Ein simulationsorientierter Ansatz zum computerunterstützten Training von Ärzten im Schockraummanagement: POSITIV U. Scheit 1, O.J. Bott1, K. Dresing2, D. P. Pretschner1, K. M. Stürmer2 Institut für Medizinische Informatik, TU Braunschweig, Fallersleber-Tor-Wall 22, 38100 Braunschweig 2 Klinik für Unfallchirurgie, Plastische und Wiederherstellungschirurgie des Klinikums der Georg-August-Universität Göttingen 1 Zusammenfassung Vor allem junge Ärztinnen und Ärzte, die nur gelegentlich mit der Versorgung Polytraumatisierter konfrontiert werden, wünschen Trainingsmöglichkeiten, um die Behandlung eines Schwerverletzten im Vorfeld der Realsituation trainieren zu können. Im Rahmen einer Kooperation mit der Klinik für Unfallchirurgie, Plastische und Wiederherstellungschirurgie des Klinikums der Georg-August-Universität Göttingen, welche die medizinischen Inhalte sowie das Anforderungsprofil definiert, und dem Institut für Medizinische Informatik der TU Braunschweig wird das Lehr- und Lernsystem POSITIV (Polytrauma Simulations-Training interaktiv und verständlich) zum Training von Ärzten im Schockraummanagement entwickelt. POSITIV basiert auf MOSAIK-M, einem objektorientierten Ansatz zur Modellierung, Simulation und Animation von Informations- und Kommunikationssystemen in der Medizin. Während einer Sitzung mit POSITIV steuert der Arzt als Entscheidungsträger im Schockraummanagement die simulierte Versorgung eines polytraumatisierten Patienten. Dabei werden multimedial dargebotene Informationen zum Fall als Entscheidungsgrundlage dargeboten. Die Entscheidungen werden bewertet und dienen der Kontrolle des Lernerfolgs. Fragestellung Die Qualität der klinischen Versorgung des Schwerverletzten wird in besonderem Maße durch das Schockraummanagement des verantwortlichen Arztes bestimmt. Auf der Basis verschiedener Informationen zum Verletzten muß der Arzt schnell und kompetent die weiteren diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen einleiten [1]. In Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung nimmt die Versorgung polytraumatisierter Patienten eine sekundäre Stellung ein. Das hat zur Folge, daß Ärzte dort in der Versorgung Schwerverletzter bzw. im Schockraummanagement wenig trainiert sind. Auch während der Ausbildung wird der angehende Arzt (Unfallchirurg, Chirurg u.a.) erst später alleinverantwortlich die Versorgung und das Management des Schwerverletzten übernehmen. Es besteht der Bedarf nach Lehr- und Lernsystemen, die den ärztlichen Mitarbeiter in das Schockraummanagement bei der Behandlung polytraumatisierter Patienten einführen. Der Versuch, an Entscheidungsbäumen (Algorithmen) die Ve rsorgung und das Management von polytraumatisierten Verletzten zu trainieren, wird häufig gefordert [2]. Die Autoren sind der Meinung, daß die Ablaufdiagramme in der realen Situation im Schockraum nicht parat oder zu komplex sind. Es muß versucht werden, den Arzt möglichst wiklichkeitsnah zu trainieren. Das System POSITIV (Polytrauma SimulationsTraining interaktiv und verständlich) ermöglicht dies, basierend auf der Simulation konkreter Fälle, wobei der Lernende die Simulation durch seine Entscheidungen steuert. MOSAIK-M, ein Werkzeug zur Modellierung und Simulation von Informationssystemen POSITIV wird auf der Basis von MOSAIK-M entwickelt (s. Abb. 1), einem Vorgehensmodell und Werkzeug zur Modellierung, Simulation und Animation von Informations- und Kommunikationssystemen in der Medizin [3]. Der Begriff Informationssystem wird in MOSAIK-M definiert als das Teilsystem eines sozio-technischen Systems, in dem alle informationsverarbeitenden Prozesse und die an ihnen beteiligten menschlichen und maschinellen Handlungsträger in ihrer informationsverarbeitenden Rolle enthalten sind. In MOSAIK-M ist diese Definition in entsprechende Beschreibungsmittel in: Muche, R.; Büchele, G., Harder, D.; Gaus, W. (Hrsg.): Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie GMDS '97. 