DIEPRESSE.COM //// 20. OKTOBER 2013 0 DEBATTE 47 Culture Clash FRONTNACHRICHTEN AUS DEM KULTURKAMPF Pardon wird nicht gegeben. Über den wenig sichtbaren, aber doch signifikanten Culture Clash unserer Tage rund um Mitleid und Vergebung. VON M I C H A E L P R Ü L L E R Z Welche Konsequenzen werden nach dem Tod hunderter Flüchtlinge vor Lampedusa gezogen? Alberto Pizzoli/picturedesk.com gierungen verständlicherweise nach europäischer Solidarität gerufen und betont, dass wir immerhin nicht allein alle ankommenden Schutzsuchenden versorgen können. Mittlerweile sind wir in die Mitte der EU gerückt und auch jetzt sagt die Innenministerin, dieses System sei in Ordnung und es gäbe keinen Änderungsbedarf. Vorschläge für Auswege aus der Misere: 1) Das absurde, teure und Leid produzierende Dublin-System ändern. Es braucht eine solidarische Aufteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Länder entsprechend einem Verteilungsschlüssel nach Einwohnerzahl und Bruttoinlandsprodukt. Die größeren EU-Länder sollen – ihrer Bevölkerungsgröße entsprechend – mehr Flüchtlinge aufnehmen als kleinere, EU-Länder mit einem höheren Bruttoinlandsprodukt etwas mehr als jene mit einem niedrigen. Mit einem klaren Verteilungs- ihre Stimme zurück. Der Zusatzartikel auf derselben Seite erklärt jedoch nicht ansatzweise, „wie man im Ernstfall reagieren soll“, um diese Stimme gar nicht erst zu verlieren. Statt zu zitieren, dass es nicht immer ratsam ist, sich zu wehren, und anzumerken, dass eine Anzeige „gut überlegt sein sollte“, braucht frau viel mehr praktische Ratschläge, wie man sich in (semi-)bedrohlichen Situationen verhalten kann und sollte. Links zu Selbstverteidigungskursen, in denen man lernt, sich zu trauen(!), sich richtig zu wehren, wären ein Anfang. Genauso wie die simple Idee, auf dem dunklen Heimweg ein fiktives Telefonat mit dem Freund, „der einem entgegenkommt“, zu führen, oder der Tipp, bei Belästigungen im U-BahnGedrängel einfach die Stimme zu erheben und laut zu sagen: „Entschuldigen Sie, gehört die Hand an meinem Hintern Ihnen?“ Von einem Artikel zu diesem Thema hätte ich mir diese laute Stimme er- schlüssel gibt es für manche EU-Länder keinen Anreiz mehr, wie jetzt, sich an anderen Ländern abzuputzen und Flüchtlinge durch Nichtbetreuung und Verelendung zum Weiterwandern in ein anderes EU-Land wie Deutschland oder Schweden zu zwingen. 2) Solange alle Wege für eine legale Einreise in die EU für Verfolgte und Flüchtlinge versperrt sind, werden diese weiterhin auf bezahlte Fluchthelfer und Schlepper angewiesen sein. Die Flüchtlingsabwehrpolitik der EU in den Zurück zur Praxis vor 2003: Asylanträge sollen im Ausland gestellt werden können. vergangenen Jahren hat das Schleppergeschäft erst groß gemacht. Will man das ändern, muss man zu einer Praxis zurückkehren, die bis 2003 ganz normal war: Bis dahin konnten Verfolgte wartet, und nicht eine, die einen leise und angsterfüllt zurücklässt. MMag. Katharina Moser, 1150 Wien Tatzeitnahe Untersuchung Teresa Schaur-Wünsch schreibt in ihrem Artikel: „,Der Wunsch der Opfer nach Gerechtigkeit lässt sich im Strafrecht nicht verwirklichen.‘ Hier gehe es nur um Beweise.