D i e Au t o r e n z e i t s c h r i f t f ü r P o l i t i k , W i r t s c h a f t u n d K u lt u r Vorausschauen! Sechs Antworten auf die Gegenwart Sonderdruck / februar 2012 Neue Welt, neues Geld Jörg Guido Hülsmann 2 Zurück in die Zukunft Hans-Olaf Henkel 3 Europas Schuld Rich Mattione 4 Gewalten teilen Roland Vaubel 5 Mehr sozial, weniger Staat Christian P. Hoffmann 6 Märkte verschwinden Gunnar Heinsohn 1 «Was es nun braucht, sind neue Ideen und Lösungen. Ein Denken nicht in Quartals­ zahlen, sondern in Jahrzehnten. Und den Mut, die Zukunft wirklich zu gestalten. Das Dossier liefert dafür konstruktive Ansätze.» Remy Reichmuth, Reichmuth & Co Privatbankiers 2 IntroDossier Vorausschauen! Sechs Antworten auf die Gegenwart G eld. Euro. Markt. Eigentum. Staatsschulden. Sozialstaat. Das sind sechs Frage­ zeichen, die jeden einzelnen von uns in den nächsten zehn Jahren beschäftigen dürften, sechs Fragen, die wir sechs unserer Autoren gestellt haben. Die Aufgabenstellung war so simpel wie anspruchsvoll. Wir haben die Autoren ge­ beten, die herrschende Lage zu analysieren, Probleme zu benennen und mögliche Lösungs­vorschläge für die Zukunft zu skizzieren. Klar ist: nicht alle Probleme sind für jedermann auf den ersten Blick ersichtlich. Und: DIE Lösung gibt es nicht. Aber: es ist Zeit, über Alternativen zum Status quo nachzudenken. Was ist die Krux mit dem Geld, das seit dem Ende von Bretton Woods nach Belieben aus dem Nichts geschaffen werden kann? Und wie sähe ein anderes, solideres Geld aus? Wird der Euro die ökonomischen Verwerfungen innerhalb der Europäischen Union überleben? Und wenn ja, in welcher Form? Werden Schuldner ihre Schulden weiterhin über noch mehr Schulden finanzieren? Und wie liesse sich die letztlich verhängnisvolle Schuldenspirale wieder bändigen? Wird der Zugriff der Staaten auf das Eigentum ihrer Bürger und Steuerzahler zuneh­ men? Und welche Mechanismen bräuchte ein demokratisches System, das dies verhindert? Welche PIIGS-Staaten werden in den nächsten Jahren den Bankrott anmelden? Und welche Wachstumsquote müssten sie erzielen, um den Weg aus der Krise zu finden? Warum hat der umverteilende Sozialstaat zur Staatsüberschuldung beigetragen, in der wir heute stecken? Und wie sähe eine auf Eigenverantwortung beruhende Alternative zum heutigen Modell aus? Die Antworten unserer Autoren auf diese Fragen finden Sie auf den folgenden Seiten. Wir wünschen, wie immer, anregende Lektüre! Die Redaktion Dieses Schwerpunktthema ist in der Februar-Ausgabe des «Schweizer Monats» erschie­ nen. Für die Unterstützung bei der Lancierung des Dossiers danken wir Reichmuth & Co Privatbankiers. 3 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Neue Welt, neues Geld 1 Billiges Geld führt zu billigen Krediten, mehr Kredite zu mehr Wirtschaftswachstum. Wäre die Welt so einfach! Mit den Krediten steigen auch die Schulden – von Staaten, Unternehmen, Privaten. Und es stellt sich die Frage: Ist das Billiggeld wirklich zukunftstauglich? von Jörg Guido Hülsmann D er Kern der gegenwärtigen Finanzund Wirtschaftskrise ist die übermäs­ sige Verschuldung der Staaten, Firmen und Privathaushalte. Diese Schuldenkrise ist die Frucht einer sehr langfristigen Ent­ wicklung, die seit Anfang der 1970er Jahre deutlich zu beobachten war, als es zu einem Wechsel des Währungssystems kam. Bis 1971 herrschte weltweit eine – wenn auch verwässerte – Goldwährung (BrettonWoods-System). Alle nationalen Papierwäh­ rungen, alle Banknoten und Sichtguthaben waren letztlich über die Anbindung an den Dollar, der teilweise mit Gold hinterlegt war, Platzhalter für Gold. Da sich die Goldmenge naturgemäss jedes Jahr nur wenig und nur unter hohen Kosten vergrössern lässt, konn­ ten auch die von den Zentralbanken ge­ währten Kredite nur in vergleichsweise niedrigem Umfang wachsen. Die Refinan­ zierung der Geschäftsbanken war also be­ grenzt, und auch die Geschäftsbanken konnten mithin nur in relativ geringem Um­ fang neues Bankgeld schöpfen und damit Kredite erteilen. Die Goldwährung war der Anker der Wirtschaft. Genauer gesagt war sie ein Doppelanker, denn sie begrenzte nicht nur das Preisniveau, sondern auch den Umfang der Kreditwirtschaft. Die Dinge änderten sich radikal, als die amerikanische Federal Reserve Bank (Fed) im August 1971 die Goldeinlösung der ame­ rikanischen Noten einstellte und somit das gesamte Währungssystem umkrempelte. Waren die von den Zentralbanken geschaf­ fenen Noten und Sichtguthaben bislang nur Platzhalter für Gold, so traten sie nun an die Stelle des Goldes, indem sie in die Rolle des Grundgeldes schlüpften. Erst 4 durch diesen Abschied von der Goldwäh­ rung und den Übergang zu immateriellem Grundgeld wurde eine Ausweitung der Geldmenge in grossem Stil möglich. Erst da­ durch wuchs auch die öffentliche und pri­ vate Verschuldung in einem Umfang, der bis dato nicht für möglich gehalten wurde. Es stellt sich somit die Frage, ob das ge­ genwärtige Währungssystem nicht eine Sackgasse ist, aus der man tunlichst und schnell wieder herausfinden sollte. Die Schulweisheit der heute tonangebenden monetaristischen Ökonomen verneint dies. Wir wollen daher im folgenden auf die wich­ tigsten einschlägigen Argumente eingehen. Die monetaristische Lehre Der Monetarismus geht auf den ameri­ kanischen Ökonomen Irving Fisher (1867 bis 1947) zurück und wurde später von Mil­ ton Friedman, Allen Meltzer, David Laidler und anderen fortentwickelt. Bis zum heuti­ gen Tage präsentieren sich die Monetaris­ ten selber gerne als wirtschaftspolitische Antipoden der Keynesianer. Während die Keynesianer dem Markt misstrauen und stattdessen auf staatliches Handeln setzen, sehen sich die Monetaristen als Verfechter der Marktwirtschaft. Doch gerade im Be­ reich der Währungspolitik trifft dies nicht zu. Hier vertreten die Monetaristen – um einen passenden Ausdruck des kürzlich verschiedenen Roland Baader zu verwen­ den – einen ausgesprochenen «Geldsozia­ lismus», wenn auch mit anderen Argumen­ ten als die Keynesianer. Nach ihrem Dafürhalten hat das ideale Geld eine stabile Kaufkraft. Damit die Kauf­ kraft stabil bleibt, muss allerdings die Jörg Guido Hülsmann ist Professor für Ökonomie an der Universität Angers in Frankreich und Autor von «Ethik der Geldproduktion» (2007) und «Mises. The Last Knight of Liberalism» (2007). Geldmenge immer in genau dem Masse wachsen, in dem auch die Geldnachfrage wächst, und letztere steigt insbesondere bei wachsender Realwirtschaft. Daher die Faustformel, dass das Wachstum der Geld­ menge dem erwarteten Wachstum der Real­ wirtschaft – bzw. dem sogenannten Pro­ duktivitätsfortschritt – entsprechen sollte. Nun ist die Goldwährung ganz offen­ sichtlich weit von diesem Ideal entfernt, denn die Geldproduktion hängt nur sehr lose mit dem Wirtschaftswachstum zusam­ men. Es ist möglich, dass auch in Zeiten schrumpfender Wirtschaft die Goldpro­ duktion fortgesetzt wird, und es ist keines­ falls wahrscheinlich, dass die Goldproduk­ tion immer dem Produktivitätsfortschritt entspricht. Vielmehr besteht in einer wach­ senden Wirtschaft mit Goldwährung eine ständige Tendenz zum Sinken der Güter­ preise. Die wachsende Gütermenge wird im Tausch gegen eine Geldmenge umgesetzt, die nicht bzw. nicht im gleichen Masse wächst. Das ist nur möglich bei ständig sin­ kenden Geldpreisen pro Gütereinheit. Die Goldwährung fällt also beim mone­ taristischen Test durch. Dagegen lässt sich das Ziel des stabilen Preisniveaus mit einer immateriellen Währung verwirklichen, insbesondere wenn diese Währung nicht einfach verschenkt oder verkauft, sondern wenn sie durch Zentralbanken verliehen wird. Dann ist es nämlich möglich, durch Jörg Guido Hülsmann (Bild: pd) 5 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Erleichterung der Kreditbedingungen die Geldmenge zu erhöhen, wenn die Wirt­ schaft wächst; und bei sinkender Geldnach­ frage kann die Geldmenge prinzipiell ebenso leicht wieder verringert werden, um ein Steigen der Güterpreise zu verhindern. Auch wenn man nun von allen theoreti­ schen Erwägungen erst einmal absieht, führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass der Monetarismus immer graue Theorie ge­ blieben ist. In der Praxis haben die Zentral­ banken keineswegs ein Geld stabiler Kauf­ kraft geschaffen, sondern ein Geld, das Anfang Januar 2011 betrug die vom Eurosystem geschaffene Grundmenge 1961 Milliarden Euro. Ein Jahr später sind es 2688. ständig an Kaufkraft verliert. Das gilt insbe­ sondere auch für die sogenannten Hartwäh­ rungsländer. Ein Geld, dessen Kaufkraft jahraus, jahrein auch nur um 2 Prozent nachlässt, hat nach zwanzig Jahren rund die Hälfte seiner Kaufkraft eingebüsst. Entspre­ chend stärker ist die kumulierte Wirkung in den Weichwährungsländern. Gute Theorie? Hat aber der Monetarismus trotz dieser praktischen Erfahrungen nicht wenigstens eine gewisse theoretische Berechtigung? Die drei klassischen Argumente für die Preisniveaustabilisierung sind (1) die Ver­ teilungsgerechtigkeit zwischen Schuld­ nern und Gläubigern, (2) der Kampf gegen die Deflation und (3) die sich aus der Preis­ niveaustabilisierung ergebende Stabilisie­ rung der Wirtschaft insgesamt. Irving Fisher zufolge führten Änderun­ gen des Preisniveaus zu einer unberechtig­ ten Bereicherung. Ein steigendes Preisni­ veau bereichere die Schuldner auf Kosten der Gläubiger, ein fallendes Preisniveau die Gläubiger zu Lasten der Schuldner. Ludwig von Mises hat diese Argumentation bereits in den 1920er Jahren gründlich widerlegt. Er wies darauf hin, dass die Bereicherung 6 der einen oder anderen Partei keinesfalls eine notwendige Folge eines fallenden bzw. steigenden Preisniveaus ist. Solche Verän­ derungen können nämlich durchaus anti­ zipiert und dann vertraglich entsprechend berücksichtigt werden. Ausserdem unter­ strich Mises, dass die Stabilisierungspolitik selber eine Verteilungswirkung nach sich zieht. Jede Ausweitung der Geldmenge be­ günstigt frühe Verwender des neuen Gel­ des zu Lasten der späteren Verwender. Mit anderen Worten führt die Betätigung der Notenpresse zur Bekämpfung der (durch­ aus vermeidbaren) Umverteilung zwischen Gläubigern und Schuldnern zwangsläufig zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der frühen Verwender zu Lasten der späte­ ren Verwender des neuen Geldes. Selbst wenn nämlich diese Wirkung der Noten­ presse antizipiert wird, können sich die Spätverwender des neuen Geldes nicht da­ vor durch irgendwelche vertraglichen Ver­ einbarungen schützen. Zentralbanken operieren nicht vertei­ lungsneutral. In unseren Tagen, in denen die Zentralbanken die Geldmenge jahraus, jahrein um hunderte Milliarden Euro bzw. Dollar erhöhen, erzeugen sie eine geradezu massive Bereicherung der öffentlichen Haushalte und der Geschäftsbanken, wel­ che regelmässig zu den Erstverwendern des neuen Geldes zählen. Diese enorme Berei­ cherung der einen auf Kosten der anderen ist im Moment kaum sichtbar, da sich die Preisinflation noch in Grenzen hält. Den­ noch sollte man nicht in den Irrtum verfal­ len, dass die ungerechtfertigte Bereicherung erst stattfindet, wenn die Preise steigen. An­ fang Januar 2011 betrug die vom Eurosystem geschaffene Grundgeldmenge 1961 Milliar­ den Euro. Ein Jahr später liegt der Betrag bei 2688 Milliarden Euro. Die EZB hat die Grundgeldmenge somit in einem einzigen Jahr um 37 Prozent bzw. um 727 Milliarden Euro erhöht, und diese gesamte Summe, der Gegenwert von etwa 6 Prozent des Bruttoin­ landsproduktes der EU, floss zuerst durch die Hände der Geschäftsbanken und der öf­ fentlichen Haushalte. Selbst bei stabilem Preisniveau kann es somit zu einer massiven Umverteilung durch die Notenpresse kommen. Diese Tatsache ist heute offensichtlich und hat in der Bevöl­ kerung bereits zu breiter Entrüstung über die Politik der Zentralbanken geführt. Daher ist es nicht erstaunlich, dass die Monetaris­ ten die Verteilungsproblematik zwischen Gläubigern und Schuldnern nicht allzu sehr in den Vordergrund stellen. Sie konzentrie­ ren sich auf die beiden anderen klassischen Argumente für die Preisniveaustabilisie­ rung: die Deflationsbekämpfung und die Stabilisierung der Wirtschaft insgesamt. Da wir das Argument der Deflationsbe­ kämpfung an dieser Stelle erst vor kurzem behandelt haben, sollen hier nur die we­ sentlichen Punkte in Erinnerung gerufen werden.1 Ein deflationäres Absinken des Preisniveaus ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht mittel- bis langfristig nicht schädlich. Probleme ergeben sich in kurzer Sicht, ins­ besondere in einer Wirtschaft, in der es zahlreiche stark verschuldete Marktteilneh­ mer gibt. Die Schuldner sind nach einem de­ flationären Einbruch des Preisniveaus häu­ fig ausserstande, die zuvor bei höherem Preis- und Einkommensniveau eingegange­ nen Schulden zu bedienen. Da die Schulden der einen häufig die Finanzaktiva der ande­ ren sind, entwickelt sich dann leicht eine Ei­ gendynamik. Auch leichte Deflationen füh­ ren zu Deflationsspiralen mit der Folge eines Massenkonkurses. Es kommt mithin zu ei­ ner grossflächigen Neuverteilung der realen Aktiva, wobei Gläubiger die Vermögensbe­ standteile ihrer Schuldner übernehmen. Überschuldete Unternehmer verlieren ihre Firma und müssen fortan an gleicher oder anderer Stelle eine Anstellung suchen. Hochverschuldete Familien verlieren Haus und Hof, und sie müssen diese Güter somit fortan für einige Zeit mieten, statt sie zu be­ sitzen. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist dieser Vorgang in dem Masse schädlich, in dem es bei der Neuregelung der Vermögens­ verhältnisse zu Produktionsstockungen und starker Arbeitslosigkeit kommt. Mittel- und langfristig bietet eine solche Krise jedoch grosse Vorteile, zum Beispiel den Vorteil, dass sie die Schulden aus der Welt schafft und die Wirtschaft somit gesundet. 1 Jörg Guido Hülsmann: Schreckgespenst Deflation. In: Schweizer Monatshefte 975, 2010. S. 27 ff. Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Nun mag man einwenden, dass eine Deflationsspirale trotz aller mittel- und langfristigen Vorteile eine schreckliche Rosskur sei, die man einem Land doch lie­ ber ersparen möchte. Aber auch dieser Ein­ wand ist nicht stichhaltig. Denn gerade die Preisniveaustabilisierung ist es, die beson­ dere Anreize zur Verschuldung schafft und somit die Deflationsanfälligkeit der Wirt­ schaft erhöht. Ohne Preisniveaustabilisierung – also beispielsweise unter einer Goldwährung – ist es nicht ratsam, sich hoch zu verschul­ den, da die Geldpreise und die Geldein­ kommen tendenziell sinken, was wiederum den Schuldendienst erschwert. Die Finan­ zierung der Wirtschaft erfolgt unter sol­ chen Umständen hauptsächlich in der Form von Eigenkapital, während Kredite nur eine untergeordnete Rolle spielen. Dies ändert sich, sobald die Preisniveaustabili­ sierung die Möglichkeit von Deflationen aus dem Wege räumt. Nun verschieben sich die Gewichte: Kredite treten zunehmend in den Vordergrund, während der Anteil der Eigenkapitalfinanzierung nachlässt. Dieser Umstand wird noch sehr ver­ stärkt, sobald das Preisniveau nicht wirklich stabilisiert wird, sondern ständig – mal schleichend, mal galoppierend – steigt. Ge­ nau dies ist der Fall in der Eurozone. Ein de­ finitorischer Kniff hilft dabei, dies nicht of­ fen auszusprechen. Nach ihren Statuten soll die Europäische Zentralbank (EZB) nicht das Preisniveau, sondern die Veränderung des Preisniveaus (die Inflationsrate) stabilisie­ ren. Wenn die Preise jedes Jahr um 2 Prozent wachsen, herrscht bei uns offiziell Preisni­ veaustabilität und die Zentralbankgouver­ neure klopfen sich auf die Schultern. Unter diesen Bedingungen wird der Anreiz zu hoher Verschuldung geradezu unwiderstehlich. Haushalte verschulden sich, weil sie damit rechnen können, dass ihre Geldeinkommen steigen und somit die relative Last des Schuldendienstes im Ver­ lauf der Zeit immer erträglicher wird. Un­ ternehmen verschulden sich aus dem glei­ chen Grund. Am stärksten wirkt dieser Anreiz natürlich auf die öffentlichen Haus­ halte. Sie können nicht nur ständig stei­ gende Steuereinnahmen erwarten (häufig verstärkt durch kalte Steuerprogression), sondern dürfen bei Schwierigkeiten auch mit der Unterstützung der Notenbanken rechnen. Einzelwirtschaftlich gesehen ist das völlig rational, aber die Gesamtwirt­ schaft verwandelt sich auf diese Weise in ein Pulverfass. Man kann es drehen und wenden, wie man will: eine Politik der Preisniveaustabili­ sierung wirkt letztlich nicht stabilisierend. Sie institutionalisiert vielmehr die Anreize zum Schuldenmachen. Das freut einen Teil der Finanzwirtschaft, zumindest kurz- bis mittelfristig, aber es schwächt die Wirt­ schaft insgesamt. Auf lange Sicht führt der Monetarismus in die Schuldenwirtschaft und somit auch in die Schuldenkrise der Ge­ genwart. Preisniveaustabilisierung ist lang­ fristig destabilisierend, und die lange Frist ist heute da. Wir sind am Ende der Sackgasse des Monetarismus angekommen. Wie weiter? Was sind die Alternativen? Vor allen anderen Überlegungen muss der grössere Kontext im Auge behalten werden. Der Mo­ netarismus ist eine technokratische Ideolo­ gie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts ihren Sie­ geszug antrat. Der praktische Kern- und An­ gelpunkt war und ist die erzwungene Ab­ kehr von natürlichem Geld und die auf staatlichen Zwang gestützte Schaffung ei­ nes künstlichen Währungssystems. Der Tri­ umph der künstlichen Währungen erklärt sich nicht aus ihren gesamtwirtschaftlichen Wohltaten, sondern aus ihrer Nützlichkeit für Einzelinteressen, insbesondere für den Staat. Anders gesagt wurde die Goldwäh­ rung nicht im eigentlichen Sinne aufgege­ ben als vielmehr zwangsweise unterdrückt; und zwar nicht, weil sie das goldene Kreuz war, auf das die Wirtschaft genagelt wurde, sondern weil sie der einzelwirtschaftlichen Willkür des Staates und seiner Alliierten goldene Fesseln anlegte. Aus moralischen und wirtschaftlichen Gründen ist es daher ratsam, Wege zur er­ neuten Einführung von Edelmetallwäh­ rungen auszuloten. Genau wie die amerika­ nischen Revolutionäre die in den bri­tischen Kolonien Nordamerikas vorherrschenden Papierwährungen ablehnten und ihr Wäh­ rungssystem auf Gold und Silber bauten; genau wie Österreich und Italien im 19. Jahrhundert eine Goldwährung an Stelle ihrer Papierwährungen einführten; genau wie unsere Grossväter und Urgrossväter nach dem 1. Weltkrieg und dem 2. Welt­ krieg eine Rückkehr zu Formen der Gold­ währung vollzogen haben – genau so liegt es auch in unserem heutigen Interesse, eine Revolution des Währungssystems zu vollziehen, und zwar aus den gleichen gu­ ten Gründen wie unsere Vorfahren. Der Triumph der künstlichen Währungen erklärt sich nicht aus ihren gesamtwirtschaftlichen Wohltaten. Es ist dabei nicht klug, sich an irgend­ ein historisches Vorbild zu klammern. Die Goldstandards des 20. Jahrhunderts waren in vieler Hinsicht keine natürlichen Wäh­ rungsordnungen, selbst wenn sie natürli­ cher waren als unser heutiges System. Es ist möglich und aus vielen Gründen emp­ fehlenswert, die nötigen Reformen durch private Unternehmer vollziehen zu lassen, indem man einfach den Währungsmarkt öffnet. Es ist auch möglich, auf politischem Wege zu einer auf Edelmetallen basierten Währungsordnung zu gelangen. Zahlreiche Pläne dazu liegen sozusagen in der Schub­ lade (siehe z.B. Huerta de Soto).2 Aber vor der Tat muss die Einsicht kom­ men. Solange breite Bevölkerungskreise von der Nützlichkeit unserer gegenwärtigen Währungsordnung überzeugt sind, wird kein Fortschritt zu erzielen sein. Solange nicht erkannt wird, dass wir uns am Ende einer Sackgasse befinden, werden wir im­ mer nur ein paar Schritte zurückgehen und dann erneut gegen die Wand laufen. � 2 Jesus Huerta de Soto: Geld, Bankkredit und Konjunkturzyklen. Stuttgart: Lucius & Lucius, 2011. 7 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Zurück in die Zukunft 2 Der Euro war von Anfang an ein politisches Projekt. Die Idee der neuen Währung: die Europäische Union näher zusammenführen. Nun zeichnet sich ab, dass genau das Gegenteil geschieht. Welche Zukunft hat der Euro? von Hans-Olaf Henkel D er Ruf des Euro hat gelitten. Die Krise der Eurozone hat freilich auch ihr Gu­ tes, weil sie zu einem neuen Nachdenken über die politische Gestaltung unseres Kontinents führt. Dies habe ich an mir selbst festgestellt. Im Verlauf der Krise habe ich nicht nur meine Meinung über den Euro geändert, sondern auch über die Richtung, die die Europäische Union ein­ schlagen sollte. Einst war ich ein enthusiastischer Be­ fürworter des Euro und romantischer Träu­ mer von einem «Vaterland Europa» im Ge­ gensatz zu Charles de Gaulles «Europa der Einst war ich ein enthusiastischer Befürworter des Euro und romantischer Träumer von einem «Vaterland Europa». Vaterländer». Ich erinnere mich noch gut an den Sommer 1956, als ich, 16jährig, meine erste Fahrradtour ins Ausland unter­ nahm. Über Trier und Luxemburg und ei­ nen Schlenker über die belgische Grenze radelte ich nach Paris. Der Krieg war noch keine zehn Jahre vorbei, und doch stempel­ ten die Beamten in ihren Grenzhäuschen dem deutschen Jungen seinen Reisepass (!) und liessen ihn auf seinem klapprigen Fahrrad passieren. Ich atmete Europa in vollen Zügen. Fast 40 Jahre später wurde ich Präsi­ dent von IBM Europa und bezog nun schon zum dritten Mal in meinem beruflichen Le­ 8 ben eine Wohnung in Paris. Meine Vorgän­ ger, u.a. der legendäre Schweizer Kaspar Cassani, hatten aus den nationalen Toch­ tergesellschaften der IBM längst ein durch und durch europäisches Unternehmen ge­ macht. Unsere Kunden wurden zwar noch auf nationaler Basis betreut, die Produk­ tion war jedoch längst europäisiert. Wieder erlebte ich Europa als etwas Positives. Heute gibt es keine IBM Europa mehr. So wie IBM sind auch BMW, Nestlé und ABB längst global organisiert. Für unsere Unter­ nehmen war Europa bestenfalls eine Epi­ sode auf dem Weg von nationaler zu globa­ ler Orientierung. Sicher ist ein Verbund von Staaten nicht eins zu eins mit Töchtern ei­ nes Unternehmens gleichzusetzen, den­ noch ist der Vergleich illustrativ: die Archi­ tekten des «Hauses Europa» (Michail Gorbatschow) machen sich etwas vor und halten an einer vergangenen Welt fest, wenn sie europäische Nabelschau betreiben. Eu­ ropapolitiker sollten vielmehr die ganze Welt in den Blick nehmen – ohne dabei ihre Heimat aus den Augen zu verlieren. Heute werden wir Zeugen eines gro­ tesken Vorgangs: Als Nebenprodukt von Euro-Rettungspaketen zeichnen unsere euromantischen Architekten eine zentra­ listische Eurozone («Fiskalunion») auf die Landkarte, die sich schon deshalb bald als anachronistisch herausstellen dürfte, weil sie die kulturelle und wirtschaftliche Reali­ tät völlig ignoriert. Anstatt ein Währungs­ system den vorhandenen Kulturen anzu­ passen, soll ein ganzer Kontinent den Bedürfnissen einer Währungsunion unter­ geordnet werden. Das kann, nüchtern be­ trachtet, nicht gutgehen. Der Marsch in ei­ Hans-Olaf Henkel ist Autor und Honorarprofessor an der Universität Mannheim. Er war Chef der IBM Europa, Mittlerer Osten und Afrika sowie Präsident des Bundes­ verbandes der Deutschen Industrie (BDI). nen europäischen Zentralstaat würde das Gegenteil dessen bewirken, was er be­ zweckt – er würde mithin den europäi­ schen Zusammenhalt schwächen statt stärken. Welchen Weg also müsste Europa gehen? Dazu möchte ich drei Anregungen präsentieren. 1. Mehr Föderalismus, weniger Zentralismus Wenn grosse Organisationen an den Rand des Ruins oder in die Pleite geraten, so hängt dies zumeist mit ihrer Grösse und zunehmenden Unfähigkeit der Verwalter bzw. ihrer gewählten Vertreter zusammen, den Überblick zu behalten. Deshalb tut eine Grossorganisation, die der Logik einer Top-down-Organisation folgt, gut daran (oft gegen den Widerstand der Verwalter bzw. Vertreter), sich als Konglomerat aus vielen selbständigen Organisationen zu verstehen. Je grösser eine Organisation, desto mehr muss sie delegieren, eigenver­ antwortlich agierende Zentren gründen und die Möglichkeit schaffen, unten, also beim Kunden bzw. Bürger, optimale Lösun­ gen zu finden. Für Staatenbünde gilt deshalb dasselbe wie für grosse Unternehmungen: mehr Dezentralisierung statt Zentralisierung! Wenn wegen Verletzung bisheriger Ver­ träge nun alle Fäden Europas in Brüssel (oder Luxemburg) enden sollen, wird die­ ser Kontinent zu einem unbeherrschbaren Hans-Olaf Henkel (Bild: pd) 9 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 und schwerfälligen Koloss. Dieses polit­ strukturelle Szenario hat bereits viele his­ torische Gesichter, das anschaulichste mag das der ehemaligen Sowjetunion gewesen sein. Das Schicksal der UdSSR wurde nicht nur durch eine versagende Ideologie, son­ dern auch durch den übermächtigen und bürokratischen Zentralstaat besiegelt. Alle Fäden liefen in Moskau zusammen. Selbst eine Jahrhundertkatastrophe, wie die im entfernten ukrainischen Tschernobyl, wurde in Moskau so lange unter dem Deckel ge­ halten, bis es für eine Evakuierung vieler zu spät war. Das Beispiel der Schweiz hingegen zeigt seit vielen Jahren, dass «small» eben «beautiful» ist. Eine föderale Organisa­ Keiner in den USA käme auf die Idee, Texas Rettungspakete für das überschuldete Kalifornien schnüren zu lassen. tionsform ist einer zentralistischen auf lange Frist überlegen. Weil föderale Orga­ nisationen Probleme nur nach oben dele­ gieren können, wenn keine andere Mög­ lichkeit besteht, müssen sie schneller auf Missstände reagieren. Man denke an die Schweizer Schuldenbremse. Noch unmit­ telbar vor der «Eurokrise» führten die Eu­ ropapolitiker immer gern den Begriff «Sub­ sidiarität» im Munde. Jetzt ist dieser Begriff aus ihrem Vokabular verschwunden. Nun soll ein europäischer Zentralstaat her, auf­ grund der durch nichts bewiesenen Be­ gründung, dass die Probleme des Euro durch ein «zu wenig an Europa» entstan­ den seien. Besonders eifrige Euromantiker bemühen dabei die Idee der «Vereinigten Staaten von Europa», übersehen aber, dass ihr grosses Vorbild auf der anderen Seite des Atlantiks trotz Einheitswährung immer ein föderaler Staat geblieben ist. Keiner käme dort auf die Idee, Texas Rettungspa­ kete für das überschuldete Kalifornien schnüren zu lassen. In der Eurozone, im­ mer noch bestehend aus rechtlich völlig 10 unabhängigen Staaten, wird freilich genau das bereits heute über diverse «Rettungs­ schirme» praktiziert. Der zu rettende Euro ist eine «one-sizefits-all»-Währung, die sich für die Grie­ chen und Franzosen als längst zu schwer und für Deutsche und Österreicher als viel zu leicht erwiesen hat. Die politische Klasse der Eurozone tritt nun unter dem Banner «mehr Europa» die Flucht nach vorn in den europäischen Zentralstaat an. Stattdessen sollte sie die Konsequenz aus der Fehlent­ wicklung ziehen. Ich habe vorgeschlagen, dass Deutschland, Holland, Finnland und Österreich gemeinsam aus dem Euro aus­ treten und eine eigene gemeinsame Wäh­ rung begründen, die genau so funktionie­ ren soll, wie es ursprünglich einmal für den Euro vorgesehen war. Sicher würden Schweden, Dänemark, Tschechien beitre­ ten. Der Euro bliebe den anderen Ländern erhalten und würde ihnen, in abgewerteter Form, wieder eine Wachstumsperspektive bieten. Zwar würden für die Austrittslän­ der Exporte teurer, aber der Aufwertungs­ effekt kann in Grenzen gehalten werden. Diese Idee wurde zuerst marginalisiert und ignoriert. Nun wird sie diskutiert und als denkbares Szenario behandelt. Denn ange­ sichts der Alternativen – weitermachen wie bisher oder Rauswurf Griechenlands – ist eine Aufspaltung der bessere Weg. 2. Mehr echte Eigenverantwortung statt falsche Solidarität Ich habe beim Entwurf und bei der Ein­ führung an vorderster Front für die Ein­ heitswährung gekämpft. Inzwischen be­ reue ich diesen Einsatz aus drei Gründen. Erstens war ich naiv genug zu glauben, dass sich die Politik an die selbst gesetzten Stabilitätsauflagen hält. Schon mit der Aufnahme Griechenlands, gegen die ich damals öffentlich protestierte, wurde aber der Maastricht-Vertrag gebrochen. Sowohl Präsident Jacques Chirac als auch Kanzler Gerhard Schröder verletzten danach die Neuverschuldungsgrenzen ihrer Länder und schufen damit die Basis für über 60 weitere Vertragsverletzungen in der Euro­ zone. Keine zog die vertragsmässig festge­ legten Konsequenzen nach sich. Auf Druck von Präsident Nicolas Sarkozy brachte Kanzlerin Angela Merkel schliesslich die «no-bail-out»-Klausel zum Einsturz, die als Brandmauer zwischen dem deutschen Steuerzahler und ausgabefreudigen Politi­ kern anderer Länder vom damaligen Fi­ nanzminister Theo Waigel aufgebaut wor­ den war. Der jetzt verfolgte Plan, den «moral hazard» (den Anreiz zu weiterem Schuldenmachen) durch neue Verträge zu begrenzen, ist völlig unglaubwürdig. Wenn die Politik nicht einmal in der Lage war, die früheren, niedrigeren Hürden zu über­ springen, warum sollte sie in der Zukunft gar noch höhere nehmen? Zweitens hatte ich nicht erkannt, dass sich in völlig unterschiedlichen Finanz-, Wirtschafts- und Sozialkulturen eine «onesize-fits-all»-Währung zu einer «one-sizefits-none»-Währung entwickeln musste. Nur mit niedrigen Euro-Zinssätzen konnten griechische Politiker gigantische Schulden aufhäufen. Die Immobilienblase in Spanien hätte mit «spanischen» Zinsen niemals ent­ stehen können. Schlimmer noch: die meisten «Südländer» konnten ihre in der Vergangen­ heit geübte Praxis nicht mehr aufrechter­ halten; stets konnten sie bisher durch moderate Reformen, aber auch durch Ab­ wertungen ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern. Das war einmal. Alle, einschliess­ lich Frankreichs, verloren seither – teilweise dramatisch – an Wettbewerbsfähigkeit. Drittens hat sich der Währungsver­ bund zu einer veritablen Ansteckungsma­ schine entwickelt. Die Erkältung eines Landes führt sofort zur Grippe oder gar Lungen­ entzündung eines anderen. Dass die Frank­ furter Börse auf Entwicklungen in Lissabon hektisch reagiert, dass im Gefolge von Her­ abstufungen Italiens und Belgiens die Ra­ tingagenturen nun die Bonität Deutsch­ lands in Frage stellen, ist ein Resultat der Einheitswährung. Statt Brände mit Brand­ mauern zu isolieren, wird im Euroraum für Funkenflug gesorgt. Statt diese Zusammenhänge zuzuge­ ben und die Eigenverantwortlichkeit ihrer Mitglieder wieder herzustellen, marschiert die politische Klasse der Eurozone in die entgegengesetzte Richtung, die mit «Trans­ ferunion» beschildert ist und in der jeder Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Mitgliedstaat für die Schulden aller haftet. Dieses System organisierter Verantwor­ tungslosigkeit führt die Eurozone unwei­ gerlich über eine Schulden- in eine Infla­ tionsunion. Daran ändert auch der Etikettenschwindel nichts, diese nun aus­ gerechnet «Stabilitätsunion» zu nennen. Natürlich war die Europäische Union immer auch solidarisch. Strukturaus­ gleichsfonds, Kohäsionsfonds, gemein­ same Forschungsprojekte wurden von den «Geberländern» finanziert, um in den «Neh­ merländern» für mehr Wohlstand zu sor­ gen. Bisher war diese Umverteilung aber auf 1,2 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts und auf klar definierte Projekte beschränkt. Und vor allem unterlag sie einem demokra­ tisch legitimierten Prozess. Neuerdings hin­ gegen ist die gemeinschaftliche Haftung für in den einzelnen Ländern bereits aufge­ türmte und in der Zukunft weiter aufzuneh­ mende Schulden vorgesehen, deren Höhe genauso wenig bekannt ist wie der Zweck, der zum Schuldenmachen führte. Zwar will man eine verfassungsmässig abgesicherte Schuldenbremse in allen Euro­ zonenländern einführen, aber schon in Frankreich, wo 2011 die Neuverschuldungs­ quote viermal so hoch war wie in Deutsch­ land, haben die Sozialisten beschlossen, dass mit ihnen eine entsprechende Verfas­ sungsänderung nicht zu machen sei. 3. Mehr Wettbewerb, weniger Harmonisierung «How do we Europeans get competi­ tive?», fragte in den 1990er Jahren der da­ malige EU-Kommissar Leon Brittan und gab selbst die Antwort: «By competition!» Der Wettbewerb zwischen kleineren Ein­ heiten führt, gute Rahmenbedingungen vorausgesetzt, zu einem stärkeren Ganzen. Dass der Wettbewerb zwischen kleineren Kantonen zu einer insgesamt stärkeren Schweiz führt, wissen nicht nur die Schwei­ zer. Noch im Jahre 2000 hatten sich die Staats- und Regierungschefs der EU darauf geeinigt, die EU im Jahre 2010 zur «wettbe­ werbsfähigsten Region» der Welt zu ma­ chen. Die Vielfalt der einzelnen Länder wurde zum Markenzeichen der EU. Mit dem damit einhergehenden Wettbewerb der Ideen wurde die zügige Aufnahme von immer mehr Ländern begründet. Ich meine zu Recht, denn mit einer Erweiterung des Binnenmarktes nahm der Wettbewerb un­ ter den Ländern zu. Mit dem System des «Benchmarking», dem Vergleich mit dem jeweils Besten auf europäischer Ebene, wurde die Grundlage dafür geschaffen, voneinander zu lernen. Leider haben unsere Europapolitiker die Erkenntnis vernachlässigt, dass man nicht beides auf einmal haben konnte: er­ weitern und vertiefen. Durch den Reflex, auf die Eurokrise mit «mehr Europa» zu reagieren, wird dieser Wettbewerb nun ab­ gewürgt. Stattdessen soll harmonisiert werden, beispielsweise die Steuersätze. Dass am Ende nicht das niedrigere Steuerni­ veau von Irland, sondern eher das höhere von Frankreich für alle herauskommt, ist ab­ zusehen. Oder glaubt jemand ernsthaft, die Finanzminister der Höchststeuerländer würden jetzt die Steuern senken? Diese An­ gleichung – auch die anvisierte Harmonisie­ rung der Sozialversicherungssysteme, der Arbeitszeiten, des Lohnniveaus usw. – ist politisch gewollt. Europas Sozialpolitiker und Gewerkschaftsführer ergreifen jetzt die Gelegenheit, den Wohlstand in Europa an­ geblich «gerechter» zu verteilen. In Wahr­ heit sinkt dadurch insgesamt der Wohl­ stand, so dass es weniger zu verteilen gibt – was ja kaum gerecht sein kann. Auch die Rhetorik von dem «grossen Währungsraum», der die Eurozone angeb­ lich schon durch seine Grösse auf Augen­ höhe mit den USA oder China bringen soll, ist nicht überzeugend. «Scheitert der Euro, scheitert Europa», meint Bundeskanzlerin Angela Merkel. Was für ein Trugschluss! Europa hat es schon lange vor dem Euro ge­ geben, selbst in der EU gibt es noch zehn Länder, von denen kaum eins noch Lust auf den Euro verspürt. Darüber hinaus gibt es weitere ca. 20 europäische Länder wie Nor­ wegen oder die Schweiz, die nicht einmal in der EU sind. Da angesichts des angerichteten Chaos den Befürwortern der Einheitswährung die ökonomischen Argumente ausgegangen sind, werden vermehrt politische Begrün­ dungen ins Feld geführt. Wenn gar nichts mehr hilft, wird sogar behauptet, der Euro sei notwendig zur Friedenssicherung. Ein­ mal ganz davon abgesehen, dass wir auch zu D-Mark-Zeiten im Frieden lebten und seit der Einführung des Euro auch mit un­ seren Nicht-Euro-Nachbarn gut auskom­ men, ist dieses Argument auch historisch unsinnig. Der Friedensgarant heisst Demo­ kratie und nicht Euro. Noch nie hat eine Demokratie eine andere angegriffen. In Einheitswährungsräumen (beispielsweise Dinar und Rubel) gab es durchaus blutige Auseinandersetzungen. Deshalb wird um­ gekehrt «ein Schuh daraus»: die zuneh­ mend undemokratische Krisenbewälti­ gung, das ständige Hineinreden deutscher Politiker in die Angelegenheiten anderer Der Euro erreicht das genaue Gegenteil dessen, was er mal erreichen sollte. Länder, die Einschränkung des Budget­ rechts der Länderparlamente durch zentra­ listische Aufsichtsorgane führen zu einer gefährlichen Aushöhlung der Demokratie. Mehr noch, wir beobachten jetzt schon im­ mer öfter Zwist und Zwietracht innerhalb der Eurozone und parallel dazu eine stän­ dige Verbreiterung des Grabens zwischen Euro- und Nichteuroländern. Der Euro erreicht also das genaue Ge­ genteil dessen, was er mal erreichen sollte. Es steht zu befürchten, dass unsere Politi­ ker jetzt nicht den Mut aufbringen, ihren kapitalen Fehler einzugestehen, und statt­ dessen weiter auf «Augen zu und durch» setzen werden. Erst wenn der Scherben­ haufen so gross ist, dass die Bürger ihn nicht mehr übersehen können und den für den Schaden Verantwortlichen das Ver­ trauen entziehen, wird der verhängnisvolle Marsch in einen europäischen Zentralstaat abgebrochen und wieder auf ein plurales Europa gesetzt. In der Unterschiedlichkeit, in der Mannigfaltigkeit liegt seine Kraft. Die Vorschläge dazu liegen vor. � 11 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Europas Schuld 3 Die Euro-Staaten haben Schulden in furchteinflössender Höhe angehäuft. Damit haben sie sich von den Einschätzungen der Finanzmärkte abhängig gemacht, deren Macht sie nun beklagen. Wie kommen die Staaten aus dem Schulden-Teufelskreis wieder heraus? von Rich Mattione M uss die deutsche Kanzlerin Angela Merkel bald einen Anruf aus Rom be­ fürchten, in dem eine Stimme ängstlich er­ klärt, Italien werde wider Erwarten dem Weg Griechenlands folgen und seinen Zah­ lungsverpflichtungen nicht mehr nachkom­ men? Und würde sie sich dann wie Caesar fragen: «Et tu, Italia?» Die ausstehenden Staatsschulden in der Eurozone türmten sich per Ende 2010 auf schier unvorstellbare 9,3 Billionen Euro. Allein 3,1 Billionen davon stammen Die Rechenaufgabe der Euro-Schuldenkrise ist gewaltig, aber wohl lösbar. von den sogenannten PIIGS-Ländern Por­ tugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien. Sogar die Kernländer Deutsch­ land und Frankreich haben Verschuldungs­ quoten, welche die in den Maastricht-Sta­ bilitätskriterien postulierten 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bei wei­ tem übersteigen. Die nackten Zahlen sind zweifellos furchteinflössend. Dennoch scheint es mög­ lich, dass der Bankrott nur einzelne Staaten wie Griechenland trifft, die restlichen Pro­ blemländer sich aber noch ein paar Jahre durchhangeln können, bis das Weltwirt­ schaftswachstum wieder anzieht und sie aus den Schulden herauswachsen lässt. Während die Rekapitalisierung der Banken 12 einen langen Schatten auf die Märkte wirft, gibt es einen nicht besonders beliebten, aber gangbaren Weg für die Eurozone, die benötigten Staatsfinanzen zumindest mit­ telfristig aufzutreiben. Es bedürfte dazu der Schützenhilfe durch die Europäische Zentralbank (EZB), die, wie im Dezember bereits einmal vorgeführt, für längere Zeit­ räume mehr Liquidität zur Verfügung stellt. Das ist keine dauerhafte Lösung, aber sie gewährt jene Zeit, die die Staaten brauchen, um sich zu sanieren. Mit anderen Worten: die Rechenauf­ gabe der Euro-Schuldenkrise ist gewaltig, aber wohl lösbar. Das wollen wir auf den folgenden Seiten zeigen. Das 6-Faktor-Schuldenmodell Wir haben ein einfaches Modell aufge­ stellt, das zeigen soll, wie gut die Chancen einer Lösung der Verschuldungsprobleme in verschiedenen Szenarien sind. Explodie­ rende Staatsschulden betrachten wir als untragbar, wenn der Verschuldungsgrad selbst bei positiven Wirtschaftsszenarien in den kommenden Jahren hoch bleibt. Hingegen gilt die Staatsschuld dann als tragbar, wenn der Verschuldungsgrad trotz sich verschlechternder Wirtschaftsaussich­ ten schrittweise unter Kontrolle kommt. Entscheidend sind in diesem Zusam­ menhang die Solvenz und die Liquidität. Wenn Italien seine Staatsanleihen nicht mehr auf dem Refinanzierungsmarkt los­ bringt, wird das Land zunächst illiquid, be­ vor es zuletzt die Zinszahlungen einstellt. Dasselbe würde für die USA oder Japan gel­ ten. Wir befassen uns in unserem Modell mit der Liquiditätssituation; die Frage des Rich Mattione wurde in Harvard in Ökonomie promoviert. Er ist für die Vermögensverwaltungs­g esellschaft Grantham, Mayo, Van Otterloo & Co. LLC (GMO) zuständig für makroökonomisches Research sowie das Portfoliomanagement lateinamerikanischer und japanischer Aktienanlagen. Zahlungswillens eines Staates lassen wir bewusst ausser Acht. Denn selbst das hoch verschuldete Griechenland kann jederzeit Staatsvermögen veräussern, um zahlungs­ fähig zu bleiben. Das stellt zwar im Ver­ gleich zur Option Staatsbankrott einen ho­ hen Preis in Form von Ressourcentransfers ins Ausland dar (zum Beispiel durch den Verkauf von griechischem Staatseigen­ tum). Aber erst wenn Griechenland sich diesem weiteren Ressourcentransfer ver­ weigert, ist das Spiel definitiv aus. Noch vor wenigen Jahren bestand die elegante Lösung der Länder für solche Fälle darin, einfach mehr Geld zu drucken, die Schulden also durch Entwertung zu verrin­ gern. Die USA, Japan und Grossbritannien können diesen Weg weiterhin beschreiten, für die Länder der Eurozone ist dieser Weg seit Einführung der gemeinsamen Wäh­ rung hingegen verbaut. Sie haben die Geld­ souveränität an die EZB abgetreten. Kein einzelnes Euroland kann daher in Eigenregie seine Schulden weginflationieren. Es bleibt nur ein Ausweg: die Märkte davon zu über­ zeugen, weiterhin Staatsanleihen zu einem tragbaren Zins zu zeichnen. Unser Modell berücksichtigt pro Land sechs Parameter, um die Wirksamkeit der Massnahmen gegen die Verschuldungspro­ blematik zu messen: die Nominalschuld, den Zinssatz auf die Staatsobligationen, Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Verhältnis Schulden zu BIP Italien steht vor grossen Herausforderungen 130% 120% 110% 100% 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 n Szenario I: harte Massnahmen, mittlere Zinsen n Szenario II: harte Massnahmen, hohe Zinsen n Szenario III: milde Massnahmen, mittlere Zinsen n Szenario IV: keine Massnahmen, mittlere Zinsen 2018 2019 2020 2018 2019 2020 Verhältnis Schulden zu BIP Was passiert bei einer Restrukturierung Griechenlands? 180% 160% 140% 120% 100% 80% 60% 40% 2011 2012 2013 2014 2015 n Szenario I: Griechenland ohne Glück n Szenario III: Griechenland restrukturiert, strenge Strafmassnahmen 2016 2017 n Szenario II: Griechenland restrukturiert, milde Strafmassnahmen 13 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 das nominale BIP, die Wachstumsrate des BIP, die Inflationsrate und den Budgetüberschuss des Staatshaushalts. Diese sechs Parameter erlauben eine robuste Untersuchung der gängigen Entwicklungsszenarien und Vor­ schläge zur Lösung der Schuldenkrise.1 «Inflationslösung» wird durchschaut Beginnen wir mit der Frage: Lassen sich Schulden weginflationieren? Unter der Vor­ aussetzung der Stabilität aller anderen Faktoren bewirkt eine höhere Euro-Infla­ tion eine Reduktion der Schuld im Verhält­ nis zum BIP. Es ist dann aber auch wahr­ scheinlich, dass der Markt die Situation durchschaut und die Zinsen steigen lässt, um die höhere Inflation zu reflektieren. Damit wäre der Vorteil eliminiert – ein in unserem Modell durchaus realistisches Szenario. Bei einem Verschuldungsgrad von über 100 Prozent des BIP sind höhere Zinsen jedoch Gift. Diese Situation ist heute bereits in Italien und Griechenland zu beobachten. Deshalb sind tiefe Zinsen bei solch hohen Verschuldungsgraden ab­ solut zwingend, wenn sich ein Land aus der ungemütlichen Lage befreien können soll. Klar ist: es bedarf eines rigorosen Spar­ kurses. Ein rigoroser Sparkurs mit einher­ gehenden Budgetüberschüssen muss dafür sorgen, die Verschuldung innerhalb eines Zeitraums von sagen wir zehn Jahren wie­ der auf eine tragfähige Ebene zu bringen, so dass die Sparpolitik gelockert werden kann oder die Zinsen wieder auf ein erträg­ liches Niveau sinken. Ohne rigiden Spar­ kurs ist keine glaubwürdige Gesundung möglich, da sich sonst die Schulden schnel­ ler auftürmen, als das BIP wachsen kann. Nun sind wir an einem heiklen Punkt angelangt: Ein solcher Sparkurs ist poli­ tisch schwierig umzusetzen. Nach keynesi­ anischer Lehre behindert ein Sparkurs das Wachstum der Wirtschaft, weil Investitio­ nen ausbleiben. Dieser Einwand ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Um die nega­ tiven Effekte der Sparprogramme zu kom­ pensieren, verlangen die vorgeschlagenen Anpassungsprogramme deshalb den Ver­ 1 Die ausführliche Studie auf Englisch ist unter www.gmo.com abrufbar. 