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D i e Au t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u lt u r
Vorausschauen!
Sechs Antworten auf die Gegenwart
Sonderdruck / februar 2012
Neue Welt, neues Geld Jörg Guido Hülsmann
2 Zurück in die Zukunft Hans-Olaf Henkel
3 Europas Schuld Rich Mattione
4 Gewalten teilen Roland Vaubel
5 Mehr sozial, weniger Staat Christian P. Hoffmann
6 Märkte verschwinden Gunnar Heinsohn
1 «Was es nun braucht, sind
neue Ideen und Lösungen.
Ein Denken nicht in Quartals­
zahlen, sondern in Jahrzehnten.
Und den Mut, die Zukunft
wirklich zu gestalten.
Das Dossier liefert dafür
konstruktive Ansätze.»
Remy Reichmuth, Reichmuth & Co Privatbankiers
2
IntroDossier
Vorausschauen! Sechs Antworten auf die Gegenwart
G
eld. Euro. Markt. Eigentum. Staatsschulden. Sozialstaat. Das sind sechs Frage­
zeichen, die jeden einzelnen von uns in den nächsten zehn Jahren beschäftigen
dürften, sechs Fragen, die wir sechs unserer Autoren gestellt haben.
Die Aufgabenstellung war so simpel wie anspruchsvoll. Wir haben die Autoren ge­
beten, die herrschende Lage zu analysieren, Probleme zu benennen und mögliche
Lösungs­vorschläge für die Zukunft zu skizzieren. Klar ist: nicht alle Probleme sind für
jedermann auf den ersten Blick ersichtlich. Und: DIE Lösung gibt es nicht. Aber: es ist
Zeit, über Alternativen zum Status quo nachzudenken.
Was ist die Krux mit dem
Geld, das seit dem Ende von Bretton Woods nach Belieben
aus dem Nichts geschaffen werden kann? Und wie sähe ein anderes, solideres Geld aus?
Wird der
Euro die ökonomischen Verwerfungen innerhalb der Europäischen Union
überleben? Und wenn ja, in welcher Form?
Werden Schuldner ihre Schulden weiterhin über noch mehr
Schulden finanzieren?
Und wie liesse sich die letztlich verhängnisvolle Schuldenspirale wieder bändigen?
Wird der Zugriff der Staaten auf das
Eigentum ihrer Bürger und Steuerzahler zuneh­
men? Und welche Mechanismen bräuchte ein demokratisches System, das dies verhindert?
Welche PIIGS-Staaten werden in den nächsten Jahren den
Bankrott anmelden? Und
welche Wachstumsquote müssten sie erzielen, um den Weg aus der Krise zu finden?
Warum hat der umverteilende Sozialstaat zur Staatsüberschuldung beigetragen, in der
wir heute stecken? Und wie sähe eine auf
Eigenverantwortung beruhende
Alternative zum heutigen Modell aus?
Die Antworten unserer Autoren auf diese Fragen finden Sie auf den folgenden Seiten.
Wir wünschen, wie immer, anregende Lektüre!
Die Redaktion
Dieses Schwerpunktthema ist in der Februar-Ausgabe des «Schweizer Monats» erschie­
nen. Für die Unterstützung bei der Lancierung des Dossiers danken wir Reichmuth &
Co Privatbankiers.
3
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Neue Welt, neues Geld
1
Billiges Geld führt zu billigen Krediten, mehr Kredite zu mehr Wirtschaftswachstum.
Wäre die Welt so einfach! Mit den Krediten steigen auch die Schulden – von Staaten, Unternehmen, Privaten.
Und es stellt sich die Frage: Ist das Billiggeld wirklich zukunftstauglich?
von Jörg Guido Hülsmann
D
er Kern der gegenwärtigen Finanzund Wirtschaftskrise ist die übermäs­
sige Verschuldung der Staaten, Firmen und
Privathaushalte. Diese Schuldenkrise ist
die Frucht einer sehr langfristigen Ent­
wicklung, die seit Anfang der 1970er Jahre
deutlich zu beobachten war, als es zu einem
Wechsel des Währungssystems kam.
Bis 1971 herrschte weltweit eine – wenn
auch verwässerte – Goldwährung (BrettonWoods-System). Alle nationalen Papierwäh­
rungen, alle Banknoten und Sichtguthaben
waren letztlich über die Anbindung an den
Dollar, der teilweise mit Gold hinterlegt war,
Platzhalter für Gold. Da sich die Goldmenge
naturgemäss jedes Jahr nur wenig und nur
unter hohen Kosten vergrössern lässt, konn­
ten auch die von den Zentralbanken ge­
währten Kredite nur in vergleichsweise
niedrigem Umfang wachsen. Die Refinan­
zierung der Geschäftsbanken war also be­
grenzt, und auch die Geschäftsbanken
konnten mithin nur in relativ geringem Um­
fang neues Bankgeld schöpfen und damit
Kredite erteilen. Die Goldwährung war der
Anker der Wirtschaft. Genauer gesagt war
sie ein Doppelanker, denn sie begrenzte
nicht nur das Preisniveau, sondern auch den
Umfang der Kreditwirtschaft.
Die Dinge änderten sich radikal, als die
amerikanische Federal Reserve Bank (Fed)
im August 1971 die Goldeinlösung der ame­
rikanischen Noten einstellte und somit das
gesamte Währungssystem umkrempelte.
Waren die von den Zentralbanken geschaf­
fenen Noten und Sichtguthaben bislang
nur Platzhalter für Gold, so traten sie nun
an die Stelle des Goldes, indem sie in die
Rolle des Grundgeldes schlüpften. Erst
4
durch diesen Abschied von der Goldwäh­
rung und den Übergang zu immateriellem
Grundgeld wurde eine Ausweitung der
Geldmenge in grossem Stil möglich. Erst da­
durch wuchs auch die öffentliche und pri­
vate Verschuldung in einem Umfang, der bis
dato nicht für möglich gehalten wurde.
Es stellt sich somit die Frage, ob das ge­
genwärtige Währungssystem nicht eine
Sackgasse ist, aus der man tunlichst und
schnell wieder herausfinden sollte. Die
Schulweisheit der heute tonangebenden
monetaristischen Ökonomen verneint dies.
Wir wollen daher im folgenden auf die wich­
tigsten einschlägigen Argumente eingehen.
Die monetaristische Lehre
Der Monetarismus geht auf den ameri­
kanischen Ökonomen Irving Fisher (1867
bis 1947) zurück und wurde später von Mil­
ton Friedman, Allen Meltzer, David Laidler
und anderen fortentwickelt. Bis zum heuti­
gen Tage präsentieren sich die Monetaris­
ten selber gerne als wirtschaftspolitische
Antipoden der Keynesianer. Während die
Keynesianer dem Markt misstrauen und
stattdessen auf staatliches Handeln setzen,
sehen sich die Monetaristen als Verfechter
der Marktwirtschaft. Doch gerade im Be­
reich der Währungspolitik trifft dies nicht
zu. Hier vertreten die Monetaristen – um
einen passenden Ausdruck des kürzlich
verschiedenen Roland Baader zu verwen­
den – einen ausgesprochenen «Geldsozia­
lismus», wenn auch mit anderen Argumen­
ten als die Keynesianer.
Nach ihrem Dafürhalten hat das ideale
Geld eine stabile Kaufkraft. Damit die Kauf­
kraft stabil bleibt, muss allerdings die
Jörg Guido Hülsmann
ist Professor für Ökonomie an der Universität
Angers in Frankreich und Autor von
«Ethik der Geldproduktion» (2007)
und «Mises. The Last Knight of Liberalism» (2007).
Geldmenge immer in genau dem Masse
wachsen, in dem auch die Geldnachfrage
wächst, und letztere steigt insbesondere
bei wachsender Realwirtschaft. Daher die
Faustformel, dass das Wachstum der Geld­
menge dem erwarteten Wachstum der Real­
wirtschaft – bzw. dem sogenannten Pro­
duktivitätsfortschritt – entsprechen sollte.
Nun ist die Goldwährung ganz offen­
sichtlich weit von diesem Ideal entfernt,
denn die Geldproduktion hängt nur sehr
lose mit dem Wirtschaftswachstum zusam­
men. Es ist möglich, dass auch in Zeiten
schrumpfender Wirtschaft die Goldpro­
duktion fortgesetzt wird, und es ist keines­
falls wahrscheinlich, dass die Goldproduk­
tion immer dem Produktivitätsfortschritt
entspricht. Vielmehr besteht in einer wach­
senden Wirtschaft mit Goldwährung eine
ständige Tendenz zum Sinken der Güter­
preise. Die wachsende Gütermenge wird im
Tausch gegen eine Geldmenge umgesetzt,
die nicht bzw. nicht im gleichen Masse
wächst. Das ist nur möglich bei ständig sin­
kenden Geldpreisen pro Gütereinheit.
Die Goldwährung fällt also beim mone­
taristischen Test durch. Dagegen lässt sich
das Ziel des stabilen Preisniveaus mit einer
immateriellen Währung verwirklichen,
insbesondere wenn diese Währung nicht
einfach verschenkt oder verkauft, sondern
wenn sie durch Zentralbanken verliehen
wird. Dann ist es nämlich möglich, durch
Jörg Guido Hülsmann (Bild: pd)
5
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Erleichterung der Kreditbedingungen die
Geldmenge zu erhöhen, wenn die Wirt­
schaft wächst; und bei sinkender Geldnach­
frage kann die Geldmenge prinzipiell
ebenso leicht wieder verringert werden, um
ein Steigen der Güterpreise zu verhindern.
Auch wenn man nun von allen theoreti­
schen Erwägungen erst einmal absieht,
führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass
der Monetarismus immer graue Theorie ge­
blieben ist. In der Praxis haben die Zentral­
banken keineswegs ein Geld stabiler Kauf­
kraft geschaffen, sondern ein Geld, das
Anfang Januar 2011 betrug
die vom Eurosystem geschaffene
Grundmenge 1961 Milliarden Euro.
Ein Jahr später sind es 2688.
ständig an Kaufkraft verliert. Das gilt insbe­
sondere auch für die sogenannten Hartwäh­
rungsländer. Ein Geld, dessen Kaufkraft
jahraus, jahrein auch nur um 2 Prozent
nachlässt, hat nach zwanzig Jahren rund die
Hälfte seiner Kaufkraft eingebüsst. Entspre­
chend stärker ist die kumulierte Wirkung
in den Weichwährungsländern.
Gute Theorie?
Hat aber der Monetarismus trotz dieser
praktischen Erfahrungen nicht wenigstens
eine gewisse theoretische Berechtigung?
Die drei klassischen Argumente für die
Preisniveaustabilisierung sind (1) die Ver­
teilungsgerechtigkeit zwischen Schuld­
nern und Gläubigern, (2) der Kampf gegen
die Deflation und (3) die sich aus der Preis­
niveaustabilisierung ergebende Stabilisie­
rung der Wirtschaft insgesamt.
Irving Fisher zufolge führten Änderun­
gen des Preisniveaus zu einer unberechtig­
ten Bereicherung. Ein steigendes Preisni­
veau bereichere die Schuldner auf Kosten
der Gläubiger, ein fallendes Preisniveau die
Gläubiger zu Lasten der Schuldner. Ludwig
von Mises hat diese Argumentation bereits
in den 1920er Jahren gründlich widerlegt.
Er wies darauf hin, dass die Bereicherung
6
der einen oder anderen Partei keinesfalls
eine notwendige Folge eines fallenden bzw.
steigenden Preisniveaus ist. Solche Verän­
derungen können nämlich durchaus anti­
zipiert und dann vertraglich entsprechend
berücksichtigt werden. Ausserdem unter­
strich Mises, dass die Stabilisierungspolitik
selber eine Verteilungswirkung nach sich
zieht. Jede Ausweitung der Geldmenge be­
günstigt frühe Verwender des neuen Gel­
des zu Lasten der späteren Verwender. Mit
anderen Worten führt die Betätigung der
Notenpresse zur Bekämpfung der (durch­
aus vermeidbaren) Umverteilung zwischen
Gläubigern und Schuldnern zwangsläufig
zu einer ungerechtfertigten Bereicherung
der frühen Verwender zu Lasten der späte­
ren Verwender des neuen Geldes. Selbst
wenn nämlich diese Wirkung der Noten­
presse antizipiert wird, können sich die
Spätverwender des neuen Geldes nicht da­
vor durch irgendwelche vertraglichen Ver­
einbarungen schützen.
Zentralbanken operieren nicht vertei­
lungsneutral. In unseren Tagen, in denen
die Zentralbanken die Geldmenge jahraus,
jahrein um hunderte Milliarden Euro bzw.
Dollar erhöhen, erzeugen sie eine geradezu
massive Bereicherung der öffentlichen
Haushalte und der Geschäftsbanken, wel­
che regelmässig zu den Erstverwendern des
neuen Geldes zählen. Diese enorme Berei­
cherung der einen auf Kosten der anderen
ist im Moment kaum sichtbar, da sich die
Preisinflation noch in Grenzen hält. Den­
noch sollte man nicht in den Irrtum verfal­
len, dass die ungerechtfertigte Bereicherung
erst stattfindet, wenn die Preise steigen. An­
fang Januar 2011 betrug die vom Eurosystem
geschaffene Grundgeldmenge 1961 Milliar­
den Euro. Ein Jahr später liegt der Betrag bei
2688 Milliarden Euro. Die EZB hat die
Grundgeldmenge somit in einem einzigen
Jahr um 37 Prozent bzw. um 727 Milliarden
Euro erhöht, und diese gesamte Summe, der
Gegenwert von etwa 6 Prozent des Bruttoin­
landsproduktes der EU, floss zuerst durch
die Hände der Geschäftsbanken und der öf­
fentlichen Haushalte.
Selbst bei stabilem Preisniveau kann es
somit zu einer massiven Umverteilung durch
die Notenpresse kommen. Diese Tatsache
ist heute offensichtlich und hat in der Bevöl­
kerung bereits zu breiter Entrüstung über
die Politik der Zentralbanken geführt. Daher
ist es nicht erstaunlich, dass die Monetaris­
ten die Verteilungsproblematik zwischen
Gläubigern und Schuldnern nicht allzu sehr
in den Vordergrund stellen. Sie konzentrie­
ren sich auf die beiden anderen klassischen
Argumente für die Preisniveaustabilisie­
rung: die Deflationsbekämpfung und die
Stabilisierung der Wirtschaft insgesamt.
Da wir das Argument der Deflationsbe­
kämpfung an dieser Stelle erst vor kurzem
behandelt haben, sollen hier nur die we­
sentlichen Punkte in Erinnerung gerufen
werden.1 Ein deflationäres Absinken des
Preisniveaus ist aus gesamtwirtschaftlicher
Sicht mittel- bis langfristig nicht schädlich.
Probleme ergeben sich in kurzer Sicht, ins­
besondere in einer Wirtschaft, in der es
zahlreiche stark verschuldete Marktteilneh­
mer gibt. Die Schuldner sind nach einem de­
flationären Einbruch des Preisniveaus häu­
fig ausserstande, die zuvor bei höherem
Preis- und Einkommensniveau eingegange­
nen Schulden zu bedienen. Da die Schulden
der einen häufig die Finanzaktiva der ande­
ren sind, entwickelt sich dann leicht eine Ei­
gendynamik. Auch leichte Deflationen füh­
ren zu Deflationsspiralen mit der Folge eines
Massenkonkurses. Es kommt mithin zu ei­
ner grossflächigen Neuverteilung der realen
Aktiva, wobei Gläubiger die Vermögensbe­
standteile ihrer Schuldner übernehmen.
Überschuldete Unternehmer verlieren ihre
Firma und müssen fortan an gleicher oder
anderer Stelle eine Anstellung suchen.
Hochverschuldete Familien verlieren Haus
und Hof, und sie müssen diese Güter somit
fortan für einige Zeit mieten, statt sie zu be­
sitzen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist
dieser Vorgang in dem Masse schädlich, in
dem es bei der Neuregelung der Vermögens­
verhältnisse zu Produktionsstockungen und
starker Arbeitslosigkeit kommt. Mittel- und
langfristig bietet eine solche Krise jedoch
grosse Vorteile, zum Beispiel den Vorteil,
dass sie die Schulden aus der Welt schafft
und die Wirtschaft somit gesundet.
1 Jörg Guido Hülsmann: Schreckgespenst Deflation.
In: Schweizer Monatshefte 975, 2010. S. 27 ff.
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Nun mag man einwenden, dass eine
Deflationsspirale trotz aller mittel- und
langfristigen Vorteile eine schreckliche
Rosskur sei, die man einem Land doch lie­
ber ersparen möchte. Aber auch dieser Ein­
wand ist nicht stichhaltig. Denn gerade die
Preisniveaustabilisierung ist es, die beson­
dere Anreize zur Verschuldung schafft und
somit die Deflationsanfälligkeit der Wirt­
schaft erhöht.
Ohne Preisniveaustabilisierung – also
beispielsweise unter einer Goldwährung –
ist es nicht ratsam, sich hoch zu verschul­
den, da die Geldpreise und die Geldein­
kommen tendenziell sinken, was wiederum
den Schuldendienst erschwert. Die Finan­
zierung der Wirtschaft erfolgt unter sol­
chen Umständen hauptsächlich in der
Form von Eigenkapital, während Kredite
nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dies
ändert sich, sobald die Preisniveaustabili­
sierung die Möglichkeit von Deflationen
aus dem Wege räumt. Nun verschieben sich
die Gewichte: Kredite treten zunehmend in
den Vordergrund, während der Anteil der
Eigenkapitalfinanzierung nachlässt.