“ Als Leiterin der seit fünf Jahren bestehenden klinisch-forensischen Untersuchungsstelle Graz, welche vom Ludwig Boltzmann Institut für klinisch-forensische Bildgebung (LBI-CFI) gemeinsam mit der Medizinischen Universität Graz betrieben wird, kann ich sagen, dass sich in vielen solchen Fällen Gerechtigkeit durchaus verwirklichen lässt, wenn die Möglichkeit zur richtigen Beweis- und Spurensicherung durch eine klinischforensische Untersuchung gegeben ist. Die klinisch-forensische Untersuchungsstelle des LBI-CFI ist derzeit in bei österreichischen Botschaften im Ausland einen Asylantrag stellen. Das Formular und die Dokumente wurden an das Bundesasylamt nach Österreich geschickt. Nach einer Kurzüberprüfung hat das Asylamt eine Einschätzung an die Botschaft geschickt und wenn die Asylgewährung wahrscheinlich war, wurde ein Visum für die legale Einreise zwecks Asylverfahrens ausgestellt. Abhängigkeit von Schleppern. Schafft man als EU eine legale Einreisemöglichkeit für Verfolgte, beendet man auch die Abhängigkeit der Flüchtlinge von Schleppern. Die EU-Vertretungsbehörden im Ausland wären für die Einbringung von Anträgen zuständig. Die Betroffenen müssten dann nicht mehr das gesamte Hab und Gut ihrer Familie verkaufen, um hohe Summen an Schlepper zu zahlen, und sich dann auch noch auf lebensgefährliche Wege zu begeben. Es ist möglich und notwendig, das Massensterben im Mittelmeer zu beenden. Das liegt (auch) in unserer Hand. Österreich die einzige forensische Untersuchungsstelle, die einen niederschwelligen Zugang für Menschen jeden Alters bietet, die von körperlicher und sexueller Gewalt, Kindesmissbrauch oder Kindesmisshandlung betroffen sind. Die Untersuchungsstelle bietet den Opfern eine tatzeitnahe gerichtsmedizinische Untersuchung (24 Stunden täglich, auch am Wochenende) sowie eine umfassende Dokumentation von Verletzungsbefunden, welche als Basis für gerichtsmedizinische Sachverständigengutachten dienen und auch die Beweissicherheit im Strafverfahren erhöhen. Die Untersuchung ist für die Opfer kostenlos, und eine Anzeige ist keine Voraussetzung. Vor allem bei Sexualdelikten ist eine Untersuchung innerhalb der ersten 72 Stunden nach dem Ereignis dringend notwendig, damit wertvolle Spuren, die den Täter identifizieren und überführen können, nicht verloren gehen. Um eine optimale Beweissi- um Limburger Bischof fällt mir nichts ein, was nicht schon anderswo gestanden wäre. Obwohl mich mancher Kommentar erstaunt. Etwa der Satz eines sonst klugen Autors im „European“ zur Frage, ob hier manche Journalisten auf einen schon auf dem Boden Liegenden einschlagen: „Tebartz sitzt immer noch auf seinem Bischofsstuhl. Und das ist nicht am Boden liegend.“ Dahinter steht offenbar die Ansicht, dass nur Leute auf dem Boden liegen, die ihre Schuld eingestanden und die Konsequenzen gezogen haben: Auf die Uneinsichtigen darf man also einschlagen. Mitleid mit den aus eigener Schuld Leidenden – das gehört zu den provokanteren Konzepten des Christentums. Ähnlich verstörend kann auch das christliche Konzept der Vergebung sein. Als meine Frau Erstkommunionkindern beibringen wollte, dass Gott alles verzeiht, fiel ihr eine andere Mutter ins Wort: „Aber Mord natürlich nicht!