EIN NEUES ABRECHNUNGSSYSTEM IM KRANKENHAUSBEREICH: WIRD DER PATIENT ZUM SPIELBALL ÖKONOMISCHER INTERESSEN? Demnächst wird es in Deutschland ein neuartiges Abrechnungssystem im Krankenhausbereich geben, welches einmalig auf der Welt ist. Zwar wurden die Grundlagen aus Australien importiert, doch konsequent angewendet wird es erst hierzulande: Die Kostenerstattung im Krankenhausbereich wird ab 2003 über so genannte „diagnosis related groups“ (DRG‘s), zu Deutsch diagnoseorientierte Fallkostenpauschalen geschehen. Das bedeutet, daß ärztliche Maßnahmen entsprechend standardisierter Preise vergütet werden. Zur Ermittlung des Wertes einer Behandlung schätzt man vor der Einführung des DRG-Systems zunächst ab, wie aufwendig die Behandlung bei einem durchschnittlichen Krankheitsverlauf ohne Komplikationen ist. Dafür schlüsselt man den Krankheitsverlauf in sehr viele einzelne Therapieschritte auf, die je nach Krankheitsverlauf variieren können. Nun schätzt man den ärztlichen Aufwand für jeden Schritt ab und ordnet den unterschiedlichen ärztlichen Leistungen Preise zu; nach Einführung des DRG-Systems sollen die relativen Preise zwischen den einzelnen ärztlichen Leistungen nicht mehr so häufig variiert werden, der Endpreis ergibt sich nach Multiplikation mit einer (jährlich angepaßten) Basisrate. Im Unterschied zu generalisierenden Fallkostenpauschalen wird nicht ein Krankheitsbild pauschal vergütet (z. B. eine Blinddarmentzündung); sondern es werden ebenfalls Vorerkrankungen und Komplikationen erfaßt und notwendige Leistungen extra vergütet, falls diese Besonderheiten als DRG’s abrechenbar sind. Somit erhält ein Krankenhaus z. B. für eine „Blinddarmentzündung“ einen bestimmten pauschalen Betrag, der für einen durchschnittlichen Patienten berechnet ist, evt. ergänzt um Beträge, die aufgrund des Krankheitsbildes zu weiteren Aufwendungen führen. Die offizielle Begründung, warum DRG’s eingeführt werden lautet, daß sich dadurch die Vergütung im Krankenhausbereich stärker auf die wirklich erbrachten Leistungen bezieht und Einsparpotentiale effizient erschlossen werden. Vordergründig klingt das vielleicht ganz vernünftig, doch der Teufel sitzt im Detail. Folgende Probleme treten auf: 1. Verwaltungsaufwand: Das Zuordnen ärztlicher Maßnahmen zu den vielen Tausend DRG’s muß überwiegend von Ärzten selbst übernommen werden, da ohne Medizinstudium kaum machbar. Dies hat die Folge, daß der Umfang und die Bedeutung von Verwaltungsaufgaben für die Ärzteschaft enorm zunimmt. Schon heute werden viele Ärzte im Krankenhaus für „GrouperTätigkeiten“ neueingestellt: das stupide Eintippen der DRG’s in 1 2. 3. 4. 5. Computer. Doch steht zu befürchten, daß es aufgrund von Kosteneinsparmaßnahmen nicht oder in ungenügendem Umfang zu Neueinstellungen kommen wird, was eine weitere Erhöhung der Arbeitsbelastung der Ärzteschaft und eine Verschlechterung des Arzt-Patientenverhältnisses zur Folge haben wird, da Ärzte gezwungen werden, ineffiziente, stumpfsinnige Arbeiten zu verrichten, anstatt sich um Patienten zu kümmern. Der Kostendruck auf Krankenhäuser wird enorm ansteigen, da die Krankenhäuser Geld nur noch über abrechenbare ärztliche Maßnahmen erhalten. Dieser Druck wird von den Verwaltungen natürlich auf die Ärzteschaft und Pflegepersonal weitergereicht werden. Durch