Primož Krašovec Armut und Ungleichheit in Slowenien, 2005 - 2011 Von der „Erfolgsgeschichte“ des Übergangs zu einer langfristigen Rezession 1 Armut als der blinde Fleck des Marxismus und Marxismus als der blinde Fleck der Armutsstudien (Einleitung) Nach dem Wert der verschiedenen Armutstheorien gefragt, antwortete Srečo Dragoš, ein führender Armutsforscher und prominenter slowenischer Soziologe, sie seien weitestgehend wertlos (Dragoš, 2013). Nach einer gründlichen und, nach unserer Meinung, wohl verdienten Kritik der beiden konservativen Armutstheorien, die dazu neigen, die Schuld dafür den Opfern selbst zuzuschieben und Armut als durch endogene Schwächen der armen Leute selbst verursacht zu erklären (wie Mangel an Ehrgeiz, Fähigkeiten, fehlende Bereitschaft zu arbeiten, niedrige Intelligenz usw. ) und zeitgemäßer durch Theorien der „Kultur der Armut“, richtete er seine Geschütze auf eine marxistische Armutstheorie. Dragoš (ebenda) hebt drei Punkte zur Unzulänglichkeit der marxistischen Armutstheorie hervor: Marx sieht in den Armen die Unterklasse, als korrupten und potenziell politisch gefährlichen Mob jenseits aller Heilungsmöglichkeit (vermeintlich im Gegensatz zu der edlen, disziplinierten und politisch gebildeten Arbeiterklasse); Marxisten sehen Armut als unvermeidliches Ergebnis der Dynamik der kapitalistischen Klasse und deshalb innerhalb der Beschränkungen dieser Art der Produktion als unlösbar; marxistische Interpretationen kapitalistischer Armut führen deshalb zu einer „Nullsumme“ politischen Fanatismus, der - da in einer Umverteilungspolitik des klassischen Wohlfahrtsstaats nur eine Stärkung des kapitalistischen Systems gesehen wird – den Marxismus nur dem eingefleischten Neoliberalismus im Hinblick auf Einseitigkeit ähnlich (wenn nicht gleich) macht; ideologischer Übereifer und unnachgiebige Opposition gegen jeden „dritten Weg“ oder klassenkompromissbereiten Ansatz. Vielleicht können wir den ersten Punkt von Marx̕ (unverdienter) Verachtung für den lumpenproletarischen Mob schnell und leicht verwerfen – unterstützende Zitate können nur von eilig und leidenschaftlich geschriebenen politischen Texten kommen wie dem Kommunistischen Manifest und 18. Brumaire, was nicht nur heißt, dass sie als geeignete Veranschaulichung von Marx̕ theoretischer Position zu Armut und sozialem Ausschluss schwer zu verwenden sind, sondern auch, dass sie zu der Zeit, als sie geschrieben wurden, 2 empirisch ziemlich genau waren – „lumpenproletarischer Mob“ stützte beispielsweise Louis Bonaparte. Wir müssen außerdem bedenken, dass die Diskussion zwischen Sich-Verlassen auf die revolutionäre Organisation der Arbeiter oder auf spontane Erhebungen der Klasse, die früher als „Lumpenproletariat“ bezeichnet wurde und sich aus den Armen, sozial Ausgeschlossenen, Arbeitslosen und Kriminellen zusammensetzte, im 19. Jahrhundert einer der Haupt-Anfechtungspunkte zwischen marxistischen und anarchistischen Visionen revolutionärer Strategie (Marx und Engels, 1975) war; deshalb können einige von Marx̕ hitzigen Urteilen über das Lumpenproletariat in seinen politischen Schriften von seinen eher strengen und genauen Diskussionen in seinen theoretischen Schriften (Marx, 2013, 517-531), die sozial Ausgeschlossenen seien „Reservearmee für die Arbeit“, abweichen. Die beiden anderen Punkte sind ernster und der Erwägung wert: Steht der Marxismus tatsächlich in Opposition zu - oder bedeutet er ein Hindernis für – realistische und politisch machbare Kämpfe für eine einfache und gleiche soziale Umverteilung innerhalb des Kapitalismus, die die Armut - in Zeiten, in denen eine echte kommunistische Revolution nicht nur nirgendwo in Sicht ist, sondern durch die historische Erfahrung des „real existierenden“ Sozialismus auch in gewissem Maße diskreditiert ist - lindern könnte? Ist der Marxismus tatsächlich ein unwissentlicher Verbündeter des Neoliberalismus bei der Demontage des Wenigen, das von den Errungenschaften der sozialen Kämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts übrig geblieben ist? In Bezug auf die angebliche Allianz des Marxismus mit dem Neoliberalismus wären solche Anschuldigungen schwer durch Zitate und Tatsachen zu belegen, und Dragoš tut tatsächlich nichts dergleichen, außer dass er behauptet, es gebe keine größeren Gegner des Gradualismus als Marxisten und Neoliberale“ (Dragoš, 2013), wobei wir ihn beim Wort nehmen müssen. Allerdings bleibt die Frage, ob der Marxismus in Bezug auf Armut tatsächlich falsch liegt und ob durch Marxismus informierte politische Haltungen tatsächlich schädlich für Kämpfe um Linderung der Armut innerhalb des real existieren Kapitalismus sind? Einer der Hauptgründe dafür, dass die marxistische Sozialtheorie so sehr mit der Frage der Armut kämpft, ist vielleicht, dass das Problem schlecht gestellt ist. Das Hauptproblem des Armutproblems besteht darin, dass das eigentliche Konzept der Armut (und die Realität von Armut) in keiner Weise politisch angefochten werden in dem Sinn, dass man nicht „für Armut“ sein kann, wie man es für (oder gegen) Sparmaßnahmen, straffere Haushaltspolitik, Eingriffe des Staates in die Wirtschaft oder den Kapitalismus im Allgemeinen sein kann. 3 Armut ist in gewisser Weise ähnlich der Korruption, insofern sie eine unreflektierte kritische Haltung gegenüber sich selbst voraussetzt. Wenn wir beispielsweise unter den Bedingungen des Spätkapitalismus über Armut (oder Korruption) sprechen, können wir sie nur verurteilen und/oder nach Wegen suchen, sie zu bekämpfen. Ein Diskurs über Armut (oder über Kämpfe gegen Armut) schließt von seiner Struktur her jede Art von politischem Urteil oder Antagonismus aus – man ist natürlich immer gegen Armut. Und wenn eine Diskussion in einer Weise strukturiert ist, die einen politischen Antagonismus automatisch ausschließt, ist das üblicherweise ein klares Zeichen, dass wir es nicht mit einer