14 kauf von Staatsvermögen und Liberalisie­ rungsschritte wie Subventionsabbau oder einen freieren Arbeitsmarkt. Solche An­ passungsprozesse sind freilich ebenfalls schwierig durchzuführen. Die Wahrschein­ lichkeit, dass sie selbst bei hoch verschul­ deten Staaten zielführend sind und am Ende aus ökonomischer Einsicht eben den­ noch umgesetzt werden, ist gemäss unse­ rer Modellrechnung hoch. Szenarien für Italien: Lösung ist möglich Zwei Staaten stehen besonders im Mit­ telpunkt: Griechenland und Italien. Die Schulden Italiens belaufen sich mittler­ weile auf fast 2 Billionen Euro, was rund 115 Prozent des BIP ausmacht. Die Situa­ tion ist umso beängstigender, wenn man berücksichtigt, dass sich die italienische Wirtschaft einer Rezession nähert. Trotz­ dem ist noch immer eine Lösung möglich, sobald sich die globale Wirtschaft von der Wachstumsschwäche erholt und die Markt­ teilnehmer wieder willens sind, italieni­ sche Staatsanleihen zu zeichnen. Gehen wir von positiven Grundannah­ men aus und rechnen für Italien mit einer Inflation von 1 Prozent und einem langfris­ tigen jährlichen Wachstum des inflations­ bereinigten BIP von 1,5 Prozent, was dem durchschnittlichen Wachstum Italiens in der Zeit von 1998 bis 2008 entspricht. Die durchschnittlichen Zinskosten betragen in unserem Hochzinsszenario 6 Prozent, im moderateren Fall 4 Prozent. Beide Annah­ men beruhen auf langfristigen Werten aus der Vergangenheit, liegen aber klar unter den 7,11 Prozent, die Italien Anfang Januar für die Emission 10jähriger Anleihen zu be­ zahlen hatte. Selbst mit diesen generösen Annah­ men zeigt sich: ohne jegliche Anpassung am fiskalpolitischen Programm – das heisst mit einem laufenden Defizit von 4 bis 5 Prozent des BIP – verschlimmert sich die Lage Italiens zusehends. Erst wenn Italien dank Sparmassnahmen einen Haushalts­ überschuss von 4 Prozent erzielen kann, sinkt die Verschuldung langsam. Die Hoff­ nung ist dann, dass in der zweiten Hälfte der Spardekade das Wachstum mit einer wachstumsfördernden Wirtschaftspolitik wieder angekurbelt werden kann. Die Um­ setzung verlangt sehr harte Massnahmen, die viel Geduld erfordern. Sie sollten Ita­ lien jedoch erlauben, sich ohne Staats­ bankrott selbst aufzufangen – eine gewal­ tige, aber lösbare Aufgabe. Szenarien für Griechenland: Bankrott akzeptieren Noch schwieriger zu lösen ist der Fall Griechenlands. Das beste Szenario rechnet mittelfristig mit einem moderaten Anpas­ sungsprogramm und mittelhohen Zinssät­ zen, was einen Budgetüberschuss von 3 Pro­ zent und Zinssätze von 5 Prozent ergibt. Diese Zinssätze sind allerdings weit von dem entfernt, was der Markt aktuell verlan­ gen würde. Trotz dieser Annahmen würde sich der Schuldenberg innerhalb einer De­ kade nicht abbauen lassen, sondern ledig­ lich stabilisieren. Unglücklicherweise lässt sich die kontinuierliche Zusatzverschul­ dung selbst mit einem Überschuss von 3 Prozent nicht stoppen, solange die Zinsen so hoch sind. Mit einem realistischeren Sze­ nario von 7 Prozent Zinsen und einem Haus­ haltsüberschuss von 5 Prozent steigt die Verschuldung noch weiter. Letzteres würde Griechenland zwingen, grosse Teile seines Staatsvermögens zu verkaufen, was gesell­ schaftlich kaum akzeptabel erscheint. Gibt es noch einen Ausweg für Grie­ chenland? Nehmen wir an, das reale BIPWachstum erhole sich für den Rest der De­ kade schnell auf 3 Prozent pro Jahr und die Griechen könnten durch eine verschärfte Besteuerung und Verkäufe von Staatsver­ mögen während zwei aufeinanderfolgen­ den Jahren einen Haushaltsüberschuss von 10 Prozent erzielen. In diesem Falle würde die Verschuldung bis 2020 auf dasselbe Ni­ veau fallen, das Italien heute hat – aber auch das nur unter der zusätzlichen An­ nahme, dass die Märkte wieder Vertrauen fassen und sich Griechenland neu mit 4 Prozent refinanzieren könnte. Wunder geschehen zwar, dieses hier aber wahr­ scheinlich nicht! Es gibt keinen vertrauens­ würdigen Ausweg für Griechenland ohne Bankrott und scharfen Schuldenschnitt. Ein oft zitiertes Beispiel eines Landes, das sich trotz schwieriger Wirtschaftsbe­ Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 dingungen aus der Schuldenfalle befreien konnte, ist Brasilien. So wird immer wieder eingewandt, Brasilien habe es im Jahre 2002 auch geschafft, sich vom Schulden­ problem zu befreien, also sei dies in Grie­ chenland auch möglich. Die Verschuldung Brasiliens betrug aber nur einen Bruchteil derjenigen Griechenlands (oder auch Ita­ liens). Trotzdem dauerte Brasiliens Weg zurück zum Wachstum vier Jahre und Bra­ silien konnte lediglich 10 Prozent seiner Verschuldungsquote abbauen. Gleichzeitig mahnt das Beispiel Brasiliens auch zur Vor­ sicht: eine sich abschwächende Währung allein hilft nicht. Brasiliens Lage besserte sich vor allem, weil der Anteil ausländi­ scher Schulden sich mit dem aufwertenden Real verkleinerte (ganz abgesehen davon, dass Brasilien ein ressourcenreiches Land mit einem grossen Binnenmarkt ist). Lö­ sungen mit einer «neuen Drachme», die den Weg für mehr Wachstum freimachen soll, verkennen das Problem der in Euro festgesetzten Schulden Griechenlands so­ wie die grosse Herausforderung, beim EuroAustritt laufende Verträge zu ändern. Die Banken und der Privatsektor schei­ nen im Falle Griechenlands zu einem gewis­ sen Schuldenschnitt bereit, der sowohl Ka­ pitalabschreiber als auch eine Senkung des Couponzinses beinhaltet. Aber kann dies helfen? Alle Annahmen, die eine Verschul­ dung Griechenlands reduzieren würden, sind mit einem Schuldenschnitt von 60 Prozent viel grosszügiger gerechnet, als was die derzeitigen Gläubigerverhandlun­ gen bisher hergaben. Die momentanen Be­ mühungen sind für Griechenland also auch in diesem Punkt ungenügend. Die weiteren Aussichten… Für die gefährdeten PIIGS-Länder er­ geben sich aus unseren Modellrechnungen in der Kurzfassung folgende Perspektiven: Portugal hat grosse Teile seiner Textilund Schuhindustrie an China und andere Schwellenländer verloren. Die neue Regie­ rung schreitet mit der Sparpolitik fort, die es dem Land ermöglichen sollte, seine Schul­ d en zurückzuzahlen. Sollten die Sparbemühungen trotzdem ungenügend sein, ist Portugal ein Kandidat für einen tiefen Schuldenschnitt. Aufgrund seiner geringen Grösse ist das Land glücklicher­ weise kein systemisches Risiko für Ge­ samteuropa. Irlands Hauptproblem ist der Kollaps des Immobilienmarkts nach jahrelangem Boom. Der Staat hat die Banken zu einem geringen Schuldenschnitt verpflichtet und etliche vor dem Konkurs gerettet. Der fi­ nanzielle Aufwand des Staates war jedoch derart gross, dass sich eine moderate Ver­ schuldung von nur 40 Prozent des BIP in untragbare Höhen verwandelte. Irland hat sich einem längeren und härteren Restruk­ turierungsprozess unterzogen als alle an­ deren Länder. Das Problem bleibt gravie­ rend, jedoch nicht unlösbar. Zudem sind die Gesamtschulden vergleichsweise klein, also kein Systemproblem. Weitere Reformen werden wahrscheinlich zu einer Art Fiskalunion in Europa führen. Italien ist am Rande einer unkontrol­ lierbaren Situation. Kleine Schulden­ schnitte tragen ausser weiterem Schaden für das Rating wenig zur Lösung bei. Eine konsequente Restrukturierung muss nun bald einsetzen und sollte so lange von Ver­ käufen staatlicher Vermögen begleitet sein, bis die Märkte wieder genügend Vertrauen haben, Italiens Staatsanleihen im vollen Umfang zu zeichnen. Griechenland ist bankrott, doch glück­ licherweise klein. Ein Austritt aus dem Euro würde die Situation nicht ändern. Ein Schuldenschnitt von 50 Prozent bei gleich­ zeitig weiterhin hohen Zinsen stellt das Land wahrscheinlich erneut vor ähnliche Probleme. Nur wenn gleichzeitig eine Schuldenrestrukturierung mit sehr langen Laufzeiten (beispielsweise 30 Jahre) verse­ hen wird, gewinnt das Land Zeit, die Pro­ bleme langfristig lösen zu können. Spanien leidet unter seinem bis vor kurzem noch prosperierenden Immobi­ liensektor. Doch der negative Effekt von dessen Kollaps auf Immobilienpreise, Be­ schäftigung und Staatseinnahmen ist be­ reits eingetreten. Wenn die neue Regierung schnell vorwärts macht und möglicher­ weise eine Restrukturierung des Banken­ sektors anstrengt, kann die Lage stabili­ siert werden. Gemessen am BIP ist die Verschuldung Spaniens viel besser unter Kontrolle als in vielen anderen Ländern. Der Verschuldungsgrad wird allerdings über die kommenden fünf Jahre steigen. Im Idealfall muss nur Griechenland re­ strukturiert werden. Doch selbst wenn es schlimmer kommt, lässt sich festhalten: so­ lange das ausufernde Schuldenproblem auf Griechenland, Irland und Portugal be­ schränkt bleibt, sind die Beträge im ge­ samteuropäischen Rahmen und mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds (IWF) verkraftbar. Dessen ungeachtet bleibt Vorsicht ge­ boten, was die Situation der Banken anbe­ langt, die da und dort wahrscheinlich sa­ niert werden müssen. Der Europäische Stabilitätsfonds verfügt insgesamt über Mittel von 440 Milliarden Euro, wovon ei­ niges schon gebraucht wurde. Inklusive zu­ sätzlicher Reserven aus dem Euroraum und mit den Mitteln des IWF stehen 750 Milliar­ den Euro bereit – im Vergleich zu den 3,1 Billionen ausstehender Schulden der PIIGSStaaten. Gesamthaft gesehen scheint dem­ nach eine lockere Geldpolitik der EZB eine einfachere und darum realistische Lösung zu sein, um die notwendigen Mittel aufzu­ bringen; ein Prozess, den die EZB im De­ zember mit der Ausgabe länger laufender Mittel bereits eingeleitet hat. Weitere Reformen sind sicherlich not­ wendig und werden wahrscheinlich zu ei­ ner Art Fiskalunion in Europa führen. Un­ abhängig von der Frage, ob damit solche Schuldenkrisen zukünftig verhindert wer­ den können, kommen diese Bemühungen aber für das aktuelle Schuldenproblem viel zu spät. Deshalb ist es höchste Zeit, nun die gravierenden, aber noch lösbaren Fälle von den unlösbaren zu trennen und Lösungen für die betroffenen Staaten zu überlegen. Je früher, desto besser! � 15 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Gewalten teilen 4 Mit dem Wohlstand ist in europäischen Demokratien auch die Staatsquote gewachsen. Während der soziale Zusammenhalt abnimmt, nimmt die Umverteilung zu. Was bedeutet dies für den Schutz von Freiheit und Eigentum? von Roland Vaubel I n ihrem neuen Buch «The Pillars of Pros­ perity» (Princeton University Press 2011) weisen die beiden Ökonomen Timothy Bes­ ley und Torsten Persson nach, dass zwi­ schen dem Schutz des Eigentums und den Staatseinnahmen in Prozent des Bruttoin­ landsprodukts international ein positiver Zusammenhang besteht, der statistisch hochsignifikant ist. Dieser Befund ist auf den ersten Blick erstaunlich, denn der Schutz des Eigentums ist ein klassisch libe­ rales Anliegen, während eine hohe Staats­ quote eher von sozialistischen oder sozial­ demokratischen Parteien angestrebt wird. Besley und Persson zeigen weiterhin, dass ein weitreichender Eigentumsschutz und eine hohe Staatsquote für Länder mit ho­ hem Pro-Kopf-Einkommen typisch sind. Sie schliessen daraus, dass Prosperität vor al­ lem einen starken Zusammenhalt der poli­ tischen Institutionen voraussetzt: es muss Einigkeit bestehen, dass die Wirtschafts­ ordnung das Eigentumsrecht respektiert, zugleich aber der Staat in grossem Umfang umverteilt. Persson ist Schwede. Was er preist, ist das skandinavische Modell. Man kann die positive Korrelation zwi­ schen Eigentumsschutz und Staatsquote jedoch auch ganz anders erklären: In der Geschichte war es so, dass der Schutz des Eigentums und der individuellen Freiheit, den der Wettbewerb zwischen den europäi­ schen Herrschern hervorbrachte, dem ein­ zelnen einen starken Anreiz gab, in sein Humankapital – seine Ausbildung – zu in­ vestieren. Denn er konnte davon ausgehen, dass die Erträge aus seiner Arbeit in erster Linie ihm selbst zufliessen würden. In dem Masse, in dem die Menschen dazulernten, 16 wollten sie auch in der Politik stärker mit­ bestimmen. Die Untertanen emanzipierten sich. Sie forderten politische Partizipation – Demokratie. Es setzten sich diejenigen – eine Mehrheit – durch, die die Demokratie – wie Rousseau – als Herrschaft der Mehr­ heit definierten. Diese Mehrheit verlangte staatliche Umverteilung zu Lasten der Min­ derheit – die Staatsquote stieg. Während also Besley und Persson Ei­ gentumsschutz und staatliche Umvertei­ lung auf eine gemeinsame Ursache – politi­ schen Zusammenhalt – zurückzuführen versuchen, zeigt ein Blick in die Geschichte, dass zwischen Eigentumsschutz und staat­ licher Umverteilung eine kausale Bezie­ hung besteht: Eigentum und Freiheit haben auf dem Weg über das Humankapital und die Mehrheitsdemokratie zu einer höheren Staatsquote geführt. Diese historische Sichtweise macht zugleich deutlich, dass die zunehmende staatliche Umverteilung nicht eine Ursache der Prosperität ist, sondern sie gefährdet. Denn je mehr der Staat die Steuern und Ab­ gaben erhöht, desto schwächer werden die Anreize, Humankapital zu bilden. Die In­ vestitionsentscheidungen der Individuen werden ja nicht nur vom staatlichen Schutz der Eigentumsrechte im Markt bestimmt, sondern auch davon, was der Staat selbst seinen Bürgern übrig lässt. Das Eigentums­ recht muss nicht nur vor Übergriffen ande­ rer Individuen, sondern auch vor Übergrif­ fen des Staates geschützt werden. Das ist das klassische Freiheitsziel, wie wir es zum Beispiel bei Wilhelm von Humboldt finden: «Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger Roland Vaubel ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundes­ ministerium für Wirtschaft und Technologie. und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist – zu kei­ nem anderen Endzwecke beschränke er ihre Freiheit.»1 Explosiver Anstieg der Staatsquote Die hohen Staatsquoten der meisten In­ dustrieländer sind demnach nicht «Pfeiler der Prosperität», sondern mögliche Auslö­ ser eines Niedergangs. Was ist schiefgelau­ fen? Wo setzte die Fehlentwicklung ein? Wie kann sie korrigiert werden? Der explosive Anstieg der Staatsquote, der sich im 20. Jahrhundert vollzog, ist in geradezu prophetischer Weise von dem schwedischen Ökonomen Knut Wicksell vorhergesagt worden. Er schrieb Ende des 19. Jahrhunderts: «Wenn einmal die unteren Klassen de­ finitiv in Besitz der gesetzgebenden und steuerbewilligenden Gewalt gelangt sind, wird allerdings die Gefahr vorliegen, dass sie ebenso wenig uneigennützig verfahren werden wie die Klassen, welche bisher die Macht in den Händen hatten, dass sie m.a.W. die Hauptmasse der Steuern den be­ sitzenden Klassen auferlegen und dabei vielleicht in der Bewilligung der Ausgaben, zu deren Bestreitung sie selbst nunmehr 1 Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestim­ men. Breslau: Eduard Trewendt, 1851. «Ob die direkte Demokratie gegen eine steigende Staatsquote hilft, ist eine offene Frage.» Roland Vaubel 17 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 nur wenig beitragen, so sorglos und ver­ schwenderisch verfahren, dass das beweg­ liche Kapital des Landes bald nutzlos ver­ geudet und damit die Hebel des Fortschritts zerbrochen sein werden.»2 Er hatte auch einen Lösungsvorschlag: «Gegen Missbräuche der erwähnten Art liegt aber zweifellos die beste, ja die einzig sichere Garantie im Prinzip der Einstimmigkeit und Freiwilligkeit der Steuerbewilligung.» Die Einstimmigkeit der Steuerbewilli­ gung gibt es in keinem Land, aber in der Fi­ nanzierung der Europäischen Union (EU) hat sie sich bewährt. Dem mehrjährigen Fi­ nanzierungsrahmen, der die Beitragszah­ lungen der Mitgliedstaaten festlegt, müs­ sen alle Mitgliedstaaten zustimmen. Die Ausgaben der EU sind infolgedessen bei etwa einem Prozent des Bruttoinlandspro­ dukts verharrt. Ganz anders ist die Ent­ wicklung im Bereich der Regulierung. Die meisten Regulierungen können seit 1987 bzw. 1993 mit qualifizierter Mehrheit vom Ministerrat beschlossen werden. Die Folge ist eine Regulierungsspirale: die Mehrheit der hochregulierten Staaten zwingt der li­ beraleren Minderheit per Mehrheitsent­ scheidung ihr hohes Regulierungsniveau auf, um ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Das ist die sogenannte «stra­ tegy of raising rivalsʼ costs». Weil der Wett­ bewerbsdruck von Seiten der liberaleren Länder verschwindet, steigt dann auch das Regulierungsniveau in den hochregulier­ ten Ländern, das diese wiederum den libe­ raleren Ländern aufzwingen. Nach Wicksell ist nicht nur die einstim­ mige Entscheidung besser als die Mehr­ heitsentscheidung, sondern auch die quali­ fizierte Mehrheitsentscheidung (zum Beispiel Mehrheit von zwei Dritteln oder drei Vierteln) besser als die einfache Mehr­ heitsentscheidung. Diese Möglichkeit zei­ gen auch James Buchanan und Gordon Tull­ ock in ihrem Klassiker «The Calculus of Consent» (1962). Sie verdeutlichen, dass das Prinzip der einfachen Mehrheit aus ökono­ mischer Sicht völlig willkürlich ist. «Demo­ kratie» heisst «Herrschaft des Volkes» – nicht Herrschaft der einfachen Mehrheit. Eine qualifizierte Mehrheit ist nicht nur für die meisten gesetzgeberischen Ent­ 18 scheidungen des EU-Ministerrats vorge­ schrieben. In vielen Nationalstaaten kann die Verfassung nur mit qualifizierter Mehr­ heit geändert werden. Unterhalb der Ver­ fassungsebene spielt das Prinzip der quali­ fizierten Mehrheit aber wohl nur in der schweizerischen Konkordanzdemokratie eine Rolle, wo alle grösseren Parteien – weit mehr als 50 Prozent der Wähler – in der Re­ gierung vertreten sind. Je dezentraler, desto sicherer Wenn Beschränkungen der Freiheit nur mit einer hohen qualifizierten Mehrheit eingeführt werden dürfen, folgt daraus, dass eine qualifizierte Minderheit ausreicht, um sie wieder aufzuheben. Insofern ist es un­ sinnig, für alle Entscheidungen eine qualifi­ zierte Mehrheit zu verlangen. Eine solche Entscheidungsregel zementiert den Status Die hohen Staatsquoten vieler Industrieländer sind nicht «Pfeiler der Prosperität», sondern möglicher Auslöser eines Niedergangs. quo, aber sie schützt nicht die Freiheit in der Demokratie. Es kommt ganz darauf an, ob die anstehende Entscheidung die Freiheit beschränken oder erweitern würde. Auch Besley und Persson fragen, wo­ von der Schutz des Eigentums im interna­ tionalen Vergleich abhängt. Sie zeigen, dass er positiv mit der Zahl der Kriegsjahre (seit 1816) und der Homogenität der Bevöl­ kerung korreliert ist, und sehen darin eine Unterstützung für ihre These, dass der Schutz des Eigentums vor allem politische Kohäsion – einen kompakten, in sich ge­ schlossenen Staat – voraussetzt. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was die libera­ len Föderalisten spätestens seit Johannes Althusius (1603) gelehrt haben, und die Schweiz ist das beste Gegenbeispiel. Korre­ lationen sind eben nicht dasselbe wie Kau­ salbeziehungen. Die Regierenden sind umso eher daran interessiert, das Privateigentum zu schüt­ zen, je schärfer sie mit den Regierenden an­ derer Länder um mobile Produktivkräfte und Steuerzahler konkurrieren, und das gilt auch zwischen den Provinzen und Städten innerhalb eines Landes. Je dezen­ tralisierter der Staat und je kleiner und of­ fener seine Volkswirtschaft, desto sicherer sind die Eigentumsrechte. Besley und Pers­ son kommen nicht auf die Idee, auch diese alternative Hypothese zu testen. Welche anderen Möglichkeiten gibt es, die Demokratie mit der Freiheit kompatibel zu machen? Freiheitsrechte können in ei­ ner Verfassung festgeschrieben, ihr Schutz einer unabhängigen Gerichtsbarkeit anver­ traut werden. Aber die Richter werden von der politischen Mehrheit bestellt und tei­ len daher grundsätzlich deren Ziele. In vie­ len Verfassungsgerichten sitzen sogar ehe­ malige Politiker. Eigentum und Freiheit wären besser geschützt, wenn alle Verfas­ sungsrichter richterliche Erfahrung hätten und von den anderen obersten Gerichten gewählt würden. In Bundesstaaten und Föderationen sind die Verfassungsrichter daran interes­ siert, die Kompetenzverteilung auf Bundes­ ebene zu zentralisieren. Je grösser die Kom­ petenzen des Bundes, desto wichtiger und interessanter sind die Fälle, die die Bundes­ richter zu entscheiden haben. Zwei meiner Untersuchungen ergaben, dass der Anteil der zentralstaatlichen Ebene an den gesam­ ten Staatsausgaben umso grösser ist, je län­ ger es in dem Land bereits ein voll ausgebau­ tes Verfassungsgericht gegeben hat und je schwieriger es ist, dessen Urteile durch Ver­ fassungsänderungen zu korrigieren.3 Dass das schweizerische Bundesge­ richt nicht zur Überprüfung der Bundesge­ setzgebung befugt ist, scheint eines der Er­ folgsgeheimnisse der Schweiz zu sein. Würde man dies ändern, wie ja gerade jetzt wieder vorgeschlagen wird, würden zentra­ lisierende Bundesgesetze das Gütesiegel des Bundesgerichts erhalten und in Refe­ renden nicht mehr so leicht abgelehnt wer­ den. Wird aber der Steuer- und Regulie­ rungswettbewerb zwischen den Kantonen durch Zentralisierung geschwächt, so erhält der Staat mehr Macht über die Bürger und schränkt ihre Freiheit stärker ein. Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Ob die direkte Demokratie gegen eine steigende Staatsquote hilft, scheint mir eine offene Frage zu sein. Soweit der An­ stieg der Staatsausgaben auf die Machtge­ lüste der Politiker und den unheilvollen Einfluss von Interessengruppen zurückzu­ führen ist, lautet die Antwort zweifellos ja. Vor allem sind die Stimmbürger weit weni­ ger an einer politischen Zentralisierung in­ teressiert als die Bundespolitiker und Bun­ desrichter. Umverteilungswünsche der Wählermehrheit kommen in Referenden jedoch ungehindert zur Geltung. Viel erfolgversprechender ist in dieser Hinsicht die Gewaltenteilung. Die klassi­ sche Gewaltenteilung nach Montesquieu unterscheidet zwischen Legislative, Exeku­ tive und Judikative. In den meisten Staaten werden die Mitglieder der Exekutive und Judikative jedoch von den Mitgliedern der Legislative bestimmt. Die Gewaltenteilung funktioniert besser, wenn zumindest der Chef der Exekutive direkt vom Volk ge­ wählt wird – wie der amerikanische oder der französische Präsident. Eine neuere Analyse zeigt, dass es in den letzten 40 Jah­ ren in den USA nur vier Jahre (2003 bis 2006) gegeben hat, in denen dieselbe Partei sowohl den Präsidenten als auch die Mehr­ heit in Senat, Repräsentantenhaus und Su­ preme Court stellte. Je mehr Vetospieler zustimmen müssen, desto schwieriger ist es, die Staatsquote in die Höhe zu treiben (und desto sicherer sind – wie Besley und Persson zeigen – die Eigentumsrechte). Die Kraft des Vetos Am wirksamsten ist eine mit Vetorech­ ten ausgestattete zusätzliche Kammer, die die bedrohte Minderheit repräsentiert. Eine solche Kammer gab es in drei historisch höchst erfolgreichen Demokratien: im Athen der solonischen Verfassung, in der römi­ schen Republik und im britischen Empire. Die Verfassung, die Solon Athen 593 v. Chr. gab, sah nicht nur eine von allen Bür­ gern gewählte Volksversammlung vor, son­ dern auch zwei «Räte»: den Rat der Vier­ hundert oder «unteren Rat», in dem jede der vier Vermögensklassen mit hundert Abgeordneten vertreten war, und den Areo­ pag oder «oberen Rat», der aus ehemaligen Archonten – d.h. Regierungsmitgliedern – bestand. Da die Volksversammlung nur Mitglieder der obersten Vermögensklasse zu Archonten wählen durfte, war der Areo­ pag ein Rat der Reichen. Die Herkunft spielte dabei – anders als vor Solon – keine Rolle. Plutarch beschreibt die Kompeten­ zen des Areopags wie folgt: «Den oberen Rat setzte Solon als Aufseher über alles und als Hüter der Gesetze – in dem Glau­ ben, dass der Staat, wenn er auf diesen bei­ den Räten gleichsam fest verankert läge, geringeren Schwankungen ausgesetzt sei und das Volk leichter in Ruhe würde halten können.»4 Damit war der Areopag nicht nur das oberste Gericht («Hüter der Gesetze»), son­ dern ein mit einem allgemeinen Vetorecht ausgestattetes Oberhaus. Als der Areopag im Jahr 462 v. Chr. durch die Verfassungsre­ Diejenigen, die ein überdurchschnittliches Arbeitseinkommen erzielen, würden das Oberhaus wählen, die anderen das Unterhaus. form des Ephialtes entmachtet wurde, ging es mit Athen bald bergab. In der römischen Republik war der Se­ nat die Vertretung der Patrizier. Ausserdem wurden die Stimmen der Bürger in der Volksversammlung gleichzeitig auf zweier­ lei Weise gewichtet. Während in der «comi­ tia tributa» jede Stimme das gleiche Ge­ wicht hatte, hing das Gewicht der Stimme in der «comitia centuriata» vom Landbesitz und damit der Steuerbelastung ab. Denn in den Centuriones (Abteilungen) der Land­ besitzer, die als erste ihre Stimme abgaben, waren viel weniger Wahlberechtigte als in den anderen Centuriones. Ein Vorschlag galt nur dann als angenommen, wenn er von der Mehrheit der Stimmbürger und von der Mehrheit der Centuriones befürwortet wurde. Die Geschichte vom Auszug der Plebejer (um 450 v. Chr.) verdeutlicht, wie wichtig den Römern der Konsens zwischen den verschiedenen sozialen Schichten war. Das englische Parlament besteht seit der Mitte des 14. Jahrhunderts aus dem House of Commons und dem House of Lords. Im 16. Jahrhundert – nach dem Hun­ dertjährigen Krieg (1337–1453) – begann der Aufstieg Englands. 1911 verlor das House of Lords sein Gesetzgebungsveto. Es stimmte seiner eigenen Entmachtung zu, nachdem Premierminister Asquith von der Liberal Party damit gedroht hatte, andernfalls so lange zusätzliche Lords zu ernennen, bis er auch im House of Lords die Mehrheit ge­ habt hätte. Der Schutz von Freiheit und Eigentum in der Mehrheitsdemokratie verlangt nach einer zusätzlichen parlamentarischen Kammer. Das galt schon, als noch – wie in den drei genannten Beispielen – nur eine Minderheit der Erwachsenen das Wahl­ recht besass. Idealerweise sollte eine sol­ che Kammer nicht einen Stand oder die Be­ sitzenden, sondern die Leistungseliten repräsentieren, denn es geht um die Leis­ tungsanreize. Man könnte zum Beispiel auf das Arbeitseinkommen abstellen. Diejeni­ gen, die ein überdurchschnittliches Ar­ beitseinkommen erzielen oder erzielt ha­ ben, würden das Oberhaus wählen, die anderen das Unterhaus. In Bundesstaaten gäbe es weiterhin eine Kammer, in der die einzelnen Provinzen repräsentiert sind. So wären alle gesellschaftlichen Gruppen ver­ treten, und alle hätten ein Vetorecht – die einen könnten nicht einfach über die ande­ ren entscheiden. In den meisten der etablierten Mehr­ heitsdemokratien würde sich für eine sol­ che freiheitliche Reform wahrscheinlich keine Mehrheit finden. Aber weshalb sollte es in den Ländern, die jetzt an der Schwelle zur Demokratie stehen, nicht hin und wie­ der einen modernen Solon geben? � 2 Knut Wicksell: Über ein neues Prinzip der gerechten Besteuerung. Jena: Gustav Fischer, 1896. 3 Roland Vaubel: Constitutional Safeguards Against Centralization in Federal States. In: Constitutional Political Economy 7, 1996. Ders.: Constitutional Courts as Promoters of Political Centralization: Lessons for the European Court of Justice. In: European Journal of Law and Economics, Jg. 28, H. 3. 4 Plutarch: Solon. Übersetzt von Konrat Ziegler. In: Plutarch: Große Griechen und Römer. 6 Bände. Zürich: Artemis, 1954–1965. 19 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Mehr sozial, weniger Staat 5 Der Sozialstaat nach westlichem Zuschnitt verspricht mehr, als er halten kann. Die Reformbedürftigkeit versucht er mit immer weiteren Versprechungen zu kaschieren. Nun machen sich ernstzunehmende Finanzierungslücken bemerkbar. Wie sehen Alternativen zum sozialstaatlichen Status quo aus? von Christian P. Hoffmann A uch wenn gegenwärtige Zustände un­ befriedigend sind, bleiben bessere Al­ ternativen oft unbeachtet. Denn wir mes­ sen die denkbare Alternative nicht an ihren tatsächlichen Vorteilen, sondern an der idealisierten Vorstellung einer perfekten Lösung. Das Bessere ist dann nie gut genug. Weil sie sich an einem angenommenen Idealzustand orientiert, nannte der ameri­ kanische Ökonom Harold Demsetz diese Neigung «Nirwana Fallacy». Wer sich Ge­ danken zu den Sicherungssystemen des heutigen Sozialstaats macht, trifft unwei­ gerlich auf die Nirvana Fallacy: während Der Sozialstaat wurzelt in der frühen Industrialisierung und geht darum von statischen, geschlossenen Wirtschaftsräumen aus. Alternativen zum herrschenden Status quo unterschätzt werden, wird dessen Leistung ständig überschätzt. Das ist eine ebenso provokative wie un­ angenehme These, die der Rechtfertigung bedarf. Der Sozialstaat ist nicht sozial Zuerst: was ist überhaupt ein Sozial­ staat? Unter «Sozialstaat» werden heute, vor allem in den entwickelten Staaten des Westens, kollektive Umverteilungssysteme verstanden, die der zwangsweisen Absi­ cherung aller Bürger gegen Risiken und Lebensereignisse wie Alter, Arbeitslosig­ 20 keit oder Krankheit dienen. Diese Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass Berufstäti­ge auf staatliches Geheiss einen gewissen An­ teil ihres Einkommens in Form von Steuern oder Abgaben, fälschlicherweise oft «Bei­ träge» genannt, in den Staatshaushalt ein­ zahlen, von wo aus diese Mittel umgehend an unterschiedliche Kategorien von Emp­ fängern ausgeschüttet werden. Je stärker der Staat dabei sozialpolitische Um­ vertei­ lungsziele verfolgt, desto weniger steht die Höhe der Ausschüttung in einem Ver­hältnis zur Höhe vorheriger Einzahlungen. Diese kollektiven Umverteilungssys­ teme des Sozialstaats – auch die berufliche Vorsorge wird zunehmend zu einem sol­ chen – sind weder Instrumente der Vor­ sorge noch Versicherung. Da Mittel schlicht umverteilt werden, wird wenig bis nichts gespart, es wird nicht investiert, und damit werden auch keine Zinsen erwirtschaftet. Die «Kunden» des Sozialstaats sichern sich nicht gegen spezifische Zufallsereignisse ab, wie dies bei einer Versicherung der Fall wäre. Sozialstaatliche «Beiträge» sind tat­ sächlich einfach nur Steuern, die umge­ hend dem Konsum anderer Menschen zu­ fliessen. Damit wird auch deutlich: die sozialstaatliche Umverteilung macht eine Gesellschaft nicht wohlhabender, sie führt lediglich zu einer politisch determinierten Verlagerung des Konsums von A zu B. Dabei wäre Sparen, also Konsumver­ zicht, die Voraussetzung für die Akkumula­ tion von Kapital, welches wiederum inves­ tiert werden kann. Aus Investitionen erwächst ein Wohlstandsgewinn. Sparen, Investition, Wachstum – so lautet seit je die Formel für gesellschaftlichen Wohlstand Christian P. Hoffmann ist Assistenzprofessor für Kommunikations­ management an der Universität St. Gallen, Forschungsleiter am Liberalen Institut und Mitherausgeber des Buches «Sackgasse Sozialstaat» (2011). und Fortschritt. Wo Sparen jedoch behin­ dert wird, wird Wohlstand vernichtet – inklusive Zins und Zinseszins. Das syste­ matische Verdrängen von Sparen und In­ vestition durch den Konsum ist eine Eigen­ schaft des Sozialstaats, die zu dessen Scheitern beiträgt. Sie schwächt langfristig die Ressourcenbasis einer Gesellschaft und reduziert ihr Wachstumspotential. Dieser Geburtsfehler des herrschenden Sozialstaates wäre an sich schon gewichtig genug, um Zweifel an ihm zu nähren. Doch dazu kommt sein unvermeidliches Versa­ gen angesichts aktueller Herausforderun­ gen. Der Sozialstaat wurzelt in der frühen Industrialisierung und geht darum von sta­ tischen, geschlossenen Wirtschaftsräumen aus. Er ist nicht darauf angelegt, der dyna­ mischen Veränderung einer auf Innovation basierenden internationalen, arbeitsteili­ gen und eben oft auch mobilen Marktwirt­ schaft zu genügen. Überfordert werden die kollektiven Umverteilungssysteme auch durch die im 19. Jahrhundert noch unvor­ hersehbare demographische Entwicklung. Sieht die Altersstruktur einer Gesellschaft zunehmend aus wie eine auf den Kopf ge­ kehrte Pyramide, sind die Berufstätigen schlicht nicht mehr in der Lage, die Bedürf­ nisse der Transferempfänger zu finanzieren. Spätestens dann erweist sich das staatliche Verdrängen der Vorsorge durch Konsum als verhängnisvoller Irrtum. Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Es ergibt sich ein trostloses Bild: die kollektiven Umverteilungssysteme des So­ zialstaats sind einer zunehmenden Unter­ finanzierung ebenso ausgesetzt wie einem chronischen Überkonsum. Ökonomische Fehlsteuerungen verbinden sich mit schäd­ lichen und moralisch fragwürdigen Fehlan­ reizen. Jeder zur Einzahlung gezwungene Bürger ist letztlich einem handfesten An­ reiz ausgesetzt, möglichst hohe Auszah­ lungen zu erhalten, da geleistete Einzah­ lungen andernfalls verloren sind. Ebenso auf Seiten der Umverteiler: versagt ein auf Umverteilung gepoltes Sozialsystem, so re­ agiert die Politik mit einer Erhöhung der Ausgaben – so etwa im Gesundheitswesen, das dennoch längst auf Leistungsrationie­ rungen zusteuert. Die schon seit Jahren beobachtbaren ständigen Krisen und die endlose Reform­ bedürftigkeit des Sozialstaats sind somit kein Zufall. Sie lassen sich auch durch das Drehen an der einen oder anderen regula­ torischen Schraube (am Ende ist es meist die Steuerschraube) nicht beheben. Erfolgsmodelle aus Chile und Singapur Erstaunlicherweise sind diese Analy­ sen in Fachkreisen ebenso bekannt und verbreitet wie die möglichen Alternativen zum sozialstaatlichen Status quo. Allein, sie haben aufgrund einer weitverbreiteten Realitätsverweigerung kaum eine Chance, in der öffentlichen Debatte Anerkennung zu finden. Sozialpopulistische Tabus und sozialdemokratische Traumtänzereien ver­ hindern noch immer eine nüchterne Bewer­ tung der Lage. Nur vereinzelt finden sich darum heute Beispiele zivilgesellschaftlicher Alternati­ ven zum Sozialstaat – dort jedoch mit durchschlagendem Erfolg. Chile führte be­ reits vor 30 Jahren ein Rentensystem ein, das den Umverteilungsmechanismus durch tatsächliche Vorsorge ersetzt. Arbeitneh­ mer zahlen etwa 10 Prozent ihrer Einkom­ men auf individuelle Sparkonten ein. Die Konten sind persönliches Eigentum des Ar­ beitnehmers und können bei Berufswech­ seln beliebig transferiert werden. Jeder Sparer kann unter verschiedenen Investi­ tions- und Anlageoptionen auswählen, die Verwaltungsgesellschaften haben sich im Wettbewerb zu bewähren. Ein obligatori­ sches Rentenalter gibt es nicht mehr. Jeder Bürger kann sein gewünschtes Rentenalter angeben und die notwendige Höhe und Dauer der Sparleistungen berechnen lassen. Die Ergebnisse sprechen für sich: im Vergleich zum umlagefinanzierten Renten­ system, das noch Einzahlungen in Höhe von 25 Prozent erforderte, sind die Renten­ zahlungen deutlich gestiegen. Durchschnitt­ lich bezieht jeder chilenische Rentner 78 Prozent seines bisherigen Einkommens. Das Vorsorgevermögen der Chilenen ist bis heute auf 180 Milliarden Dollar angewach­ sen, das chilenische Wirtschaftswachstum erzielt seither Spitzenwerte. Kann es da verwundern, dass sich bis heute 99 Prozent der chilenischen Arbeitnehmer freiwillig dem neuen System angeschlossen haben? Die Rente wurde so der politischen Scha­ cherei effektiv entzogen. Ein ähnliches Modell der Gesundheits­ vorsorge wird heute in Singapur prakti­ ziert. Arbeitnehmer zahlen hier 6 bis 8 Pro­ zent ihres Einkommens in individuelle Gesundheitssparkonten ein, die kapitali­ siert werden und Zinsen erwirtschaften. Bedeutende Behandlungs- und Pflegekos­ ten werden im Bedarfsfall aus diesen Kon­ ten bezahlt. Das Vermögen bleibt jedoch in jedem Fall im Besitz des Sparers und kann auch vererbt werden. Hinzu kommen frei­ willige Hochrisikoversicherungen, welche Entschädigungsleistungen im Falle unvor­ hersehbarer schwerer Krankheiten garan­ tieren. Das Einkommensniveau und die Le­ benserwartung des asiatischenKleinstaates entsprechen heute jenen der Schweiz. Sin­ gapurs Gesundheitsausgaben belaufen sich auf 3,5 Prozent des BIP, jene der Schweiz auf 10,7 Prozent. Jedes Jahr lassen sich hun­ derttausende ausländische Patienten im ausgezeichneten Gesundheitssystem Sin­ gapurs behandeln. Ein systematisches Infragestellen des Sozialstaats ist somit nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Die Chancen eines Neuanfangs überwiegen Individuelle und nachhaltige Vorsorge führt zu Sparen und Investition, sie fördert Innovation und Wachstum und beschränkt dabei die Kosten. Private, profitorientierte oder auch genossenschaftliche Versiche­ rungskonzepte ermöglichen zudem mass­ geschneiderte Absicherungen und fördern echte Solidarität. Ein Ende der kollektiven Zwangsumverteilung macht auch Raum und Ressourcen frei für zivilgesellschaftliches Engagement zugunsten der Mitmenschen. Die Übernahme von Eigenverantwortung – individuell oder gemeinschaftlich – für jene Risiken, die schlicht nicht versichert werden können, macht die Menschen mün­ dig, selbständig und selbstbewusst, statt sie zu überforderten und masslosen Klein­ kindern zu degradieren. Im Zeitalter weltweiter Kommunika­ tionsnetze und Handelsströme, in dem Produkte wie Smartphones, Hybridautos, Solarpanels oder Flachbildfernseher die Leis­ t ungen von Arbeitskräften in der Schweiz, China, Kanada, Brasilien, Indien und Deutschland kombinieren, um dann an jedem Ort der Erde erhältlich zu sein, hat sich das nationale Umverteilungsinstru­ mentarium des Sozialstaats überlebt. Des­ sen absehbares Scheitern birgt die Chance Die Chancen eines Neuanfangs überwiegen die Gefahren um ein Vielfaches. für den Durchbruch zivilgesellschaftlicher Alternativen. Ein System echter Vorsorge verbunden mit nachhaltigen Versiche­ rungslösungen und freiwilliger Solidarität kann auch einen fortschreitenden demo­ graphischen Wandel absorbieren und abfe­ dern. Nur ein solches System kann das Ziel sozialer Sicherheit tatsächlich erreichen und dabei Investition, Wachstum, Innova­ tion und Wohlfahrt fördern. Die Chancen eines Neuanfangs überwiegen damit die Gefahren um ein Vielfaches. Der NirwanaFehlschluss hebt sich auf. Was fehlt, ist nur der Mut, vielversprechende Alternativen beherzt anzupacken. � 21 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Märkte verschwinden 6 Staatstitel verkaufen, kaufen, bunkern, garantieren: Regierungen, Zentralbanken und Geschäftsbanken spannen zusammen, um den Markt auszuhebeln. Sie tun dies seit Jahren ziemlich erfolgreich. Wie kommt der Markt wieder zu seinem Recht? von Gunnar Heinsohn I. Einstieg beim Schlussakt, dessen Nachspiel noch offen ist Das Trio aus Regierungen, Zentralban­ ken und Geschäftsbanken probt das grosse Finale. Denn für Schuldpapiere vieler EUStaaten gibt es auf freien Märkten keine Käu­ fer mehr. Bliebe Markt erlaubt, würden für 10 000-Euro-Papiere halt nur 5000 oder 3000 geboten. Schliesslich wissen potentielle Käu­ fer, dass vergreisende Bevölkerungen die Schulden im Namen ihrer staatsbürgerlichen Seite niemals verzinsen oder tilgen können. Das breite Publikum mag glauben, dass Griechen und andere Wackelkandidaten nach erfolgter Entschuldung ihre Staatstitel wieder loswerden, weil durch «Strukturrefor­ men» und strenge EU-Auflagen ihre Konkur­ renzfähigkeit wiederkehre. Die Beteiligten wissen, dass Hellas selbst im reichsten Jahr seiner Geschichte, nämlich 2007, mit 11 Milli­ onen Einwohnern nur 800 internationale Pa­ tente schaffte – gegen die rund 25 000 der 7,8 Millionen Schweizer. Damals hatten die Hel­ lenen ein Durchschnittsalter von 40 Jahren, 2025 werden es noch rentennähere 46 sein – allerdings nur unter der Bedingung, dass die gerade auswandernde Elite zurückkehrt. Nie­ mand wird diesen sympathischen Landstrich als Wettbewerber fürchten müssen. Für das Umgehen des Marktes entwi­ ckelt unser Trio zwei Hauptlinien. Erstens kauft die Europäische Zentral­ bank (EZB) seit Mai 2010 auf dem Sekundär­ markt Staatstitel von Irland bis Griechen­ land, damit die Papiere nicht zu weit unter Nennwert fallen. Europas Geschäftsbanken verkaufen ihr deshalb bis Ende 2011 für ins­ gesamt 200 Milliarden Euro solche Titel – nicht immer zum Nennwert, aber weit über 22 den 25 bis 45 Prozent, die es auf dem Markt gäbe. Wer sich nun empört, dass die Banken Milliardenverluste bei der Zentralbank «ab­ laden», verkennt, dass nicht die EZB, son­ dern am Ende der Staatsbürger diesen Segen beschert. Denn auch die EZB ist eine Bank und keine Behörde, die grenzenlos Geld drucken kann. Sie schöpft für die Geschäfts­ banken frisches Geld gegen hinterlegte Sicherheiten als Pfand. Kann nun eine Ge­ schäftsbank nicht tilgen und erweist sich auch ihr Pfand als wertlos, dann hat die Zen­ tralbank nichts, womit sie die weiter zirku­ lierenden Noten aus dem Umlauf zurückkau­ fen könnte. Sie muss die nicht getilgte Summe dann mit Eigenkapital ausgleichen. Davon aber hat die EZB als Tochter der natio­ nalen Zentralbanken nur 11 Milliarden Euro, die nach einem 50-Prozent-Preisverfall der Papiere über 200 Milliarden einen Verlust von 100 Milliarden bringen. Ersatz für das ausgelöschte Kapital müssen als Eigentümer der EZB die nationalen Zentralbanken bzw. die dazugehörigen Regierungen aufbringen. Beschafft wird es von ihren Finanzministern durch den Verkauf zusätzlicher Schuldpa­ piere. Da die mehrheitlich aber nicht 1:1 ab­ setzbar sind, muss die dadurch zu rettende EZB selbstrettend eingreifen und im Effekt den Preis ihres neuen Eigenkapitals mit un­ begrenztem Ankauf solcher Papiere künst­ lich hochhalten. Damit wären wir bei der zweiten Haupt­ linie angelangt. Die EZB verleiht seit Dezem­ ber 2011 an die Geschäftsbanken Geld zu einem Minizins von 1 Prozent. Statt der übli­ chen Tilgungsfristen von einigen Wochen müssen die Bankeigentümer diesmal erst nach 36 Monaten tilgen, so dass sie mehrere Gunnar Heinsohn ist emeritierter Professor für Sozialwissenschaften an der Universität Bremen. Er hat zahlreiche wirtschaftswissenschaftliche Publikationen verfasst. Die Kerngedanken des 1996 mit Otto Steiger vorgelegten Buches «Eigentum, Zins und Geld» werden seit 2000 im Geldmuseum der Deutschen Bundesbank (Frankfurt am Main) mit den Geldtheorien von Aristoteles, Adam Smith, Bernhard Laum und John Maynard Keynes konfrontiert. Jahresgewinne einfahren können, bevor sie selber zahlungspflichtig werden. Frei nicht mehr 1:1 verkäufliche Staatstitel, deren Er­ träge dabei weiter an sie fliessen, dürfen sie bei der EZB als Pfand fürs neue Geld hinterle­ gen. Nun bringen frisch gekaufte Staatstitel für das Dreijahresgeld zwei bis fünf Prozent, in der Spitze also das Fünffache der Zentral­ bankforderung. Allein am 21. Dezember 2011 borgen sich Geschäftsbanken von der EZB fast eine halbe Billion Euro, die zur Haupt­ waffe gegen den Preisverfall der Staatstitel werden sollen. Die Zinsen für die Geschäfts­ banken haben die Regierungen aber nicht bar parat. Deshalb werden auch sie durch Verkauf zusätzlicher Papiere aufgebracht. Jede Gewinnmilliarde der Banken aus Staats­ papierhandel erscheint also zeitgleich als zusätzliche Schuldenmilliarde bei den Staatsbürgern. Zinsüberweisungen für die von der EZB und ihren nationalen Zentral­ bankmüttern (EZB-System) auf dem Sekun­ därmarkt angekauften Staatstitel werden ebenfalls so aufgebracht. Was diese ihren Fi­ nanzministern an Gewinnen überweisen, stammt aus zusätzlichen Schulden, die von denselben Ministern im Namen der Bürger aufgenommen werden. All dies spielt sich in den luftigen Sphä­ ren der Politik- und Finanzbranche ab. Dem Gunnar Heinsohn, photographiert von Philipp Baer. 23 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Firmensektor, der allein Gewinne und Löhne für Steuern zur Bedienung der Staatsschul­ den erarbeitet, kommt unser Trio Infernale bei diesen Operationen nicht einmal nahe. Und doch landen alle neuen Bürden auf den Staatsbürgerschultern eben dieser privaten Unternehmer und Arbeitskräfte. Die Geschäftsbanken des Trios wissen genau, dass sie ihre Gewinne nicht durch Kredite für Produktions- und Effizienzsteige­ rungen von Unternehmen erlangen sollen, sondern durch reine Preissteigerungen. Sie begreifen mithin, dass sie gegen den alles niederreissenden Preisverfall der Staatstitel eingespannt werden. Das funktioniert streng nach Lehrbuch: Wir Regierungen liefern die Staatstitel als Luftpfand fürs Gelddrucken, und ihr Geschäftsbanken pumpt durch fleis­ sigen Zukauf die Preise dieser Papiere immer wieder auf. Anders geht es nicht. Schliesslich müssen allein die Euro-Politiker im Stagna­ tionsjahr 2012 für 800 Milliarden Euro fri­ sche Titel losschlagen – nicht fürs Tilgen, sondern fürs Um- und Hochschulden. Die Banken, die all das kaufen sollen, können das jedoch nur, wenn sie gleichzeitig Titel über 570 Milliarden für frisches Eigenkapital und alte Umschuldungen an Anleger in aller Welt verkaufen können. Das wiederum gelingt – nicht mehr nur in der EU-Südschiene – nur noch dadurch, dass die überschuldeten Staa­ ten, deren Titel die dabei noch wackliger werdenden Banken kaufen sollen, ihrerseits die von den Banken im eigenen Namen ver­ kauften Schuldtitel garantieren und das EZBSystem diese doppelt faul besicherten Pa­ piere als Pfand für frisches Geld akzeptiert. Die genaue Kenntnis all dieser Trickse­ reien hält die Bankeigentümer nicht ab vom Mitwirbeln bei einer Tarantella, die nur durch Kollaps verlassen werden kann. Denn die Konkurrenz untereinander zwingt sie ins «Billig»-Geld. Sollte ein Bankhaus Züchtig das Geld für ein Prozent verschmähen und auf fünf Prozent warten, während die ande­ ren mit dem Wundersegen Geschäfte ma­ chen, geht es mit Anstand unter. Unter dem Eindruck der zweiten Nullzinsgeldwelle von 2002 aus der US-Fed – nach der uns gleich beschäftigenden 1995er aus Tokio – bringt Citigroup-Chef «Chuck» Prince die neue Ge­ schäftspraxis im Juli 2007 auf den Punkt: 24 «Wenn die Musik der Hyperliquidität ver­ stummt, wird es kompliziert. Aber solange die [Zentralbank-]Kapelle spielt, muss man aufstehen und tanzen. Noch tanzen wir.»1 Die unwiderstehliche Verlockung durch das zentrale Nullzinsgeld treibt die Ge­ schäftsbanken erst in all die Machenschaf­ ten, die nun mit immer neuen Regeln be­ kämpft werden. Ihr Hauptdelikt wird die Nichterhöhung des Eigenkapitals, das paral­ lel zu den neuen Engagements wachsen müsste, aber eben niemals für null zu haben ist. Verwegen ist auch die Zweitverwendung des Pfandes guter Kunden für das Eingehen eigener Kredite. Bis 2007 werden so von Geschäftsbanken weltweit 4,5 Billionen Dol­ lar aufgenommen.2 Während die Regierun­ gen also mit der