das DRG-System entstehen Unmengen an Mißbrauchsmöglichkeiten und falscher Anreize, mit Hilfe einer trickreichen Gewichtung und Durchführung von Diagnose- und Therapiemaßnahmen eine Pauschalenmaximierung zu erreichen. Dies geschieht bei einem System zwangsläufig, wenn für jeden Handgriff künstliche „Marktpreise“ festgelegt werden, bei dem der „Nachfrager“ kein „Kunde“ ist und z. B. zu teure Handgriffe ablehnen könnte. Das System ist viel zu komplex, als dass ein Patient erkennen könnte, wann ein Arzt aufgrund falscher Anreize überteuerte Diagnose- oder Therapiemethoden anwendet. Ein wachsender Druck der Verwaltungen auf die Ärzteschaft wird deshalb zwangsläufig dazu führen, daß Ärzte versuchen werden, ”gut abrechenbares” häufiger durchzuführen. Denn die Drohung von Verwaltungen, „schlechte“ Abrechnungen können zu Einsparungen und zu Stellenabbau führen, wird Realität, wenn nur noch über DRG’s Geld in Krankenhäuser fließen wird. Wenn „transparency interantional“ gegenwärtig kritisiert, daß Ärzte häufig falsch abrechnen, so wird der Verein in 5 Jahren kritisieren müssen, daß Ärzte aufwendige Untersuchungsmethoden und teure Therapieansätze verwenden (müssen), um ihren Job zu behalten. [Wohlgemerkt: Selbst wenn die relativen Preise zwischen den einzelnen Diagnose- und Therapiemethoden stimmen würden (was völlig utopisch ist), hat ein Arzt den Anreiz, eine Pauschalenmaximierung durchzuführen, wenn er das Einkommen des Krankenhauses maximieren soll.] Therapiefreiheit: Es liegt auf der Hand, daß unterschiedliche Therapie- und Diagnoseverfahren extrem unterschiedlichen „Wert“ für den Arzt und das Krankenhaus erhalten werden. Damit wird die Therapie- und Diagnosefreiheit des Arztes faktisch unterbunden bzw. der Arzt noch viel stärker wirtschaftlichen Zwängen ausgesetzt, als das derzeit sowieso schon der Fall ist. Dazu eines von hunderten möglicher Beispielen: Die (zeitaufwendige) Behandlung von Raucherbeinen mit Medikamenten und Physiotherapie – um sie nicht amputieren zu müssen – wird einem Arzt nach Einführung des DRG-Systems unabhängig von der Behandlungsdauer etwa 4000 DM einbringen, eine Amputation aber etwa 13500 DM. Da es einen breiten Graubereich gibt, den der Arzt sogar vor sich selbst verantworten kann („wahrscheinlich sowieso 2 nichts zu machen“...), kann man sich leicht vorstellen, was geschehen wird. Auch werden Ultraschalluntersuchungen nahezu wertlos verglichen mit CT, Kernspin und anderen teureren Diagnosemethoden, da bereits jetzt absehbar ist, daß Ultraschalluntersuchungen in den für die Erlösermittlung wichtigen sogenannten OPS-Katalog gar nicht aufgenommen werden.“ 6. Auch noch aus anderen Gründen wird es wahrscheinlich eher zu einer Verteuerung des Gesundheitswesens kommen als zu einer „Effizienzsteigerung mit Kostensenkungseffekten“. Natürlich kann ein Krankenhaus nur einen Patienten pro Bett aufnehmen. Bislang konnte dieses Bett auch nur einmal pro Tag abgerechnet werden. Mit dem DRG-System erhält das Krankenhaus jedoch eine Pauschale für einen Patienten, berechnet an der durchschnittlichen Dauer des Krankenhausaufenthaltes der Patientengruppe. Damit eröffnet sich für Krankenhäuser zunächst die Möglichkeit, Betten „rechnerisch“ doppelt zu belegen: Wenn z. B. für eine Krankheit pauschal 5 Krankenhaustage vergütet