Therapeuten, der die Schmerzen mit immer stärkeren Schmerzmitteln zu bekämpfen versuchte. Der neue Therapeut erklärte der Patientin, dass selbst eine ausreichende medikamentöse Behandlung ihre Symptome nicht vollständig beseitigen werde und sie deshalb weiterhin Schmerzen ertragen müsse. Daraufhin begann die Patientin, ihren Therapeuten als Verfolger zu erleben, was die Möglichkeit bot, in der Übertragung herauszufinden, aufgrund welcher Vorstellung die Patientin eigentlich meinte, dass ihr Therapeut sie verfolgen würde etc. 1. Einführung in die TFP Auch allgemeinere körperliche Angstsymptome wie Tachykardie, Kurzatmigkeit, Zittern oder Schwitzen können Ausdruck einer unbewussten Objektbeziehung sein, die sich in der Übertragung für den Patienten erlebbar machen lässt. Ziel ist es, die Symptome in den in der Übertragung aufgetretenen Objektbeziehungen aufzudecken, sie damit aufzulösen und in das Gesamterleben des Patienten zu integrieren. Deuten heißt in diesem Therapieverfahren in erster Linie, Objektbeziehungen bewusst zu machen, die unbewusst erlebt werden und sich entweder im Agieren oder in körperlichen Symptomen äußern. Wie in Kapitel 4 weiter ausgeführt wird, erfordert die Deutung bei Borderline-Patienten vor allem in den frühen und mittleren Phasen der Therapie eine weitgehende Konzentration auf die Schritte, die der eigentlichen Deutungsarbeit vorausgehen: Klärung und Konfrontation. Klärung besteht darin, dass der Therapeut das subjektive Erleben des Patienten mit seinen unklaren oder verwirrenden Anteilen so lange bespricht, bis entweder der Patient sich verwirrt fühlt, weil ein Widerspruch zutage getreten ist, oder aber beide, Therapeut und Patient, genau verstanden haben, was besprochen wurde. In der Konfrontation trägt der Therapeut zuvor geklärte Informationen zusammen, die einander widersprechen, in Konflikt miteinander stehen oder keinen Sinn ergeben, und er konfrontiert den Patienten dann taktvoll mit diesem Material, das weiter exploriert und verstanden werden muss. Konfrontation bedeutet das Aufgreifen von Widersprüchen auf den drei Kommunikationskanälen (verbale Kommunikation, nonverbales Verhalten und Gegenübertragung). Der Deutungsprozess besteht schließlich darin, klare Hypothesen zu den beobachteten Widersprüchen und Gegensätzen aufzustellen, sodass diese verstehbar werden. Die Deutung stellt Verbindungen her oder erhellt Themen, mit denen der Patient sich herumschlägt oder die er vermeiden möchte, die aber letztlich die in der Konfrontation hervorgehobenen Widersprüche erklären können. Ein Grundprinzip der psychodynamischen Therapie besteht darin, von einer Position der technischen Neutralität aus zu intervenieren. Jedoch muss hervorgehoben werden, dass die Therapie von Borderline-Patienten zum einen mehr Aktivität vom Therapeuten erfordert und ihn zum anderen in Situationen versetzt, in denen er aufgrund von Risiken, die das Agieren des Patienten mit sich bringt, von seiner technischen Neutralität abweichen muss. Praktizierende Therapeuten, die eine psychodynamische Therapie bei Nicht-Borderline-Patienten durchführen, sind oft überrascht von dem aktiven Tonfall und dem Nachdruck, mit dem der Therapeut seine Interventionen in unserem Therapieverfahren macht. Da aber das beobachtende Ich des Borderline-Patienten in den frühen Phasen der Therapie relativ schwach ist, müssen die Interventionen des Therapeuten zwar aus einer Position der Neutralität heraus erfolgen, aber dennoch so kraftvoll und energisch sein, dass sie den heftigen autodestruktiven Anteilen des Patienten entgegenwirken können. Die Rahmenbedingungen der Therapie, festgelegt durch den Therapievertrag, führen in der Regel zu einer deutlichen Reduktion autodestruktiver Verhaltensweisen, noch bevor eine intrapsychische Integration bei dem Patienten erreicht ist. Das