Dieser Umstand wird noch sehr ver­
stärkt, sobald das Preisniveau nicht wirklich
stabilisiert wird, sondern ständig – mal
schleichend, mal galoppierend – steigt. Ge­
nau dies ist der Fall in der Eurozone. Ein de­
finitorischer Kniff hilft dabei, dies nicht of­
fen auszusprechen. Nach ihren Statuten soll
die Europäische Zentralbank (EZB) nicht das
Preisniveau, sondern die Veränderung des
Preisniveaus (die Inflationsrate) stabilisie­
ren. Wenn die Preise jedes Jahr um 2 Prozent
wachsen, herrscht bei uns offiziell Preisni­
veaustabilität und die Zentralbankgouver­
neure klopfen sich auf die Schultern.
Unter diesen Bedingungen wird der
Anreiz zu hoher Verschuldung geradezu
unwiderstehlich. Haushalte verschulden
sich, weil sie damit rechnen können, dass
ihre Geldeinkommen steigen und somit die
relative Last des Schuldendienstes im Ver­
lauf der Zeit immer erträglicher wird. Un­
ternehmen verschulden sich aus dem glei­
chen Grund. Am stärksten wirkt dieser
Anreiz natürlich auf die öffentlichen Haus­
halte. Sie können nicht nur ständig stei­
gende Steuereinnahmen erwarten (häufig
verstärkt durch kalte Steuerprogression),
sondern dürfen bei Schwierigkeiten auch
mit der Unterstützung der Notenbanken
rechnen. Einzelwirtschaftlich gesehen ist
das völlig rational, aber die Gesamtwirt­
schaft verwandelt sich auf diese Weise in
ein Pulverfass.
Man kann es drehen und wenden, wie
man will: eine Politik der Preisniveaustabili­
sierung wirkt letztlich nicht stabilisierend.
Sie institutionalisiert vielmehr die Anreize
zum Schuldenmachen. Das freut einen Teil
der Finanzwirtschaft, zumindest kurz- bis
mittelfristig, aber es schwächt die Wirt­
schaft insgesamt. Auf lange Sicht führt der
Monetarismus in die Schuldenwirtschaft
und somit auch in die Schuldenkrise der Ge­
genwart. Preisniveaustabilisierung ist lang­
fristig destabilisierend, und die lange Frist
ist heute da. Wir sind am Ende der Sackgasse
des Monetarismus angekommen.
Wie weiter?
Was sind die Alternativen? Vor allen
anderen Überlegungen muss der grössere
Kontext im Auge behalten werden. Der Mo­
netarismus ist eine technokratische Ideolo­
gie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die
im Verlauf des 20. Jahrhunderts ihren Sie­
geszug antrat. Der praktische Kern- und An­
gelpunkt war und ist die erzwungene Ab­
kehr von natürlichem Geld und die auf
staatlichen Zwang gestützte Schaffung ei­
nes künstlichen Währungssystems. Der Tri­
umph der künstlichen Währungen erklärt
sich nicht aus ihren gesamtwirtschaftlichen
Wohltaten, sondern aus ihrer Nützlichkeit
für Einzelinteressen, insbesondere für den
Staat. Anders gesagt wurde die Goldwäh­
rung nicht im eigentlichen Sinne aufgege­
ben als vielmehr zwangsweise unterdrückt;
und zwar nicht, weil sie das goldene Kreuz
war, auf das die Wirtschaft genagelt wurde,
sondern weil sie der einzelwirtschaftlichen
Willkür des Staates und seiner Alliierten
goldene Fesseln anlegte.
Aus moralischen und wirtschaftlichen
Gründen ist es daher ratsam, Wege zur er­
neuten Einführung von Edelmetallwäh­
rungen auszuloten. Genau wie die amerika­
nischen Revolutionäre die in den bri­tischen
Kolonien Nordamerikas vorherrschenden
Papierwährungen ablehnten und ihr Wäh­
rungssystem auf Gold und Silber bauten;
genau wie Österreich und Italien im 19.
Jahrhundert eine Goldwährung an Stelle
ihrer Papierwährungen einführten; genau
wie unsere Grossväter und Urgrossväter
nach dem 1. Weltkrieg und dem 2. Welt­
krieg eine Rückkehr zu Formen der Gold­
währung vollzogen haben – genau so liegt
es auch in unserem heutigen Interesse,
eine Revolution des Währungssystems zu
vollziehen, und zwar aus den gleichen gu­
ten Gründen wie unsere Vorfahren.
Der Triumph der künstlichen
Währungen erklärt sich nicht aus
ihren gesamtwirtschaftlichen
Wohltaten.
Es ist dabei nicht klug, sich an irgend­
ein historisches Vorbild zu klammern. Die
Goldstandards des 20. Jahrhunderts waren
in vieler Hinsicht keine natürlichen Wäh­
rungsordnungen, selbst wenn sie natürli­
cher waren als unser heutiges System. Es
ist möglich und aus vielen Gründen emp­
fehlenswert, die nötigen Reformen durch
private Unternehmer vollziehen zu lassen,
indem man einfach den Währungsmarkt
öffnet. Es ist auch möglich, auf politischem
Wege zu einer auf Edelmetallen basierten
Währungsordnung zu gelangen. Zahlreiche
Pläne dazu liegen sozusagen in der Schub­
lade (siehe z.B. Huerta de Soto).2
Aber vor der Tat muss die Einsicht kom­
men. Solange breite Bevölkerungskreise von
der Nützlichkeit unserer gegenwärtigen
Währungsordnung überzeugt sind, wird
kein Fortschritt zu erzielen sein. Solange
nicht erkannt wird, dass wir uns am Ende
einer Sackgasse befinden, werden wir im­
mer nur ein paar Schritte zurückgehen und
dann erneut gegen die Wand laufen. �
2 Jesus Huerta de Soto: Geld, Bankkredit und
Konjunkturzyklen. Stuttgart: Lucius & Lucius, 2011.
7
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Zurück in die Zukunft
2
Der Euro war von Anfang an ein politisches Projekt. Die Idee der neuen Währung:
die Europäische Union näher zusammenführen. Nun zeichnet sich ab, dass genau das Gegenteil
geschieht. Welche Zukunft hat der Euro?
von Hans-Olaf Henkel
D
er Ruf des Euro hat gelitten. Die Krise
der Eurozone hat freilich auch ihr Gu­
tes, weil sie zu einem neuen Nachdenken
über die politische Gestaltung unseres
Kontinents führt. Dies habe ich an mir
selbst festgestellt. Im Verlauf der Krise
habe ich nicht nur meine Meinung über
den Euro geändert, sondern auch über die
Richtung, die die Europäische Union ein­
schlagen sollte.
Einst war ich ein enthusiastischer Be­
fürworter des Euro und romantischer Träu­
mer von einem «Vaterland Europa» im Ge­
gensatz zu Charles de Gaulles «Europa der
Einst war ich ein enthusiastischer
Befürworter des Euro und
romantischer Träumer von einem
«Vaterland Europa».
Vaterländer». Ich erinnere mich noch gut
an den Sommer 1956, als ich, 16jährig,
meine erste Fahrradtour ins Ausland unter­
nahm. Über Trier und Luxemburg und ei­
nen Schlenker über die belgische Grenze
radelte ich nach Paris. Der Krieg war noch
keine zehn Jahre vorbei, und doch stempel­
ten die Beamten in ihren Grenzhäuschen
dem deutschen Jungen seinen Reisepass (!)
und liessen ihn auf seinem klapprigen
Fahrrad passieren. Ich atmete Europa in
vollen Zügen.
Fast 40 Jahre später wurde ich Präsi­
dent von IBM Europa und bezog nun schon
zum dritten Mal in meinem beruflichen Le­
8
ben eine Wohnung in Paris. Meine Vorgän­
ger, u.a. der legendäre Schweizer Kaspar
Cassani, hatten aus den nationalen Toch­
tergesellschaften der IBM längst ein durch
und durch europäisches Unternehmen ge­
macht. Unsere Kunden wurden zwar noch
auf nationaler Basis betreut, die Produk­
tion war jedoch längst europäisiert. Wieder
erlebte ich Europa als etwas Positives.
Heute gibt es keine IBM Europa mehr.
So wie IBM sind auch BMW, Nestlé und ABB
längst global organisiert. Für unsere Unter­
nehmen war Europa bestenfalls eine Epi­
sode auf dem Weg von nationaler zu globa­
ler Orientierung. Sicher ist ein Verbund von
Staaten nicht eins zu eins mit Töchtern ei­
nes Unternehmens gleichzusetzen, den­
noch ist der Vergleich illustrativ: die Archi­
tekten des «Hauses Europa» (Michail
Gorbatschow) machen sich etwas vor und
halten an einer vergangenen Welt fest, wenn
sie europäische Nabelschau betreiben. Eu­
ropapolitiker sollten vielmehr die ganze
Welt in den Blick nehmen – ohne dabei ihre
Heimat aus den Augen zu verlieren.
Heute werden wir Zeugen eines gro­
tesken Vorgangs: Als Nebenprodukt von
Euro-Rettungspaketen zeichnen unsere
euromantischen Architekten eine zentra­
listische Eurozone («Fiskalunion») auf die
Landkarte, die sich schon deshalb bald als
anachronistisch herausstellen dürfte, weil
sie die kulturelle und wirtschaftliche Reali­
tät völlig ignoriert. Anstatt ein Währungs­
system den vorhandenen Kulturen anzu­
passen, soll ein ganzer Kontinent den
Bedürfnissen einer Währungsunion unter­
geordnet werden. Das kann, nüchtern be­
trachtet, nicht gutgehen. Der Marsch in ei­
Hans-Olaf Henkel
ist Autor und Honorarprofessor an der Universität
Mannheim. Er war Chef der IBM Europa, Mittlerer
Osten und Afrika sowie Präsident des Bundes­
verbandes der Deutschen Industrie (BDI).
nen europäischen Zentralstaat würde das
Gegenteil dessen bewirken, was er be­
zweckt – er würde mithin den europäi­
schen Zusammenhalt schwächen statt
stärken. Welchen Weg also müsste Europa
gehen? Dazu möchte ich drei Anregungen
präsentieren.
1. Mehr Föderalismus, weniger Zentralismus
Wenn grosse Organisationen an den
Rand des Ruins oder in die Pleite geraten,
so hängt dies zumeist mit ihrer Grösse und
zunehmenden Unfähigkeit der Verwalter
bzw. ihrer gewählten Vertreter zusammen,
den Überblick zu behalten. Deshalb tut
eine Grossorganisation, die der Logik einer
Top-down-Organisation folgt, gut daran
(oft gegen den Widerstand der Verwalter
bzw. Vertreter), sich als Konglomerat aus
vielen selbständigen Organisationen zu
verstehen. Je grösser eine Organisation,
desto mehr muss sie delegieren, eigenver­
antwortlich agierende Zentren gründen
und die Möglichkeit schaffen, unten, also
beim Kunden bzw. Bürger, optimale Lösun­
gen zu finden.
Für Staatenbünde gilt deshalb dasselbe
wie für grosse Unternehmungen: mehr
Dezentralisierung statt Zentralisierung!
Wenn wegen Verletzung bisheriger Ver­
träge nun alle Fäden Europas in Brüssel
(oder Luxemburg) enden sollen, wird die­
ser Kontinent zu einem unbeherrschbaren
Hans-Olaf Henkel (Bild: pd)
9
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
und schwerfälligen Koloss. Dieses polit­
strukturelle Szenario hat bereits viele his­
torische Gesichter, das anschaulichste mag
das der ehemaligen Sowjetunion gewesen
sein. Das Schicksal der UdSSR wurde nicht
nur durch eine versagende Ideologie, son­
dern auch durch den übermächtigen und
bürokratischen Zentralstaat besiegelt. Alle
Fäden liefen in Moskau zusammen. Selbst
eine Jahrhundertkatastrophe, wie die im
entfernten ukrainischen Tschernobyl, wurde
in Moskau so lange unter dem Deckel ge­
halten, bis es für eine Evakuierung vieler
zu spät war.
Das Beispiel der Schweiz hingegen
zeigt seit vielen Jahren, dass «small» eben
«beautiful» ist. Eine föderale Organisa­
Keiner in den USA käme auf
die Idee, Texas Rettungspakete
für das überschuldete Kalifornien
schnüren zu lassen.
tionsform ist einer zentralistischen auf
lange Frist überlegen. Weil föderale Orga­
nisationen Probleme nur nach oben dele­
gieren können, wenn keine andere Mög­
lichkeit besteht, müssen sie schneller auf
Missstände reagieren. Man denke an die
Schweizer Schuldenbremse. Noch unmit­
telbar vor der «Eurokrise» führten die Eu­
ropapolitiker immer gern den Begriff «Sub­
sidiarität» im Munde. Jetzt ist dieser Begriff
aus ihrem Vokabular verschwunden. Nun
soll ein europäischer Zentralstaat her, auf­
grund der durch nichts bewiesenen Be­
gründung, dass die Probleme des Euro
durch ein «zu wenig an Europa» entstan­
den seien. Besonders eifrige Euromantiker
bemühen dabei die Idee der «Vereinigten
Staaten von Europa», übersehen aber, dass
ihr grosses Vorbild auf der anderen Seite
des Atlantiks trotz Einheitswährung immer
ein föderaler Staat geblieben ist. Keiner
käme dort auf die Idee, Texas Rettungspa­
kete für das überschuldete Kalifornien
schnüren zu lassen. In der Eurozone, im­
mer noch bestehend aus rechtlich völlig
10
unabhängigen Staaten, wird freilich genau
das bereits heute über diverse «Rettungs­
schirme» praktiziert.
Der zu rettende Euro ist eine «one-sizefits-all»-Währung, die sich für die Grie­
chen und Franzosen als längst zu schwer
und für Deutsche und Österreicher als viel
zu leicht erwiesen hat. Die politische Klasse
der Eurozone tritt nun unter dem Banner
«mehr Europa» die Flucht nach vorn in den
europäischen Zentralstaat an. Stattdessen
sollte sie die Konsequenz aus der Fehlent­
wicklung ziehen. Ich habe vorgeschlagen,
dass Deutschland, Holland, Finnland und
Österreich gemeinsam aus dem Euro aus­
treten und eine eigene gemeinsame Wäh­
rung begründen, die genau so funktionie­
ren soll, wie es ursprünglich einmal für den
Euro vorgesehen war. Sicher würden
Schweden, Dänemark, Tschechien beitre­
ten. Der Euro bliebe den anderen Ländern
erhalten und würde ihnen, in abgewerteter
Form, wieder eine Wachstumsperspektive
bieten. Zwar würden für die Austrittslän­
der Exporte teurer, aber der Aufwertungs­
effekt kann in Grenzen gehalten werden.
Diese Idee wurde zuerst marginalisiert und
ignoriert. Nun wird sie diskutiert und als
denkbares Szenario behandelt. Denn ange­
sichts der Alternativen – weitermachen wie
bisher oder Rauswurf Griechenlands – ist
eine Aufspaltung der bessere Weg.
2. Mehr echte Eigenverantwortung statt
falsche Solidarität
Ich habe beim Entwurf und bei der Ein­
führung an vorderster Front für die Ein­
heitswährung gekämpft. Inzwischen be­
reue ich diesen Einsatz aus drei Gründen.
Erstens war ich naiv genug zu glauben,
dass sich die Politik an die selbst gesetzten
Stabilitätsauflagen hält. Schon mit der
Aufnahme Griechenlands, gegen die ich
damals öffentlich protestierte, wurde aber
der Maastricht-Vertrag gebrochen. Sowohl
Präsident Jacques Chirac als auch Kanzler
Gerhard Schröder verletzten danach die
Neuverschuldungsgrenzen ihrer Länder
und schufen damit die Basis für über 60
weitere Vertragsverletzungen in der Euro­
zone. Keine zog die vertragsmässig festge­
legten Konsequenzen nach sich. Auf Druck
von Präsident Nicolas Sarkozy brachte
Kanzlerin Angela Merkel schliesslich die
«no-bail-out»-Klausel zum Einsturz, die als
Brandmauer zwischen dem deutschen
Steuerzahler und ausgabefreudigen Politi­
kern anderer Länder vom damaligen Fi­
nanzminister Theo Waigel aufgebaut wor­
den war. Der jetzt verfolgte Plan, den
«moral hazard» (den Anreiz zu weiterem
Schuldenmachen) durch neue Verträge zu
begrenzen, ist völlig unglaubwürdig. Wenn
die Politik nicht einmal in der Lage war, die
früheren, niedrigeren Hürden zu über­
springen, warum sollte sie in der Zukunft
gar noch höhere nehmen?
Zweitens hatte ich nicht erkannt, dass
sich in völlig unterschiedlichen Finanz-,
Wirtschafts- und Sozialkulturen eine «onesize-fits-all»-Währung zu einer «one-sizefits-none»-Währung entwickeln musste.
Nur mit niedrigen Euro-Zinssätzen konnten
griechische Politiker gigantische Schulden
aufhäufen. Die Immobilienblase in Spanien
hätte mit «spanischen» Zinsen niemals ent­
stehen können. Schlimmer noch: die meisten
«Südländer» konnten ihre in der Vergangen­
heit geübte Praxis nicht mehr aufrechter­
halten; stets konnten sie bisher durch
moderate Reformen, aber auch durch Ab­
wertungen ihre Wettbewerbsfähigkeit
sichern. Das war einmal. Alle, einschliess­
lich Frankreichs, verloren seither – teilweise
dramatisch – an Wettbewerbsfähigkeit.
Drittens hat sich der Währungsver­
bund zu einer veritablen Ansteckungsma­
schine entwickelt. Die Erkältung eines Landes
führt sofort zur Grippe oder gar Lungen­
entzündung eines anderen. Dass die Frank­
furter Börse auf Entwicklungen in Lissabon
hektisch reagiert, dass im Gefolge von Her­
abstufungen Italiens und Belgiens die Ra­
tingagenturen nun die Bonität Deutsch­
lands in Frage stellen, ist ein Resultat der
Einheitswährung. Statt Brände mit Brand­
mauern zu isolieren, wird im Euroraum für
Funkenflug gesorgt.