theoretischen Frage zu tun haben, sondern mit einer ideologischen. Anders als Diskussionen beispielsweise über Ungleichheit des Reichtums oder der Einkommen, die entweder als förderlich für das Wachstum oder Unternehmertum oder als ungerecht und schädlich für die soziale Entwicklung interpretiert werden können, oder über Lohnerhöhungen, die entweder als schädlich für das Beschäftigungsniveau allgemein (da sie, nach Meinung neoklassischer Ökonomen, die Arbeitskosten auf den Punkt anheben, ab dem der Anreiz für Arbeitgeber, Mitarbeiter zu beschäftigen, gesenkt wird) oder als Beitrag zur allgemeinen Sozialfürsorge angesehen werden können, weil dadurch die effektive Gesamtnachfrage und Kaufkraft angehoben werden, sind Diskussionen über Armut eine Sache ideologischer Übereinstimmung. Vielleicht ist es deshalb kein Wunder, dass, wie Dragoš behauptet, sowohl marxistische als auch soziologische Theorien unzureichend sind – wenn das Problem auf eine ideologische Weise gestellt wird, ist es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, eine angemessene Theorie dazu zu entwickeln. Deshalb müssen wir, um eine angemessene marxistische Theorie der Armut zu ermöglichen, zuerst das Problem neu formulieren. Ein Weg dazu ist, die Frage nicht so zu stellen, warum es im 21. Jahrhundert immer noch Armut gibt und was wir tun könnten, sie zu verhindern, sondern, warum die meisten Diskussionen über soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit in den Medien, der Zivilgesellschaft und der Wissenschaft in den Begriffen der Armut gefasst werden? Die Antwort wäre eine zweifache: Weil das Führen einer Diskussion mit Begriffen der Armut ihr kritisches Potenzial neutralisiert und anschließend Lösungen für die Probleme präsentiert, die mit dem Kapitalismus selbst völlig konsistent sind. Armut ist in einem gewissen Sinn ein „Sündenbock-Konzept“ - es fokussiert die Kritik am Kapitalismus auf eine Weise, die das System selbst nicht bedroht. Es ist deshalb kein Wunder, dass selbst der Hohe Priester der Schock-Strategie, Jeffrey Sachs, es kürzlich übernommen hat, die Armut zu beenden (Sachs, 4 2006). Gegen Armut zu sein schließt in keiner Weise aus, für Kapitalismus zu sein, während es auf der anderen Seite und aus einer marxistischen Perspektive einiger Anstrengung bedarf, eine Kritik an der Armut in eine Kritik am Kapitalismus selbst umzudeuten. Das wirkliche soziale Problem, das das Konzept der Armut auf eine ideologisch verzerrte Weise darstellt – was für eine kritische Theorie von geringem Wert, für Verteidiger des Kapitalismus aber offensichtlich von großem Nutzen ist –, liegt allerdings darin, dass die Probleme von Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, materiellem und sozialem Entzug, Mangel an Einkommen und an Lebensunterhalt, unzureichender Wohnung und Mangel an Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und sozialer Infrastruktur, deswegen nicht weniger real sind. Deshalb besteht die wirkliche Herausforderung für die marxistische Sozialtheorie nicht nur darin, dass sich das Armutsproblem nach wie vor stellt oder politisch kontraproduktiv ist, sondern darin, dass die Frage neu gestellt wird, und zwar in einer unmissverständlich kritischen Weise, und dass ihre Bedeutung für soziale Prozesse, charakteristisch für die kapitalistische Produktion und Verteilung, auf die soziale Reproduktion und Umverteilung ausgedehnt wird. Armut und Elend Ein produktiver, wenn auch nicht ganz unproblematischer Weg, die Frage der Armut auf das Terrain der Marxismus-Theorie zu ziehen, besteht in der Verelendungstheorie. Marx selbst und viele spätere Marxisten stellten fest, dass sich die Verhältnisse der Arbeiterklasse mit der Entwicklung des Kapitalismus verschlechterten, wodurch es der Arbeiterklasse immer elender ging, und sie im Lauf der Zeit immer mittelloser wurde. Verelendung des Proletariats wurde, in frühmarxistischer Terminologie, ganz wörtlich genommen, in Begriffen, die Soziologen absolute Armut nennen. Während ein solches Verständnis auf die Wirklichkeit der Arbeiterklasse im 19. Jahrhundert zugetroffen haben mag, setzte die Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert eine solche Vulgär-Version der Verelendungstheorie erheblich unter Druck und setzte sie erheblicher Kritik aus. Das 20. Jahrhundert, besonders die zweite Hälfte nach dem 2. Weltkrieg, erlebte die Entwicklung starker Institutionen eines Wohlfahrtsstaates; das Wachstum des Lebensstandards der Arbeiter, das Aufkommen des Konsumdenkens, eine steigende 5 Produktivität und allgemeines wirtschaftliches Wachstum bedeuteten auch Lohnsteigerungen und Verbilligung der Güter des Grundbedarfs. Unter den Bedingungen des Sozial- oder Wohlfahrtsstaats-Kapitalismus des 20. Jahrhunderts konnte die Verelendungstheorie schwerlich mit Begriffen wie absolute Armut oder materielle Ausbeutung belegt werden, nicht nur bei den beschäftigten Arbeitern, sondern auch bei den Arbeitslosen, die mit staatlicher Vorsorge und Ansprüchen rechnen konnten. Die Periode neoliberaler Umstrukturierung der kapitalistischen Wirtschaft zu Beginn der 1980er Jahre und in der kürzlichen Krise, die sich als neue Weltwirtschaftskrise herausstellen könnte (Roberts, 2009), könnte erneut eine empirische Grundlage für die Vulgär-Version der Verelendungstheorie darstellen, mit Millionen, die in den USA ihre Häuser aufgrund von Zwangsvollstreckungen verloren haben, einer Arbeitslosenquote, die sich in vielen europäischen Ländern 20% näherte oder dies sogar erreichte, und mit einem Anstieg der Armut überall. Wenn wir jedoch die Verelendungstheorie ausschließlich auf einem Anstieg der absoluten Armut verteidigen möchten, müssen wir einräumen, dass sie von den Phasen des kapitalistischen Wirtschaftszyklus abhängt, denn in einer Zeit des Wachstums scheint es wenig absolute Armut zu geben, zumindest im entwickelten Kern der kapitalistischen