Parsons, Talcott (1958): Struktur und Funktion der modernen Medizin, In: König, René (Hrsg.), Probleme der Medizinsoziologie, (Sonderheft 3 KZfSS), Köln/Opladen 1958, S. 19-42 (Auszug). Der Abschnitt Die Situation des Patienten des dritten Unterpunktes Die Situation der ärztlichen Berufstätigkeit aus dem Text Struktur und Funktion der modernen Medizin von Talcott Parson beginnt mit einer allgemeinen Orientierung, welchen Zweck die folgenden Ausführungen im Rahmen seines übergeordneten Argumentationszieles haben. Dieses besteht darin, die Bedeutung der Arzt- und Patientenrolle und deren Ausprägungen zu verstehen, um im Anschluss daran Mechanismen offenzulegen, welche zum einen die sichtbaren Funktionen des Arztes in der Überwachung und Behandlung der Krankheit unterstützen und zum anderen nicht erkennbare Funktionen (latente) erfüllen und damit für das soziale System von Bedeutung sind. Er beginnt dazu mit einer Analyse der für ihn relevanten Aspekte derjenigen Situation, in der sich der Patient befindet. Anhand von drei die Situation des Patienten beschreibenden Merkmalen – Hilflosigkeit bzw. Hilfsbedürftigkeit, fachliche Inkompetenz, und emotionales Engagement – geht er zunächst strukturiert vor: Die kranke Person ist nach der institutionellen Definition hilflos bzw. hilfsbedürftig und somit in einem abweichenden Verhalten sich befindend, für welches der Kranke nicht verantwortlich gemacht werden kann. Aus dem Grund, dass der Kranke kein genaues Wissen darum hat, was zu tun und wie er vorzugehen hat, wäre sein handeln nicht adäquat, d.h. seiner Situation angemessen und damit fachlich inkompetent. Darüber hinaus hat er das Problem, dass er aus dem selben Grund nicht auf der Basis der Aussagen des Arztes urteilen und entscheiden kann, was für ihn das Beste ist. Parson bezeichnet diesen Umstand mit als eine sozial-kulturell bedingte Kommunikationslücke. Leiden, Lebensgefahr und Hilflosigkeit haben eine Störung der Erwartungen an das Leben der Patienten zu Folge, was zu komplexen und schwierigen Anpassungsproblemen emotionaler Art führt und deswegen mit für solchen Situationen typischen Spannungen einhergeht. Dies macht es dem Patienten umso schwerer, sich ein sachliches Urteil zu bilden. Alle Maßnahmen des Arztes beeinflussen also unausweichlich den Zustand des Patienten emotional. Alle diese Punkte werden später, besonders wenn es um die Situation des Arztes und sein berufliches Verhalten und Handeln geht, noch von Bedeutung sein. Die sich aus diesen drei Bedingungen ergebende Eigenart der Situation des Patienten hat für Parson zwei besonders wichtige Konsequenzen, was die entsprechende institutionelle Gestaltung der ärztlichen Tätigkeit anbelangt: Ausnutzung der Situation des Kranken und die situationsbedingte Mangelhaftigkeit des Patienten im Urteil. Im Bezug zum ersteren stellt sich die Frage, welche Mechanismen eine solche Ausnutzung verhindern, worauf Parson später eine Antwort geben wird. Was die zweite Konsequenz betrifft, so entsteht hieraus für ihn die weitere Frage, inwieweit heute eine auf wissenschaftliche Erkenntnisse beruhende Medizin auf gesundheitliche Probleme in der Gesellschaft Verwendung findet und nicht beispielsweise abergläubischen Riten weicht. In gleicher Form geht Parson nun in dem Abschnitt Die Situation des Patienten zu einer Analyse der Situation über, in welcher sich der Arzt innerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung befindet. Zentral für die Rolle des Arztes ist die Verantwortung für das Wohl des Patienten durch die bestmögliche Genese, wofür er fachliches Wissen sich aneignen und anwenden muss. Parson will zunächst schauen, wie dieses Wissen und Können zu den Aufgaben und Verantwortlichkeiten des Arztes in Beziehung stehen. Er kommt auf den für den Arzt problematischen Fall zu sprechen, dass nicht immer das Wissen, das Können und die Erfahrungen ausreichen, um das Ziel – jenes Wohl des Patienten – zu erreichen. Im Weiteren Verlauf behandelt er zwei Aspekte dieser Unzulänglichkeit: Zum einen folgt nicht aus jeder Diagnose eine Therapie, da der gegenwärtige Stand der medizinischen Erkenntnisse und Verfahrensweisen es nicht zulässt und zum anderen existiert ein bestimmter Bereich der Ungewissheit, der sich in für den Arzt unbekannte Ursachenzusammenhänge ausdrückt. Beides sind