42. Jahrest agung der GMDS in Ulm, September 1997., München: MMV Medizin 1997, S. 159-164 1/5 zur Modellierung von Informationssystemen umgesetzt worden. Neben der Beschreibung der Aufbauorganisation und der zugrundeliegenden Informationsstrukturen erlaubt MOSAIK-M die Beschreibung der Ablauforganisation auf der Grundlage hierarchischer Petrinetze. Die resultierenden Modelle können simuliert, die Simulationsläufe mittels einer Animationskomponente visualisiert werden. Auch die Behandlung polytraumatisierter Patienten in der Schockraumphase kann bei Konzentration auf die dem Schockraummanagement zugrundeliegenden Informationsprozesse als Informationssystem im Sinne der genannten Definition verstanden und mit MOSAIK-M modelliert werden. Die Modellbildung schafft hierbei ein vereinfachtes Abbild des interessierenden Realweltausschnitts, in diesem Fall das des Notfalloperationsbereichs. Mit Hilfe der Simulation können die dynamischen Aspekte des Schockraummanagements dargestellt werden. Um MOSAIK-M für die Entwicklung eines Lehr- und Lernsystems heranzuziehen, sind allerdings einige Erweiterungen insbesondere im Zusammenhang mit der Integration und Präsentation multimedialer Informationen, sowie der Beschreibung und interaktiven Umsetzung von Entscheidungssituationen notwendig. Die Architektur von POSITIV Ein Lehr- und Lernsystem besteht aus einer Wissenskomponente und einer Analysekomponente [4]. POSITIV umfaßt zudem ein Autorensystem zur Ergänzung der Wissenskomponente (s. Abb. 1). Die Wissenskomponente von POSITIV umfaßt eine Grundmenge von Standardprozeduren und eine Sammlung von Fallbeispielen. Die Menge der Standardprozeduren definiert sich aus abgrenzbaren diagnostischen und therapeutischen Verfahren der Behandlung von Schwerverletzten, die einmal veranlaßt Routinegemäß durchgeführt werden. Ein Beispiel ist das Messen des arteriellen Blutdrucks. Ein Fallbeispiel definiert eine sinnvolle Abfolge dieser Standardprozeduren für einen konkreten Fall und beinhaltet Entscheidungssituationen für den Lernenden, die der Autor anhand der klinischen Erfahrung und der wissenschaftlichen Erkenntnisse unter Angabe richtiger, möglicher und falscher Alternativen hinterlegt. Es umfaßt zudem Informationen über den sich verändernden Zustand des Patienten, z.B. kontinuierliche Werte über den Blutdruck oder das EKG. Die Fallbeispiele bilden den primären Lerngegenstand des Systems, die Standardprozeduren den sekundären. POSITIV: Polytrauma Simulations-Training interaktiv und verständlich Beide Analysekomponente Wissenskomponente Autorensystem Interaktionskomponente Fallbezogene Netze Fall-, Prozedureditor Bewertungskomponente Prozedurbezogene Netze Fall-, Prozedurbrowser Multimediale Falldaten Interaktionseditor Simulationskomponente Modellkomponente Simulationssteuerung Aufbauorganisation Ablauforganisation Informationsstrukturen Werkzeugkomponente Netzeditor InformationssystemBrowser Animationseditor Bestandteile der Wissenskomponente werden in MOSAIK-M mittels spezieller Petrinetze beschrieben. Ein solches Petrinetz beschreibt für einen menschlichen oder maschinellen Akteur einen Handlungsablauf und definiert dessen Auslöser, sowie Eingangs- und Ausgangsparameter. Entsprechend der Zweiteilung MOSAIK-M: Modellierung, Simulation und Animation von Informations- und Kommunikationssystemen in der Medizin der Wissenkomponente Abb. 1: Architektur von POSITIV, aufbauend auf MOSAIK-M in POSITIV wird in Prozedurbezogene Netze und Fallbezogene Netze unterschieden. Die Prozedurbezogenen Netze bilden eine Bausteinbibliothek und können bei der Integration weiterer Fallbeispiele verwendet werden. Hierbei beschreibt der Autor basierend auf einem Fallbeispiel die Reihenfolge der Standardprozeduren und definiert die Entscheidungssituationen für den Lernenden (s. Abb. 2). Des weiteren werden die Ergebnisse der Standardprozeduren für das Fallbeispiel als multimediale Objekte zur Präsentation während der Simulation hinterlegt. 