einen Hand immer mehr Gesetze für immer bessere Feuerlöscher ge­ gen solche windigen Praktiken erlassen, schleudern sie mit der anderen immer mehr Brandbeschleuniger in Form von Nullzins­ geld in die Märkte. Man züchtigt die gefalle­ nen Mädchen, erlaubt den Verführern aber immer schamlosere Angebote. Im aktuellen Schlussakt seit 2008 wird der – 1995 in Japan einsetzende und 2002 in New York beschleunigte – Rhythmus noch heisser. Die grössten Zentralbanken der Welt in Tokio, New York, London, der EU und auch in Bern spielen seitdem ohne Pause in einer globalen Bigband, weil der Preisverfall der Staatstitel immer lauter übertönt werden muss. Nie soll durchdringen, dass es allein überschuldete Staaten sind, die neue Schul­ den eben dieser Staaten garantieren. Denn bei Entweichen der Luft aus ihren Titeln gibt es kein Halten mehr. Sie stecken in den Ei­ genkapitalen von Unternehmen, Banken und Zentralbanken und besichern als Pfänder die meisten Schulden. Sie füllen also die Töpfe für das Glattstellen von Verlusten und sind die DNA des Wirtschaftens. Wenn nach Aus­ steigen irgendeines Grosskäufers der künstli­ che Wert eines 10 000er-Papiers dann doch auf einen Marktpreis von 5000 sinkt, bleiben immer noch die vollen 10 000 für seinen An­ kauf von Geschäftsbanken und Anlegern ge­ schuldet. Niemand aber kann in der Anlage verlorene 5000 durch im selben Moment beim Eigenkapital verlorene 5000 glattstel­ len. Das Wirtschaften zerbricht, und die Su­ che nach unbelastetem Eigentum für das Be­ treiben neuer Zentral- und Geschäftsbanken beginnt von vorn. Doch der Reihe nach. II. Die noch nicht ruch-, aber schon unerlaubt ahnungslosen Eröffnungsakte von 1995 und 2002 Von 1970 bis 1989 springt Tokios Nikkei bis auf 39 000, um bis 1995 auf 15 000 abzu­ sacken. Erst geht es hoch, weil Japans intelli­ gente Menschen Waren produzierten, die man in der ganzen Welt begierig kauft, was einen gewaltigen Cashflow nach Nippon spült, der vor allem in Aktien und Grundstü­ cke geht. Nach deren Preissteigerungen ver­ pfändet man sie für höhere Schulden. Die setzt man für weitere Preissteigerungen ein, bis die Erträge der gekauften Vermögen unter den Zins der für sie aufgewendeten Kredite sinken. Während das als Slow Crash abläuft, reisst die Bank of Japan als zweitgrösste Zen­ tralbank der Welt den Zins in hektischen Schritten von sechs auf ein Prozent herunter. Anders als gewöhnliche Bürger, die den Wechselkurs als Preis des Geldes erfahren, halten die Japaner und ihre westlichen Kolle­ gen den Zins für den Preis des Geldes. Durch seine Absenkung könne man die Unterneh­ men mit Geld regelrecht fluten und so wieder funktionsfähig machen. Doch Zins ist der Preis, den ein Schuldner einem Gläubiger dafür bezahlt, dass dieser sein Eigentum für die Besicherung von Geld belastet, also unfrei macht. Deshalb bekommt nicht derjenige mit dem höchsten Zinsangebot das Geld, sondern derjenige mit dem sichersten Eigentums­ pfand. Je besser das Pfand, desto leichter kann man mit ihm das ausgeliehene Geld aus dem Umlauf ziehen und das für seine Besicherung belastete Eigentum wieder frei machen. Die mit dem besten Pfand machen solche Belas­ tungen also am wenigsten riskant und zahlen deshalb auch den geringsten Zins (prime rate). In einem Crash nun sinken mit den Ei­ gentumspreisen automatisch auch die Pfand­ massen. Die japanischen Zentralbanker erschrecken nach 1995 über ihre Wirkungs­ losigkeit, weil sie den crasherzeugten Pfand­ 1 Financial Times, 10. Juli 2007. 2 Manmohan Singh / James Aitken: The (Sizable) Role of Rehypothecation in the Shadow Banking System. IMF Working Paper, Juli 2010. Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 verlust nicht auf dem Radar haben. Deshalb bringt auch das noch panischere Zinssenken von 1 auf 0,1 Prozent zwischen 1995 und 2002 dem Firmensektor nichts. Erst bei ei­ nem Sechzigstel der Ausgangsgrösse (6 auf 0,1 Prozent) treten sie mit einem Geständnis vor die Menschheit: Ungeachtet 30 Prozent höherer Ausleihungen an die Geschäftsban­ ken im Jahre 2002 wachsen deren Kredite an Firmen nur um rund 3 Prozent. Zugleich zah­ len Weltfirmen bei Tokioter Kredithaien mit 20 Prozent das 200fache des Zentralbank­ zinses. Das können sie, weil im Crash ihre Verpfändungsfähigkeit absinkt, ihr Cashflow für Zinszahlungen aber Weltspitze bleibt. Bei Banken daheim oder im Ausland sind sie des­ halb nicht kreditwürdig, während Haie per definitionem das grössere Risiko durch Wu­ cherzins ausgleichen. Während die Pfandpreise der Unterneh­ men im Crash fallen, bleiben ihre Schulden so hoch wie zuvor. Schuldsummen sind im­ mer fix, während das Eigentum für die Besi­ cherung von Geld sowie für die Besicherung der Kredite für sein Weiterverleihen im Preis immer schwankt. Doch von etwas Ab­ straktem wie Eigentum versteht man ge­ meinhin wenig, obwohl es die Grundlage unseres Wirtschaftens ist. Mir sei deshalb ein kleiner Abstecher in die ökonomische Theorie erlaubt. Viele Bankbeamte und ihre Ökonomie­ lehrer kennen nur Besitz und nennen ihn fälschlich Eigentum, das sie wie das Geld für ein physisches Gut halten. Nur die Eigen­ tumsgesellschaft aber hat – anders als Stam­ mesgemeinschaften und Feudalherrschaften – neben dem Güterbesitz auch unphysische Eigentumsrechte. Mit beidem wird gleichzei­ tig operiert. Während man die Eigentumsti­ tel für die Geldbesicherung aktiviert, werden unbeeinträchtigt davon ihre physischen Be­ sitzseiten genutzt. Ist das Vermögen ein Ge­ treideacker, kann man seine erdige Besitz­ seite einsäen und abernten, aber gleichzeitig mit seiner Eigentumsseite Geld besichern. Geld ist mithin kein Ding, sondern ein Ein­ griffs- oder Einlöserecht in die undingliche Eigentumsseite des Ackervermögens. Besi­ chertes Eigentum darf nicht weitere Besiche­ rungen leisten und auch nicht verkauft oder verschenkt werden. Es ist vorzuhalten für den Fall, dass Geld in Eigentum eingelöst wird oder nicht zurückgezahltes Geld mit ihm aus dem Umlauf gekauft werden muss. Der Eigentümer verliert also vorübergehend die Dispositionsfreiheit über das so akti­ vierte Eigentum. Und es ist dieser wesentli­ che, aber unphysische Verfügungsverlust der geldschaffenden Gläubiger, den die Schuld­ ner mit Zins ausgleichen müssen. Weder beim Schaffen noch beim Weiter­ verleihen von Geld werden Güter herumge­ reicht. Betrachtet man an unserem Acker den Zaun als Eigentumstitel, dann wird nur mit dem Zaun gewirtschaftet, also verpfändet, besichert, verkauft und vollstreckt. Mit der Besitzerde wird lediglich und ewiglich pro­ duziert. Geht es um eine Viehweide, verlässt beim Blockieren ihrer Eigentumsseite für die Geldbesicherung nicht eine einzige Kuh die Wiese des Bankiers. Er verleiht ein Stück Me­ tall mit einer eingeprägten Kuh – wie beim römischen aes rude. Seine lebendigen Tiere jedoch fressen bei ihm und werden weiter bei ihm gemolken. Ein Milch- bzw. Güterverlust, aus dem die Nobelpreisökonomie den Zins erklärt und den sein Schuldner bei Rücker­ stattung der Kuh durch einen Käsezins aus­ zugleichen hätte, fällt überhaupt nicht an. Verzichtet nun eine Zentralbank auf Zins, erreicht sie für pfandlose Unternehmen im Leistungssektor gar nichts, belastet aber ihr für die Geldbesicherung unverzichtbares Eigentum ohne Entgelt. Wie kann dieser Zinsverzicht den Banken nützen, obwohl sie das so geliehene Geld nicht an den Leistungs­ sektor weiterleihen? Beim Normalgeschäft findet eine Geschäftsbank einen Unterneh­ mer als Schuldner, der zur Modernisierung gezwungen wird oder selbst zum Typus krea­ tiver Zerstörer gehört. Kredit erhält er für seine Umrüstung nur, wenn er Pfand stellt, Zins zusagt und seine Bank sich – wiederum gegen Pfand und Zins – Zentralbankgeld zum Weiterverleihen an ihn besorgen kann. Steht zentraler Nullzins am Beginn des Geschäfts, müssen Banken Anlagemöglich­ keiten erst einmal suchen. Die Schuldner aus dem Leistungssektor verschulden sich wegen plötzlich fallender Zinsen nicht ein zweites Mal. Sie verschulden sich, wenn sie es müs­ sen, weil der Firmenpreis durch Innovatio­ nen der Konkurrenz gefährdet ist. Liegt dieser bei einer Milliarde und der Modernisierungs­ kredit bei 100 Millionen, dann machen drei oder fünf Prozent Zins eine Differenz von zwei Millionen. Fällt eine Zinsminderung zu­ fällig genau in den Zeitpunkt des Umrüs­ tungszwanges, dann freut man sich selbstre­ dend über zwei gesparte Millionen. Aber regiert gerade ein höherer Zins, dann zahlt man auch ihn, weil er gegen die zu rettende Milliarde zweitrangig ist. Ein zu hoher Zins dagegen kann schnell und hart zerstören wie im Schlussgalopp zur Weltwirtschaftskrise 1929. Politiker lassen ihn damals hochsetzen, um einige hundert­ tausend Spekulanten vom Leihen für Aktien­ Wenn Staatstitel so gut wie Geld werden sollen, müssen Eigentümer für die Verluste geradestehen. kauf durch Verpfändung soeben teurer ge­ wordener Aktien abzubringen. Für alle Firmen der USA steigen dabei die Zinsen so hoch, dass viele selbst dann nicht mehr investieren kön­ nen, wenn die Konkurrenz sie treibt. Zugleich fahren Regierungen ihre Ausgaben zurück, so dass über Gebühr zinsbelastete Unterneh­ men auch noch Aufträge verlieren. Hätte man stattdessen den Aktienkauf auf Kredit verboten und die Staats­ausgaben konstant gehalten, wäre die Ver­schlimm­besserung der Krise zu einer Hyperkrise unterblieben. Ge­ lernt wird aber nur, dass man in Krisen mit dem glatten Gegenteil von 1929 – also dies­ mal Zinsen runter und Staatsschulden hoch – schon alles richtig mache. Eben diese Gewissheit bringt uns zurück in das Jahr 1995, als Japans Zentralbanker den Zins von 6 auf 0,1 Prozent sacken lassen und doch nur Blasenmärkte bewirken. Alle Investitionen nämlich, deren Erträge von – sagen wir 4 Prozent – bei einem Zentralbank­ zins von ebenfalls 4 Prozent sich nicht loh­ nen, werden bei 0,1 Prozent eine Goldgrube, obwohl sich an ihnen qualitativ nichts än­ dert. Die Banken investieren so lange in Preissteigerungen, wie der Ertrag über dem 25 26 Die Europäische Zentralbank in Frankfurt am Main (Bild: Caro/Trappe) Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Minizins bleibt. Was eine Million kostet und 4 Prozent bzw. 40 000 bringt, hat nach Preis­ verdopplung auf zwei Millionen zwar immer noch einen Ertrag von 40 000, die jetzt aber nur noch zwei Prozent ausmachen. Doch auch die liegen satte zwanzigmal höher als die 0,1 Prozent der Zentralbank. Bis zum Platzen der Blase wird das als Bullenmarkt bejubelt. Dann aber müssen alle verkaufen, bevor selbst ihre «billigen» Schulden höher liegen als die Preise des damit Gekauften. Das Billiggeld ab 1995 aus Japan bewirkt lediglich eine ungebührliche Überhitzung des 2000/01 crashenden Booms, der mit dem Internet im­ merhin eine innovative Basis hat. Hingegen wird der 2008 crashende Boom fast nur durch eine Billiggeldwelle getrieben, die ab 2002 von der Fed erst richtig hochgepeitscht wird. Fängt die Zentralbank eines Landes mit dem Nullzins an, erleiden ausländische Ge­ schäftsbanken Wettbewerbsnachteile. Etli­ che können sich aber durch Filialen in Tokio ab 1995 ebenfalls mit Yen vollsaugen, die in andere Währungen wechseln (carry trade) und nun ebenfalls durch Mitwirken bei Preis­ steigerungen aller Vermögensklassen einen Reibach machen. Das dadurch erzeugte Kurs­ gewitter wird im Dezember 1996 – also 18 Monate nach dem 1-Prozent-Zins in Tokio – durch Fed-Chef Alan Greenspan bemerkt, aber nicht verstanden: «Wie können wir er­ kennen, dass irrationale Übertreibung [exuberance] zur ungebührlichen Aufblähung von Vermögenspreisen führt, die dann uner­ wartet und langfristig abrutschen?» Was sind nun Krisen der gewöhnlichen Art im Unterschied zu staatlich verschärf­ ten? Sie erwachsen daraus, dass Unterneh­ mer immer den Preis ihres Eigentums vertei­ digen. Deshalb sind immer alle Mitglieder einer Branche gezwungen, die Innovationen nachzuvollziehen, die ein Konkurrent vor­ legt, wenn er zum Beispiel von Schreibma­ schinen auf Computer wechselt. Nicht die Beachtung von Angebot und Nachfrage steht dann im Vordergrund, sondern das Überle­ ben des Unternehmens. Der Computer senkt nämlich mit dem Preis der Schreibmaschi­ nen auch den Preis ihrer Herstellerfirmen und zwingt sie in die Umrüstung. Während ihre Preise schon fallen und so ihre Verpfän­ dungsmasse schwindet, hasten sie zu den Banken, bevor ihre Kreditwürdigkeit auf null ist. Die Modernisierer sehen durchaus, dass nach Abschluss der Umrüstung alle Konkur­ renten zusammen schneller und mehr produ­zieren, als verkauft werden kann. Sie müssen also sehenden Auges an der Über­ produktion von morgen mitwirken oder gleich Eigentum einbüssen. Ein Dittes gibt es nicht. Sie haben nur die Wahl zwischen um­ gehendem Verschwinden und der blossen Chance, morgen zu den acht von zehn Com­ puterfirmen zu gehören, die überleben, also die Preissenkungen für das Auslöschen der Überkapazitäten aushalten können. Für ihre Banken gilt dasselbe. Auch sie können nur ahnen, ob ihre Schuldner beim Abbau der Überproduktion untergehen oder die Schuldner der Konkurrenzbank dann keine Computer verkaufen, obwohl auch sie hoch­ modern sind. Anders als in Branchenkrisen verschul­ den sich vor grossen Crashs fast alle Wirt­ schaftszweige gleichzeitig für die Eigentums­ verteidigung. Dabei entsteht eine mit Pfand unterlegte und für Produktivität einzuset­ zende, also keine leistungsferne Geld­ schwemme. Auch sie führt zu Steigerungen der Preise für all die heiss umkämpften Anla­ gen und Arbeiten, die für die Modernisierung unumgänglich sind, nach ihrem Abschluss aber wieder herunter müssen und damit die Krise einleiten. Solche Langbooms folgen auf Neuerungen im Transport, der Informations­ übertragung, bei Werkstoffen und Energie­ trägern. Das gleichzeitige Auftreten mehre­ rer solcher Durchbrüche charakterisiert den Beginn eines Superbooms, der dann in einer Grosskrise endet. Der Internetboom ab 1989, der Millionen Firmen und Milliarden Men­ schen online bringt, liefert dafür mit seinem Crash 2000/01 ein Lehrbuchbeispiel. Auch der Boom von 1922 bis 1929, als für Radios, Telephone und fliessbandproduzierte Autos quer über alle Branchen und Konsumenten Geld geliehen werden muss, steht für eine echte Innova­tionskrise. Während nun Japans Regierung durch Billiggeld im eigenen Land und die Möglich­ keit von globalem Carrytrade bis 2000/01 den Internetboom über angemessene Preis­ steigerungen hinaustreibt, wird an einem an­ deren Ort eine weitere staatliche Bombe der Marktzerstörung gezündet, von der in Tokio allerdings niemand etwas ahnen kann. Im Bau war diese Monsterwaffe seit 1977, als die Carter-Regierung mit dem Community Rein­ vestment Act die US-Geschäftsbanken mit Ausschluss von der Einlagenversicherung bedroht, wenn sie Bürgern ohne Pfand nichts leihen. 