Stefano Recchia, Jennifer M. Welsh (ed.), Just and

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Francia­Recensio 2015/2
Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815)
Stefano Recchia, Jennifer M. Welsh (ed.), Just and Unjust Military Intervention. European Thinkers from Vitoria to Mill, Cambridge (Cambridge University Press) 2013, VI–306 p., ISBN 978­1­107­04202­5, GBP 60,00.
rezensiert von/compte rendu rédigé par
Johannes Kopkow, Freiburg im Breisgau
Aus Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte stammt der berühmte Satz: »Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben1.« Stefano Recchia, Dozent für Internationale Beziehungen an der Cambridge University, und Jennifer M. Welsh, Professorin für Internationale Beziehungen am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, stellen dieses Diktum Hegels in Frage. Im Sammelband »Just and Unjust Military Intervention« untersuchen die vorwiegend aus dem Bereich der Politikwissenschaft stammenden Autoren die Relevanz von klassischen Texten politischer Philosophen und Theoretiker im Hinblick auf die Legitimation militärischer Interventionen. Diesen methodischen Zugang, der im Gegensatz zu Quentin Skinners »Kontextualismus« steht, begründen die Herausgeber damit, dass eine kritische Relektüre der Klassiker durchaus einen Beitrag zum Verständnis von Interventionen, sowohl bezüglich ihrer Ursprünge, als auch ihrer umstrittenen Stellung in der internationalen Gesellschaft, leisten könne (S. 6). Recchia und Welsh verweisen dabei auf die historische Entwicklung von Interventionspraktiken von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert. Angesichts der sicherheitspolitischen Krisen unserer Zeit in Syrien, im Irak und in der Ukraine scheinen Fragen nach Souveränität und Selbstbestimmung aktueller denn je zu sein. Die Beiträge sollen jedoch nicht, wie Recchia und Welsh ausdrücklich betonen, heutige Annahmen über Interventionen bestätigen oder legitimieren, indem vordergründige Gemeinsamkeiten mit den Argumenten frühneuzeitlicher Denker gesucht werden. Vielmehr sollen sie helfen, neu über gegenwärtige Dilemmata nachzudenken und zeigen, wie gesellschaftliche und politische Bedingungen, sowie der normative Kontext die eigenen Antworten beeinflussen können (S. 19f.).
Nach der Einführung folgen zwölf chronologisch angeordnete Kapitel, die einen umfangreichen Einblick in die Positionen ausgewählter politischer Theoretiker zum Thema militärischer Intervention bieten. Dabei stehen im Wesentlichen zwei Fragen im Mittelpunkt: 1) Unter welchen Bedingungen ist eine militärische Intervention legitim? 2) Welche Auswirkungen hat die Intervention sowohl auf den betroffenen, als auch auf den intervenierenden Staat? David Trim geht in seinem Essay (S. 21–47) zunächst auf die Geschichte des Begriffs »Intervention« ein, um anschließend die Entwicklung der Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Bd. 1: Die Vernunft in der Geschichte, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1994, S. 19.
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Interventionspraxis in Europa, beginnend mit der Unterstützung protestantischer Glaubensbrüder durch England im 16. Jahrhundert bis zum Eingreifen der Großmächte im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts zu schildern. »Intervention« existierte demnach als Konzept bereits in der Frühen Neuzeit, auch wenn es sich dabei nicht um »humanitäre Interventionen« im heutigen Sinne handelte. Trim weist außerdem darauf hin, dass durch die Westfälischen Verträge keineswegs ein System souveräner Staaten geschaffen und folglich auch keine Norm zum Nichteingreifen etabliert wurde (S. 39). Ariel Colonomos widmet sich im zweiten Kapitel (S. 48–69) den frühneuzeitlichen Denkern Alberico Gentili, Francisco Suarez, Hugo Grotius sowie Emerich de Vattel. Der Vergleich der verschiedenen Positionen ermöglicht es ihm, Grenzen und Widersprüche des gegenwärtigen Diskurses über den präventiven Einsatz von Gewalt zu beleuchten. William Bain untersucht dann in seinem Kapitel, wie der Begründer der spanischen Spätscholastik und Schule von Salamanca, Francisco de Vitoria (S. 70–95), die europäische Herrschaft über die indigene Bevölkerung Amerikas mit deren Schutz vor Unterdrückung legitimierte. Obwohl er ihnen durchaus ein Recht auf politische