Weltwirtschaft. Aber das bringt uns nicht sehr weit weg von der geltenden Volkswirtschaftslehre – es ist für neoklassische Ökonomen kein Geheimnis, dass Abschwungphasen in Wirtschaftszyklen zu einem Anstieg der absoluten Armut führen, indem Menschen ihre Arbeit verlieren und Sparmaßnahmen die Wohlfahrtsvorsorge beschneiden. Selbst wenn man das einräumt kann der Kapitalismus immer noch verteidigt werden, indem man darauf verweist, dass selbst unter Berücksichtigung ökonomischer Krisen der materielle Standard der Arbeiterklasse langfristig steigt, und im Kapitalismus, selbst in einer Zeit der Rezession, unvergleichlich höher ist als in jeder vorkapitalistischen Gesellschaftsform. Um es einfach auszudrücken: in einfachen materiellen Begriffen ist es selbst in Zeiten von Krisen des Kapitalismus besser, elektrisches Licht, Waschmaschinen, öffentliche Verkehrsmittel und Zentralheizung zu haben als selbst in den Spitzenzeiten der Entwicklung zum Beispiel des Feudalismus. Trotz der Anlaufschwierigkeiten und periodischen Abschwünge tendiert der Kapitalismus im historischen Durchschnitt zu einem Anstieg des materiellen Lebensstandards und einem Rückgang der absoluten Armut. Bei der Verelendungstheorie, wenn man sie ihrer eher vulgären Interpretationen entkleidet, ging es jedoch nie um absolute Armut. Marx hat die Fähigkeit des Kapitalismus, den materiellen Lebensstandard drastisch zu erhöhen, niemals in Frage gestellt, auch nicht dessen 6 unglaubliche technologische Dynamik, die zuvor unvorstellbare Produktivitätssprünge und ständige Verbilligung von Waren hervorbrachte. Wird dies berücksichtigt, ist es ziemlich schwer, die Verelendungstheorie hinsichtlich absoluter Armut zu verteidigen, abgesehen von gelegentlichen Perioden wirtschaftlicher Depression und sozialen Elends in der Vergangenheit. Die Grundlage für Marx̕ Kritik am Kapitalismus und dessen politischer Ökonomie lag woanders: in einer sorgfältigen Darlegung zweier ambivalenter Trends in der kapitalistischen Entwicklung, die ihren Ursprung exakt in seiner unstreitigen technologischen Dynamik und seiner Fähigkeit hat (langfristig oder in einem idealen historischen Durchschnitt), den Verbrauchsstandard anzuheben. Wie zahlreiche spätere Kommentatoren hervorgehoben haben, von Rosa Luxemburg (zitiert in Bellofiore, 2011, 86) bis Michael Lebowitz (2003, 32-43), liegt der Kern der tendenziellen Zunahme der Verelendung der Arbeiterklasse im Kapitalismus nicht so sehr (oder überhaupt) in einer Zunahme der absoluten Armut, sondern in einem zunehmenden Auseinanderklaffen von tatsächlichem und potenziell möglichem Verbrauch der Arbeiterklasse. Obwohl der tatsächliche Konsum absolut steigen mag – d. h., die Arbeiter können sich für ihren Lohn mehr immer billigere Güter leisten -, die Produktivität und der höchstmögliche Konsumstandard steigen noch mehr. Die Kapitalistenklasse ist diejenige, die den Konsumstandard festlegt, und obwohl die Kaufkraft und der Konsum sowohl bei der Arbeiterklasse als auch bei der Kapitalistenklasse langfristig steigen, steigt er bei der letzteren schneller, und die Schere zwischen dem, was konsumiert wird und dem, was konsumiert werden könnte, weitet sich aus. Außerdem können Produktivitätsfortschritte dazu führen, dass Nominallöhne und der Grad der Ausbeutung gleichzeitig steigen, so dass Arbeiter gleichzeitig mehr verdienen können und mehr ausgebeutet werden können, nämlich noch höherer Löhne und größerer Kaufkraft beraubt, die die Produktivitätsfortschritte ermöglichen. Darüber hinaus führen - wie Lebowitz (ebenda) bei seinem bahnbrechenden erneuten Lesen der Verelendungstheorie zeigt - große qualitative Sprünge in der technologischen Entwicklung und der Produktivitätsfortschritte, wie sie für den Kapitalismus charakteristisch sind, auch zu einer anschließenden Entwicklung menschlicher Bedürfnisse jenseits dessen, was mit der ziemlich klobigen und archaischen Güterform befriedigt werden kann. Da die Produzenten im Kapitalismus voneinander und, insgesamt gesehen, von den Konsumenten getrennt sind, und da das Hauptmotiv kapitalistischer Produktion nicht die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern die Maximierung des Gewinns ist, bleibt beim kapitalistischen Konsum immer etwas zu wünschen übrig, unabhängig von der steigenden 7 Qualität oder den sinkenden Preisen der Güter oder des Tempos, in dem sie produziert werden können. Lebowitz (ebenda) nennt die immer größer werdende Lücke zwischen der Entwicklung menschlicher Bedürfnisse und Mitteln, sie innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktion zu befriedigen, Elend. „Elend“ sollte von „relativer Armut“ in soziologischen Theorien unterschieden werden. Während mit relativer Armut das verfügbare Einkommen eines Individuums oder Haushalts am Durchschnitts- (Median-)Einkommen der Gesellschaft gemessen wird, geht es bei „Elend“ nicht (nur) um den (relativen) Mangel an Kaufkraft, sondern (auch), und wichtiger, um die Divergenz zwischen der Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und der Unmöglichkeit, sie unter den Bedingungen der kapitalistischen Güterproduktion voll zu befriedigen. In diesem Sinn sind im Kapitalismus sogar die Reichen elend und derselben Konsumentfremdung ausgesetzt, wenn auch in einem erheblich geringeren Grad als die Armen. Der Begriff „Elend“ weicht auch dem Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Armut aus, den wir von der standardisierten empirischen Armutsforschung her kennen. Während objektive Armut materielle soziale Entbehrungen bedeutet (wie sie sich in schlechten Wohnverhältnissen, dem Mangel an Mitteln zum Kauf grundlegender Konsumgüter oder geringem oder gar keinem Einkommen manifestieren), und subjektive Armut ihre entsprechende, aber nicht immer korrelierende subjektive Wahrnehmung (wie fühlen sich diejenigen, die objektiv arm sind, und wie nehmen sie ihre Armut