Statt diese Zusammenhänge zuzuge­
ben und die Eigenverantwortlichkeit ihrer
Mitglieder wieder herzustellen, marschiert
die politische Klasse der Eurozone in die
entgegengesetzte Richtung, die mit «Trans­
ferunion» beschildert ist und in der jeder
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Mitgliedstaat für die Schulden aller haftet.
Dieses System organisierter Verantwor­
tungslosigkeit führt die Eurozone unwei­
gerlich über eine Schulden- in eine Infla­
tionsunion. Daran ändert auch der
Etikettenschwindel nichts, diese nun aus­
gerechnet «Stabilitätsunion» zu nennen.
Natürlich war die Europäische Union
immer auch solidarisch. Strukturaus­
gleichsfonds, Kohäsionsfonds, gemein­
same Forschungsprojekte wurden von den
«Geberländern» finanziert, um in den «Neh­
merländern» für mehr Wohlstand zu sor­
gen. Bisher war diese Umverteilung aber auf
1,2 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts
und auf klar definierte Projekte beschränkt.
Und vor allem unterlag sie einem demokra­
tisch legitimierten Prozess. Neuerdings hin­
gegen ist die gemeinschaftliche Haftung für
in den einzelnen Ländern bereits aufge­
türmte und in der Zukunft weiter aufzuneh­
mende Schulden vorgesehen, deren Höhe
genauso wenig bekannt ist wie der Zweck,
der zum Schuldenmachen führte.
Zwar will man eine verfassungsmässig
abgesicherte Schuldenbremse in allen Euro­
zonenländern einführen, aber schon in
Frankreich, wo 2011 die Neuverschuldungs­
quote viermal so hoch war wie in Deutsch­
land, haben die Sozialisten beschlossen,
dass mit ihnen eine entsprechende Verfas­
sungsänderung nicht zu machen sei.
3. Mehr Wettbewerb, weniger Harmonisierung
«How do we Europeans get competi­
tive?», fragte in den 1990er Jahren der da­
malige EU-Kommissar Leon Brittan und
gab selbst die Antwort: «By competition!»
Der Wettbewerb zwischen kleineren Ein­
heiten führt, gute Rahmenbedingungen
vorausgesetzt, zu einem stärkeren Ganzen.
Dass der Wettbewerb zwischen kleineren
Kantonen zu einer insgesamt stärkeren
Schweiz führt, wissen nicht nur die Schwei­
zer. Noch im Jahre 2000 hatten sich die
Staats- und Regierungschefs der EU darauf
geeinigt, die EU im Jahre 2010 zur «wettbe­
werbsfähigsten Region» der Welt zu ma­
chen. Die Vielfalt der einzelnen Länder
wurde zum Markenzeichen der EU. Mit
dem damit einhergehenden Wettbewerb
der Ideen wurde die zügige Aufnahme von
immer mehr Ländern begründet. Ich meine
zu Recht, denn mit einer Erweiterung des
Binnenmarktes nahm der Wettbewerb un­
ter den Ländern zu. Mit dem System des
«Benchmarking», dem Vergleich mit dem
jeweils Besten auf europäischer Ebene,
wurde die Grundlage dafür geschaffen,
voneinander zu lernen.
Leider haben unsere Europapolitiker
die Erkenntnis vernachlässigt, dass man
nicht beides auf einmal haben konnte: er­
weitern und vertiefen. Durch den Reflex,
auf die Eurokrise mit «mehr Europa» zu
reagieren, wird dieser Wettbewerb nun ab­
gewürgt. Stattdessen soll harmonisiert
werden, beispielsweise die Steuersätze.
Dass am Ende nicht das niedrigere Steuerni­
veau von Irland, sondern eher das höhere
von Frankreich für alle herauskommt, ist ab­
zusehen. Oder glaubt jemand ernsthaft, die
Finanzminister der Höchststeuerländer
würden jetzt die Steuern senken? Diese An­
gleichung – auch die anvisierte Harmonisie­
rung der Sozialversicherungssysteme, der
Arbeitszeiten, des Lohnniveaus usw. – ist
politisch gewollt. Europas Sozialpolitiker
und Gewerkschaftsführer ergreifen jetzt die
Gelegenheit, den Wohlstand in Europa an­
geblich «gerechter» zu verteilen. In Wahr­
heit sinkt dadurch insgesamt der Wohl­
stand, so dass es weniger zu verteilen gibt
– was ja kaum gerecht sein kann.
Auch die Rhetorik von dem «grossen
Währungsraum», der die Eurozone angeb­
lich schon durch seine Grösse auf Augen­
höhe mit den USA oder China bringen soll,
ist nicht überzeugend. «Scheitert der Euro,
scheitert Europa», meint Bundeskanzlerin
Angela Merkel. Was für ein Trugschluss!
Europa hat es schon lange vor dem Euro ge­
geben, selbst in der EU gibt es noch zehn
Länder, von denen kaum eins noch Lust auf
den Euro verspürt. Darüber hinaus gibt es
weitere ca. 20 europäische Länder wie Nor­
wegen oder die Schweiz, die nicht einmal
in der EU sind.
Da angesichts des angerichteten Chaos
den Befürwortern der Einheitswährung die
ökonomischen Argumente ausgegangen
sind, werden vermehrt politische Begrün­
dungen ins Feld geführt. Wenn gar nichts
mehr hilft, wird sogar behauptet, der Euro
sei notwendig zur Friedenssicherung. Ein­
mal ganz davon abgesehen, dass wir auch
zu D-Mark-Zeiten im Frieden lebten und
seit der Einführung des Euro auch mit un­
seren Nicht-Euro-Nachbarn gut auskom­
men, ist dieses Argument auch historisch
unsinnig. Der Friedensgarant heisst Demo­
kratie und nicht Euro. Noch nie hat eine
Demokratie eine andere angegriffen. In
Einheitswährungsräumen (beispielsweise
Dinar und Rubel) gab es durchaus blutige
Auseinandersetzungen. Deshalb wird um­
gekehrt «ein Schuh daraus»: die zuneh­
mend undemokratische Krisenbewälti­
gung, das ständige Hineinreden deutscher
Politiker in die Angelegenheiten anderer
Der Euro erreicht
das genaue Gegenteil dessen,
was er mal
erreichen sollte.
Länder, die Einschränkung des Budget­
rechts der Länderparlamente durch zentra­
listische Aufsichtsorgane führen zu einer
gefährlichen Aushöhlung der Demokratie.
Mehr noch, wir beobachten jetzt schon im­
mer öfter Zwist und Zwietracht innerhalb
der Eurozone und parallel dazu eine stän­
dige Verbreiterung des Grabens zwischen
Euro- und Nichteuroländern.
Der Euro erreicht also das genaue Ge­
genteil dessen, was er mal erreichen sollte.
Es steht zu befürchten, dass unsere Politi­
ker jetzt nicht den Mut aufbringen, ihren
kapitalen Fehler einzugestehen, und statt­
dessen weiter auf «Augen zu und durch»
setzen werden. Erst wenn der Scherben­
haufen so gross ist, dass die Bürger ihn
nicht mehr übersehen können und den für
den Schaden Verantwortlichen das Ver­
trauen entziehen, wird der verhängnisvolle
Marsch in einen europäischen Zentralstaat
abgebrochen und wieder auf ein plurales
Europa gesetzt. In der Unterschiedlichkeit,
in der Mannigfaltigkeit liegt seine Kraft.
Die Vorschläge dazu liegen vor. �
11
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Europas Schuld
3
Die Euro-Staaten haben Schulden in furchteinflössender Höhe angehäuft. Damit haben sie sich
von den Einschätzungen der Finanzmärkte abhängig gemacht, deren Macht sie nun beklagen.
Wie kommen die Staaten aus dem Schulden-Teufelskreis wieder heraus?
von Rich Mattione
M
uss die deutsche Kanzlerin Angela
Merkel bald einen Anruf aus Rom be­
fürchten, in dem eine Stimme ängstlich er­
klärt, Italien werde wider Erwarten dem
Weg Griechenlands folgen und seinen Zah­
lungsverpflichtungen nicht mehr nachkom­
men? Und würde sie sich dann wie Caesar
fragen: «Et tu, Italia?»
Die ausstehenden Staatsschulden in
der Eurozone türmten sich per Ende 2010
auf schier unvorstellbare 9,3 Billionen
Euro. Allein 3,1 Billionen davon stammen
Die Rechenaufgabe
der Euro-Schuldenkrise
ist gewaltig,
aber wohl lösbar.
von den sogenannten PIIGS-Ländern Por­
tugal, Irland, Italien, Griechenland und
Spanien. Sogar die Kernländer Deutsch­
land und Frankreich haben Verschuldungs­
quoten, welche die in den Maastricht-Sta­
bilitätskriterien postulierten 60 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bei wei­
tem übersteigen.
Die nackten Zahlen sind zweifellos
furchteinflössend. Dennoch scheint es mög­
lich, dass der Bankrott nur einzelne Staaten
wie Griechenland trifft, die restlichen Pro­
blemländer sich aber noch ein paar Jahre
durchhangeln können, bis das Weltwirt­
schaftswachstum wieder anzieht und sie
aus den Schulden herauswachsen lässt.
Während die Rekapitalisierung der Banken
12
einen langen Schatten auf die Märkte wirft,
gibt es einen nicht besonders beliebten,
aber gangbaren Weg für die Eurozone, die
benötigten Staatsfinanzen zumindest mit­
telfristig aufzutreiben. Es bedürfte dazu
der Schützenhilfe durch die Europäische
Zentralbank (EZB), die, wie im Dezember
bereits einmal vorgeführt, für längere Zeit­
räume mehr Liquidität zur Verfügung stellt.
Das ist keine dauerhafte Lösung, aber sie
gewährt jene Zeit, die die Staaten brauchen,
um sich zu sanieren.
Mit anderen Worten: die Rechenauf­
gabe der Euro-Schuldenkrise ist gewaltig,
aber wohl lösbar. Das wollen wir auf den
folgenden Seiten zeigen.
Das 6-Faktor-Schuldenmodell
Wir haben ein einfaches Modell aufge­
stellt, das zeigen soll, wie gut die Chancen
einer Lösung der Verschuldungsprobleme
in verschiedenen Szenarien sind. Explodie­
rende Staatsschulden betrachten wir als
untragbar, wenn der Verschuldungsgrad
selbst bei positiven Wirtschaftsszenarien
in den kommenden Jahren hoch bleibt.
Hingegen gilt die Staatsschuld dann als
tragbar, wenn der Verschuldungsgrad trotz
sich verschlechternder Wirtschaftsaussich­
ten schrittweise unter Kontrolle kommt.
Entscheidend sind in diesem Zusam­
menhang die Solvenz und die Liquidität.
Wenn Italien seine Staatsanleihen nicht
mehr auf dem Refinanzierungsmarkt los­
bringt, wird das Land zunächst illiquid, be­
vor es zuletzt die Zinszahlungen einstellt.
Dasselbe würde für die USA oder Japan gel­
ten. Wir befassen uns in unserem Modell
mit der Liquiditätssituation; die Frage des
Rich Mattione
wurde in Harvard in Ökonomie promoviert.
Er ist für die Vermögensverwaltungs­g esellschaft
Grantham, Mayo, Van Otterloo & Co. LLC (GMO)
zuständig für makroökonomisches Research sowie
das Portfoliomanagement lateinamerikanischer
und japanischer Aktienanlagen.
Zahlungswillens eines Staates lassen wir
bewusst ausser Acht. Denn selbst das hoch
verschuldete Griechenland kann jederzeit
Staatsvermögen veräussern, um zahlungs­
fähig zu bleiben. Das stellt zwar im Ver­
gleich zur Option Staatsbankrott einen ho­
hen Preis in Form von Ressourcentransfers
ins Ausland dar (zum Beispiel durch den
Verkauf von griechischem Staatseigen­
tum). Aber erst wenn Griechenland sich
diesem weiteren Ressourcentransfer ver­
weigert, ist das Spiel definitiv aus.
Noch vor wenigen Jahren bestand die
elegante Lösung der Länder für solche Fälle
darin, einfach mehr Geld zu drucken, die
Schulden also durch Entwertung zu verrin­
gern. Die USA, Japan und Grossbritannien
können diesen Weg weiterhin beschreiten,
für die Länder der Eurozone ist dieser Weg
seit Einführung der gemeinsamen Wäh­
rung hingegen verbaut. Sie haben die Geld­
souveränität an die EZB abgetreten. Kein
einzelnes Euroland kann daher in Eigenregie
seine Schulden weginflationieren. Es bleibt
nur ein Ausweg: die Märkte davon zu über­
zeugen, weiterhin Staatsanleihen zu einem
tragbaren Zins zu zeichnen.
Unser Modell berücksichtigt pro Land
sechs Parameter, um die Wirksamkeit der
Massnahmen gegen die Verschuldungspro­
blematik zu messen: die Nominalschuld,
den Zinssatz auf die Staatsobligationen,
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Verhältnis Schulden zu BIP
Italien steht vor grossen Herausforderungen
130%
120%
110%
100%
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
n Szenario I: harte Massnahmen, mittlere Zinsen n Szenario II: harte Massnahmen, hohe Zinsen
n Szenario III: milde Massnahmen, mittlere Zinsen n Szenario IV: keine Massnahmen, mittlere Zinsen
2018
2019
2020
2018
2019
2020
Verhältnis Schulden zu BIP
Was passiert bei einer Restrukturierung Griechenlands?
180%
160%
140%
120%
100%
80%
60%
40%
2011
2012
2013
2014
2015
n Szenario I: Griechenland ohne Glück n Szenario III: Griechenland restrukturiert, strenge Strafmassnahmen
2016
2017
n Szenario II: Griechenland restrukturiert, milde Strafmassnahmen 13
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
das nominale BIP, die Wachstumsrate des BIP,
die Inflationsrate und den Budgetüberschuss
des Staatshaushalts. Diese sechs Parameter
erlauben eine robuste Untersuchung der
gängigen Entwicklungsszenarien und Vor­
schläge zur Lösung der Schuldenkrise.1
«Inflationslösung» wird durchschaut
Beginnen wir mit der Frage: Lassen sich
Schulden weginflationieren? Unter der Vor­
aussetzung der Stabilität aller anderen
Faktoren bewirkt eine höhere Euro-Infla­
tion eine Reduktion der Schuld im Verhält­
nis zum BIP. Es ist dann aber auch wahr­
scheinlich, dass der Markt die Situation
durchschaut und die Zinsen steigen lässt,
um die höhere Inflation zu reflektieren.
Damit wäre der Vorteil eliminiert – ein in
unserem Modell durchaus realistisches
Szenario. Bei einem Verschuldungsgrad
von über 100 Prozent des BIP sind höhere
Zinsen jedoch Gift. Diese Situation ist
heute bereits in Italien und Griechenland
zu beobachten. Deshalb sind tiefe Zinsen
bei solch hohen Verschuldungsgraden ab­
solut zwingend, wenn sich ein Land aus der
ungemütlichen Lage befreien können soll.
Klar ist: es bedarf eines rigorosen Spar­
kurses. Ein rigoroser Sparkurs mit einher­
gehenden Budgetüberschüssen muss dafür
sorgen, die Verschuldung innerhalb eines
Zeitraums von sagen wir zehn Jahren wie­
der auf eine tragfähige Ebene zu bringen,
so dass die Sparpolitik gelockert werden
kann oder die Zinsen wieder auf ein erträg­
liches Niveau sinken. Ohne rigiden Spar­
kurs ist keine glaubwürdige Gesundung
möglich, da sich sonst die Schulden schnel­
ler auftürmen, als das BIP wachsen kann.
Nun sind wir an einem heiklen Punkt
angelangt: Ein solcher Sparkurs ist poli­
tisch schwierig umzusetzen. Nach keynesi­
anischer Lehre behindert ein Sparkurs das
Wachstum der Wirtschaft, weil Investitio­
nen ausbleiben. Dieser Einwand ist nicht
ganz von der Hand zu weisen. Um die nega­
tiven Effekte der Sparprogramme zu kom­
pensieren, verlangen die vorgeschlagenen
Anpassungsprogramme deshalb den Ver­
1 Die ausführliche Studie auf Englisch ist unter
www.gmo.com abrufbar.
14
kauf von Staatsvermögen und Liberalisie­
rungsschritte wie Subventionsabbau oder
einen freieren Arbeitsmarkt. Solche An­
passungsprozesse sind freilich ebenfalls
schwierig durchzuführen. Die Wahrschein­
lichkeit, dass sie selbst bei hoch verschul­
deten Staaten zielführend sind und am
Ende aus ökonomischer Einsicht eben den­
noch umgesetzt werden, ist gemäss unse­
rer Modellrechnung hoch.
Szenarien für Italien: Lösung ist möglich
Zwei Staaten stehen besonders im Mit­
telpunkt: Griechenland und Italien. Die
Schulden Italiens belaufen sich mittler­
weile auf fast 2 Billionen Euro, was rund
115 Prozent des BIP ausmacht. Die Situa­
tion ist umso beängstigender, wenn man
berücksichtigt, dass sich die italienische
Wirtschaft einer Rezession nähert. Trotz­
dem ist noch immer eine Lösung möglich,
sobald sich die globale Wirtschaft von der
Wachstumsschwäche erholt und die Markt­
teilnehmer wieder willens sind, italieni­
sche Staatsanleihen zu zeichnen.
Gehen wir von positiven Grundannah­
men aus und rechnen für Italien mit einer
Inflation von 1 Prozent und einem langfris­
tigen jährlichen Wachstum des inflations­
bereinigten BIP von 1,5 Prozent, was dem
durchschnittlichen Wachstum Italiens in
der Zeit von 1998 bis 2008 entspricht. Die
durchschnittlichen Zinskosten betragen in
unserem Hochzinsszenario 6 Prozent, im
moderateren Fall 4 Prozent. Beide Annah­
men beruhen auf langfristigen Werten aus
der Vergangenheit, liegen aber klar unter
den 7,11 Prozent, die Italien Anfang Januar
für die Emission 10jähriger Anleihen zu be­
zahlen hatte.