werden, man den Patienten aber schon nach 3 Tagen hinausbringt und das Bett neu belegt, bekommt das Krankenhaus für 2 Tage doppelt Geld. Damit sollte deutlich geworden sein, dass das System entgegen allen Erwartungen und seinem ursprünglichen Ziel zu einer Verteuerung des Gesundheitswesens führen wird. Beim alten System war die maximale Belegung eines Krankenhauses „Ein Patient pro Bett“, beim DRG-System kann die Belegung rechnerisch höher sein. 7. Wenn Krankenhäuser den Anreiz haben, die durchschnittliche Verweildauer der Patienten zu senken, so wird natürlich die Nachbehandlungsqualität der Patienten sinken, die Patienten werden u.U. in „anbehandeltem“ Zustand entlassen werden. Da die durchschnittliche Belegung pro Patienten über die Jahre deshalb sinken wird und das System den neuen Durchschnittswerten immer wieder angepaßt wird, wird die Belegedauer immer weiter sinken und damit die Qualität der Versorgung von Patienten nach Operationen sinken müssen. 8. Selektion: Es ist offenkundig, daß nach Einführung des DRGSystems ein Patient um so beliebter ist, je mehr an ihm herumgefummelt werden kann und je kürzer trotz allem seine Verweildauer im Krankenhaus ist [20-Jährige mit Motorradunfall dürften in diesem Sinne nahezu „optimale“ Patienten darstellen]. Spätestens, wenn die Pauschale aufgebraucht ist, also wenn die durchschnittliche Krankheitsdauer verstrichen ist, stellt der Patient für ein Krankenhaus nur noch einen Kostenfaktor dar. Das ist ein klassischer Selektionsmechanismus in gute und schlechte Patienten – sowie ein folgenschwerer (indirekter) Eingriff in die Therapiefreiheit der Ärzteschaft. Trotz des relativ differenzierten DRG’s wird die Genesung eines Patienten nebst spezieller Krankheitsverläufe nicht erfaßt und kann vom Krankenhaus auch nicht geltend gemacht werden – deshalb werden Patienten, bei denen sich ein langsamerer Heilungsprozeß abzeichnet als „normalerweise“ zu erwarten wäre, sehr unbeliebt werden. 3 9. Die Folge ist klar: Der Patient wird zwischen verschiedenen Einrichtungen herumgeschoben werden, wo immer das möglich ist. Dazu nur ein Beispiel: Nachdem in den USA DRG’s eingeführt wurden, verschob sich die Behandlungsqualität alter Menschen mit hüftgelenksnahen Frakturen auf fatale Weise. Die Verschreibung von Krankengymnastik fiel von 9,7 auf 4,9 Anwendungen pro Patient – und die Hauspflegebedürftigkeit stieg von 13 auf 39 Prozent (mb, 31.8.2001). Offensichtlich wird Lebensqualität für Einsparmaßnahmen geopfert; an anderer Stelle entstehen dann zumeist deutlich höhere Kosten. 10. In den USA und Australien beobachtet man den sog. „Drehtüreffekt“: „Anbehandelte“ Patienten werden entlassen und kurz danach mit derselben Krankheit wieder aufgenommen. Das System wird ineffizienter, teurer und zur Schikane für Patienten – nur das Krankenhaus kann damit Profit erwirtschaften. 11. Im Kopf des Arztes wird unweigerlich eine Wertverschiebung vonstatten gehen, die für ihn selbst kaum wahrnehmbar sein wird. „Teurere“ Behandlungen werden automatisch „wertvoller“, Zeit für den Patienten zu „opfern“ – noch weit weniger „wertvoll“. Solche Werteverschiebungen sind in vielen Bereichen seit langer Zeit im Gange. 