wahr), ist Elend gleichzeitig objektiv, d. h. durch die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft hervorgebracht, und immateriell, was bedeutet, dass es nicht vollständig quantifiziert oder in exakte empirische Daten umgesetzt werden kann, weil sich die Entwicklung menschlicher Bedürfnisse – im Gegensatz zu den leicht quantifizierbaren Kennzeichen materieller Wohlfahrt, wie Monatseinkommen – der Messbarkeit und Quantifizierung entzieht, zumindest nicht anhand derselben Skala gemessen werden kann wie Prozesse der Produktion und des Konsums, die im Kapitalismus strukturell mit den menschlichen Bedürfnissen nicht im Einklang stehen. Wenn die Hauptmotivation für die Produktion die Gewinnerzielung ist, treten die tatsächlichen menschlichen Bedürfnisse in den Hintergrund, und sie werden nicht als Ziel an sich wahrgenommen, sondern als notwendiges Übel (weil nichts verkauft werden kann, wenn es nicht für irgendjemand irgendeinen Nutzen hat – aber die Priorität liegt darauf, dass es verkauft werden soll). Darüber hinaus bedeutet die strukturelle Trennung der Produzenten von den Konsumenten, dass selbst dann, wenn es den ehrlichen Wunsch gäbe, die Produktion an 8 die menschlichen Bedürfnisse anzupassen, dies wegen der Entfernung zwischen beiden schwer zu erreichen wäre – dies ist die Ursache für die Entfremdung der Konsumenten (des Konsums), einer der charakteristischeren Eigenschaften des Kapitalismus. Die marxistische Armuts-/Elendstheorie bleibt aber sehr abstrakt, und die Methoden für empirische Forschung müssen erst noch entwickelt werden. Ihre frühere Einführung kann deshalb nur als das sprichwörtliche „Körnchen Salz“ für die anschließende Diskussion über Armut in Slowenien dienen, die auf der üblicheren soziologischen Methode beruht. Armut im Slowenien der nachsozialistischen Zeit in Zahlen Lange Zeit wurde Slowenien als eine nachsozialistische Erfolgsgeschichte angesehen, besonders in den Jahren starken Wachstums unmittelbar vor der derzeitigen Wirtschaftskrise. Beschäftigung, Löhne und Sozialfürsorge befanden sich alle auf einem höheren Niveau als in den meisten vergleichbaren Ländern, besonders im Vergleich mit den anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawien (Krašovec, 2013). Der Übergang Sloweniens vollzog sich, obwohl relativ erfolgreich, nicht ohne Schwierigkeiten. Die Hauptursachen, die zur Verschlimmerung des Armutsproblems seit den 1990er Jahren, und besonders in den letzten Jahren, beitrugen, waren Änderungen in der Sozialpolitik (die neoliberale Wendung) und wirtschaftliche Umstrukturierung, einschließlich Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Bevor wir aber mit der detaillierteren Prüfung der erwähnten sozio-ökonomischen Prozesse fortschreiten, schauen wir uns die allgemeine Statistik hinsichtlich der Armut in Slowenien an. Das übliche statistische Maß für Armut ist der Grad des Armutsrisikos, definiert als ein Einkommen von 60% des Durchschnitts- (Median-)Einkommens eines Haushalts oder darunter. Im Zeitraum 2005 - 2011 bewegte sich das Armutsrisiko in Slowenien um die 11 bis 12%, es erreichte seinen Höhepunkt 2001 mit 13,6%. 9 Tabelle 1: Armutsrisiko in Slowenien 2005 – 2011 2005 Armutsrisiko 12,2% 2006 2007 2008 2009 2010 2011 11,6% 11,5% 12,3% 11,3% 12,7% 13,6% (Quelle: UMAR, 2012) Die Zahlen für bestimmte soziale Gruppen, die dem Armutsrisiko besonders ausgesetzt sind, sind von Jahr zu Jahr leicht unterschiedlich, aber im Allgemeinen sind Ältere, Menschen mit geringer Bildung, Arbeitslose, alleinerziehende Mütter und Einpersonenhaushalte diejenigen, die Armut am höchsten ausgesetzt sind. Armut ist auch in ländlichen Gegenden weiter verbreitet als in städtischen Gebieten, und sie betrifft mehr Frauen als Männer. Die Quantilklassen (das Verhältnis der Einkommen der Reichsten 20% zu den Ärmsten 20% die Zahl stellt dar, um wie viele Male erstere höher sind als letztere) waren im selben Zeitraum wie folgt: Tabelle 2: Quantilklassen in Slowenien 2005 – 2011 2005 Quantilklassen 3,4 2006 2007 2008 2009 2010 2011 3,4 3,3 3,4 3,2 3,4 3,5 (Quelle: UMAR, 2012) Wir können nach einer zuvor stabilen Periode erneut einen leichten Anstieg der Ungleichheit der Einkommen im Jahr 2011 erkennen. Ein weiteres wichtiges Maß für die Armut ist die relative Lücke, die „die Tiefe“ der Armut misst, ausgedrückt in % unterhalb der Linie des Armutseinkommens, das der durchschnittlichen armen Person zur Verfügung steht. Tabelle 3: Relative Armutslücke in Slowenien 2005 – 2011 Relative 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 19,1% 18,6% 19,4% 19,3% 20,2% 20,2% 19,9% Lücke (Quelle: UMAR, 2012) Die Zahlen zeigen, dass die Armut in Slowenien in den Jahren 2009-2010 am „tiefsten“ war und im Jahr 2011 leicht abflachte. 10 Das Ausmaß erheblicher Entbehrung, definiert als % der Bevölkerung, der sich eine angemessene Wohnung, Urlaub und unerwartete Ausgaben nicht leisten kann und es schwer hat, mit dem verfügbaren Einkommen bis zum Monatsende auszukommen usw., betrug für den gleichen Zeitraum wie folgt: Tabelle 4: Ausmaß erheblicher Entbehrung in Slowenien 2005 – 2011 Erhebliche 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 16,6% 16,4% 15,9% 18,1% 17,2% 17% 17,1% Entbehrung (Quelle: UMAR, 2012) Das Ausmaß erheblicher Entbehrung bewegte sich erst um 16%, stieg 2008 auf 18% und fiel danach auf 17%. In allen beobachteten Jahren war es höher als das Armutsrisiko. Anders als die Untersuchung des Armutsrisikos, die auf „harten Fakten“ der Einkommensstatistik beruht, hängt die Untersuchung der „erheblichen Entbehrung“ von „weichen Daten“ ab, die durch Fragebögen erhoben wurden. Die Lücke zwischen der subjektiven Beurteilung einer erheblichen Entbehrung und dem vermeintlich objektiven Maß des Armutsrisikos zeigt den etwas willkürlichen Charakter der Definition des Armutsrisikos auf. Die Werte des Armutsrisikos besagen nur, wie