“ Aber der christlichen Lehre nach verzeiht Gott tatsächlich alles. Für das Wirksamwerden dieser Vergebung ist nur die Reue notwendig. Wer nicht bereuen will, dem muss der Christ darum mit besonderem Mitleid begegnen – geht der Uneinsichtige doch das schauerliche Risiko ein, seine Schuld eine Ewigkeit mit sich herumzutragen. Aber unser irdischer Gerechtigkeitssinn läuft anders: Es gibt Unverzeihliches – und nicht einmal der Tod ist gnädig. Wie beim kürzlich verstorbenen, reuelosen Kriegsverbrecher Erich Priebke, der nicht einmal ein Grab bekommt. (Sein deutscher Geburtsort, die Stadt Rom und seine Zweitheimat Argentinien sagen jedenfalls Nein.) Wie weit darf Vergebung gehen? Nehmen wir Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz: ein Massenmörder, der in der Todeszelle einsieht, „wie schwer ich an der Menschheit gefrevelt habe“, und um Wiedereintritt in die katholische Kirche bittet – als ihm das im Prozess keine Vorteile mehr hätte bringen können. Am 10. April 1947 hat ihm ein Jesuit im Gefängnis von Wadowice, dem Geburtsort Johannes Paul II., die Beichte abgenommen, die mit dem Satz endet: „Ich spreche dich los von all deinen Sünden.“ Manchen geht das zu weit: Die Kirche spricht los von Sünden, die vorwiegend nicht an ihr begangen worden sind. Und ein Scheusal mit Gott versöhnt? Ist ein Himmel, in dem man Rudolf Höß begegnen kann, überhaupt ein Himmel? Die andere Sicht ist: Welch ein Ereignis – dass die Gnade sogar in der fast absoluten Finsternis aufleuchten kann, und dass kein Mensch unrettbar ins Dunkel versinkt! Diese Sichtweise ist freilich Glaubenssache. Aber um vor einer Kultur der Gnadenlosigkeit Unbehagen zu haben, muss man kein Christ sein. Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien. [email protected] » Ich wünsche mir auch für die Zukunft, dass der Begriff ›Arbeiterbezirk‹ endlich ad acta gelegt wird (. . .). « CORINA KRUESZ diepresse.com/cultureclash cherung zu gewährleisten, sollten die Opfer, auch wenn der Wunsch nach Reinigung verständlicherweise groß ist, die Kleidung nicht wechseln oder waschen, nicht duschen oder baden, wenn möglich nicht urinieren, nicht essen, trinken oder rauchen und auch nicht die Zähne putzen oder den Mund ausspülen. Die Notwendigkeit von klinisch-forensischen Untersuchungsstellen ist unumstritten. Allerdings ist die Finanzierung derzeit problematisch, da sich keine staatliche Institution dafür zuständig fühlt. Österreich nimmt im Opferschutz international eine Vorreiterrolle ein. Damit wäre es auch an der Zeit, dass wir allen Opfern österreichweit die Möglichkeit einer klinisch-forensischen Untersuchung bieten und damit ihre Position im Gerichtsverfahren stärken. PD Dipl. Phys. Dr. Eva Scheurer, Institutsleiterin des L. Boltzmann Instituts für Klinisch-Forensische Bildgebung DiePresse.com 1 von 2 DiePresse.com | Leben | Menschen | http://diepresse.com/home/leben/mensch/1463928/print.do Artikel drucken Wenn man schreien will, aber kein Ton kommt 12.10.2013 | 18:21 | von Teresa Schaur-Wünsch (Die Presse) Wie man im Ernstfall reagieren soll, warum Opfer niemals »schuld« sind und Täter oft davonkommen. Es kann der aktuelle Partner sein oder der Ex, ein Nachbar oder Freund, der Kollege oder der Chef, der Arzt, Lehrer, Psychotherapeut – oder wirklich der Fremde auf der Straße. Vergewaltigung kommt in allen möglichen Kontexten vor – genau deshalb sei es auch so schwer zu sagen, wie man am besten reagieren soll, sagt Ursula Kussyk. Sie ist Sozialarbeiterin bei der Notrufberatung für vergewaltigte Mädchen und Frauen in Wien und Obfrau des Bundesverbands der Autonomen Frauennotrufe Österreichs. Ihr unmittelbarster Rat: dem eigenen Gefühl vertrauen, wie man die Situation einschätzt. Wozu ist dieser Mann noch fähig? „Wir raten nicht explizit, sich zu wehren, weil man eben oft nicht abschätzen kann, wie gewalttätig jemand noch werden kann.