Selbst mit diesen generösen Annah­
men zeigt sich: ohne jegliche Anpassung
am fiskalpolitischen Programm – das heisst
mit einem laufenden Defizit von 4 bis 5
Prozent des BIP – verschlimmert sich die
Lage Italiens zusehends. Erst wenn Italien
dank Sparmassnahmen einen Haushalts­
überschuss von 4 Prozent erzielen kann,
sinkt die Verschuldung langsam. Die Hoff­
nung ist dann, dass in der zweiten Hälfte
der Spardekade das Wachstum mit einer
wachstumsfördernden Wirtschaftspolitik
wieder angekurbelt werden kann. Die Um­
setzung verlangt sehr harte Massnahmen,
die viel Geduld erfordern. Sie sollten Ita­
lien jedoch erlauben, sich ohne Staats­
bankrott selbst aufzufangen – eine gewal­
tige, aber lösbare Aufgabe.
Szenarien für Griechenland:
Bankrott akzeptieren
Noch schwieriger zu lösen ist der Fall
Griechenlands. Das beste Szenario rechnet
mittelfristig mit einem moderaten Anpas­
sungsprogramm und mittelhohen Zinssät­
zen, was einen Budgetüberschuss von 3 Pro­
zent und Zinssätze von 5 Prozent ergibt.
Diese Zinssätze sind allerdings weit von
dem entfernt, was der Markt aktuell verlan­
gen würde. Trotz dieser Annahmen würde
sich der Schuldenberg innerhalb einer De­
kade nicht abbauen lassen, sondern ledig­
lich stabilisieren. Unglücklicherweise lässt
sich die kontinuierliche Zusatzverschul­
dung selbst mit einem Überschuss von 3
Prozent nicht stoppen, solange die Zinsen
so hoch sind. Mit einem realistischeren Sze­
nario von 7 Prozent Zinsen und einem Haus­
haltsüberschuss von 5 Prozent steigt die
Verschuldung noch weiter. Letzteres würde
Griechenland zwingen, grosse Teile seines
Staatsvermögens zu verkaufen, was gesell­
schaftlich kaum akzeptabel erscheint.
Gibt es noch einen Ausweg für Grie­
chenland? Nehmen wir an, das reale BIPWachstum erhole sich für den Rest der De­
kade schnell auf 3 Prozent pro Jahr und die
Griechen könnten durch eine verschärfte
Besteuerung und Verkäufe von Staatsver­
mögen während zwei aufeinanderfolgen­
den Jahren einen Haushaltsüberschuss von
10 Prozent erzielen. In diesem Falle würde
die Verschuldung bis 2020 auf dasselbe Ni­
veau fallen, das Italien heute hat – aber
auch das nur unter der zusätzlichen An­
nahme, dass die Märkte wieder Vertrauen
fassen und sich Griechenland neu mit 4
Prozent refinanzieren könnte. Wunder
geschehen zwar, dieses hier aber wahr­
scheinlich nicht! Es gibt keinen vertrauens­
würdigen Ausweg für Griechenland ohne
Bankrott und scharfen Schuldenschnitt.
Ein oft zitiertes Beispiel eines Landes,
das sich trotz schwieriger Wirtschaftsbe­
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
dingungen aus der Schuldenfalle befreien
konnte, ist Brasilien. So wird immer wieder
eingewandt, Brasilien habe es im Jahre
2002 auch geschafft, sich vom Schulden­
problem zu befreien, also sei dies in Grie­
chenland auch möglich. Die Verschuldung
Brasiliens betrug aber nur einen Bruchteil
derjenigen Griechenlands (oder auch Ita­
liens). Trotzdem dauerte Brasiliens Weg
zurück zum Wachstum vier Jahre und Bra­
silien konnte lediglich 10 Prozent seiner
Verschuldungsquote abbauen. Gleichzeitig
mahnt das Beispiel Brasiliens auch zur Vor­
sicht: eine sich abschwächende Währung
allein hilft nicht. Brasiliens Lage besserte
sich vor allem, weil der Anteil ausländi­
scher Schulden sich mit dem aufwertenden
Real verkleinerte (ganz abgesehen davon,
dass Brasilien ein ressourcenreiches Land
mit einem grossen Binnenmarkt ist). Lö­
sungen mit einer «neuen Drachme», die
den Weg für mehr Wachstum freimachen
soll, verkennen das Problem der in Euro
festgesetzten Schulden Griechenlands so­
wie die grosse Herausforderung, beim EuroAustritt laufende Verträge zu ändern.
Die Banken und der Privatsektor schei­
nen im Falle Griechenlands zu einem gewis­
sen Schuldenschnitt bereit, der sowohl Ka­
pitalabschreiber als auch eine Senkung des
Couponzinses beinhaltet. Aber kann dies
helfen? Alle Annahmen, die eine Verschul­
dung Griechenlands reduzieren würden,
sind mit einem Schuldenschnitt von 60
Prozent viel grosszügiger gerechnet, als
was die derzeitigen Gläubigerverhandlun­
gen bisher hergaben. Die momentanen Be­
mühungen sind für Griechenland also auch
in diesem Punkt ungenügend.
Die weiteren Aussichten…
Für die gefährdeten PIIGS-Länder er­
geben sich aus unseren Modellrechnungen
in der Kurzfassung folgende Perspektiven:
Portugal hat grosse Teile seiner Textilund Schuhindustrie an China und andere
Schwellenländer verloren. Die neue Regie­
rung schreitet mit der Sparpolitik fort, die
es dem Land ermöglichen sollte, seine
Schul­
d en zurückzuzahlen. Sollten die
Sparbemühungen trotzdem ungenügend
sein, ist Portugal ein Kandidat für einen
tiefen Schuldenschnitt. Aufgrund seiner
geringen Grösse ist das Land glücklicher­
weise kein systemisches Risiko für Ge­
samteuropa.
Irlands Hauptproblem ist der Kollaps
des Immobilienmarkts nach jahrelangem
Boom. Der Staat hat die Banken zu einem
geringen Schuldenschnitt verpflichtet und
etliche vor dem Konkurs gerettet. Der fi­
nanzielle Aufwand des Staates war jedoch
derart gross, dass sich eine moderate Ver­
schuldung von nur 40 Prozent des BIP in
untragbare Höhen verwandelte. Irland hat
sich einem längeren und härteren Restruk­
turierungsprozess unterzogen als alle an­
deren Länder. Das Problem bleibt gravie­
rend, jedoch nicht unlösbar. Zudem sind
die Gesamtschulden vergleichsweise klein,
also kein Systemproblem.
Weitere Reformen
werden wahrscheinlich
zu einer Art Fiskalunion
in Europa führen.
Italien ist am Rande einer unkontrol­
lierbaren Situation. Kleine Schulden­
schnitte tragen ausser weiterem Schaden
für das Rating wenig zur Lösung bei. Eine
konsequente Restrukturierung muss nun
bald einsetzen und sollte so lange von Ver­
käufen staatlicher Vermögen begleitet sein,
bis die Märkte wieder genügend Vertrauen
haben, Italiens Staatsanleihen im vollen
Umfang zu zeichnen.
Griechenland ist bankrott, doch glück­
licherweise klein. Ein Austritt aus dem
Euro würde die Situation nicht ändern. Ein
Schuldenschnitt von 50 Prozent bei gleich­
zeitig weiterhin hohen Zinsen stellt das
Land wahrscheinlich erneut vor ähnliche
Probleme. Nur wenn gleichzeitig eine
Schuldenrestrukturierung mit sehr langen
Laufzeiten (beispielsweise 30 Jahre) verse­
hen wird, gewinnt das Land Zeit, die Pro­
bleme langfristig lösen zu können.
Spanien leidet unter seinem bis vor
kurzem noch prosperierenden Immobi­
liensektor. Doch der negative Effekt von
dessen Kollaps auf Immobilienpreise, Be­
schäftigung und Staatseinnahmen ist be­
reits eingetreten. Wenn die neue Regierung
schnell vorwärts macht und möglicher­
weise eine Restrukturierung des Banken­
sektors anstrengt, kann die Lage stabili­
siert werden. Gemessen am BIP ist die
Verschuldung Spaniens viel besser unter
Kontrolle als in vielen anderen Ländern.
Der Verschuldungsgrad wird allerdings
über die kommenden fünf Jahre steigen.
Im Idealfall muss nur Griechenland re­
strukturiert werden. Doch selbst wenn es
schlimmer kommt, lässt sich festhalten: so­
lange das ausufernde Schuldenproblem auf
Griechenland, Irland und Portugal be­
schränkt bleibt, sind die Beträge im ge­
samteuropäischen Rahmen und mit Hilfe
des Internationalen Währungsfonds (IWF)
verkraftbar.
Dessen ungeachtet bleibt Vorsicht ge­
boten, was die Situation der Banken anbe­
langt, die da und dort wahrscheinlich sa­
niert werden müssen. Der Europäische
Stabilitätsfonds verfügt insgesamt über
Mittel von 440 Milliarden Euro, wovon ei­
niges schon gebraucht wurde. Inklusive zu­
sätzlicher Reserven aus dem Euroraum und
mit den Mitteln des IWF stehen 750 Milliar­
den Euro bereit – im Vergleich zu den 3,1
Billionen ausstehender Schulden der PIIGSStaaten. Gesamthaft gesehen scheint dem­
nach eine lockere Geldpolitik der EZB eine
einfachere und darum realistische Lösung
zu sein, um die notwendigen Mittel aufzu­
bringen; ein Prozess, den die EZB im De­
zember mit der Ausgabe länger laufender
Mittel bereits eingeleitet hat.
Weitere Reformen sind sicherlich not­
wendig und werden wahrscheinlich zu ei­
ner Art Fiskalunion in Europa führen. Un­
abhängig von der Frage, ob damit solche
Schuldenkrisen zukünftig verhindert wer­
den können, kommen diese Bemühungen
aber für das aktuelle Schuldenproblem viel
zu spät. Deshalb ist es höchste Zeit, nun die
gravierenden, aber noch lösbaren Fälle von
den unlösbaren zu trennen und Lösungen
für die betroffenen Staaten zu überlegen. Je
früher, desto besser! �
15
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
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4
Mit dem Wohlstand ist in europäischen Demokratien auch die Staatsquote gewachsen.
Während der soziale Zusammenhalt abnimmt, nimmt die Umverteilung zu.
Was bedeutet dies für den Schutz von Freiheit und Eigentum?
von Roland Vaubel
I
n ihrem neuen Buch «The Pillars of Pros­
perity» (Princeton University Press 2011)
weisen die beiden Ökonomen Timothy Bes­
ley und Torsten Persson nach, dass zwi­
schen dem Schutz des Eigentums und den
Staatseinnahmen in Prozent des Bruttoin­
landsprodukts international ein positiver
Zusammenhang besteht, der statistisch
hochsignifikant ist. Dieser Befund ist auf
den ersten Blick erstaunlich, denn der
Schutz des Eigentums ist ein klassisch libe­
rales Anliegen, während eine hohe Staats­
quote eher von sozialistischen oder sozial­
demokratischen Parteien angestrebt wird.
Besley und Persson zeigen weiterhin, dass
ein weitreichender Eigentumsschutz und
eine hohe Staatsquote für Länder mit ho­
hem Pro-Kopf-Einkommen typisch sind. Sie
schliessen daraus, dass Prosperität vor al­
lem einen starken Zusammenhalt der poli­
tischen Institutionen voraussetzt: es muss
Einigkeit bestehen, dass die Wirtschafts­
ordnung das Eigentumsrecht respektiert,
zugleich aber der Staat in grossem Umfang
umverteilt. Persson ist Schwede. Was er
preist, ist das skandinavische Modell.
Man kann die positive Korrelation zwi­
schen Eigentumsschutz und Staatsquote
jedoch auch ganz anders erklären: In der
Geschichte war es so, dass der Schutz des
Eigentums und der individuellen Freiheit,
den der Wettbewerb zwischen den europäi­
schen Herrschern hervorbrachte, dem ein­
zelnen einen starken Anreiz gab, in sein
Humankapital – seine Ausbildung – zu in­
vestieren. Denn er konnte davon ausgehen,
dass die Erträge aus seiner Arbeit in erster
Linie ihm selbst zufliessen würden. In dem
Masse, in dem die Menschen dazulernten,
16
wollten sie auch in der Politik stärker mit­
bestimmen. Die Untertanen emanzipierten
sich. Sie forderten politische Partizipation
– Demokratie. Es setzten sich diejenigen –
eine Mehrheit – durch, die die Demokratie
– wie Rousseau – als Herrschaft der Mehr­
heit definierten. Diese Mehrheit verlangte
staatliche Umverteilung zu Lasten der Min­
derheit – die Staatsquote stieg.
Während also Besley und Persson Ei­
gentumsschutz und staatliche Umvertei­
lung auf eine gemeinsame Ursache – politi­
schen Zusammenhalt – zurückzuführen
versuchen, zeigt ein Blick in die Geschichte,
dass zwischen Eigentumsschutz und staat­
licher Umverteilung eine kausale Bezie­
hung besteht: Eigentum und Freiheit haben
auf dem Weg über das Humankapital und
die Mehrheitsdemokratie zu einer höheren
Staatsquote geführt.
Diese historische Sichtweise macht
zugleich deutlich, dass die zunehmende
staatliche Umverteilung nicht eine Ursache
der Prosperität ist, sondern sie gefährdet.
Denn je mehr der Staat die Steuern und Ab­
gaben erhöht, desto schwächer werden die
Anreize, Humankapital zu bilden. Die In­
vestitionsentscheidungen der Individuen
werden ja nicht nur vom staatlichen Schutz
der Eigentumsrechte im Markt bestimmt,
sondern auch davon, was der Staat selbst
seinen Bürgern übrig lässt. Das Eigentums­
recht muss nicht nur vor Übergriffen ande­
rer Individuen, sondern auch vor Übergrif­
fen des Staates geschützt werden. Das ist
das klassische Freiheitsziel, wie wir es zum
Beispiel bei Wilhelm von Humboldt finden:
«Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt
für den positiven Wohlstand der Bürger
Roland Vaubel
ist Professor für Volkswirtschaftslehre an
der Universität Mannheim und Mitglied
des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundes­
ministerium für Wirtschaft und Technologie.
und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer
Sicherstellung gegen sich selbst und gegen
auswärtige Feinde notwendig ist – zu kei­
nem anderen Endzwecke beschränke er
ihre Freiheit.»1
Explosiver Anstieg der Staatsquote
Die hohen Staatsquoten der meisten In­
dustrieländer sind demnach nicht «Pfeiler
der Prosperität», sondern mögliche Auslö­
ser eines Niedergangs. Was ist schiefgelau­
fen? Wo setzte die Fehlentwicklung ein?
Wie kann sie korrigiert werden?
Der explosive Anstieg der Staatsquote,
der sich im 20. Jahrhundert vollzog, ist in
geradezu prophetischer Weise von dem
schwedischen Ökonomen Knut Wicksell
vorhergesagt worden. Er schrieb Ende des
19. Jahrhunderts:
«Wenn einmal die unteren Klassen de­
finitiv in Besitz der gesetzgebenden und
steuerbewilligenden Gewalt gelangt sind,
wird allerdings die Gefahr vorliegen, dass
sie ebenso wenig uneigennützig verfahren
werden wie die Klassen, welche bisher die
Macht in den Händen hatten, dass sie
m.a.W. die Hauptmasse der Steuern den be­
sitzenden Klassen auferlegen und dabei
vielleicht in der Bewilligung der Ausgaben,
zu deren Bestreitung sie selbst nunmehr
1 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch,
die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestim­
men. Breslau: Eduard Trewendt, 1851.
«Ob die direkte Demokratie
gegen eine steigende
Staatsquote hilft,
ist eine offene Frage.»
Roland Vaubel
17
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
nur wenig beitragen, so sorglos und ver­
schwenderisch verfahren, dass das beweg­
liche Kapital des Landes bald nutzlos ver­
geudet und damit die Hebel des Fortschritts
zerbrochen sein werden.»2
Er hatte auch einen Lösungsvorschlag:
«Gegen Missbräuche der erwähnten Art liegt
aber zweifellos die beste, ja die einzig sichere
Garantie im Prinzip der Einstimmigkeit und
Freiwilligkeit der Steuerbewilligung.»
Die Einstimmigkeit der Steuerbewilli­
gung gibt es in keinem Land, aber in der Fi­
nanzierung der Europäischen Union (EU)
hat sie sich bewährt. Dem mehrjährigen Fi­
nanzierungsrahmen, der die Beitragszah­
lungen der Mitgliedstaaten festlegt, müs­
sen alle Mitgliedstaaten zustimmen. Die
Ausgaben der EU sind infolgedessen bei
etwa einem Prozent des Bruttoinlandspro­
dukts verharrt. Ganz anders ist die Ent­
wicklung im Bereich der Regulierung. Die
meisten Regulierungen können seit 1987
bzw. 1993 mit qualifizierter Mehrheit vom
Ministerrat beschlossen werden. Die Folge
ist eine Regulierungsspirale: die Mehrheit
der hochregulierten Staaten zwingt der li­
beraleren Minderheit per Mehrheitsent­
scheidung ihr hohes Regulierungsniveau
auf, um ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit
zu verbessern. Das ist die sogenannte «stra­
tegy of raising rivalsʼ costs». Weil der Wett­
bewerbsdruck von Seiten der liberaleren
Länder verschwindet, steigt dann auch das
Regulierungsniveau in den hochregulier­
ten Ländern, das diese wiederum den libe­
raleren Ländern aufzwingen.