diejenigen mit den niedrigsten Einkommen im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung des jeweiligen Landes dastehen, sagen aber nichts über ihren tatsächlichen Lohn / ihr tatsächliches Einkommen oder ihre reale Kaufkraft aus. Um ein hypothetisches Beispiel zu verwenden: Das Durchschnitts- (Median-)Einkommen eines bestimmten Landes könnte so niedrig sein, dass sich niemand eine angemessene Wohnung oder eine Woche Urlaub leisten kann; wenn dieses Land aber ein niedriges Niveau an Ungleichheit der Einkommen aufweist, würden die meisten Menschen 60% oder mehr des Durchschnitts- (Median-)Einkommens verdienen, und das Armutsrisiko wäre gering und würde das tatsächliche Niveau der Armut nicht zeigen. Deshalb stellen die Statistiken über erhebliche Entbehrungen eine notwendige Ergänzung derjenigen Statistiken dar, die allein auf Einkommensdaten beruhen, denn sie messen (obwohl nur näherungsweise) wirkliche soziale Entbehrungen, die durch den Mangel an Kaufkraft verursacht sind. Der Gini-Index, das Maß der Einkommensungleichheit (je höher der Wert, desto höher die Einkommensungleichheit) zeigte keine signifikanten Veränderungen im Beobachtungszeitraum und verharrte bei 23-24%, dem niedrigsten Wert in der EU. Dem Büro für makroökonomische Forschung (UMAR) zufolge war der leichte Anstieg der 11 Einkommensungleichheit in den Jahren 2010 und 2011 im Vergleich zu 2009 hauptsächlich auf einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zurückzuführen. Tabelle 5: GINI-Index GINI- 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 23,8% 23,7% 23,2% 23,4% 22,7% 23,8% 23,8% Index (Quelle: UMAR, 2012) Hier ist auch die Arbeitslosenquote in % für denselben Zeitraum: Tabelle 6: Prozentsatz registrierter Arbeitsloser in Slowenien 2005 – 2011: 2005 Registrierte 10,2% 2006 2007 2008 2009 2010 2011 9,4% 7,7% 6,7% 9,1% 10,7% 11,8% Arbeitslose (Quelle: SURS) Die starke Zunahme der Arbeitslosigkeit ab 2009 war die Folge einer Krise und der daraus resultierenden schwächeren wirtschaftlichen Tätigkeit. Die Arbeitslosenquote in Slowenien ist vermutlich höher als die offiziellen Zahlen belegen, da nicht alle Arbeitslosen registriert sind und es in der Tat ziemlich strenge Regeln dafür gibt, wer als arbeitslos registriert bleiben darf. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit führte nicht, zumindest nicht sofort, zu einem entsprechenden Anstieg der Armutsquote – der Anstieg der Armutsquote war viel geringer, wie oben zu sehen ist – hauptsächlich aufgrund des sozialen Sicherheitsnetzes, wie Sozialtransfers, Grundbesitz, Hilfen von Familie und Freunden und Aufbrauchen von Ersparnissen. Die Armutsquote in Slowenien steht im Vergleich zu der der EU günstig da, denn sie liegt unter dem europäischen Durchschnitt, der in den Berichtsjahren bei 15 – 16% lag. Dadurch ist die Armut für diejenigen, die arm sind, allerdings nicht weniger tragisch, noch ist irgendeine Armutsquote akzeptabel oder legitim. 12 Armut in Slowenien jenseits der Zahlen 1: Neue Sozialgesetzgebung und Sparmaßnahmen Der Blick auf die Zahlen allein zeigt aber nicht die ganze Geschichte. Wie Leskošek (2012) wichtigerweise anmerkt, führte der Anstieg der Werte des Armutsrisikos 2008 viele Kommentatoren zu dem Schluss, dass die Zunahme der Armut auf den Ausbruch der Krise zurückzuführen sei. Wenn wir aber die Entwicklung der Sozialpolitik in Slowenien in den 2000er Jahren berücksichtigen, und die Tatsache, dass die Berechnungen des Armutsrisikos auf Daten beruhten, die 2007 erhoben wurden, stellt sich heraus, dass der Anstieg der Armut tatsächlich 2007 erfolgte, dem Jahr hohen wirtschaftlichen Wachstums (über 5%) und nicht der Krise zugeschrieben werden kann. Die Krise verantwortlich zu machen ist nicht nur falsch im empirischen Sinn, sondern spielt auch die negativen Auswirkungen herunter, die die jüngsten Änderungen in der Sozialpolitik auf die Lebensqualität in Slowenien hatten, besonders für die ärmeren Teile der Bevölkerung. Leskošek (ebenda) folgert, dass es nicht die Krise war, sondern die neoliberale Sozialpolitik, die zu einem Anstieg des Armutsrisikos im Jahr 2008 führte. Selbst als die Wirtschaft wuchs, stieg die Armut an (wenn auch nur leicht), was bedeutet, dass der besagte Anstieg der Armut nicht durch objektive ökonomische Bedingungen verursacht war, sondern durch einen Mangel an sozialer Umverteilung. Obwohl es der slowenischen Wirtschaft als Ganzem im Jahr 2007 sehr gut ging, versagte der geschaffene Wohlstand, wie vorherzusehen war, dabei, nach „unten durchzusickern“. Obwohl das Armutsrisiko 2009 leicht zurückging, fing es 2010 und 2011 wieder an zu steigen, und dieser zweite Anstieg kann mit größerer Berechtigung der Krise zugeschrieben werden, also der schrumpfenden wirtschaftlichen Aktivität und dem anschließenden Anstieg der Arbeitslosigkeit. Aber neue Arbeitslosigkeit deckt nur einen Teil der neuen Armut ab, der Rest ist immer noch auf neoliberale Sozialpolitik zurückzuführen, was sich nach dem Ausbruch der Krise noch verschlimmerte, da die Krise als Entschuldigung für die Kürzung öffentlicher Ausgaben und die Reduzierung des Umfangs von Sozialtransfers verwendet werden konnte. Was waren die Haupttrends in der neoliberalen Sozialpolitik in der jüngsten slowenischen Geschichte? 