“ Sieht man eine Chance, aus der Lage noch rauszukommen, könne man es natürlich probieren. All das ist freilich graue Theorie. In der Realität, so berichten betroffene Frauen, kann es sein, dass man zu gar nichts fähig ist. Dass man sich wehren will, aber der Körper nicht gehorcht. Dass man schreien will, aber kein Ton aus der Kehle kommt. Völlig irreal. „Die Gewaltsituation löst aus, dass man sich völlig isoliert fühlt, glaubt, man sei mit dem Täter allein auf der Welt. Das kann irreal und albtraumhaft erlebt werden, man glaubt sich so ausgeliefert und vom Wohlwollen des Täters abhängig, dass man quasi wieder zum Kind wird“, erklärt Kussyk. Und sich unterwirft, um zu überleben – wobei bei der Rückkehr in die Situation des „kleinen Mädchens“ auch frühkindliche Ängste plötzlich wieder auftauchen können. Andere wiederum sind durchaus in der Lage, Überlegungen anzustellen: Soll ich versuchen, an diese Lampe zu kommen? Ihm eine überziehen? Wenn ja, wie reagiert er dann? Wichtig sei jedenfalls: Es ist auch dann nicht die Schuld der Frau, wenn sie sich „nicht gut genug gewehrt“ hat. Klingt selbstverständlich, ist es nicht. „Schuld- und Schamgefühle“, sagt Kussyk, „gehören einfach dazu.“ Dabei könne es nie die Schuld des Opfers sein – auch nicht, wenn man sich in „gefährliche“ Situationen begeben hat. „Welche Männer überlegen denn ständig, ob sie sich gerade in eine gefährliche Situation begeben? Und zum Jungsein gehört dazu, dass man Sachen ausprobiert.“ Bis zu drei Monate kann eine posttraumatische Belastungsreaktion dauern, unter Umständen kann sie in eine Belastungsstörung übergehen. Es könne auch sein, sagt Kussyk, dass man scheinbar gut zurechtkomme und erst Monate später Probleme auftauchten, in Krisen oder bei einer eigentlich erfreulichen Schwangerschaft. Umgekehrt solle man auch nicht annehmen, „dass für den Rest des Lebens alles furchtbar ist. So stimmt es auch wieder nicht. Man kann natürlich wieder Spaß am Leben haben, und auch am Sex.“ Wenig Verurteilungen. Gut überlegt sein sollte indes eine Anzeige (Beratungsstellen bieten dazu Rechtsberatung). In vielen Fällen nämlich: große Belastung, wenig Erfolg. Die meisten Verfahren werden eingestellt. 2012 etwa wurden 86 Männer wegen Vergewaltigung verurteilt. Zwei, zweieinhalb Jahre kann so ein Verfahren dauern. „Sehr oft steht Aussage gegen Aussage“, sagt Kussyk. „Und das ist ja auch nicht verwerflich, dass es im Zweifel für den Angeklagten – oder für den Verdächtigten – heißt. Der Wunsch der Opfer nach Gerechtigkeit lässt sich im Strafrecht nicht verwirklichen.“ Hier gehe es nur um Beweise. Manchmal auch darum, „was sich die Mitarbeiter des Justizapparats vorstellen können“. Dass eine junge Frau mit Migrationshintergrund, die vom Stiefvater vergewaltigt wurde, trotzdem wieder die Wohnung der Mutter betritt, konnte sich ein Staatsanwalt zum Beispiel nicht vorstellen, berichtet 17.12.2013 14:29 DiePresse.com 2 von 2 http://diepresse.com/home/leben/mensch/1463928/print.do Kussyk aus einem aktuellen Fall. Die öffentliche Meinung laute freilich: sofort anzeigen. „Als ob das ein Wahrheitsbeweis wäre“, sagt Psychologin Sonja Wohlatz. „Die Frustration, wenn das Verfahren eingestellt wird, ist hoch. Viele haben dann wieder das Gefühl, sie hätten etwas falsch gemacht. Ihnen wird nicht geglaubt.“ © DiePresse.com 17.12.2013 14:29