Nach Wicksell ist nicht nur die einstim­
mige Entscheidung besser als die Mehr­
heitsentscheidung, sondern auch die quali­
fizierte Mehrheitsentscheidung (zum
Beispiel Mehrheit von zwei Dritteln oder
drei Vierteln) besser als die einfache Mehr­
heitsentscheidung. Diese Möglichkeit zei­
gen auch James Buchanan und Gordon Tull­
ock in ihrem Klassiker «The Calculus of
Consent» (1962). Sie verdeutlichen, dass das
Prinzip der einfachen Mehrheit aus ökono­
mischer Sicht völlig willkürlich ist. «Demo­
kratie» heisst «Herrschaft des Volkes» –
nicht Herrschaft der einfachen Mehrheit.
Eine qualifizierte Mehrheit ist nicht
nur für die meisten gesetzgeberischen Ent­
18
scheidungen des EU-Ministerrats vorge­
schrieben. In vielen Nationalstaaten kann
die Verfassung nur mit qualifizierter Mehr­
heit geändert werden. Unterhalb der Ver­
fassungsebene spielt das Prinzip der quali­
fizierten Mehrheit aber wohl nur in der
schweizerischen Konkordanzdemokratie
eine Rolle, wo alle grösseren Parteien – weit
mehr als 50 Prozent der Wähler – in der Re­
gierung vertreten sind.
Je dezentraler, desto sicherer
Wenn Beschränkungen der Freiheit nur
mit einer hohen qualifizierten Mehrheit
eingeführt werden dürfen, folgt daraus, dass
eine qualifizierte Minderheit ausreicht, um
sie wieder aufzuheben. Insofern ist es un­
sinnig, für alle Entscheidungen eine qualifi­
zierte Mehrheit zu verlangen. Eine solche
Entscheidungsregel zementiert den Status
Die hohen Staatsquoten vieler
Industrieländer sind nicht «Pfeiler
der Prosperität», sondern möglicher Auslöser eines Niedergangs.
quo, aber sie schützt nicht die Freiheit in der
Demokratie. Es kommt ganz darauf an, ob
die anstehende Entscheidung die Freiheit
beschränken oder erweitern würde.
Auch Besley und Persson fragen, wo­
von der Schutz des Eigentums im interna­
tionalen Vergleich abhängt. Sie zeigen,
dass er positiv mit der Zahl der Kriegsjahre
(seit 1816) und der Homogenität der Bevöl­
kerung korreliert ist, und sehen darin eine
Unterstützung für ihre These, dass der
Schutz des Eigentums vor allem politische
Kohäsion – einen kompakten, in sich ge­
schlossenen Staat – voraussetzt. Das ist das
genaue Gegenteil von dem, was die libera­
len Föderalisten spätestens seit Johannes
Althusius (1603) gelehrt haben, und die
Schweiz ist das beste Gegenbeispiel. Korre­
lationen sind eben nicht dasselbe wie Kau­
salbeziehungen.
Die Regierenden sind umso eher daran
interessiert, das Privateigentum zu schüt­
zen, je schärfer sie mit den Regierenden an­
derer Länder um mobile Produktivkräfte
und Steuerzahler konkurrieren, und das
gilt auch zwischen den Provinzen und
Städten innerhalb eines Landes. Je dezen­
tralisierter der Staat und je kleiner und of­
fener seine Volkswirtschaft, desto sicherer
sind die Eigentumsrechte. Besley und Pers­
son kommen nicht auf die Idee, auch diese
alternative Hypothese zu testen.
Welche anderen Möglichkeiten gibt es,
die Demokratie mit der Freiheit kompatibel
zu machen? Freiheitsrechte können in ei­
ner Verfassung festgeschrieben, ihr Schutz
einer unabhängigen Gerichtsbarkeit anver­
traut werden. Aber die Richter werden von
der politischen Mehrheit bestellt und tei­
len daher grundsätzlich deren Ziele. In vie­
len Verfassungsgerichten sitzen sogar ehe­
malige Politiker. Eigentum und Freiheit
wären besser geschützt, wenn alle Verfas­
sungsrichter richterliche Erfahrung hätten
und von den anderen obersten Gerichten
gewählt würden.
In Bundesstaaten und Föderationen
sind die Verfassungsrichter daran interes­
siert, die Kompetenzverteilung auf Bundes­
ebene zu zentralisieren. Je grösser die Kom­
petenzen des Bundes, desto wichtiger und
interessanter sind die Fälle, die die Bundes­
richter zu entscheiden haben. Zwei meiner
Untersuchungen ergaben, dass der Anteil
der zentralstaatlichen Ebene an den gesam­
ten Staatsausgaben umso grösser ist, je län­
ger es in dem Land bereits ein voll ausgebau­
tes Verfassungsgericht gegeben hat und je
schwieriger es ist, dessen Urteile durch Ver­
fassungsänderungen zu korrigieren.3
Dass das schweizerische Bundesge­
richt nicht zur Überprüfung der Bundesge­
setzgebung befugt ist, scheint eines der Er­
folgsgeheimnisse der Schweiz zu sein.
Würde man dies ändern, wie ja gerade jetzt
wieder vorgeschlagen wird, würden zentra­
lisierende Bundesgesetze das Gütesiegel
des Bundesgerichts erhalten und in Refe­
renden nicht mehr so leicht abgelehnt wer­
den. Wird aber der Steuer- und Regulie­
rungswettbewerb zwischen den Kantonen
durch Zentralisierung geschwächt, so erhält
der Staat mehr Macht über die Bürger und
schränkt ihre Freiheit stärker ein.
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Ob die direkte Demokratie gegen eine
steigende Staatsquote hilft, scheint mir
eine offene Frage zu sein. Soweit der An­
stieg der Staatsausgaben auf die Machtge­
lüste der Politiker und den unheilvollen
Einfluss von Interessengruppen zurückzu­
führen ist, lautet die Antwort zweifellos ja.
Vor allem sind die Stimmbürger weit weni­
ger an einer politischen Zentralisierung in­
teressiert als die Bundespolitiker und Bun­
desrichter. Umverteilungswünsche der
Wählermehrheit kommen in Referenden
jedoch ungehindert zur Geltung.
Viel erfolgversprechender ist in dieser
Hinsicht die Gewaltenteilung. Die klassi­
sche Gewaltenteilung nach Montesquieu
unterscheidet zwischen Legislative, Exeku­
tive und Judikative. In den meisten Staaten
werden die Mitglieder der Exekutive und
Judikative jedoch von den Mitgliedern der
Legislative bestimmt. Die Gewaltenteilung
funktioniert besser, wenn zumindest der
Chef der Exekutive direkt vom Volk ge­
wählt wird – wie der amerikanische oder
der französische Präsident. Eine neuere
Analyse zeigt, dass es in den letzten 40 Jah­
ren in den USA nur vier Jahre (2003 bis
2006) gegeben hat, in denen dieselbe Partei
sowohl den Präsidenten als auch die Mehr­
heit in Senat, Repräsentantenhaus und Su­
preme Court stellte. Je mehr Vetospieler
zustimmen müssen, desto schwieriger ist
es, die Staatsquote in die Höhe zu treiben
(und desto sicherer sind – wie Besley und
Persson zeigen – die Eigentumsrechte).
Die Kraft des Vetos
Am wirksamsten ist eine mit Vetorech­
ten ausgestattete zusätzliche Kammer, die
die bedrohte Minderheit repräsentiert. Eine
solche Kammer gab es in drei historisch
höchst erfolgreichen Demokratien: im Athen
der solonischen Verfassung, in der römi­
schen Republik und im britischen Empire.
Die Verfassung, die Solon Athen 593 v.
Chr. gab, sah nicht nur eine von allen Bür­
gern gewählte Volksversammlung vor, son­
dern auch zwei «Räte»: den Rat der Vier­
hundert oder «unteren Rat», in dem jede
der vier Vermögensklassen mit hundert
Abgeordneten vertreten war, und den Areo­
pag oder «oberen Rat», der aus ehemaligen
Archonten – d.h. Regierungsmitgliedern –
bestand. Da die Volksversammlung nur
Mitglieder der obersten Vermögensklasse
zu Archonten wählen durfte, war der Areo­
pag ein Rat der Reichen. Die Herkunft
spielte dabei – anders als vor Solon – keine
Rolle. Plutarch beschreibt die Kompeten­
zen des Areopags wie folgt: «Den oberen
Rat setzte Solon als Aufseher über alles
und als Hüter der Gesetze – in dem Glau­
ben, dass der Staat, wenn er auf diesen bei­
den Räten gleichsam fest verankert läge,
geringeren Schwankungen ausgesetzt sei
und das Volk leichter in Ruhe würde halten
können.»4
Damit war der Areopag nicht nur das
oberste Gericht («Hüter der Gesetze»), son­
dern ein mit einem allgemeinen Vetorecht
ausgestattetes Oberhaus. Als der Areopag
im Jahr 462 v. Chr. durch die Verfassungsre­
Diejenigen, die ein überdurchschnittliches Arbeitseinkommen
erzielen, würden das Oberhaus
wählen, die anderen das Unterhaus.
form des Ephialtes entmachtet wurde, ging
es mit Athen bald bergab.
In der römischen Republik war der Se­
nat die Vertretung der Patrizier. Ausserdem
wurden die Stimmen der Bürger in der
Volksversammlung gleichzeitig auf zweier­
lei Weise gewichtet. Während in der «comi­
tia tributa» jede Stimme das gleiche Ge­
wicht hatte, hing das Gewicht der Stimme
in der «comitia centuriata» vom Landbesitz
und damit der Steuerbelastung ab. Denn in
den Centuriones (Abteilungen) der Land­
besitzer, die als erste ihre Stimme abgaben,
waren viel weniger Wahlberechtigte als in
den anderen Centuriones. Ein Vorschlag
galt nur dann als angenommen, wenn er
von der Mehrheit der Stimmbürger und von
der Mehrheit der Centuriones befürwortet
wurde. Die Geschichte vom Auszug der
Plebejer (um 450 v. Chr.) verdeutlicht, wie
wichtig den Römern der Konsens zwischen
den verschiedenen sozialen Schichten war.
Das englische Parlament besteht seit
der Mitte des 14. Jahrhunderts aus dem
House of Commons und dem House of
Lords. Im 16. Jahrhundert – nach dem Hun­
dertjährigen Krieg (1337–1453) – begann der
Aufstieg Englands. 1911 verlor das House of
Lords sein Gesetzgebungsveto. Es stimmte
seiner eigenen Entmachtung zu, nachdem
Premierminister Asquith von der Liberal
Party damit gedroht hatte, andernfalls so
lange zusätzliche Lords zu ernennen, bis er
auch im House of Lords die Mehrheit ge­
habt hätte.
Der Schutz von Freiheit und Eigentum
in der Mehrheitsdemokratie verlangt nach
einer zusätzlichen parlamentarischen
Kammer. Das galt schon, als noch – wie in
den drei genannten Beispielen – nur eine
Minderheit der Erwachsenen das Wahl­
recht besass. Idealerweise sollte eine sol­
che Kammer nicht einen Stand oder die Be­
sitzenden, sondern die Leistungseliten
repräsentieren, denn es geht um die Leis­
tungsanreize. Man könnte zum Beispiel auf
das Arbeitseinkommen abstellen. Diejeni­
gen, die ein überdurchschnittliches Ar­
beitseinkommen erzielen oder erzielt ha­
ben, würden das Oberhaus wählen, die
anderen das Unterhaus. In Bundesstaaten
gäbe es weiterhin eine Kammer, in der die
einzelnen Provinzen repräsentiert sind. So
wären alle gesellschaftlichen Gruppen ver­
treten, und alle hätten ein Vetorecht – die
einen könnten nicht einfach über die ande­
ren entscheiden.
In den meisten der etablierten Mehr­
heitsdemokratien würde sich für eine sol­
che freiheitliche Reform wahrscheinlich
keine Mehrheit finden. Aber weshalb sollte
es in den Ländern, die jetzt an der Schwelle
zur Demokratie stehen, nicht hin und wie­
der einen modernen Solon geben? �
2 Knut Wicksell: Über ein neues Prinzip der gerechten
Besteuerung. Jena: Gustav Fischer, 1896.
3 Roland Vaubel: Constitutional Safeguards Against
Centralization in Federal States. In: Constitutional
Political Economy 7, 1996.
Ders.: Constitutional Courts as Promoters of Political
Centralization: Lessons for the European Court of Justice.
In: European Journal of Law and Economics, Jg. 28, H. 3.
4 Plutarch: Solon. Übersetzt von Konrat Ziegler.
In: Plutarch: Große Griechen und Römer. 6 Bände. Zürich:
Artemis, 1954–1965.
19
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Mehr sozial, weniger Staat
5
Der Sozialstaat nach westlichem Zuschnitt verspricht mehr, als er halten kann. Die Reformbedürftigkeit
versucht er mit immer weiteren Versprechungen zu kaschieren. Nun machen sich ernstzunehmende
Finanzierungslücken bemerkbar. Wie sehen Alternativen zum sozialstaatlichen Status quo aus?
von Christian P. Hoffmann
A
uch wenn gegenwärtige Zustände un­
befriedigend sind, bleiben bessere Al­
ternativen oft unbeachtet. Denn wir mes­
sen die denkbare Alternative nicht an ihren
tatsächlichen Vorteilen, sondern an der
idealisierten Vorstellung einer perfekten
Lösung. Das Bessere ist dann nie gut genug.
Weil sie sich an einem angenommenen
Idealzustand orientiert, nannte der ameri­
kanische Ökonom Harold Demsetz diese
Neigung «Nirwana Fallacy». Wer sich Ge­
danken zu den Sicherungssystemen des
heutigen Sozialstaats macht, trifft unwei­
gerlich auf die Nirvana Fallacy: während
Der Sozialstaat wurzelt in der
frühen Industrialisierung und geht
darum von statischen, geschlossenen Wirtschaftsräumen aus.
Alternativen zum herrschenden Status quo
unterschätzt werden, wird dessen Leistung
ständig überschätzt.
Das ist eine ebenso provokative wie un­
angenehme These, die der Rechtfertigung
bedarf.
Der Sozialstaat ist nicht sozial
Zuerst: was ist überhaupt ein Sozial­
staat? Unter «Sozialstaat» werden heute,
vor allem in den entwickelten Staaten des
Westens, kollektive Umverteilungssysteme
verstanden, die der zwangsweisen Absi­
cherung aller Bürger gegen Risiken und
Lebensereignisse wie Alter, Arbeitslosig­
20
keit oder Krankheit dienen. Diese Systeme
zeichnen sich dadurch aus, dass Berufstäti­ge
auf staatliches Geheiss einen gewissen An­
teil ihres Einkommens in Form von Steuern
oder Abgaben, fälschlicherweise oft «Bei­
träge» genannt, in den Staatshaushalt ein­
zahlen, von wo aus diese Mittel umgehend
an unterschiedliche Kategorien von Emp­
fängern ausgeschüttet werden. Je stärker der
Staat dabei sozialpolitische Um­
vertei­
lungsziele verfolgt, desto weniger steht die
Höhe der Ausschüttung in einem Ver­hältnis
zur Höhe vorheriger Einzahlungen.
Diese kollektiven Umverteilungssys­
teme des Sozialstaats – auch die berufliche
Vorsorge wird zunehmend zu einem sol­
chen – sind weder Instrumente der Vor­
sorge noch Versicherung. Da Mittel schlicht
umverteilt werden, wird wenig bis nichts
gespart, es wird nicht investiert, und damit
werden auch keine Zinsen erwirtschaftet.
Die «Kunden» des Sozialstaats sichern sich
nicht gegen spezifische Zufallsereignisse
ab, wie dies bei einer Versicherung der Fall
wäre. Sozialstaatliche «Beiträge» sind tat­
sächlich einfach nur Steuern, die umge­
hend dem Konsum anderer Menschen zu­
fliessen. Damit wird auch deutlich: die
sozialstaatliche Umverteilung macht eine
Gesellschaft nicht wohlhabender, sie führt
lediglich zu einer politisch determinierten
Verlagerung des Konsums von A zu B.
Dabei wäre Sparen, also Konsumver­
zicht, die Voraussetzung für die Akkumula­
tion von Kapital, welches wiederum inves­
tiert werden kann. Aus Investitionen
erwächst ein Wohlstandsgewinn. Sparen,
Investition, Wachstum – so lautet seit je die
Formel für gesellschaftlichen Wohlstand
Christian P. Hoffmann
ist Assistenzprofessor für Kommunikations­
management an der Universität St. Gallen,
Forschungsleiter am Liberalen Institut
und Mitherausgeber des Buches «Sackgasse
Sozialstaat» (2011).
und Fortschritt. Wo Sparen jedoch behin­
dert wird, wird Wohlstand vernichtet –
inklusive Zins und Zinseszins. Das syste­
matische Verdrängen von Sparen und In­
vestition durch den Konsum ist eine Eigen­
schaft des Sozialstaats, die zu dessen
Scheitern beiträgt. Sie schwächt langfristig
die Ressourcenbasis einer Gesellschaft und
reduziert ihr Wachstumspotential.
Dieser Geburtsfehler des herrschenden
Sozialstaates wäre an sich schon gewichtig
genug, um Zweifel an ihm zu nähren. Doch
dazu kommt sein unvermeidliches Versa­
gen angesichts aktueller Herausforderun­
gen. Der Sozialstaat wurzelt in der frühen
Industrialisierung und geht darum von sta­
tischen, geschlossenen Wirtschaftsräumen
aus. Er ist nicht darauf angelegt, der dyna­
mischen Veränderung einer auf Innovation
basierenden internationalen, arbeitsteili­
gen und eben oft auch mobilen Marktwirt­
schaft zu genügen. Überfordert werden die
kollektiven Umverteilungssysteme auch
durch die im 19. Jahrhundert noch unvor­
hersehbare demographische Entwicklung.