2007 wurden soziale Rechte in Sozialtransfers verwandelt und aus 13 unveräußerlichen sozialen Ansprüchen, charakteristisch für das Modell des skandinavischen Wohlfahrtsstaats, in streng überwachte Geldtransfers umgeformt, ähnlich den angelsächsischen „Workfare“-Sozialmodellen (ebenda). Einige soziale Rechte wurden aufgegeben, andere wurden an Bedingungen geknüpft und waren nicht länger allgemeingültig. In den Jahren 2011 und 2012 stieg die Zahl der verschiedenen Bedingungen für Sozialtransfers auf das Dreifache, von 10 auf 30. Die finanzielle Hilfe für soziale Unterstützung fiel auf nur € 260 monatlich. Staatliche Stipendien für Kinder bis 18 Jahre und Kindergeld für Jugendliche über 18 Jahre wurden abgeschafft (ebenda). Mit der Einführung von Bedingungen für den Bezug von Sozialhilfe ging ein Rückgang der Zahl der Anspruchsberechtigten einher: Anzahl der 2006 2007 2008 2009 52.910 43.179 36.355 41.286 Sozialhilfeempfänger (Quelle: Leskošek, 2010) Die Zahl stieg im Jahr 2009, aber nur wegen Notfällen und Einmalzahlungen, während die Zahl derjenigen, die langfristig Sozialhilfe erhalten, weiterhin sinkt (während gleichzeitig die Armutsquote steigt). In den letzten Jahren waren es besonders alleinstehende Frauen und alleinerziehende Mütter, die die Last des Angriffs auf die allgemeingültige Wohlfahrtsfürsorge trugen. Sie wurden zunehmend unter Verdacht gestellt (d. h. dass sie in Wirklichkeit mit einem Partner zusammenleben, dies aber verheimlichen, um Sozialhilfe beanspruchen zu können), und die Beweislast dafür, dass sie tatsächlich alleinstehend sind, lag fortan bei Ihnen. Bezieher von Sozialleistungen wurden auf viele Arten überwacht, wie z. B. durch unangemeldete Besuche von Sozialarbeitern, um sich zu vergewissern, dass alleinerziehende Mütter tatsächlich alleinstehend sind und dass Arbeitslose nicht Geld in der Schattenwirtschaft verdienen, sowie die Überwachung der Bankkonten von Sozialleistungsbeziehern. Nach Leskošek (2012) verhindern solche Maßnahmen nicht die Armut, sondern eher den Missbrauch und die unrechtmäßige Inanspruchnahme von Wohlfahrtsansprüchen. Sie bewirken nicht nur keine Linderung der Armut, sie verringern auch künstlich die offizielle Zahl der Armen, indem sie die Definition verengen. Der Staat hat einen doppelten Nutzen: Die offizielle Statistik weist einen Rückgang oder zumindest einen weniger starken Anstieg der Armut aus und gleichzeitig spart er Geld für Sozialtransfers. Straffe und strikte 14 Bedingungen für Sozialtransfers dienen auch dazu, die Armen zu disziplinieren und vom Arbeitsmarkt abhängig zu machen – selbst diejenigen, die in den großzügigeren skandinavischen Wohlfahrtssystemen als zum Arbeiten zu krank, zu alt oder mental zu instabil angesehen würden. Die Hauptinstitutionen für die staatliche Wohlfahrtsvorsorge in Slowenien, die örtlichen Sozialzentren, wurden 1955 als Gemeindeeinrichtungen in der Zuständigkeit der Gemeindeverwaltungen eingerichtet. 1992 wurden sie vom Staat übernommen, was sofort einen ehrgeizigen Plan zu ihrer Privatisierung anstieß (ein Plan, der – noch – nicht verwirklicht wurde). In den letzten beiden Jahrzehnten wurden die Sozialzentren langsam in hochbürokratisierte Institutionen sozialer Kontrolle umgewandelt – wobei die Bürokratisierung hauptsächlich auf die Einführung vieler komplizierter Bedingungen zurückzuführen ist, die viel Überwachung und Papierkram erfordern. Die neue Sozialgesetzgebung, eingeführt Anfang 2012 und geschrieben im Jargon des „New Public Management“, weist auf künftige Privatisierungen sozialer Institutionen hin und lobt die Rolle des Wettbewerbs und der Marktkräfte bei der Regulierung sozialer Angelegenheiten. Die kürzlichen Änderungen in der slowenischen Sozialpolitik, die am stärksten zum Anstieg der Armut und der erheblichen Entbehrungen beigetragen haben, sind die neue Sozialgesetzgebung (verabschiedet unter Druck und mit Beratung durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank) sowie eine Reihe von Gesetzen, die auf den Ausgleich der öffentlichen Finanzen abzielen (ZUJF). In Bezug auf das Erstere haben Forscher und Professoren von der Fakultät für Sozialarbeit in Ljubljana eine Sonderausgabe des Sozialarbeitsjournals ihrer Kritik gewidmet. Ihnen zufolge liegen die Hauptfehler der neuen Sozialgesetzgebung im Rückgang der Rolle der Sozialarbeiter und dem Anstieg der Rolle von Managern in sozialen Einrichtungen; in der Einführung der Möglichkeit, dass soziale Dienstleistungen von privaten Vertragsunternehmen erbracht werden können, was bisher öffentlichen Institutionen vorbehalten war; der Professionalisierung und Proletarisierung der Sozialarbeit; und in der Einführung von Marktverhältnissen und des Marktdrucks auf soziale Arbeit über die Betonung der freien Entscheidung (des Verbrauchers), was tatsächlich weniger zu einer Erhöhung der freien Auswahlentscheidung als zu mehr Bürokratie und finanziellem Stress bei den Nutzern der sozialen Dienste führe (FSD, 2011). Die Fakultät für Sozialarbeit schlägt als Alternative die Deinstitutionalisierung der Sozialarbeit vor in Verbindung damit, die Bedürfnisse der Nutzer – anstatt des Wettbewerbs auf dem Markt und bürokratischer Regeln – in den Mittelpunkt der Sozialarbeit zu stellen. 15 Die League of Free Trade Unions of Slovenia (ZSSS) [Verband der freien Gewerkschaften] veröffentlichte ebenfalls eine harsche Kritik sowohl an der neuen Sozialgesetzgebung als auch an der ZUJF mit einigen aufschlussreichen Daten, die die sozialen Auswirkungen veranschaulichen. Die Anzahl der Kinder mit Anspruch auf staatliches Kindergeld fiel von 373.744 im Jahr 2011 auf 281.138 im Jahr 2012. Die Zahl staatlicher Stipendien fiel um 13.000; die Zahl derjenigen mit Anspruch auf eine finanzielle soziale Unterstützung um 3.000; und die Zahl der Rentner, die einen „Sicherheitszuschlag“ beanspruchten, um 70% im selben Zeitraum. Tatsächlich war der Rückgang der Zahl älterer Menschen, die einen „Sicherheitszuschlag“ in Anspruch nahmen, die am meisten kritisierte unter den kürzlichen Änderungen der slowenischen Sozialpolitik. „Sicherheitszuschläge“ bedeuten einen Aufschlag auf die Rente bei armen Rentnern. Durch die neue Sozialgesetzgebung wurden sie in eine Art zinsloses Darlehen des Staates umgewandelt, das die Kinder und Enkel der Empfänger zurückzuzahlen verpflichtet sind. Über 12.000 Rentner nahmen 2012 den „Sicherheitszuschlag“ nicht in Anspruch, um ihren Kindern und Enkeln nicht eine Schuld aufzubürden, die sich daraus ergäbe, und