2/5 Durchführung und Analyse einer Sitzung mit POSITIV Aufgabe der Analysekomponente ist die Ermittlung und Bewertung des Wissensstandes des Lernenden. In POSITIV werden einzelne Sitzungen zur Bewertung herangezogen. Der Ablauf einer Sitzung beginnt mit der Auswahl eines Falles, der durch einführende Informationen vorgestellt wird. Die Aktivitäten sämtlicher Beteiligten des Schockraumteams werden nun schrittweise simuliert. Ausgenommen ist der für das Schockraummanagement verantwortliche Arzt, dessen Rolle der Lernende einnimmt. Dieser muß anhand der bis her bekannten Informationen über den Patienten dessen Zustand interpretieren und das weitere Vorgehen festlegen, d.h. er wird in unregelmäßiger Folge zu Entscheidungen oder Interpretationen aufgerufen oder greift durch Aktivierung von Standardprozeduren selbst in die Simulation ein z.B. in Folge eines bedrohlich veränderten Vitalparameters. Durch die Entscheidung zur Durchführung einer oder mehrerer Maßnahmen initiiert der Lernende deren Ausführung, d.h. die entsprechenden Prozedurbezogenen Netze werden vom Simulationssystem interpretiert. Die Ausführung der Maßnahmen wird zeit- und mitarbeiterorientiert dargestellt. Handelt es sich um diagnostische Maßnahmen, präsentiert das System dem Lernenden deren Resultate, z.B. Laborwerte, Röntgenbilder etc. in Form multimedialer Dokumente. Spezifikation Die Beschreibung einer Entscheidungssituationen in eiAutor Bausteine des Autorensystems Prozedurbezogene Netze Multimediale Falldaten Interaktionskomponenten Autorensystem nem Fallbezogenen Netz umfaßt die Entscheidungsart (Auswahl einer Interpretation oder einer Maßnahme, sowie Kopplung beider Arten), den Entscheidungstyp Auswahl wählt Fallbezogenes Netz (1 aus n, m aus n), die möglichen Entscheidungsfehler mit Benutzer interpretiert Bewertung und Fehlerkommentar sowie ggf. weiterführen- Schockraumagiert über Multimediale Falldaten simulation Eingangs- präsentiert Interaktionskomponente parameter ruft auf Simulation Kontrolle kann der Lernende aufgefordert werden, den Zustand des Patienten zu interpretieren. Er muß nun aus einer Liste von Alternativen eine mögliche Interpretation auswählen und Bewertung diese mit der zugehörigen Befundkombination in Bezie- fließt ein in hung setzen. Wählt der Lernende eine oder mehrere fal- fließt ein in Erläuterung der korrekten Entscheidung. Beis pielsweise Auswertungskomponente steuert Beurteilung Gesamtbewertung de Informationen zur Entscheidungsunterstützung und zur Einzelbewertung sche Möglichkeiten aus, wird er darauf aufmerksam ge- Abb. 2: Zusammenspiel der Komponenten von POSITIV macht. In einem Dialogfenster wird begründet, warum seine Auswahl nicht korrekt ist. Gerade die Wirkung dieser unmittelbaren Rückmeldung ist entscheidend für den Erfolg des Lehr- und Lernsystems [5]. Der Lernende muß einen Entscheidungsschritt so oft wiederholen, bis er sich der Situation angemessen verhalten hat. Unter didaktischen Gesichtspunkten wäre es nicht sinnvoll, einen einmal falsch eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen und erst mit Verzögerung auf den Fehler aufmerksam zu machen. Dies würde zur Verunsicherung und Frustration und zum Einprägen fehlerhafter Vorgehensweisen führen, da der Kontext der fehlerbehafteten Entscheidung durch die Verzögerung nicht mehr im notwendigen Umfang präsent ist. Zur Bewertung des Lernfortschritts werden bei jeder falschen Auswahl Fehlerpunkte gesammelt. Zum Abschluß der Simulation eines konkreten Falls steht eine Leistungsstatistik zur Verfügung, in der die Fehler quantitativ und auch qualitativ bewertet werden. Zudem steht ein Protokoll über den gesamten Übungsverlauf zur Ve rfügung. 3/5 Ergebnisse An Programme für den computerunterstützten Unterricht stellen sich folgende Anforderungen [6]: 1. Das Programm muß viel Interaktion enthalten, um den Lernenden aktiv einzubeziehen. Der Computer als Wissensvermittler muß sich deutlich von einem Buch unterscheiden. 2. Das assoziative Denken soll gefördert werden, so daß aus bereits bekannten neue Zusammenhänge deutlich werden. 3. Das Programm sollte auf unterschiedliche Lerntypen abgestimmt sein, so daß ein rasch Lernender nicht unterfordert oder ein langsam Lernender nicht überfordert wird. 4. Es muß so gestaltet sein, daß es auch nach mehrmaligem Benutzen für den Lernenden noch interessant ist. 5. Das Programm muß den Lernweg beurteilen. 