Sieht die Altersstruktur einer Gesellschaft
zunehmend aus wie eine auf den Kopf ge­
kehrte Pyramide, sind die Berufstätigen
schlicht nicht mehr in der Lage, die Bedürf­
nisse der Transferempfänger zu finanzieren.
Spätestens dann erweist sich das staatliche
Verdrängen der Vorsorge durch Konsum als
verhängnisvoller Irrtum.
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Es ergibt sich ein trostloses Bild: die
kollektiven Umverteilungssysteme des So­
zialstaats sind einer zunehmenden Unter­
finanzierung ebenso ausgesetzt wie einem
chronischen Überkonsum. Ökonomische
Fehlsteuerungen verbinden sich mit schäd­
lichen und moralisch fragwürdigen Fehlan­
reizen. Jeder zur Einzahlung gezwungene
Bürger ist letztlich einem handfesten An­
reiz ausgesetzt, möglichst hohe Auszah­
lungen zu erhalten, da geleistete Einzah­
lungen andernfalls verloren sind. Ebenso
auf Seiten der Umverteiler: versagt ein auf
Umverteilung gepoltes Sozialsystem, so re­
agiert die Politik mit einer Erhöhung der
Ausgaben – so etwa im Gesundheitswesen,
das dennoch längst auf Leistungsrationie­
rungen zusteuert.
Die schon seit Jahren beobachtbaren
ständigen Krisen und die endlose Reform­
bedürftigkeit des Sozialstaats sind somit
kein Zufall. Sie lassen sich auch durch das
Drehen an der einen oder anderen regula­
torischen Schraube (am Ende ist es meist
die Steuerschraube) nicht beheben.
Erfolgsmodelle aus Chile und Singapur
Erstaunlicherweise sind diese Analy­
sen in Fachkreisen ebenso bekannt und
verbreitet wie die möglichen Alternativen
zum sozialstaatlichen Status quo. Allein,
sie haben aufgrund einer weitverbreiteten
Realitätsverweigerung kaum eine Chance,
in der öffentlichen Debatte Anerkennung
zu finden. Sozialpopulistische Tabus und
sozialdemokratische Traumtänzereien ver­
hindern noch immer eine nüchterne Bewer­
tung der Lage.
Nur vereinzelt finden sich darum heute
Beispiele zivilgesellschaftlicher Alternati­
ven zum Sozialstaat – dort jedoch mit
durchschlagendem Erfolg. Chile führte be­
reits vor 30 Jahren ein Rentensystem ein,
das den Umverteilungsmechanismus durch
tatsächliche Vorsorge ersetzt. Arbeitneh­
mer zahlen etwa 10 Prozent ihrer Einkom­
men auf individuelle Sparkonten ein. Die
Konten sind persönliches Eigentum des Ar­
beitnehmers und können bei Berufswech­
seln beliebig transferiert werden. Jeder
Sparer kann unter verschiedenen Investi­
tions- und Anlageoptionen auswählen, die
Verwaltungsgesellschaften haben sich im
Wettbewerb zu bewähren. Ein obligatori­
sches Rentenalter gibt es nicht mehr. Jeder
Bürger kann sein gewünschtes Rentenalter
angeben und die notwendige Höhe und
Dauer der Sparleistungen berechnen lassen.
Die Ergebnisse sprechen für sich: im
Vergleich zum umlagefinanzierten Renten­
system, das noch Einzahlungen in Höhe
von 25 Prozent erforderte, sind die Renten­
zahlungen deutlich gestiegen. Durchschnitt­
lich bezieht jeder chilenische Rentner 78
Prozent seines bisherigen Einkommens.
Das Vorsorgevermögen der Chilenen ist bis
heute auf 180 Milliarden Dollar angewach­
sen, das chilenische Wirtschaftswachstum
erzielt seither Spitzenwerte. Kann es da
verwundern, dass sich bis heute 99 Prozent
der chilenischen Arbeitnehmer freiwillig
dem neuen System angeschlossen haben?
Die Rente wurde so der politischen Scha­
cherei effektiv entzogen.
Ein ähnliches Modell der Gesundheits­
vorsorge wird heute in Singapur prakti­
ziert. Arbeitnehmer zahlen hier 6 bis 8 Pro­
zent ihres Einkommens in individuelle
Gesundheitssparkonten ein, die kapitali­
siert werden und Zinsen erwirtschaften.
Bedeutende Behandlungs- und Pflegekos­
ten werden im Bedarfsfall aus diesen Kon­
ten bezahlt. Das Vermögen bleibt jedoch in
jedem Fall im Besitz des Sparers und kann
auch vererbt werden. Hinzu kommen frei­
willige Hochrisikoversicherungen, welche
Entschädigungsleistungen im Falle unvor­
hersehbarer schwerer Krankheiten garan­
tieren. Das Einkommensniveau und die Le­
benserwartung des asiatischenKleinstaates
entsprechen heute jenen der Schweiz. Sin­
gapurs Gesundheitsausgaben belaufen sich
auf 3,5 Prozent des BIP, jene der Schweiz
auf 10,7 Prozent. Jedes Jahr lassen sich hun­
derttausende ausländische Patienten im
ausgezeichneten Gesundheitssystem Sin­
gapurs behandeln.
Ein systematisches Infragestellen des
Sozialstaats ist somit nicht nur notwendig,
sondern auch möglich.
Die Chancen eines Neuanfangs überwiegen
Individuelle und nachhaltige Vorsorge
führt zu Sparen und Investition, sie fördert
Innovation und Wachstum und beschränkt
dabei die Kosten. Private, profitorientierte
oder auch genossenschaftliche Versiche­
rungskonzepte ermöglichen zudem mass­
geschneiderte Absicherungen und fördern
echte Solidarität. Ein Ende der kollektiven
Zwangsumverteilung macht auch Raum und
Ressourcen frei für zivilgesellschaftliches
Engagement zugunsten der Mitmenschen.
Die Übernahme von Eigenverantwortung –
individuell oder gemeinschaftlich – für
jene Risiken, die schlicht nicht versichert
werden können, macht die Menschen mün­
dig, selbständig und selbstbewusst, statt
sie zu überforderten und masslosen Klein­
kindern zu degradieren.
Im Zeitalter weltweiter Kommunika­
tionsnetze und Handelsströme, in dem
Produkte wie Smartphones, Hybridautos,
Solarpanels oder Flachbildfernseher die
Leis­
t ungen von Arbeitskräften in der
Schweiz, China, Kanada, Brasilien, Indien
und Deutschland kombinieren, um dann
an jedem Ort der Erde erhältlich zu sein,
hat sich das nationale Umverteilungsinstru­
mentarium des Sozialstaats überlebt. Des­
sen absehbares Scheitern birgt die Chance
Die Chancen
eines Neuanfangs
überwiegen die Gefahren
um ein Vielfaches.
für den Durchbruch zivilgesellschaftlicher
Alternativen. Ein System echter Vorsorge
verbunden mit nachhaltigen Versiche­
rungslösungen und freiwilliger Solidarität
kann auch einen fortschreitenden demo­
graphischen Wandel absorbieren und abfe­
dern. Nur ein solches System kann das Ziel
sozialer Sicherheit tatsächlich erreichen
und dabei Investition, Wachstum, Innova­
tion und Wohlfahrt fördern. Die Chancen
eines Neuanfangs überwiegen damit die
Gefahren um ein Vielfaches. Der NirwanaFehlschluss hebt sich auf. Was fehlt, ist nur
der Mut, vielversprechende Alternativen
beherzt anzupacken. �
21
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Märkte verschwinden
6
Staatstitel verkaufen, kaufen, bunkern, garantieren: Regierungen, Zentralbanken und Geschäftsbanken
spannen zusammen, um den Markt auszuhebeln. Sie tun dies seit Jahren ziemlich erfolgreich.
Wie kommt der Markt wieder zu seinem Recht?
von Gunnar Heinsohn
I. Einstieg beim Schlussakt, dessen Nachspiel noch offen ist
Das Trio aus Regierungen, Zentralban­
ken und Geschäftsbanken probt das grosse
Finale. Denn für Schuldpapiere vieler EUStaaten gibt es auf freien Märkten keine Käu­
fer mehr. Bliebe Markt erlaubt, würden für
10 000-Euro-Papiere halt nur 5000 oder 3000
geboten. Schliesslich wissen potentielle Käu­
fer, dass vergreisende Bevölkerungen die
Schulden im Namen ihrer staatsbürgerlichen
Seite niemals verzinsen oder tilgen können.
Das breite Publikum mag glauben, dass
Griechen und andere Wackelkandidaten
nach erfolgter Entschuldung ihre Staatstitel
wieder loswerden, weil durch «Strukturrefor­
men» und strenge EU-Auflagen ihre Konkur­
renzfähigkeit wiederkehre. Die Beteiligten
wissen, dass Hellas selbst im reichsten Jahr
seiner Geschichte, nämlich 2007, mit 11 Milli­
onen Einwohnern nur 800 internationale Pa­
tente schaffte – gegen die rund 25 000 der 7,8
Millionen Schweizer. Damals hatten die Hel­
lenen ein Durchschnittsalter von 40 Jahren,
2025 werden es noch rentennähere 46 sein –
allerdings nur unter der Bedingung, dass die
gerade auswandernde Elite zurückkehrt. Nie­
mand wird diesen sympathischen Landstrich
als Wettbewerber fürchten müssen.
Für das Umgehen des Marktes entwi­
ckelt unser Trio zwei Hauptlinien.
Erstens kauft die Europäische Zentral­
bank (EZB) seit Mai 2010 auf dem Sekundär­
markt Staatstitel von Irland bis Griechen­
land, damit die Papiere nicht zu weit unter
Nennwert fallen. Europas Geschäftsbanken
verkaufen ihr deshalb bis Ende 2011 für ins­
gesamt 200 Milliarden Euro solche Titel –
nicht immer zum Nennwert, aber weit über
22
den 25 bis 45 Prozent, die es auf dem Markt
gäbe. Wer sich nun empört, dass die Banken
Milliardenverluste bei der Zentralbank «ab­
laden», verkennt, dass nicht die EZB, son­
dern am Ende der Staatsbürger diesen Segen
beschert. Denn auch die EZB ist eine Bank
und keine Behörde, die grenzenlos Geld
drucken kann. Sie schöpft für die Geschäfts­
banken frisches Geld gegen hinterlegte
Sicherheiten als Pfand. Kann nun eine Ge­
schäftsbank nicht tilgen und erweist sich
auch ihr Pfand als wertlos, dann hat die Zen­
tralbank nichts, womit sie die weiter zirku­
lierenden Noten aus dem Umlauf zurückkau­
fen könnte. Sie muss die nicht getilgte
Summe dann mit Eigenkapital ausgleichen.
Davon aber hat die EZB als Tochter der natio­
nalen Zentralbanken nur 11 Milliarden Euro,
die nach einem 50-Prozent-Preisverfall der
Papiere über 200 Milliarden einen Verlust
von 100 Milliarden bringen. Ersatz für das
ausgelöschte Kapital müssen als Eigentümer
der EZB die nationalen Zentralbanken bzw.
die dazugehörigen Regierungen aufbringen.
Beschafft wird es von ihren Finanzministern
durch den Verkauf zusätzlicher Schuldpa­
piere. Da die mehrheitlich aber nicht 1:1 ab­
setzbar sind, muss die dadurch zu rettende
EZB selbstrettend eingreifen und im Effekt
den Preis ihres neuen Eigenkapitals mit un­
begrenztem Ankauf solcher Papiere künst­
lich hochhalten.
Damit wären wir bei der zweiten Haupt­
linie angelangt. Die EZB verleiht seit Dezem­
ber 2011 an die Geschäftsbanken Geld zu
einem Minizins von 1 Prozent. Statt der übli­
chen Tilgungsfristen von einigen Wochen
müssen die Bankeigentümer diesmal erst
nach 36 Monaten tilgen, so dass sie mehrere
Gunnar Heinsohn
ist emeritierter Professor für Sozialwissenschaften
an der Universität Bremen. Er hat zahlreiche
wirtschaftswissenschaftliche Publikationen verfasst.
Die Kerngedanken des 1996 mit Otto Steiger
vorgelegten Buches «Eigentum, Zins und Geld»
werden seit 2000 im Geldmuseum der Deutschen
Bundesbank (Frankfurt am Main) mit den
Geldtheorien von Aristoteles, Adam Smith,
Bernhard Laum und John Maynard Keynes konfrontiert.
Jahresgewinne einfahren können, bevor sie
selber zahlungspflichtig werden. Frei nicht
mehr 1:1 verkäufliche Staatstitel, deren Er­
träge dabei weiter an sie fliessen, dürfen sie
bei der EZB als Pfand fürs neue Geld hinterle­
gen. Nun bringen frisch gekaufte Staatstitel
für das Dreijahresgeld zwei bis fünf Prozent,
in der Spitze also das Fünffache der Zentral­
bankforderung. Allein am 21. Dezember 2011
borgen sich Geschäftsbanken von der EZB
fast eine halbe Billion Euro, die zur Haupt­
waffe gegen den Preisverfall der Staatstitel
werden sollen. Die Zinsen für die Geschäfts­
banken haben die Regierungen aber nicht
bar parat. Deshalb werden auch sie durch
Verkauf zusätzlicher Papiere aufgebracht.
Jede Gewinnmilliarde der Banken aus Staats­
papierhandel erscheint also zeitgleich als
zusätzliche Schuldenmilliarde bei den
Staatsbürgern. Zinsüberweisungen für die
von der EZB und ihren nationalen Zentral­
bankmüttern (EZB-System) auf dem Sekun­
därmarkt angekauften Staatstitel werden
ebenfalls so aufgebracht. Was diese ihren Fi­
nanzministern an Gewinnen überweisen,
stammt aus zusätzlichen Schulden, die von
denselben Ministern im Namen der Bürger
aufgenommen werden.
All dies spielt sich in den luftigen Sphä­
ren der Politik- und Finanzbranche ab. Dem
Gunnar Heinsohn, photographiert von Philipp Baer.
23
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Firmensektor, der allein Gewinne und Löhne
für Steuern zur Bedienung der Staatsschul­
den erarbeitet, kommt unser Trio Infernale
bei diesen Operationen nicht einmal nahe.
Und doch landen alle neuen Bürden auf den
Staatsbürgerschultern eben dieser privaten
Unternehmer und Arbeitskräfte.
Die Geschäftsbanken des Trios wissen
genau, dass sie ihre Gewinne nicht durch
Kredite für Produktions- und Effizienzsteige­
rungen von Unternehmen erlangen sollen,
sondern durch reine Preissteigerungen. Sie
begreifen mithin, dass sie gegen den alles
niederreissenden Preisverfall der Staatstitel
eingespannt werden. Das funktioniert streng
nach Lehrbuch: Wir Regierungen liefern die
Staatstitel als Luftpfand fürs Gelddrucken,
und ihr Geschäftsbanken pumpt durch fleis­
sigen Zukauf die Preise dieser Papiere immer
wieder auf. Anders geht es nicht. Schliesslich
müssen allein die Euro-Politiker im Stagna­
tionsjahr 2012 für 800 Milliarden Euro fri­
sche Titel losschlagen – nicht fürs Tilgen,
sondern fürs Um- und Hochschulden. Die
Banken, die all das kaufen sollen, können das
jedoch nur, wenn sie gleichzeitig Titel über
570 Milliarden für frisches Eigenkapital und
alte Umschuldungen an Anleger in aller Welt
verkaufen können. Das wiederum gelingt –
nicht mehr nur in der EU-Südschiene – nur
noch dadurch, dass die überschuldeten Staa­
ten, deren Titel die dabei noch wackliger
werdenden Banken kaufen sollen, ihrerseits
die von den Banken im eigenen Namen ver­
kauften Schuldtitel garantieren und das EZBSystem diese doppelt faul besicherten Pa­
piere als Pfand für frisches Geld akzeptiert.
Die genaue Kenntnis all dieser Trickse­
reien hält die Bankeigentümer nicht ab vom
Mitwirbeln bei einer Tarantella, die nur
durch Kollaps verlassen werden kann. Denn
die Konkurrenz untereinander zwingt sie ins
«Billig»-Geld. Sollte ein Bankhaus Züchtig
das Geld für ein Prozent verschmähen und
auf fünf Prozent warten, während die ande­
ren mit dem Wundersegen Geschäfte ma­
chen, geht es mit Anstand unter. Unter dem
Eindruck der zweiten Nullzinsgeldwelle von
2002 aus der US-Fed – nach der uns gleich
beschäftigenden 1995er aus Tokio – bringt
Citigroup-Chef «Chuck» Prince die neue Ge­
schäftspraxis im Juli 2007 auf den Punkt:
24
«Wenn die Musik der Hyperliquidität ver­
stummt, wird es kompliziert. Aber solange
die [Zentralbank-]Kapelle spielt, muss man
aufstehen und tanzen. Noch tanzen wir.»1
Die unwiderstehliche Verlockung durch
das zentrale Nullzinsgeld treibt die Ge­
schäftsbanken erst in all die Machenschaf­
ten, die nun mit immer neuen Regeln be­
kämpft werden. Ihr Hauptdelikt wird die
Nichterhöhung des Eigenkapitals, das paral­
lel zu den neuen Engagements wachsen
müsste, aber eben niemals für null zu haben
ist. Verwegen ist auch die Zweitverwendung
des Pfandes guter Kunden für das Eingehen
eigener Kredite. Bis 2007 werden so von
Geschäftsbanken weltweit 4,5 Billionen Dol­
lar aufgenommen.2 Während die Regierun­
gen also mit der einen Hand immer mehr
Gesetze für immer bessere Feuerlöscher ge­
gen solche windigen Praktiken erlassen,
schleudern sie mit der anderen immer mehr
Brandbeschleuniger in Form von Nullzins­
geld in die Märkte. Man züchtigt die gefalle­
nen Mädchen, erlaubt den Verführern aber
immer schamlosere Angebote.