die für die meisten von ihnen ein Abgleiten in die Armut oder eine Verschlimmerung der bereits bestehenden Armut bedeuten würde. Im Staatsbudget für 2013 wurde der für Sozialtransfers vorgesehene Betrag im Vergleich zu 2011 um mehr als € 150 Mio. gekürzt (ZSSS, 2013). Während die Regierung argumentierte, dass solche Maßnahmen angesichts der Krise notwendig waren, war in Wahrheit genau das Gegenteil der Fall – die Armut und die soziale Unsicherheit stiegen bereits vor der Krise und die Auswirkungen der Krise verhinderten einen humaneren und verantwortungsbewussten Ansatz in Bezug auf die neuen, durch die Krise verursachten sozialen Härten. Durch ZUJF wurden die Leistungen für Arbeitslose sowohl in Bezug auf die finanziellen Mittel als auch die Dauer der Gewährung (sowohl der Betrag als auch die Bezugszeit gingen zurück) gekürzt, das staatliche Kindergeld wurde gesenkt und die Rentner wurden durch die Abschaffung des jährlichen, aus dem Staatsbudget gezahlten Rentenzuschlags zusätzlich belastet (ebenda). Ein weiterer wichtiger, wenn auch weniger schlagartiger Aspekt der neoliberalen Wende in der Sozialpolitik Sloweniens ist die Privatisierung bisheriger Sozialwohnungen. Während der Zeit des Sozialismus waren Sozial- (Gemeinde-)-Wohnungen die am weitesten verbreitete Form von Arbeiterwohnungen. Die Privatisierung der Sozialwohnungen erfolgte hauptsächlich 1992, als den Bewohnern erlaubt wurde, ihre Wohnungen zu einem niedrigen Preis zu kaufen und Besitzer kleiner Häuser zu werden, und wurde dann 2003 komplett abgeschafft (IRSSV, 2009, 174) und durch gemeinnützige Wohnungen und Mietsubventionen 16 ersetzt. Dem Bericht über die menschliche Entwicklung von 2001 zufolge wurde der Zugang zu Wohnungen seit 1991 verringert. Besonders in den ärmeren Teilen der Bevölkerung. Im Zeitraum 1973 – 1985 standen etwa 1.700 Sozialwohnungen zur Verfügung. Im Zeitraum 1991 – 1998 fiel diese Zahl auf 700 (Hanžek and Gregorčič, 2001, 107). Mit der Privatisierung und Minimalisierung der Wohnungspolitik stieg die Zahl der Obdachlosen in Slowenien. 1995 gab es in Slowenien, nach den offiziellen Statistiken der Regierung, etwa 500 Obdachlose (Mandić, 1997, 137). Neue Formen der Obdachlosigkeit – Jugendliche, Frauen, Familien mit nur einem Elternteil – traten in den 1990er Jahren erstmals auf. Sie wurden nicht nur durch Änderungen in der Wohnungspolitik, sondern auch durch wachsende Arbeitslosigkeit und den Anstieg unsicherer Formen von Arbeit und Beschäftigung (ebenda, 149) verursacht. Aufgrund „erster Forschungen“, durchgeführt vom Institut für Sozialfürsorge, lebten 2010 in Slowenien etwa 3.000 bis 6.000 Menschen in unsicheren und ca. 75.000 Menschen in unterdurchschnittlichen Wohnverhältnissen (IRSSV, FDV and PF, 2010). Armut in Slowenien jenseits der Zahlen 2: Änderungen in der ökonomischen Struktur und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes Beim Übergang vom selbstgesteuerten Sozialismus zum privat gesteuerten Kapitalismus können wir zwei wichtige ökonomische Trends feststellen, die die Form und den Umfang der derzeitigen Armut in Slowenien beeinflussten: den Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Prekarisierung. Wiederholte Wellen von Entlassungen in den späten 1980er Jahren – als erste Sparmaßnahmen eingeführt wurden, und zwar in dem sozioökonomischen System, das sich selbst noch als sozialistisch bezeichnete (Woodward, 1995) – und später in den 1990er Jahren bei Massenprivatisierungen, blieben viele Menschen ohne Arbeit oder wurden vorzeitig in den Ruhestand geschickt – besonders diejenigen, die zuvor in Sektoren gearbeitet hatten, die in den 1990er Jahren als „nicht wettbewerbsfähig“ angesehen und geschlossen wurden (Bergbau, Textilindustrie, Stahlindustrie usw.). Diese Prozesse schufen die Basis für die heutige Armut (Kopušar, 2007). Darüber hinaus lässt sich die Entwicklung der „neuen Armut“ seit den späten 1990er Jahren erkennen mit zunehmender Prekarisierung der Arbeitsbedingungen sowie Formen der 17 Beschäftigung und Vergütung. Das Ausmaß an „atypischer Arbeit“ - gemeint sind Auftragsvergabe und Unterauftragsvergabe, Teilzeitarbeit und Aushilfsarbeit, Studentenarbeit und Ähnliches – war in Slowenien am höchsten in ganz Europa, von den frühen 2000er Jahren an bis 2008 (UMAR, 2009, 37). Mit Aufkommen der Krise ging dieses Ausmaß ein bisschen zurück – hauptsächlich, weil Aushilfen und Teilzeitkräfte die ersten waren, die entlassen wurden, sobald die Marktnachfrage für private Unternehmen und die verfügbare steuerbasierte Finanzierung öffentlicher Einrichtungen, die solche beschäftigten, 2008 zu schrumpfen anfingen – ist aber nach wie vor hoch (ebenda). Obwohl Prekarisierung ein weitverbreiteter Trend ist, ist sie in Slowenien etwas Besonderes, zumindest im Vergleich mit anderen ehemals jugoslawischen Ländern. Sozialismus bedeutete in Slowenien Vollbeschäftigung und ein großzügiges Angebot an sozialen und Arbeitnehmerrechten, nicht nur bezahlter Urlaub und Lohnfortzahlung bei Krankheit, sondern auch Ferienwohnungen, eine umfangreiche soziale Infrastruktur, die von öffentlichen Kindergärten bis zu öffentlichen Sozial- und Kulturzentren reichte, kostenlose Ausbildung und Gesundheitsvorsorge usw. Anders als in Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina bestand der Krieg in den 1990er Jahren aus nur wenige Tage andauernden bewaffneten Gefechten, der nicht zu einem nationalen Rausch führen konnte wie in den genannten Ländern, wo er als ideologische Waffe bei Angriffen auf soziale Rechte und Wohlfahrtseinrichtungen verwendet wurde. So betrachtet wurde die sozialistische Vergangenheit als verhältnismäßig positive historische Erfahrung angesehen, und zeitgenössische Wohlfahrtseinrichtungen konnten nicht ideologisch dämonisiert und praktisch geschlossen werden, zumindest nicht in solcher Eile wie in anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawien. Die