Selbstbestimmung zugesteht, argumentiert er, dass es eine christliche Verpflichtung gebe, gegen Praktiken wie Kannibalismus und Menschenopfer vorzugehen. Das Für und Wider von humanitären Interventionen in den Werken von Hugo Grotius, Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf steht dann im Zentrum des Beitrags von Richard Tusk (S. 96–112). Samuel Moyn lenkt im fünften Kapitel (S. 113–131) die Aufmerksamkeit auf John Lockes Darstellung des biblischen Krieges zwischen Jiftach und dem König der Ammoniter. Demnach benutzt Locke die Erzählung aus dem Buch der Richter als Parabel, welche die schwierige moralische Entscheidung der Begründung des Casus Belli veranschaulichen soll. Moyn weist außerdem darauf hin, dass Locke ein Widerstandsrecht gegen eine von der Bevölkerung als ungerecht empfundene Militärintervention postulierte. Jennifer Pitts betont in ihrem Kapitel (S. 132–153), dass die gegenwärtige internationale Ordnung zwar auf den Prinzipien von Souveränität und Nichteinmischung aufgebaut sei, die der Schweizer Natur­ und Völkerrechtler Emerich de Vattel im 18. Jahrhundert formulierte, es aber weiterhin zu viele verheerende Interventionen mächtiger Staaten gebe, die ihrerseits dazu beitragen würden, die Regime despotischer und korrupter Herrscher zu stärken. Während der anschließende Essay von Edwin van de Haar (S. 154–175) auf die Bedeutung von wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen für Wandel in den Arbeiten der schottischen Aufklärer David Hume und Adam Smith eingeht, widmen sich Pierre Hassner (S. 176–195) und Andrew Hurrel (S. 196–219) den überwiegend interventionskritischen Argumenten von Jean­Jacques Rousseau, Immanuel Kant und G. W. F. Hegel. Obwohl Edmund Burke (S. 219–236) sich für militärische Interventionen während der Französischen Revolution aussprach und Amtsmissbrauch im britischen Kolonialreich anprangerte, stellte er nach Jennifer Welsh dennoch die Universalität westlicher Werte in Frage. Die Beiträge von Stefano Recchia zu Giuseppe Mazini (S. 237–262) und Michael Doyle zu J. S. Mill (S. 263–287) bilden den Abschluss des Bandes und behandeln Interventionen im Kontext europäischer Unabhängigkeitsbewegungen in Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/
multinationalen Staaten und Imperien des 19. Jahrhunderts. Recchia und Doyle problematisieren das schwierige Verhältnis zwischen einer Position der Nichteinmischung und einem Bekenntnis zu Menschenrechten, demokratischen Institutionen und der Verhinderung von staatlich sanktionierter Gewalt gegen Zivilisten.
Der Sammelband »Just and Unjust Military Intervention« stellt die erste epochenübergreifende Darstellung der verschiedenen Positionen klassischer Denker in Bezug auf Militärinterventionen dar. Allerdings wirft der gewählte methodische Ansatz einige Fragen auf. Obwohl die Herausgeber in ihrer Einleitung das Problem der historischen Kontextualisierung thematisieren, unterschätzen sie dennoch, wie wichtig der Kontext für das Verständnis der Argumente frühneuzeitlicher Denker ist. Der Anspruch, klassische Werke für heutige Debatten nutzbar zu machen, erscheint zuweilen als überzogen und birgt die Gefahr von ahistorischen Analogien. Außerdem lässt sich die Behauptung hinterfragen, dass die ausgewählten Theoretiker alle einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung und die Gestalt der heutigen internationalen Gesellschaft hatten. Was die handelnden Akteure von Interventionen angeht, so wird von Fürsten, Souveränen und Staaten gesprochen, ohne näher auf das Problem von frühneuzeitlicher »Staatlichkeit« einzugehen. Aus globalgeschichtlicher Perspektive ließe sich einwenden, dass die Darstellung der Argumente europäischer Denker den Blick auf die multizentrische Welt des 19. Jahrhunderts verstellt. Christopher Bayly etwa zog die Vorstellung von der Führungsrolle europäischer Ideen und Ressourcen bewusst in Zweifel2. Das große Verdienst des Bandes, erneutes Nachdenken über Legitimation und Folgen militärischen Eingreifens gefördert und einen Beitrag zu konzeptionellen Überlegungen geleistet zu haben, wird durch die Kritik aber keineswegs geschmälert.
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Christopher Bayly, Birth of the Modern World, 1780–1914, Malden, MA, Oxford 2004.
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