12. Der Patient wird seiner Menschenwürde beraubt, wenn er nur noch als eine Summe möglichst vieler abrechenbarer Diagnosen angesehen wird (eine Krankheit wird zu einer Aneinanderreihung von Ziffern). Aufgrund des steigenden Kostendrucks kann er auch nur noch als solcher angesehen werden. „Wieviel können wir an dem Patienten verdienen?“ dürfte in Zukunft die dominante Denkschablone von Krankenhausverwaltungen sein und sich mehr und mehr auch in das ärztliche Selbstverständnis eingraben. Derartige Fehlanreize sind stets ein Problem, wenn man inputorientierte Abrechnungssysteme einführt (d.h.: Die Grundlage der Berechnung ärztlicher Leistung ist, wiviel man einem Patienten an abrechenbaren Leistungen angedeihen läßt; man erhält zwangsläufig ein anschwellen von Stoffströmen). Eine Output-orientierung wäre für das Gesundheitswesen natürlich angebrachter (also z. B. eine Bezahlung nach Anzahl der gesund entlassenen Patienten in Abhängigkeit eines „Lebensqualitätszugewinns“), ist aber natürlich nicht durchführbar. Ökonomische Anreize führen bei zuwendungsorientierten Systemen generell zu weniger Zuwendung, da Zuwendung nicht ökonomisierbar ist. DRG‘s sind ein Instrument, durch das es im Krankenhausbereich überhaupt erst möglich wird, „Leistung“ effektiv zu ermitteln, wobei der Patient das Versuchskaninchen ist. Die Möglichkeiten, im Gesundheitswesen Profite zu erwirtschaften, dürften sich mit Hilfe des DRG-Abrechnungssystems stark ausweiten. Durch die Schaffung eines Abrechnungssystems, welches das Einkommen eines Krankenhauses zu einer ausschließlich leistungsabhängigen Größe macht, wird das Gesundheitswesen für private Unternehmen sehr viel interessanter als gegenwärtig: die Möglichkeit, Profite zu erwirtschaften wird enorm 4 ausgeweitet. Deshalb sind DRG’s Türöffner für weitere Privatisierungsbestrebungen: Wenn DRG’s eingeführt sind, werden private Investoren noch weitaus stärkeren politischen Druck erzeugen, der zu einem Massenexodus des öffentlichen Gesundheitswesens führen dürfte. Eine Mehrklassenmedizin, wird sich dann zwangsläufig etablieren. Angesichts der so gut wie nicht steigenden Kosten im Gesundheitswesen sind DRG’s völlig verfehlt – selbst bei steigenden Kosten wären sie ein ungeeignetes Mittel, Kosten zu begrenzen. Die Gesetzlichen Krankenversicherungen haben ein Finanzierungsproblem – dieses muß ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken. Die Fixierung auf die Ausgabenseite – und genau dies geschieht bei der Diskussion über DRG’s, Kostendeckel und sonstige Reformelemente – hilft nicht weiter. Die Gesundheitsausgaben müssen nicht gesenkt werden, sie waren 1980 etwa genauso hoch; damals war die Finanzierungsbasis deutlich breiter. Eine solche Verbreiterung zu erreichen muß Ziel verantwortungsbewußter Gesundheitspolitik sein, nicht ein Aufblähen von Verwaltungsapparaten. Zusammenfassung: DRG’s erhöhen den Verwaltungsaufwand, Beschränken die Behandlungsfreiheit, verschlechtern Nachbehandlungen, setzten falsche Anreize, führen zu einer Werteverschiebung, zwingen zu Betrug, bedingen Selektion – und werden schlußendlich auch noch das Gesundheitssystem verteuern. Mit anderen Worten: DRG’s sind geeignet, ein Sozialsystem zu zerstören und müssen deshalb schnellstmöglich wieder verschwinden. Jedes althergebrachte „Nicht-system“ scheint besser als eine Erfindung von Technokraten, die Profite und nicht Patienten im Kopf haben. 5