6. Es muß es jederzeit möglich sein, das Programm zu unterbrechen. Beim Wiedereinstieg an dieser Stelle sollte der Lernende einen Überblick über den Kontext erhalten. POSITIV erfüllt diese Anforderungen. Durch häufige Konfrontation des Lernenden mit Entscheidungssituationen innerhalb des Simulationslaufs ist ein hohes Maß an Interaktion gewährleistet. Die Integration multimedialer Dokumente dient der Darstellung und Verdeutlichung der Situation. Zudem können hierdurch reale Falldaten (z.B. Fotos, Röntgenbilder, EKG-Aufzeichnungen, Herztöne etc.) zu Interpretationsaufgaben herangezogen werden. Des weiteren steht neben der zeitorientierten textuellen Darstellung der Aktivitäten des medizinischen Personals ein bewegtes Animationsbild der Abläufe im Schockraum zur Verfügung. Verschiedene Fallbeispiele, zum einen Fälle mit Vorgehen nach einem Behandlungsstandard, oder auch Fälle, die ein davon abweichendes Vorgehen erfordern, stellen unterschiedliche Schwierigkeitsgrade zur Verfügung und gestalten das System sowohl für den angehenden als auch den erfahrenen Arzt interessant. Es ist dem Lernenden möglich, vorab auszuwählen, ob er eine detaillierte oder eine verkürzte Darstellung der Prozedurbezogenen Netze wünscht. Mit der detaillierten Darstellung kann der Lernende seine Kenntnisse über Behandlungsprozeduren vertiefen bzw. verfestigen, oder er beschränkt sich bei der verkürzten Darstellung allein auf die Entscheidungssituationen des Einzelfalls. Nach Abschluß der Simulation eines Falls kann der Lernende eine Beurteilung über seinen Lernweg abfragen. Er erhält neben dem Simulationsprotokoll seiner Sitzung eine Liste seiner Entscheidungen mit ihrer Bewertung. Der Lernende kann auch vor Beendigung der Simulation das Programm jederzeit abbrechen. Beim Wiedereinstieg stehen ihm Information über den bisherigen Ablauf und über alle Zwischenergebnisse zur Verfügung. Diskussion POSITIV ist ein Lehr- und Lernsystem zum Training des Arztes im Schockraummanagement. Primäres Lernziel ist die Festigung und Anwendung bereits erlernten Wissens um Standardprozeduren und deren Anwendung bei der Versorgung polytraumatisierter Patienten. Es dient zur Ergänzung und sollte zusätzlich zur Hospitation im Schockraum in Kombination mit weiteren Lehr- und Lernmitteln, wie z.B. Büchern, Zeitschriften, Seminaren und Videos eingesetzt werden. Ein multimediales Lehr- und Lernsystem mit Simulations- und Animationskomponenten ist für das Training des Schockraummanagements besonders geeignet, da die Behandlungsabläufe realistisch dargestellt werden können. Es ist dem Lernenden möglich, sich in die Situation hineinzuversetzen. Er ist gefordert, auf der Basis realer Daten Entscheidungen zu treffen und erhält die Ergebnisse der veranlaßten Vorgänge als Bestätigung und Grundlage weiterer Entscheidungen. Die Darstellung komplexer Handlungsabläufe und Verdeutlichung der Auswirkungen getroffener Entscheidungen ist in dieser interaktiven Form mit dem Papiermedium oder durch Filme nicht möglich. 4/5 Literatur 1. Stürmer, K.M., Dresing, K.: „Schockraummanagement für den Schwerverletzten“, in: Nast-Kolb, Waydas, Schweiberer (Hrsg.): Hefte zu „Der Unfallchirurg“, Springer Berlin, Heidelber, Nr. 253, 1996, S. 38-66. 2. Nast-Kolb, D., Waydhas, C., Kanz, K.G., Schweiberer,L.: „Algorithmen für das Schockraummanagement beim Polytrauma“, in: „Unfallchirurg“, Nr. 97, 1994, S. 292-304. 3. Bott, O.J./ Penger, O.-S./ Terstappen, A.: „MOSAIK-M - Ein Ansatz zur Modellierung, Simulation und Animation von Informations- und Kommunikationssystemen in der Medizin“, in Pretschner, D.P. (Hrsg.): Medizin-Informatik, Hildesheimer Informatikberichte 7/96, S. 27-35. 4. Tober, K.: „Autorensysteme und Hypertextsysteme: Zwei Modelle für den Einsatz des Computers im Lernbereich“ in Seidel, C. (Hrsg.): Computer Based Training, Göttingen: Verlag für angewandte Psychologie 1993. 5. Seidel, C.: „Psychologische Gesichtspunkte beim computerunterstützten Lernen“ in Küffner, H./ Seidel, C. (Hrsg.): Computerlernen und Autorensysteme, Stuttgart: Verlag für angewandte Psychologie 1989. 6. Janotta, H.: „CBT - Computer-Based-Training in der Praxis“ Landsberg/Lech: Verlag mo derne Industrie 1990 5/5