Im aktuellen Schlussakt seit 2008 wird
der – 1995 in Japan einsetzende und 2002 in
New York beschleunigte – Rhythmus noch
heisser. Die grössten Zentralbanken der Welt
in Tokio, New York, London, der EU und auch
in Bern spielen seitdem ohne Pause in einer
globalen Bigband, weil der Preisverfall der
Staatstitel immer lauter übertönt werden
muss. Nie soll durchdringen, dass es allein
überschuldete Staaten sind, die neue Schul­
den eben dieser Staaten garantieren. Denn
bei Entweichen der Luft aus ihren Titeln gibt
es kein Halten mehr. Sie stecken in den Ei­
genkapitalen von Unternehmen, Banken und
Zentralbanken und besichern als Pfänder die
meisten Schulden. Sie füllen also die Töpfe
für das Glattstellen von Verlusten und sind
die DNA des Wirtschaftens. Wenn nach Aus­
steigen irgendeines Grosskäufers der künstli­
che Wert eines 10 000er-Papiers dann doch
auf einen Marktpreis von 5000 sinkt, bleiben
immer noch die vollen 10 000 für seinen An­
kauf von Geschäftsbanken und Anlegern ge­
schuldet. Niemand aber kann in der Anlage
verlorene 5000 durch im selben Moment
beim Eigenkapital verlorene 5000 glattstel­
len. Das Wirtschaften zerbricht, und die Su­
che nach unbelastetem Eigentum für das Be­
treiben neuer Zentral- und Geschäftsbanken
beginnt von vorn. Doch der Reihe nach.
II. Die noch nicht ruch-, aber schon unerlaubt ahnungslosen Eröffnungsakte von
1995 und 2002
Von 1970 bis 1989 springt Tokios Nikkei
bis auf 39 000, um bis 1995 auf 15 000 abzu­
sacken. Erst geht es hoch, weil Japans intelli­
gente Menschen Waren produzierten, die
man in der ganzen Welt begierig kauft, was
einen gewaltigen Cashflow nach Nippon
spült, der vor allem in Aktien und Grundstü­
cke geht. Nach deren Preissteigerungen ver­
pfändet man sie für höhere Schulden. Die
setzt man für weitere Preissteigerungen ein,
bis die Erträge der gekauften Vermögen unter
den Zins der für sie aufgewendeten Kredite
sinken. Während das als Slow Crash abläuft,
reisst die Bank of Japan als zweitgrösste Zen­
tralbank der Welt den Zins in hektischen
Schritten von sechs auf ein Prozent herunter.
Anders als gewöhnliche Bürger, die den
Wechselkurs als Preis des Geldes erfahren,
halten die Japaner und ihre westlichen Kolle­
gen den Zins für den Preis des Geldes. Durch
seine Absenkung könne man die Unterneh­
men mit Geld regelrecht fluten und so wieder
funktionsfähig machen. Doch Zins ist der
Preis, den ein Schuldner einem Gläubiger
dafür bezahlt, dass dieser sein Eigentum für
die Besicherung von Geld belastet, also unfrei
macht. Deshalb bekommt nicht derjenige mit
dem höchsten Zinsangebot das Geld, sondern
derjenige mit dem sichersten Eigentums­
pfand. Je besser das Pfand, desto leichter kann
man mit ihm das ausgeliehene Geld aus dem
Umlauf ziehen und das für seine Besicherung
belastete Eigentum wieder frei machen. Die
mit dem besten Pfand machen solche Belas­
tungen also am wenigsten riskant und zahlen
deshalb auch den geringsten Zins (prime rate).
In einem Crash nun sinken mit den Ei­
gentumspreisen automatisch auch die Pfand­
massen. Die japanischen Zentralbanker
erschrecken nach 1995 über ihre Wirkungs­
losigkeit, weil sie den crasherzeugten Pfand­
1 Financial Times, 10. Juli 2007.
2 Manmohan Singh / James Aitken: The (Sizable) Role
of Rehypothecation in the Shadow Banking System.
IMF Working Paper, Juli 2010.
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
verlust nicht auf dem Radar haben. Deshalb
bringt auch das noch panischere Zinssenken
von 1 auf 0,1 Prozent zwischen 1995 und
2002 dem Firmensektor nichts. Erst bei ei­
nem Sechzigstel der Ausgangsgrösse (6 auf
0,1 Prozent) treten sie mit einem Geständnis
vor die Menschheit: Ungeachtet 30 Prozent
höherer Ausleihungen an die Geschäftsban­
ken im Jahre 2002 wachsen deren Kredite an
Firmen nur um rund 3 Prozent. Zugleich zah­
len Weltfirmen bei Tokioter Kredithaien mit
20 Prozent das 200fache des Zentralbank­
zinses. Das können sie, weil im Crash ihre
Verpfändungsfähigkeit absinkt, ihr Cashflow
für Zinszahlungen aber Weltspitze bleibt. Bei
Banken daheim oder im Ausland sind sie des­
halb nicht kreditwürdig, während Haie per
definitionem das grössere Risiko durch Wu­
cherzins ausgleichen.
Während die Pfandpreise der Unterneh­
men im Crash fallen, bleiben ihre Schulden
so hoch wie zuvor. Schuldsummen sind im­
mer fix, während das Eigentum für die Besi­
cherung von Geld sowie für die Besicherung
der Kredite für sein Weiterverleihen im
Preis immer schwankt. Doch von etwas Ab­
straktem wie Eigentum versteht man ge­
meinhin wenig, obwohl es die Grundlage
unseres Wirtschaftens ist. Mir sei deshalb
ein kleiner Abstecher in die ökonomische
Theorie erlaubt.
Viele Bankbeamte und ihre Ökonomie­
lehrer kennen nur Besitz und nennen ihn
fälschlich Eigentum, das sie wie das Geld für
ein physisches Gut halten. Nur die Eigen­
tumsgesellschaft aber hat – anders als Stam­
mesgemeinschaften und Feudalherrschaften
– neben dem Güterbesitz auch unphysische
Eigentumsrechte. Mit beidem wird gleichzei­
tig operiert. Während man die Eigentumsti­
tel für die Geldbesicherung aktiviert, werden
unbeeinträchtigt davon ihre physischen Be­
sitzseiten genutzt. Ist das Vermögen ein Ge­
treideacker, kann man seine erdige Besitz­
seite einsäen und abernten, aber gleichzeitig
mit seiner Eigentumsseite Geld besichern.
Geld ist mithin kein Ding, sondern ein Ein­
griffs- oder Einlöserecht in die undingliche
Eigentumsseite des Ackervermögens. Besi­
chertes Eigentum darf nicht weitere Besiche­
rungen leisten und auch nicht verkauft oder
verschenkt werden. Es ist vorzuhalten für
den Fall, dass Geld in Eigentum eingelöst
wird oder nicht zurückgezahltes Geld mit
ihm aus dem Umlauf gekauft werden muss.
Der Eigentümer verliert also vorübergehend
die Dispositionsfreiheit über das so akti­
vierte Eigentum. Und es ist dieser wesentli­
che, aber unphysische Verfügungsverlust der
geldschaffenden Gläubiger, den die Schuld­
ner mit Zins ausgleichen müssen.
Weder beim Schaffen noch beim Weiter­
verleihen von Geld werden Güter herumge­
reicht. Betrachtet man an unserem Acker den
Zaun als Eigentumstitel, dann wird nur mit
dem Zaun gewirtschaftet, also verpfändet,
besichert, verkauft und vollstreckt. Mit der
Besitzerde wird lediglich und ewiglich pro­
duziert. Geht es um eine Viehweide, verlässt
beim Blockieren ihrer Eigentumsseite für die
Geldbesicherung nicht eine einzige Kuh die
Wiese des Bankiers. Er verleiht ein Stück Me­
tall mit einer eingeprägten Kuh – wie beim
römischen aes rude. Seine lebendigen Tiere
jedoch fressen bei ihm und werden weiter bei
ihm gemolken. Ein Milch- bzw. Güterverlust,
aus dem die Nobelpreisökonomie den Zins
erklärt und den sein Schuldner bei Rücker­
stattung der Kuh durch einen Käsezins aus­
zugleichen hätte, fällt überhaupt nicht an.
Verzichtet nun eine Zentralbank auf
Zins, erreicht sie für pfandlose Unternehmen
im Leistungssektor gar nichts, belastet aber
ihr für die Geldbesicherung unverzichtbares
Eigentum ohne Entgelt. Wie kann dieser
Zinsverzicht den Banken nützen, obwohl sie
das so geliehene Geld nicht an den Leistungs­
sektor weiterleihen? Beim Normalgeschäft
findet eine Geschäftsbank einen Unterneh­
mer als Schuldner, der zur Modernisierung
gezwungen wird oder selbst zum Typus krea­
tiver Zerstörer gehört. Kredit erhält er für
seine Umrüstung nur, wenn er Pfand stellt,
Zins zusagt und seine Bank sich – wiederum
gegen Pfand und Zins – Zentralbankgeld zum
Weiterverleihen an ihn besorgen kann.
Steht zentraler Nullzins am Beginn des
Geschäfts, müssen Banken Anlagemöglich­
keiten erst einmal suchen. Die Schuldner aus
dem Leistungssektor verschulden sich wegen
plötzlich fallender Zinsen nicht ein zweites
Mal. Sie verschulden sich, wenn sie es müs­
sen, weil der Firmenpreis durch Innovatio­
nen der Konkurrenz gefährdet ist. Liegt dieser
bei einer Milliarde und der Modernisierungs­
kredit bei 100 Millionen, dann machen drei
oder fünf Prozent Zins eine Differenz von
zwei Millionen. Fällt eine Zinsminderung zu­
fällig genau in den Zeitpunkt des Umrüs­
tungszwanges, dann freut man sich selbstre­
dend über zwei gesparte Millionen. Aber
regiert gerade ein höherer Zins, dann zahlt
man auch ihn, weil er gegen die zu rettende
Milliarde zweitrangig ist.
Ein zu hoher Zins dagegen kann schnell
und hart zerstören wie im Schlussgalopp zur
Weltwirtschaftskrise 1929. Politiker lassen
ihn damals hochsetzen, um einige hundert­
tausend Spekulanten vom Leihen für Aktien­
Wenn Staatstitel so gut
wie Geld werden sollen,
müssen Eigentümer
für die Verluste geradestehen.
kauf durch Verpfändung soeben teurer ge­
wordener Aktien abzubringen. Für alle Firmen
der USA steigen dabei die Zinsen so hoch, dass
viele selbst dann nicht mehr investieren kön­
nen, wenn die Konkurrenz sie treibt. Zugleich
fahren Regierungen ihre Ausgaben zurück,
so dass über Gebühr zinsbelastete Unterneh­
men auch noch Aufträge verlieren. Hätte
man stattdessen den Aktienkauf auf Kredit
verboten und die Staats­ausgaben konstant
gehalten, wäre die Ver­schlimm­besserung der
Krise zu einer Hyperkrise unterblieben. Ge­
lernt wird aber nur, dass man in Krisen mit
dem glatten Gegenteil von 1929 – also dies­
mal Zinsen runter und Staatsschulden hoch
– schon alles richtig mache.
Eben diese Gewissheit bringt uns zurück
in das Jahr 1995, als Japans Zentralbanker
den Zins von 6 auf 0,1 Prozent sacken lassen
und doch nur Blasenmärkte bewirken. Alle
Investitionen nämlich, deren Erträge von –
sagen wir 4 Prozent – bei einem Zentralbank­
zins von ebenfalls 4 Prozent sich nicht loh­
nen, werden bei 0,1 Prozent eine Goldgrube,
obwohl sich an ihnen qualitativ nichts än­
dert. Die Banken investieren so lange in
Preissteigerungen, wie der Ertrag über dem
25
26
Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main (Bild: Caro/Trappe)
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Minizins bleibt. Was eine Million kostet und
4 Prozent bzw. 40 000 bringt, hat nach Preis­
verdopplung auf zwei Millionen zwar immer
noch einen Ertrag von 40 000, die jetzt aber
nur noch zwei Prozent ausmachen. Doch
auch die liegen satte zwanzigmal höher als
die 0,1 Prozent der Zentralbank. Bis zum
Platzen der Blase wird das als Bullenmarkt
bejubelt. Dann aber müssen alle verkaufen,
bevor selbst ihre «billigen» Schulden höher
liegen als die Preise des damit Gekauften. Das
Billiggeld ab 1995 aus Japan bewirkt lediglich
eine ungebührliche Überhitzung des 2000/01
crashenden Booms, der mit dem Internet im­
merhin eine innovative Basis hat. Hingegen
wird der 2008 crashende Boom fast nur durch
eine Billiggeldwelle getrieben, die ab 2002
von der Fed erst richtig hochgepeitscht wird.
Fängt die Zentralbank eines Landes mit
dem Nullzins an, erleiden ausländische Ge­
schäftsbanken Wettbewerbsnachteile. Etli­
che können sich aber durch Filialen in Tokio
ab 1995 ebenfalls mit Yen vollsaugen, die in
andere Währungen wechseln (carry trade)
und nun ebenfalls durch Mitwirken bei Preis­
steigerungen aller Vermögensklassen einen
Reibach machen. Das dadurch erzeugte Kurs­
gewitter wird im Dezember 1996 – also 18
Monate nach dem 1-Prozent-Zins in Tokio –
durch Fed-Chef Alan Greenspan bemerkt,
aber nicht verstanden: «Wie können wir er­
kennen, dass irrationale Übertreibung [exuberance] zur ungebührlichen Aufblähung
von Vermögenspreisen führt, die dann uner­
wartet und langfristig abrutschen?»
Was sind nun Krisen der gewöhnlichen
Art im Unterschied zu staatlich verschärf­
ten? Sie erwachsen daraus, dass Unterneh­
mer immer den Preis ihres Eigentums vertei­
digen. Deshalb sind immer alle Mitglieder
einer Branche gezwungen, die Innovationen
nachzuvollziehen, die ein Konkurrent vor­
legt, wenn er zum Beispiel von Schreibma­
schinen auf Computer wechselt. Nicht die
Beachtung von Angebot und Nachfrage steht
dann im Vordergrund, sondern das Überle­
ben des Unternehmens. Der Computer senkt
nämlich mit dem Preis der Schreibmaschi­
nen auch den Preis ihrer Herstellerfirmen
und zwingt sie in die Umrüstung. Während
ihre Preise schon fallen und so ihre Verpfän­
dungsmasse schwindet, hasten sie zu den
Banken, bevor ihre Kreditwürdigkeit auf null
ist. Die Modernisierer sehen durchaus, dass
nach Abschluss der Umrüstung alle Konkur­
renten zusammen schneller und mehr
produ­zieren, als verkauft werden kann. Sie
müssen also sehenden Auges an der Über­
produktion von morgen mitwirken oder
gleich Eigentum einbüssen. Ein Dittes gibt es
nicht. Sie haben nur die Wahl zwischen um­
gehendem Verschwinden und der blossen
Chance, morgen zu den acht von zehn Com­
puterfirmen zu gehören, die überleben, also
die Preissenkungen für das Auslöschen der
Überkapazitäten aushalten können. Für ihre
Banken gilt dasselbe. Auch sie können nur
ahnen, ob ihre Schuldner beim Abbau der
Überproduktion untergehen oder die
Schuldner der Konkurrenzbank dann keine
Computer verkaufen, obwohl auch sie hoch­
modern sind.
Anders als in Branchenkrisen verschul­
den sich vor grossen Crashs fast alle Wirt­
schaftszweige gleichzeitig für die Eigentums­
verteidigung. Dabei entsteht eine mit Pfand
unterlegte und für Produktivität einzuset­
zende, also keine leistungsferne Geld­
schwemme. Auch sie führt zu Steigerungen
der Preise für all die heiss umkämpften Anla­
gen und Arbeiten, die für die Modernisierung
unumgänglich sind, nach ihrem Abschluss
aber wieder herunter müssen und damit die
Krise einleiten. Solche Langbooms folgen auf
Neuerungen im Transport, der Informations­
übertragung, bei Werkstoffen und Energie­
trägern. Das gleichzeitige Auftreten mehre­
rer solcher Durchbrüche charakterisiert den
Beginn eines Superbooms, der dann in einer
Grosskrise endet. Der Internetboom ab 1989,
der Millionen Firmen und Milliarden Men­
schen online bringt, liefert dafür mit seinem
Crash 2000/01 ein Lehrbuchbeispiel. Auch
der Boom von 1922 bis 1929, als für Radios,
Telephone und fliessbandproduzierte Autos
quer über alle Branchen und Konsumenten
Geld geliehen werden muss, steht für eine
echte Innova­tionskrise.
Während nun Japans Regierung durch
Billiggeld im eigenen Land und die Möglich­
keit von globalem Carrytrade bis 2000/01
den Internetboom über angemessene Preis­
steigerungen hinaustreibt, wird an einem an­
deren Ort eine weitere staatliche Bombe der
Marktzerstörung gezündet, von der in Tokio
allerdings niemand etwas ahnen kann. Im
Bau war diese Monsterwaffe seit 1977, als die
Carter-Regierung mit dem Community Rein­
vestment Act die US-Geschäftsbanken mit
Ausschluss von der Einlagenversicherung
bedroht, wenn sie Bürgern ohne Pfand nichts
leihen. 19 Millionen Familien mit 60 Millio­
nen Menschen sollen sich damals auch ohne
Sicherheiten für Wohneigentum verschul­
den dürfen, um dem Mieterdasein zu ent­
kommen. Diese Axt an der Wurzel des halben
amerikanischen Kreditgeschäfts wird 1994
durch Bill Clintons National Homeownership
Strategy noch einmal geschärft, weil immer
Viele Bankbeamte kennen nur
Besitz und nennen ihn fälschlich
Eigentum, das sie wie das Geld
für ein physisches Gut halten.
wieder Banken beim Einhalten der Kredit­
vorschriften erwischt werden und deshalb
feste Quoten für das Akzeptieren fauler
Schuldner aufgebrummt bekommen. Das Er­
höhen der Ausleihungen erhöht aber das
Eigenkapital nicht. Und aus der Not dieser
Bilanzverschlechterung soll das globale Wei­
terverkaufen der Hauskredite als Hypothe­
kenpakete befreien. Diese famose Idee für
saubere Bücher bekommt Flügel jedoch erst
mit Japans 1-Prozent-Zins ab 1995. Die aus
gegenseitiger Konkurrenz mit Zentralbank­
geld vollgesaugten Geschäfts­banken nehmen
die Subprime-Pakete als Anlagegeschenk des
Himmels. Die Käufer gewinnen Vier- oder
Fünfprozenter, obwohl sie selbst nur ein Pro­
zent zahlen müssen. Naiv ist dabei niemand.