resultiert aus der besonderen Funktion des Therapeuten, der zu einem bedeutsamen Anderen und damit gleichsam zum Blitzableiter für die affektgeladenen Konflikte des Patienten wird. Das Umleiten dieser Konflikte in die Therapie, in der die Neutralität des Therapeuten es fördert, diese Konflikte zum Ausdruck zu bringen, ist begleitet von einer Reduktion der Affektintensität und des Agierens außerhalb der Therapie, während gleichzeitig die Affekte innerhalb der Therapie immer heftiger werden. Schritte in der Formulierung von Deutungen Der erste Schritt bei der Entwicklung einer Übertragungsdeutung besteht im Erkennen und Benennen der aktuell aktivierten Objektbeziehung. Wie in Abbildung 1.5 dargestellt, kann der Patient seine Beziehung zum Therapeuten beispielsweise als eine Dyade von einem „sadistischen Verfolger und einem hilflosen Opfer“ erleben. Im zweiten Schritt der Formulierung einer Übertragungsdeutung muss geklärt werden, wer innerhalb dieser Dyade zu welchem Zeitpunkt gerade welche Position einnimmt. Dies ist von großer Bedeutung, da die Rollenzuteilungen innerhalb der Dyade unerwartet zwischen Therapeut und Patient wechseln können, ohne dass dies gleich erkennbar sein muss. Beispielsweise kann ein Patient mit autodestruktiven Impulsen 19 20 I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) zunächst schwach und hilflos wirken, jedoch in Wirklichkeit den Therapeuten rücksichtslos mit der Sorge um seine Sicherheit quälen. Dieser Aspekt der therapeutischen Arbeit – unter einer an der Oberfläche laufenden Kommunikation das tiefer liegende Interaktionsmuster zwischen Patient und Therapeut zu begreifen – stellt eine Herausforderung für Therapeuten dar, die dafür ausgebildet wurden, primär auf den Inhalt der verbalen Äußerungen des Patienten zu achten. Aber gerade dieser oben genannte Aspekt ist entscheidend für das Gelingen dieser Therapie. Der ständige Rollenwechsel sowie das Bedürfnis abzuklären, was jeweils unter der Oberfläche vor sich geht, tragen zu dem Gefühl von Verwirrung in der Frühphase der Therapie bei. Der Therapeut sollte daher auch nicht verunsichert sein, wenn er eine anfängliche Verwirrung erlebt, sondern sie als Widerspiegelung des subjektiven Erlebens des Patienten verstehen. Der dritte Schritt beim Deuten – nach erfolgter Identifizierung der aktivierten Dyade und der Klärung, wer welche Rolle innehat – besteht in der Integration der voneinander abgespaltenen Rollen in der Übertragungssituation. Diese Integration wird erleichtert durch das Verständnis jener Kräfte, die, wie bereits beschrieben, eine innere Fragmentierung und Spaltung aufrechterhalten, welche gegensätzliche Beziehungsdyaden voneinander getrennt halten. Die Integration von Fragmenten – abgespaltenen Teilen – der inneren Welt des Patienten ist das langfristige Ziel der psychodynamischen Therapie und erstreckt sich über einen großen Zeitraum. Die zunehmende Integration wird sich in der zunehmenden Fähigkeit des Patienten zeigen, mit heftigen Affekten umzugehen bei gleichzeitiger Reduktion des agierenden Verhaltens, ferner im Selbstwertgefühl, in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im Ausführen zielgerichteter Handlungen. Die Integration der voneinander getrennten, abgespaltenen nur-guten und nur-bösen primitiven Objektbeziehungen schließt nicht nur eine Integration der jeweils korrespondierenden Selbst- und Objektrepräsentanzen mit ein, sondern auch eine Integration primitiver Affekte. Dies führt zu einer Modulation der Affekte mit Verbesserung der Affektkontrolle und Verstärkung der Empathie für sich selbst und andere, was wiederum eine Vertiefung und Reifung der zwischenmenschlichen Beziehungen mit sich bringt. Prinzipien zum Erreichen therapeutischer Ziele Angesichts der verwirrenden Menge an Material, mit der sich der Therapeut in jeder Stunde