Gewerkschaften blieben ebenfalls stark, und das Arbeitsrecht war verhältnismäßig arbeitnehmerfreundlich. Soziale Rechte und Sozialeinrichtungen konnten nur ganz allmählich abgebaut werden. Neoliberale „Strukturreformen“ konnten in Slowenien nur in sehr kleinen Schritten stattfinden und sind immer auf starken Widerstand der Gewerkschaften und linker Gruppen von Aktivisten gestoßen. Sowohl die Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor als auch die im privaten Sektor von Handel und Industrie wurden durch die Gewerkschaften sehr unterstützt und waren fast vollständig durch Tarifvereinbarungen geschützt. Wiederholte Versuche verschiedener Regierungen, härtere neoliberale Reformen einzuführen, wurden, zumindest bis 2007, immer wieder niedergerungen, entweder durch Streiks und 18 Massendemonstrationen oder dadurch, dass Gewerkschaften zu Volksabstimmungen aufriefen. Da Frontalangriffe auf etablierte Arbeitnehmer- und Sozialrechte verhindert wurden oder nur in einer sehr langsamen und (aus der Sicht der Bosse und Politiker) unbefriedigenden Weise, bestand die Methode, zunehmend Druck auf die Arbeiterklasse in Slowenien auszuüben hauptsächlich in Prekarisierung, die einen Weg darstellte, die traditionellen Festungen der Gewerkschaften zu umgehen, und zwar durch extreme Ausbeutung der Segmente am äußersten Rand der Arbeiterklasse: Frauen, junge Menschen und Migranten. Da die traditionellen Branchen und viele Teile des öffentlichen Sektors sich als zu resistent erwiesen, um leicht „flexibilisiert“ zu werden, hielt die Prekarisierung hauptsächlich Einzug in Handel, Transport, kleinen privaten Dienstleistungen, neu aufkommenden kulturellen und kreativen Branchen und in Sektoren, in denen viele Migranten-Arbeitnehmer beschäftigt werden, wie in der Bauwirtschaft. Viele öffentliche Institutionen, wie öffentliches Fernsehen und Rundfunk sowie Universitäten, griffen diesen Trend ebenfalls schnell auf. Zunehmende Prekarisierung der Arbeiterschaft führte zum Aufkommen der „arbeitenden Armen“, einem neuen und zuvor unbekannten sozialen Phänomen (Smolej, 2009). Die Hauptursache für Armut bestand nicht länger im fehlenden Arbeitseinkommen, und die Reihen der Armen füllen sich mit Menschen, deren Arbeitseinkommen wegen der Prekarisierung zu niedrig ist, um sie über die Armutsschwelle zu heben. Nach Untersuchungen, die von der Fakultät für Sozialwissenschaften auf der Grundlage von Daten aus dem Jahr 2002 durchgeführt wurden, betrug das Armutsrisiko aller beschäftigten Personen in Slowenien 4,2%, aber 15,2% unter den Selbständigen, 10% bei denjenigen mit befristetem Arbeitsvertrag und über 50% bei Teilzeit-Beschäftigten (wobei Frauen die Mehrheit der Teilzeit-Beschäftigten ausmachen). Außerdem beträgt das Armutsrisiko bei den Nicht-Staatsangehörigen, die in Slowenien arbeiten, mehr als ein Viertel, eine Zahl, die den Druck auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen veranschaulicht, dem Migrantenarbeiter in Slowenien ausgesetzt sind. Der Prozentsatz arbeitender Armer ist außerdem auf dem Land außergewöhnlich hoch und erreicht bei Landarbeitern 25% (FSD, 2008), hauptsächlich wegen der nachsozialistischen Tendenz, Kapital in städtischen Zentren zu konzentrieren und der daraus folgenden Unterentwicklung ländlicher Gebiete, im Gegensatz zur sozialistischen Dezentralisation und Politik der gleichmäßigen Entwicklung. 19 Fazit Die Armut in Slowenien liegt unter dem EU-Durchschnitt, hat aber in den letzten Jahren zugenommen. Hauptursachen für diese Zunahme sind wirtschaftliche Umstrukturierungen während des nachsozialistischen Übergangs, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und eine kürzliche neoliberale Wende in der staatlichen Sozialpolitik. Die Armut entwickelte sich mit dem Zerfall des sozialistischen Systems in den späten 1980er Jahren und verstärkte sich während der 1990er Jahre in der Zeit der Massenprivatisierungen, gefolgt von Massenentlassungen, die viel Armut verursachten, besonders in ländlichen Gebieten und in nun aufgegebenen Industriegebieten. Darüber hinaus entstanden neue Arten von Armut, da die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zum Aufkommen armer prekärer Arbeiter, insbesondere junge Menschen, Frauen und Migranten, führte. Im letzten Jahrzehnt wurde das Konzept der Sozialwohnungen aufgegeben und die Wohlfahrtsfürsorge gekürzt, sowohl dem Umfang als auch der Höhe nach, was die Lebensbedingungen derjenigen am Rand der Gesellschaft weiter verschlimmerte. Sparmaßnahmen und ein Anstieg der Arbeitslosigkeit infolge des Ausbruchs der Wirtschaftskrise trugen ebenfalls zu einem Anstieg der Armut bei, allerdings bleibt als Hauptursache des jüngsten Anstiegs der Armut die neoliberale Sozialpolitik, mit der lange vor Ausbruch der Krise begonnen wurde. Obwohl viele in Slowenien ein Vorbild für einen erfolgreichen Übergang zum Kapitalismus sahen, und weil, zumindest für eine kurze Zeit, die Quadratur des Kreises gelang - in Form der Liberalisierung der Wirtschaft und der Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsniveaus und gleichzeitiger sozialer Sicherheit – brachte eine Kombination aus Druck seitens der EU zu weiterer Liberalisierung, Privatisierung und neoliberaler „Strukturreformen“, der Wirtschaftskrise und dem Fehlen eines positiven Entwicklungsprogramms von Seiten des Staates (der versucht, wirklich jedes wirtschaftliche oder soziale Problem durch weitere Budgetkürzungen und Sparmaßnahmen zu lösen, unabhängig von der politischen Färbung der jeweiligen Regierungskoalition) die „Erfolgsgeschichte“ zu einem Stillstand; während die Armut, Arbeitslosigkeit und sozialer Ausschluss in den letzten Jahren anstiegen. 20 Literatur Bellofiore, Riccardo (2011) „Crisis Theory and the Great Reccesion.“ Research in Political Economy, Band 27, 81-120. 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