19 Millionen Familien mit 60 Millio­ nen Menschen sollen sich damals auch ohne Sicherheiten für Wohneigentum verschul­ den dürfen, um dem Mieterdasein zu ent­ kommen. Diese Axt an der Wurzel des halben amerikanischen Kreditgeschäfts wird 1994 durch Bill Clintons National Homeownership Strategy noch einmal geschärft, weil immer Viele Bankbeamte kennen nur Besitz und nennen ihn fälschlich Eigentum, das sie wie das Geld für ein physisches Gut halten. wieder Banken beim Einhalten der Kredit­ vorschriften erwischt werden und deshalb feste Quoten für das Akzeptieren fauler Schuldner aufgebrummt bekommen. Das Er­ höhen der Ausleihungen erhöht aber das Eigenkapital nicht. Und aus der Not dieser Bilanzverschlechterung soll das globale Wei­ terverkaufen der Hauskredite als Hypothe­ kenpakete befreien. Diese famose Idee für saubere Bücher bekommt Flügel jedoch erst mit Japans 1-Prozent-Zins ab 1995. Die aus gegenseitiger Konkurrenz mit Zentralbank­ geld vollgesaugten Geschäfts­banken nehmen die Subprime-Pakete als Anlagegeschenk des Himmels. Die Käufer gewinnen Vier- oder Fünfprozenter, obwohl sie selbst nur ein Pro­ zent zahlen müssen. Naiv ist dabei niemand. Alle wissen, dass bei Subprimern im Ernstfall nichts zu holen ist. Also versicherten alle ihre nagelneue Anlage­klasse für einen Bruchteil der Gewinnmarge gegen deren Ausfall. Aber beim gleichzeitigen Brand aller Häuser nach US-Zinserhöhungen zwischen 2004 und 2007 nebst Nachforderungen an die eigen­ tumslosen Subprimer verbrennen eben auch die Versicherungen einschliesslich des Welt­ führers American International Group (AIG). 27 Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Richtig heiss aber wird der SubprimeMarkt erst 2002, als die Fed den Realzins auf minus 0,75 Prozent (nominal 1 bis 1,25 Pro­ zent) drückt. Wieder will man nach einem Crash Unternehmen mit Geld fluten, um – so Greenspan – «eine befriedigende Wirtschafts­ leistung zu fördern». Was in Japan scheitert, funktioniert freilich auch in Amerika nicht. Zentralbanken können Firmen nicht helfen. Sie können «Ausleiher letzter Hand» sein, wenn cash-knappe, aber noch eigentumsver­ sehene Geschäftsbanken über Nacht zu kol­ labieren drohen. Zentralbanken kaufen dann in einer Blitzaktion ihr Vermögen oder akzep­ tieren es als Pfand. Dafür fordern sie einen erhöhten Zins, damit nicht auch Geschäfts­ banken anklopfen, die gar keine neuen Kre­ ditnehmer haben. Eben diese Sorge führt Walter Bagehot in Lombard Street [1873] zur Grundregel der Zentralbank: «Für die Kredite ist ein sehr hoher Zinssatz zu verlangen. Das wird die Mehrzahl der Anträge von Häusern verhindern, die sie gar nicht brauchen.» Dass man Geld nicht für null ausleihen darf, muss man damals niemandem einbleuen. Schliess­ lich sind billige Metallplättchen und Scheine nur wertvoll, solange sie durch preisstabiles Eigentum der Emissionsbank besichert sind. Erst diese Eigentumsbesicherung befähigt Bares zum Eigentumskauf. Und da eine Zen­ tralbank beim Geldbesichern Eigentum un­ frei macht, steht ihr für diesen Dispo­si­tions­ verlust nun einmal Zins zu. Verzichtet sie dar­auf, befürchtet Bagehot schon 135 Jahre vor Chuck Prince eine Preisblähungs-Taran­ tella der Banken, die es «gar nicht brauchen». Und genau so kommt es in den USA. Vier Dollar aus der Fed-Zinsnullung für die Ge­ schäftsbanken bringen nur einen Dollar neues Bruttoinlandsprodukt. Dafür steigt bis 2007 die Verschuldung der Geschäftsbanken auf 50 Prozent aller Schulden von US-Unter­ nehmen – gegen normale zehn Prozent im Jahre 1980. Die Schulden dieser Banken ste­ hen 2007 bei 116 Prozent des US-Brutto­ inlandsprodukts – gegen 21 Prozent 1980. Mit nur 5 Prozent der US-Beschäf­tigten von 2007 kassierten US-Banken 40 Prozent der Ge­ winne börsennotierter Unternehmen – durch Preissteigerungen von Aktien, Roh­ stoffen, Immobilien, Kunstwerken etc. Zwischen 2002 und 2004 und dann wieder 28 von 2008 bis 2011 leiht die Fed 29 Billionen Nullzinsdollar an Bankeigentümer. Deshalb entfallen bereits im Juni 2009 von 100 Dollar US-Nettovermögenszuwachs 98 auf blosse Preisblähungen. Der Carrytrade wird noch voluminöser, weil etwa in Indonesien, Bra­ silien oder China die Zentralbanken immer noch korrekte Zinsen fordern und ihre Ge­ schäftsbanken mit Ingrimm sehen, wie die ferne Konkurrenz bei ihnen mit Billiggeld Vermögen aufkauft und Wechselkurse treibt. Schon im Januar 2010 klagt die Bank of China, dass der Westen «durch einen Dollar-Carrytrade von 1,5 Billionen Riesen­ probleme schafft»3 und global die Märkte verfälsche. Die Carrytrader gehören zwar zu Ban­ ken, wollen aber wie jeder Händler nur aus ihrem Einsatz mehr rausholen, dürfen anders als diese jedoch an den Zentralbank­ schalter. Deshalb wächst etwa bei GoldmanSachs zwischen 1998 und 2009 der Ge­­ winnanteil durch Handel von 28 auf 76 Prozent. Nur Greenspans «befriedigende Wirtschaftsleistung» bleibt aus. Da Null­ zinsgeld aber auch in die Steigerung von Rohstoffpreisen fliesst, wird es für die Un­ ternehmen sogar teurer. Dasselbe passierte den soliden Häusle­ schuldnern. Von allen US-Hypothekenneh­ mern sind Ende 2011 nicht nur die Subpri­ mer aus dem Crash von 2008, sondern rund 50 Prozent effektiv unter Wasser, können mit den erzielbaren Preisen also die Eigen­ anteile und Gebühren für den Kauf neuer Häuser nicht aufbringen.4 Während das Bil­ liggeld den Subprimern keine Kreditwürdig­ keit verschaffen kann, zerstört es sie in der Mittelschicht, die wegen der zwangsver­ kauften Pleitehäuser einen wuchtigen Preis­ abschlag auf ihr wichtigstes Vermögen er­ leidet. Es ist nun mal so: Zentralbanken können nach einem Crash für eine «befriedigende Wirtschaftsleistung» mit Zinsnullung nichts ausrichten. Denn sie haben für die nicht mehr verpfändungsfähigen Unternehmen kein Eigentum zur Besicherung frischer Kre­ dite, keine Innovationspatente für Siege ge­ gen die Konkurrenz und keine Spitzenköpfe für das Umsetzen solcher Neuerungen. Sie können den Crash – die notwendige Preis­ senkung zur Auslöschung der Überkapazitä­ ten – durch Zinssenkungen nicht verhin­ dern. Selbst die zwei Prozent reichsten Firmen, die sich über eigene Anleihen dank des Fed-Minizinses mit geringeren Zinsange­ boten rund zwei Billionen Dollar besorgen, sparen nur 0,5 Prozent, die übrigen Amerika­ ner gar nichts.5 Präsident Barack Obama greift die Firmen für das blosse Parken dieser gewaltigen Summe am 7. Februar 2011 als «In­ vestitionsvermeider» an. Er begreift nicht, dass die Firmen mit dem günstigen Zins eine Reserve für den Fall schaffen, dass sie durch Innovationen aus irgendeiner Ecke der Welt in die Umrüstung gezwungen werden. III. Was kommt nach dem Schlussakt? Armut heisst fehlende Verschuldungsfä­ higkeit von Individuen oder ganzen Natio­ nen, bei denen Eigentumsstrukturen fehlen. Der Politikerfehler im Jahre 2008 besteht im Kern darin, für die Crashverluste nicht sämt­ liche Vermögen der Eigentümer der Ge­ schäftsbanken und Versicherer durch schlichten Hilfeverzicht über formale Haf­ tungsgrenzen hinaus in Bewegung zu setzen. Stattdessen überwälzt man ihre Forderungen auf den Staatsbürger. Was bei den Grossen zu holen gewesen wäre, legt nur das Haus Goldman-Sachs offen. Allein seine 860 Partner melden vor dem Crash ein Vermögen von 30 Milliarden Dollar. Goldman verliert an Subprime-Krediten 12,9 Milliarden Dollar, die seine Versicherung AIG nicht aufbringen kann. Ihren Bankrott ver­ hindert die US-Regierung mit 180 Milliarden Dollar für die durch Subprime-Verluste aus­ gelöschten Bankkapitale. Goldman erhält volle 12,9 Milliarden Dollar. Seine 860 Part­ ner müssen nicht von 30 auf 17,1 Milliarden abspecken. Die Deutsche Bank bekommt 11,8 Milliarden, die Schweizer UBS 3,8 Milliarden Dollar. Was man dort gegen die Drohung einer Totalauslöschung gestemmt hätte, wird gar nicht erst getestet. Wie 1995 in Tokio oder 2002 in New York verstehen die Politiker auch 2008 das ökono­ mische System nicht. Das hätte verlangt, dem Leistungssektor aus Unternehmen und Ar­ beitern auch nach Auslöschung ihrer Banken Kredit zu ermöglichen. Dafür hätte man ihnen für einen fixen Zeitraum direkten Zugang DIE AUTOREN Z EIT S CHRIFT FÜR « P OLITIK , W IRT S CHAFT Im ‹Schweizer Monat› vertreten echte Unternehmer Standpunkte mit Substanz und jenseits des Zeitgeistes.» Benedikt Goldkamp, Delegierter des VR von Phoenix Mecano Jetzt abonnieren www.schweizermonat.ch UND KULTUR Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 zum Zentralbanktresen einräumen können, wo sie für Zins und gute Sicherheiten Geld bekommen hätten – das wäre historisch nichts Neues gewesen. Während dieser Frist hätten überlebende Banken ihr Geschäft aus­ geweitet. Vermögende und auch leistende Unternehmen selbst – wie 2010 Siemens und lange davor die grossen Autofirmen – hätten neue Banken aufgebaut. Die grossen Eigentü­ mergruppen hätten Verluste realisiert, wären aber nicht klein geworden. Überwiegend in Staatspapiere und Bankanleihen investierte Lebensversicherungen hätte man sortieren müssen, um ihren Kunden die Pensionen zu sichern. Selbst Ankäufe mit Fristansage von Staatsanleihen auf Sekundärmärkten hätten weniger verheerend gewirkt als ihr jetzt gren­ zenloser Erwerb. Zugleich hätten diese Anlei­ hen besser abgeschnitten als nach der Neu­ verschuldung seit 2008. Denn während 2007 Bankeigentümer 50 Prozent aller Schulden machen, sind es 2009 Regierungen, die welt­ weit sogar 62 Prozent erreichen und die Staatsbürger vieler Nationen über das aus Steuern bedienungsfähige Limit stossen. Gleichwohl wird versprochen, dass die Manipulation der Märkte und Belastungen der Bürger am Ende die Budgets sanieren, der Markt für Staatstitel also wieder frei werde. Und doch gehen zum 2011er Weihnachtswo­ chenende allein in Euroland 412 Milliarden Euro nicht in Aktien, Staatspapiere oder Fir­ menkredite, sondern parken über Nacht als jederzeit verfügbare Liquidität für Minizins bei der EZB. Gewiss, der Deutsche Rentenin­ dex (RexP) zur Messung der Gewinne aus dem Kauf deutscher Staatstitel legt zwischen 1990 und 2011 um 320 Prozent zu. Doch der deutsche Staatsbürger als vermeintlich bes­ ter Schuldner der Welt tilgt niemals. Zwi­ schen 1970 und 2011 steigen seine Schulden von 800 auf 22 000 Euro pro Kopf, während das Durchschnittsalter gleichzeitig von 34 auf 44 Jahre springt. Der US-Staatsbürger als Zweitbester schuldet im selben Zeitraum von 1700 auf 43 000 Dollar hoch und altert dabei von 28 auf 37 Jahre. In Deutschland wird ein Fünftel des Nachwuchses nicht ausbildungs­ reif und braucht Bares von der Wiege bis zur Bahre. In Amerika haben 2011 erstmals Afri­ cans und Hispanics aus überwiegend bil­ dungsfernen Milieus über 50 Prozent der 30 Neu­geborenen. Schon heute schaffen ihre Siebzehnjährigen nur das Schulniveau drei­ zehnjähriger Weisser und zwölfjähriger Jachincos. Strömt die globale Elite nicht mehr in die Neue Welt, wird sie nie wieder schul­ denbedienungsfähig. Wenn Staatstitel von neuem so gut wie Geld werden sollen, müssen die Regierun­ gen dafür sorgen, dass die Eigentümer für die Verluste geradestehen. 2008 überneh­ men sie die Verluste der Grosseigentümer durch weitere Anleihen im Namen der Staatsbürger. Immer nur mehr elegant ge­ stempeltes Papier ohne Besicherung wird jedoch irgendwann als Betrug erkannt. Alles, was ein Anleger – gross oder klein – für sein Geld will, ist Eigentum, das im Preis wenigstens nicht fällt. Wer ihn ob dieses Be­­ gehrens als «Diktator des Marktes» schmäht, zeigt nur, wie gerne er ihm wertlo­ ses Papier tatsächlich mit Gewalt aufzwin­ gen würde. Verbessern wollen die Politiker die Besi­ cherung ihrer Schuldtitel vor allem durch Zugriff auf die Mittelschicht und die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), da in der Unterschicht Substanz fehlt und die Grossen schwer zu greifen sind. Doch die Leister in der Mitte bräuchten für eine «be­ friedigende Wirtschaftsleistung» gerade Ausgabenkürzungen, damit ihr Eigentum nicht weiterhin an den leistungslosen Trans­ fersektor geht. Wird ihnen durch Steuern noch mehr Eigentum genommen, vermin­ dert das nur die «Selbstheilungskraft» der Wirtschaft. Der ersehnte «sich selbst tragende Aufschwung» kann ja nur durch Verpfän­ dung für Neuverschuldungen zur Eigen­ tumsverteidigung erfolgen. Dieser Innova­ tionszwang wird in der Krise nur stärker und der einzige Weg aus ihr heraus. Die Hälfte der 500 «Fortune»-Spitzenfirmen des Jahres 2009 sind Rezessionsgründungen. Ein Ruf nach höheren Steuern für die Sanierung der Staatsschulden bleibt deshalb immer ein Irr­ weg. Allerdings kann auch ihre Senkung nie­ manden zur Verschuldung zwingen, aber doch den von der Konkurrenz in die Innova­ tion Gezwungenen die Kreditaufnahme er­ leichtern. Ausgabenkürzungen treffen den Hilfe­ sektor, weshalb seine Politiker protestieren. Da Sozialpolitik zumeist als Stimmenkauf und nicht als Nächstenliebe praktiziert wird, kommen schnell Mehrheiten gegen Kürzun­ gen und für eine höhere Belastung der ganz starken Eigentümer zusammen. Eine durch­ dachte Politik wird diese aber nicht verfolgen oder ihr Eigentum Unfähigen übergeben. Doch wenn es nach dem Preissturz der Staatspapiere darum geht, unbelastetes Ver­ mögen als Eigenkapital für die Besicherung einer neuen Währung zu finden, schlägt Zentralbanken können nach einem Crash für eine «befriedigende Wirtschaftsleistung» mit Zinsnullung nichts ausrichten. auch den grossen Eigentümern die Stunde, wenn sie ihr Vermögen retten wollen. Das­ selbe gilt für das beim Staatstitelcrash ver­ dampfende Eigenkapital der Banken. Da garantiert nur schon das Ausbleiben staats­ bürgerlicher Hilfe, dass deren Eigentümer zur Vermeidung von Totalverlusten die grossen Löcher aus ihren noch grösseren Vermögen stopfen. Dazu bedarf es nicht der Gewalt, son­ dern der Einsicht. Ein Teil des unbelasteten Eigentums der Bürger und auch des Staates wird als Kapital einer neuen Zentralbank zu­ gewiesen und bleibt so lange unverzinslich und unverfügbar, bis diese aus ihren Gewin­ nen unabhängiges Eigenkapital gebildet hat. Neu wäre das nicht.6 Umgehend stabilisiert das die Lage. Denn der Kreditkontrakt über gutes Geld ist nun mal der Vater des Markt­ kontraktes. Deshalb verschwinden bei staat­ licher Geldzerstörung auch die Märkte. Si­ chern kann man sie für die Zukunft nur, wenn den neuen Zentralbanken das Auslei­ hen allein gegen Zins und gute Sicherheiten erlaubt wird. � 3 Financial Times, 29. Januar 2010. 4 Diana Olick: Half of US Mortgages Are Effectively Underwater. Auf: CNBC.com, 8. November 2011. 5 Binyamin Appelbaum: Stimulus by Fed Is Disappoin­ ting, Economists Say. In: New York Times, 24. April 2011. 6 Vgl. beispielsweise die deutsche Rentenmark nach der Hyperinflation von 1923. Schweizer Monat Sonderdruck Februar 2012 Impressum «Schweizer Monat», Sonderdruck, Nr. 993 92. Jahr, Ausgabe Februar 2012 ISSN 0036 7400 VERLAG SMH Verlag AG HERAUSGEBER & CHEFREDAKTOR René Scheu [email protected] RESSORT POLITIK & WIRTSCHAFT Florian Rittmeyer [email protected] RESSORT KULTUR Michael Wiederstein [email protected] Stage Claudia Mäder KORREKTORAT Roger Gaston Sutter Der «Schweizer Monat» folgt den Vorschlägen zur Rechtschreibung der Schweizer Orthographischen Konferenz (SOK), www.sok.ch. 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