konfrontiert sieht, ist es für ihn wichtig zu wissen, was er zuerst ansprechen sollte. Als erstes Prinzip gilt, dass der Patient und nicht der Therapeut den Inhalt der Stunde, die „Tagesordnung“, bestimmt. Der Therapeut schenkt jedoch den Themen vorrangige Beachtung, bei denen der Affekt des Patienten am intensivsten ist, und er richtet seine Interventionen auf diese Inhalte aus. Das zweite Prinzip besteht darin, auf Material zu achten, das direkt oder indirekt auf den Therapeuten Bezug nimmt, da sich der Affekt des Patienten oftmals auf das „Hier-undJetzt“ in der Situation mit dem Therapeuten bezieht. Der vom Therapeuten gewählte Fokus kann von dem abweichen, was der Patient zu bearbeiten wünscht, denn nicht selten dient das vom Patienten gewählte Thema dem Zweck, zentrale Affekte und Konflikte zu vermeiden oder abzuwehren. Der Affekt des Patienten scheint in seiner Intensität nicht immer dem Inhalt seiner Äußerung zu entsprechen. Beispielsweise kann er sehr distanziert von seiner Hochzeit in der kommenden Woche berichten, sich aber gleichzeitig über einen scheinbar unbedeutenden Vorfall während der Fahrt mit dem Bus zur Therapie sehr aufregen. Aus diesem Grund muss der Therapeut immer gleichzeitig die Kommunikation auf den drei Kanälen beachten, die gemeinsam die Klangfarbe der Interaktion bestimmen. In der frühen Phase der Therapie eines Borderline-Patienten ist es – anders als bei der Therapie von neurotischen Patienten – typisch, dass der Patient verbal die am wenigsten wichtige Information übermittelt und dass sich die tieferen, bedeutsameren und vorwiegend unbewussten Informationen durch sein Verhalten und in der Gegenübertragung des Therapeuten mitteilen. Aus diesem Grund muss der Therapeut immer registrieren, welcher der drei Kommunikationskanäle am stärksten affektiv besetzt ist, und beobachten, ob es Diskrepanzen zwischen den einzelnen Kanälen gibt, die er für ein tieferes Verständnis nutzen kann. 1. Einführung in die TFP Zum Beispiel sprach ein Patient so schnell und monoton (Kanal 2), dass jede effektive Kommunikation unterbunden wurde, obwohl der Inhalt der Äußerungen des Patienten (Kanal 1) bedeutungsvoll schien. Ein anderes Beispiel für eine deutliche Diskrepanz zwischen den Kommunikationskanälen erlaubt einen tieferen Einblick in das Erleben einer Patientin: Sie sprach nahezu ausschließlich von den Misshandlungen, die sie erlitten hatte (Kanal 1), „misshandelte“ dabei jedoch ständig den Therapeuten, indem sie Stunden ausfallen ließ, zu spät erschien oder in einem anklagenden Ton sprach (Kanal 2). Ein weiteres Beispiel soll zeigen, wie das Verhalten einer Patientin und die Gegenübertragung des Therapeuten ein tiefer gehendes Verständnis ermöglichten: Die Patientin schwieg fast die gesamte Zeit in der frühen Phase der Therapie. Der Therapeut machte seine Deutungen zu ihrem Schweigen, das Ausdruck einer paranoiden Übertragung war, auf der Grundlage seiner inneren Reaktionen von Misstrauen und Angst, die sie in den Sitzungen in ihm auslöste. Schätzt man die Notwendigkeit einer genauen Beachtung dieser drei Kommunikationskanäle richtig ein, so weiß man auch die Komplexität der Aufgabe des Therapeuten in der psychodynamischen Therapie zu würdigen. Der Therapeut reagiert auf den Patienten und macht sich dessen Reaktion bewusst, während er gleichzeitig untersucht, was der Patient sagt und tut. Der Therapeut lässt sich in alle drei Informationsquellen verwickeln und steht gleichzeitig außerhalb, um sie zu beobachten und zu verstehen. Seine Aufgabe besteht darin, an der Interaktion beteiligt zu sein und diese gleichzeitig von außen zu betrachten. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: Auf Kanal 1 behauptet eine Patientin, dass alle Männer schlecht und gefährlich seien und ihnen nicht zu trauen sei. Auf Kanal 2 verhält sie sich in einer Weise verführerisch, die darauf abzielt, den männlichen Therapeuten zu erregen. Und auf Kanal 3 erlebt der Therapeut eine leichte sexuelle Erregung in Verbindung mit einem Gefühl von Misstrauen. Das Reflektieren dieser Information führt den Therapeuten schließlich zu der Feststellung, dass die Patien- tin die sexuelle Erregung benutzt, um in der Übertragung ihre innere Realität eines verletzten Selbst in der Beziehung zu einem verdorbenen Mann zu reinszenieren. Er gelangt zu dem Schluss, dass die Patientin in dem Versuch einer Reinszenierung selbst in einer verdorbenen, verführerischen Weise handelt, die, wenn sie in Handlung umgesetzt würde, die Therapie schädigen oder zerstören könnte. Gleichzeitig würde dies in der Patientin das Triumphgefühl hinterlassen, die Situation richtig und nicht pathologisch verzerrt wahrgenommen zu haben. Dies alles diente zur Abwehr einer entgegengesetzten Beziehungsdyade, die der Therapeut nur kurz hatte wahrnehmen können, als die Patientin vermittelte, sie könne zulassen, die Sorge und Hilfe des Therapeuten anzunehmen. Es kommt hierbei darauf an, empathisch für das innere Erleben der Patientin zu sein und ihr zu helfen, einen Zugang zu Aspekten ihrer Psyche zu finden, die ihr bisher nicht bewusst waren. Während Übertragung und Gegenübertragung bei Borderline-Patienten in der Regel rasch wechseln, muss der Therapeut neben den sich ständig verändernden Gegenübertragungsgefühlen auch seine anhaltende Gegenübertragungsdisposition prüfen. Diese manifestiert sich in chronischen Verzerrungen oder in einer stagnierenden emotionalen Haltung dem Patienten gegenüber. Solange der Therapeut sich dieser Haltungen nicht bewusst wird, kann die Therapie leicht zum Stillstand kommen oder in eine Sackgasse geraten. Oft wird sich der Therapeut erst in der Supervision solcher chronischer Gegenübertragungsgefühle bewusst, die er dann nutzen kann, anstatt von ihnen behindert zu werden. Aus diesem Grund empfehlen wir allen Therapeuten, die Borderline-Patienten behandeln, den Besuch einer Supervisionsgruppe zusammen mit anderen Therapeuten, die dem gleichen Therapiemodell folgen, um blinde Flecke, die sich im Verlauf der Therapie unweigerlich einstellen, erkennen zu können. Die Gegenübertragung entwickelt sich bei Borderline-Patienten aufgrund des plötzlichen und raschen Wechsels der Affektzustände komplizierter als bei neurotischen Patienten. Diese Patienten sind in der Therapie weniger sprunghaft, und die von ihnen angebotenen Themen sind eher sexuellen als aggressiven Ursprungs. 21 22 I. Prinzipien der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Transference-Focused Psychotherapy, TFP) Bei neurotischen Patienten verringert sich für den Therapeut die Gefahr, seine Gegenübertragung in Handlungen umzusetzen, da ihm die Allgegenwart sexueller Gefühle bewusst ist. Bei Borderline-Patienten hingegen ist das Risiko eines gefährlichen Gegenübertragungsagierens größer, da die Gegenübertragung schneller wechselt und viel komplexer ist. Der Therapeut läuft vor allem Gefahr, projizierte Aggression in Handlung umzusetzen, indem er bei Verhaltensweisen des Patienten, die gefährdend für die Therapie sind, „mitspielt“ oder sie nicht konfrontiert. Im Extremfall bricht der Therapeut die Therapie ab oder gerät in Kollusion mit suizidalem Verhalten. In diesem Kapitel haben wir eine Einführung in unsere Behandlungsmethode gegeben. Es ging um ihre Beziehung zu anderen Therapieformen, die theoretischen Hintergründe und den Einfluss, den dieses Verständnis der Borderline-Pathologie auf die therapeutischen Techniken und das Erleben des Therapeuten in der Arbeit hat. Im folgenden Kapitel werden nun langfristige strategische Prinzipien und Therapieziele, Behandlungstechniken sowie das taktische Vorgehen und die Regeln dieser Therapie systematisch dargestellt.