Alle wissen, dass bei Subprimern im Ernstfall
nichts zu holen ist. Also versicherten alle ihre
nagelneue Anlage­klasse für einen Bruchteil
der Gewinnmarge gegen deren Ausfall. Aber
beim gleichzeitigen Brand aller Häuser nach
US-Zinserhöhungen zwischen 2004 und
2007 nebst Nachforderungen an die eigen­
tumslosen Subprimer verbrennen eben auch
die Versicherungen einschliesslich des Welt­
führers American International Group (AIG).
27
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Richtig heiss aber wird der SubprimeMarkt erst 2002, als die Fed den Realzins auf
minus 0,75 Prozent (nominal 1 bis 1,25 Pro­
zent) drückt. Wieder will man nach einem
Crash Unternehmen mit Geld fluten, um – so
Greenspan – «eine befriedigende Wirtschafts­
leistung zu fördern». Was in Japan scheitert,
funktioniert freilich auch in Amerika nicht.
Zentralbanken können Firmen nicht helfen.
Sie können «Ausleiher letzter Hand» sein,
wenn cash-knappe, aber noch eigentumsver­
sehene Geschäftsbanken über Nacht zu kol­
labieren drohen. Zentralbanken kaufen dann
in einer Blitzaktion ihr Vermögen oder akzep­
tieren es als Pfand. Dafür fordern sie einen
erhöhten Zins, damit nicht auch Geschäfts­
banken anklopfen, die gar keine neuen Kre­
ditnehmer haben. Eben diese Sorge führt
Walter Bagehot in Lombard Street [1873] zur
Grundregel der Zentralbank: «Für die Kredite
ist ein sehr hoher Zinssatz zu verlangen. Das
wird die Mehrzahl der Anträge von Häusern
verhindern, die sie gar nicht brauchen.» Dass
man Geld nicht für null ausleihen darf, muss
man damals niemandem einbleuen. Schliess­
lich sind billige Metallplättchen und Scheine
nur wertvoll, solange sie durch preisstabiles
Eigentum der Emissionsbank besichert sind.
Erst diese Eigentumsbesicherung befähigt
Bares zum Eigentumskauf. Und da eine Zen­
tralbank beim Geldbesichern Eigentum un­
frei macht, steht ihr für diesen Dispo­si­tions­
verlust nun einmal Zins zu. Verzichtet sie
dar­auf, befürchtet Bagehot schon 135 Jahre
vor Chuck Prince eine Preisblähungs-Taran­
tella der Banken, die es «gar nicht brauchen».
Und genau so kommt es in den USA. Vier
Dollar aus der Fed-Zinsnullung für die Ge­
schäftsbanken bringen nur einen Dollar
neues Bruttoinlandsprodukt. Dafür steigt bis
2007 die Verschuldung der Geschäftsbanken
auf 50 Prozent aller Schulden von US-Unter­
nehmen – gegen normale zehn Prozent im
Jahre 1980. Die Schulden dieser Banken ste­
hen 2007 bei 116 Prozent des US-Brutto­
inlandsprodukts – gegen 21 Prozent 1980. Mit
nur 5 Prozent der US-Beschäf­tigten von 2007
kassierten US-Banken 40 Prozent der Ge­
winne börsennotierter Unternehmen –
durch Preissteigerungen von Aktien, Roh­
stoffen, Immobilien, Kunstwerken etc.
Zwischen 2002 und 2004 und dann wieder
28
von 2008 bis 2011 leiht die Fed 29 Billionen
Nullzinsdollar an Bankeigentümer. Deshalb
entfallen bereits im Juni 2009 von 100 Dollar
US-Nettovermögenszuwachs 98 auf blosse
Preisblähungen. Der Carrytrade wird noch
voluminöser, weil etwa in Indonesien, Bra­
silien oder China die Zentralbanken immer
noch korrekte Zinsen fordern und ihre Ge­
schäftsbanken mit Ingrimm sehen, wie die
ferne Konkurrenz bei ihnen mit Billiggeld
Vermögen aufkauft und Wechselkurse
treibt. Schon im Januar 2010 klagt die Bank
of China, dass der Westen «durch einen
Dollar-Carrytrade von 1,5 Billionen Riesen­
probleme schafft»3 und global die Märkte
verfälsche.
Die Carrytrader gehören zwar zu Ban­
ken, wollen aber wie jeder Händler nur aus
ihrem Einsatz mehr rausholen, dürfen
anders als diese jedoch an den Zentralbank­
schalter. Deshalb wächst etwa bei GoldmanSachs zwischen 1998 und 2009 der Ge­­
winnanteil durch Handel von 28 auf 76
Prozent. Nur Greenspans «befriedigende
Wirtschaftsleistung» bleibt aus. Da Null­
zinsgeld aber auch in die Steigerung von
Rohstoffpreisen fliesst, wird es für die Un­
ternehmen sogar teurer.
Dasselbe passierte den soliden Häusle­
schuldnern. Von allen US-Hypothekenneh­
mern sind Ende 2011 nicht nur die Subpri­
mer aus dem Crash von 2008, sondern rund
50 Prozent effektiv unter Wasser, können
mit den erzielbaren Preisen also die Eigen­
anteile und Gebühren für den Kauf neuer
Häuser nicht aufbringen.4 Während das Bil­
liggeld den Subprimern keine Kreditwürdig­
keit verschaffen kann, zerstört es sie in der
Mittelschicht, die wegen der zwangsver­
kauften Pleitehäuser einen wuchtigen Preis­
abschlag auf ihr wichtigstes Vermögen er­
leidet.
Es ist nun mal so: Zentralbanken können
nach einem Crash für eine «befriedigende
Wirtschaftsleistung» mit Zinsnullung nichts
ausrichten. Denn sie haben für die nicht
mehr verpfändungsfähigen Unternehmen
kein Eigentum zur Besicherung frischer Kre­
dite, keine Innovationspatente für Siege ge­
gen die Konkurrenz und keine Spitzenköpfe
für das Umsetzen solcher Neuerungen. Sie
können den Crash – die notwendige Preis­
senkung zur Auslöschung der Überkapazitä­
ten – durch Zinssenkungen nicht verhin­
dern. Selbst die zwei Prozent reichsten
Firmen, die sich über eigene Anleihen dank
des Fed-Minizinses mit geringeren Zinsange­
boten rund zwei Billionen Dollar besorgen,
sparen nur 0,5 Prozent, die übrigen Amerika­
ner gar nichts.5 Präsident Barack Obama
greift die Firmen für das blosse Parken dieser
gewaltigen Summe am 7. Februar 2011 als «In­
vestitionsvermeider» an. Er begreift nicht,
dass die Firmen mit dem günstigen Zins eine
Reserve für den Fall schaffen, dass sie durch
Innovationen aus irgendeiner Ecke der Welt
in die Umrüstung gezwungen werden.
III. Was kommt nach dem Schlussakt?
Armut heisst fehlende Verschuldungsfä­
higkeit von Individuen oder ganzen Natio­
nen, bei denen Eigentumsstrukturen fehlen.
Der Politikerfehler im Jahre 2008 besteht im
Kern darin, für die Crashverluste nicht sämt­
liche Vermögen der Eigentümer der Ge­
schäftsbanken und Versicherer durch
schlichten Hilfeverzicht über formale Haf­
tungsgrenzen hinaus in Bewegung zu setzen.
Stattdessen überwälzt man ihre Forderungen
auf den Staatsbürger.
Was bei den Grossen zu holen gewesen
wäre, legt nur das Haus Goldman-Sachs offen.
Allein seine 860 Partner melden vor dem
Crash ein Vermögen von 30 Milliarden Dollar.
Goldman verliert an Subprime-Krediten 12,9
Milliarden Dollar, die seine Versicherung AIG
nicht aufbringen kann. Ihren Bankrott ver­
hindert die US-Regierung mit 180 Milliarden
Dollar für die durch Subprime-Verluste aus­
gelöschten Bankkapitale. Goldman erhält
volle 12,9 Milliarden Dollar. Seine 860 Part­
ner müssen nicht von 30 auf 17,1 Milliarden
abspecken. Die Deutsche Bank bekommt 11,8
Milliarden, die Schweizer UBS 3,8 Milliarden
Dollar. Was man dort gegen die Drohung
einer Totalauslöschung gestemmt hätte, wird
gar nicht erst getestet.
Wie 1995 in Tokio oder 2002 in New York
verstehen die Politiker auch 2008 das ökono­
mische System nicht. Das hätte verlangt, dem
Leistungssektor aus Unternehmen und Ar­
beitern auch nach Auslöschung ihrer Banken
Kredit zu ermöglichen. Dafür hätte man ihnen
für einen fixen Zeitraum direkten Zugang
DIE
AUTOREN Z EIT S CHRIFT
FÜR
«
P OLITIK ,
W IRT S CHAFT
Im ‹Schweizer Monat› vertreten echte
Unternehmer Standpunkte mit Substanz
und jenseits des Zeitgeistes.»
Benedikt Goldkamp,
Delegierter des VR von Phoenix Mecano
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UND
KULTUR
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
zum Zentralbanktresen einräumen können,
wo sie für Zins und gute Sicherheiten Geld
bekommen hätten – das wäre historisch
nichts Neues gewesen. Während dieser Frist
hätten überlebende Banken ihr Geschäft aus­
geweitet. Vermögende und auch leistende
Unternehmen selbst – wie 2010 Siemens und
lange davor die grossen Autofirmen – hätten
neue Banken aufgebaut. Die grossen Eigentü­
mergruppen hätten Verluste realisiert, wären
aber nicht klein geworden. Überwiegend in
Staatspapiere und Bankanleihen investierte
Lebensversicherungen hätte man sortieren
müssen, um ihren Kunden die Pensionen zu
sichern. Selbst Ankäufe mit Fristansage von
Staatsanleihen auf Sekundärmärkten hätten
weniger verheerend gewirkt als ihr jetzt gren­
zenloser Erwerb. Zugleich hätten diese Anlei­
hen besser abgeschnitten als nach der Neu­
verschuldung seit 2008. Denn während 2007
Bankeigentümer 50 Prozent aller Schulden
machen, sind es 2009 Regierungen, die welt­
weit sogar 62 Prozent erreichen und die
Staatsbürger vieler Nationen über das aus
Steuern bedienungsfähige Limit stossen.
Gleichwohl wird versprochen, dass die
Manipulation der Märkte und Belastungen
der Bürger am Ende die Budgets sanieren, der
Markt für Staatstitel also wieder frei werde.
Und doch gehen zum 2011er Weihnachtswo­
chenende allein in Euroland 412 Milliarden
Euro nicht in Aktien, Staatspapiere oder Fir­
menkredite, sondern parken über Nacht als
jederzeit verfügbare Liquidität für Minizins
bei der EZB. Gewiss, der Deutsche Rentenin­
dex (RexP) zur Messung der Gewinne aus
dem Kauf deutscher Staatstitel legt zwischen
1990 und 2011 um 320 Prozent zu. Doch der
deutsche Staatsbürger als vermeintlich bes­
ter Schuldner der Welt tilgt niemals. Zwi­
schen 1970 und 2011 steigen seine Schulden
von 800 auf 22 000 Euro pro Kopf, während
das Durchschnittsalter gleichzeitig von 34
auf 44 Jahre springt. Der US-Staatsbürger als
Zweitbester schuldet im selben Zeitraum von
1700 auf 43 000 Dollar hoch und altert dabei
von 28 auf 37 Jahre. In Deutschland wird ein
Fünftel des Nachwuchses nicht ausbildungs­
reif und braucht Bares von der Wiege bis zur
Bahre. In Amerika haben 2011 erstmals Afri­
cans und Hispanics aus überwiegend bil­
dungsfernen Milieus über 50 Prozent der
30
Neu­geborenen. Schon heute schaffen ihre
Siebzehnjährigen nur das Schulniveau drei­
zehnjähriger Weisser und zwölfjähriger
Jachincos. Strömt die globale Elite nicht mehr
in die Neue Welt, wird sie nie wieder schul­
denbedienungsfähig.
Wenn Staatstitel von neuem so gut wie
Geld werden sollen, müssen die Regierun­
gen dafür sorgen, dass die Eigentümer für
die Verluste geradestehen. 2008 überneh­
men sie die Verluste der Grosseigentümer
durch weitere Anleihen im Namen der
Staatsbürger. Immer nur mehr elegant ge­
stempeltes Papier ohne Besicherung wird
jedoch irgendwann als Betrug erkannt.
Alles, was ein Anleger – gross oder klein –
für sein Geld will, ist Eigentum, das im Preis
wenigstens nicht fällt. Wer ihn ob dieses
Be­­
gehrens als «Diktator des Marktes»
schmäht, zeigt nur, wie gerne er ihm wertlo­
ses Papier tatsächlich mit Gewalt aufzwin­
gen würde.
Verbessern wollen die Politiker die Besi­
cherung ihrer Schuldtitel vor allem durch
Zugriff auf die Mittelschicht und die kleinen
und mittleren Unternehmen (KMU), da in
der Unterschicht Substanz fehlt und die
Grossen schwer zu greifen sind. Doch die
Leister in der Mitte bräuchten für eine «be­
friedigende Wirtschaftsleistung» gerade
Ausgabenkürzungen, damit ihr Eigentum
nicht weiterhin an den leistungslosen Trans­
fersektor geht. Wird ihnen durch Steuern
noch mehr Eigentum genommen, vermin­
dert das nur die «Selbstheilungskraft» der
Wirtschaft. Der ersehnte «sich selbst tragende
Aufschwung» kann ja nur durch Verpfän­
dung für Neuverschuldungen zur Eigen­
tumsverteidigung erfolgen. Dieser Innova­
tionszwang wird in der Krise nur stärker und
der einzige Weg aus ihr heraus. Die Hälfte der
500 «Fortune»-Spitzenfirmen des Jahres
2009 sind Rezessionsgründungen. Ein Ruf
nach höheren Steuern für die Sanierung der
Staatsschulden bleibt deshalb immer ein Irr­
weg. Allerdings kann auch ihre Senkung nie­
manden zur Verschuldung zwingen, aber
doch den von der Konkurrenz in die Innova­
tion Gezwungenen die Kreditaufnahme er­
leichtern.
Ausgabenkürzungen treffen den Hilfe­
sektor, weshalb seine Politiker protestieren.
Da Sozialpolitik zumeist als Stimmenkauf
und nicht als Nächstenliebe praktiziert wird,
kommen schnell Mehrheiten gegen Kürzun­
gen und für eine höhere Belastung der ganz
starken Eigentümer zusammen. Eine durch­
dachte Politik wird diese aber nicht verfolgen
oder ihr Eigentum Unfähigen übergeben.
Doch wenn es nach dem Preissturz der
Staatspapiere darum geht, unbelastetes Ver­
mögen als Eigenkapital für die Besicherung
einer neuen Währung zu finden, schlägt
Zentralbanken können nach einem
Crash für eine «befriedigende
Wirtschaftsleistung» mit
Zinsnullung nichts ausrichten.
auch den grossen Eigentümern die Stunde,
wenn sie ihr Vermögen retten wollen. Das­
selbe gilt für das beim Staatstitelcrash ver­
dampfende Eigenkapital der Banken. Da
garantiert nur schon das Ausbleiben staats­
bürgerlicher Hilfe, dass deren Eigentümer
zur Vermeidung von Totalverlusten die
grossen Löcher aus ihren noch grösseren
Vermögen stopfen.
Dazu bedarf es nicht der Gewalt, son­
dern der Einsicht. Ein Teil des unbelasteten
Eigentums der Bürger und auch des Staates
wird als Kapital einer neuen Zentralbank zu­
gewiesen und bleibt so lange unverzinslich
und unverfügbar, bis diese aus ihren Gewin­
nen unabhängiges Eigenkapital gebildet hat.
Neu wäre das nicht.6 Umgehend stabilisiert
das die Lage. Denn der Kreditkontrakt über
gutes Geld ist nun mal der Vater des Markt­
kontraktes. Deshalb verschwinden bei staat­
licher Geldzerstörung auch die Märkte. Si­
chern kann man sie für die Zukunft nur,
wenn den neuen Zentralbanken das Auslei­
hen allein gegen Zins und gute Sicherheiten
erlaubt wird. �
3 Financial Times, 29. Januar 2010.
4 Diana Olick: Half of US Mortgages Are Effectively
Underwater. Auf: CNBC.com, 8. November 2011.
5 Binyamin Appelbaum: Stimulus by Fed Is Disappoin­
ting, Economists Say. In: New York Times, 24. April 2011.
6 Vgl. beispielsweise die deutsche Rentenmark nach
der Hyperinflation von 1923.
Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012
Impressum
«Schweizer Monat», Sonderdruck, Nr. 993
92. Jahr, Ausgabe Februar 2012
ISSN 0036 7400
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RESSORT POLITIK & WIRTSCHAFT
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Stage
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KORREKTORAT
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Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur
Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen
Konferenz (SOK), www.sok.ch.
GESTALTUNG & PRODUKTION
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Titelbild
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