für ihn Quellen von Frustrationen und emotionalen Belastungen, was seine rationale Einstellung in der Arbeit erschweren kann. Entscheidend hierbei ist nun, dass demnach Belastungen – Störungen des emotionalen Gleichgewichts – auf beiden Seiten der Arzt-Patienten-Beziehung bestehen, weshalb nach Parson neben der Institutionalisierung der Rollen mit Mechanismen der sozialen Kontrolle gerechnet werden muss, da anzunehmen ist, dass jene Belastungen zu abweichenden Verhalten führen können. Zusätzliche Komplikationen, was mit Emotionen und Vorstellungen über die Verletzung des Körpers zu tun hat, ergeben sich daraus, dass der Arzt erstens Zugang zum Körper des Patienten haben muss, zweitens manchmal Informationen vertraulicher Art einfordern muss sowie drittens in psychotherapeutischer Arbeit mit dem Phänomen der Übertragung wirksam umgehen muss. Er geht davon aus, dass sich eine ganze Reihe von spezifischen Mechanismen ausgebildet haben, welche diese Spannungen und Widerstände, von Parson als funktionale Probleme des sozialen Systems ausgezeichnet, zu überwinden in der Lage sind. Im nächsten Unterpunkt Die ärztliche Tätigkeit als Institution in ihrer funktionalen Bedeutung beschäftigt er sich sodann mit genau diesen Mechanismen. Entscheidend hierfür sind die dem professionellem Beruf üblichen Verhaltenselementen und deren Kombinationen. Zu ihnen gehören: Leistungsdenken, Universalismus, funktionale Spezifität, emotionale Neutralität und Kollektivitätsorientierung. Parson klärt sie der Reihenfolge nach: Eine universalistisch-leistungsorientierte Ausprägung der Arztrolle geht einher mit dem Gedanken, dass eine partikularistisch-vorgegebenheitsorientierte Ausprägung mit dem hohen Leistungs- und Ausbildungsniveau in der Medizin nicht konform ist sowie auch das Fehlen der Möglichkeit einer Auswahl nach Leistungskriterien – was die Nachwuchswahl betrifft. Auch wäre eine partikularistisch-vorgegebenheitsorientierte Ausprägung nicht kongruent mit der Struktur der üblichen Berufswelt moderner westlicher Gesellschaften. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist aber noch eine weitere funktionalistische Bedeutung, denn diese Einstellung des Arztes schützt ihn vor Vereinnahmungen, persönlicher Freundschaften und Liebesverhältnissen, denn diese sind eher Bestandteil partikularistischer, solidarischer Beziehungen. Die Spezifizierung der Kompetenz hat zuallererst die Funktion, einen zuständigen Bereich des Arztes auszumachen, welcher von diesem beherrscht werden kann, um so nicht die Leistungsfähigkeit aufgrund von Überforderung und sich anschließender Verzettelung zu beeinflussen. Außerdem kann der Patient so die Grenzen der Autorität des Arztes einsehen, wodurch seine Befürchtungen und Ängste zurückgehen. Hierin liegt somit ein wichtiger Moment in der Überwindung möglicher Widerstände gegen den Arzt. Diese funktionale Spezifität wird auch durch die der strengen Berufsmoral des Ärztestandes zuzurechnenden Trennung von beruflicher Tätigkeit und den übrigen Lebensbereichen gewahrt. Die emotionale Neutralität des Arztes wird durch solch eine Trennung ebenso geschützt, da der Arzt so nicht in Situationen gerät, die potentiell verschiedene eher hinderliche emotionale Reaktionen bei diesem auslösen könnten. Sich also nur in Situation, die als beruflich umschrieben werden können, bewegt. Das Verhaltensmuster der neutralen Emotionalität bestimmt also nach Parson die erwartete Haltung oder Einstellung innerhalb der legitimen beruflichen Grenzen. Die gleiche Verhaltensweise dient in der schon erwähnten Psychotherapie als archimedischer Punkt, der das neurotisch bedingte und von der sozialen Norm abweichende Verhalten entgegenwirkend aufbrechen soll. Die Verbindung der bisher genannten Komponenten erlauben es dem dadurch auch selbst geschützten Arzt Hindernisse bei den Patienten zu überwinden oder herabzusetzen und so hinreichend in die Privatsphäre des Patienten zwecks seiner Aufgabe einzudringen. Hierin äußert die funktionale Bedeutung dieser Kombination. Als Letztes wäre es in einer solchen Beziehung, in welcher sich der Arzt und der Patient zueinander befinden, nicht möglich, eine auf eigene Interessen orientierte rationale Vorgehensweise zu praktizieren wie es entsprechend in der Wirtschaft der Fall ist, so Parson. Auf einer solchen Grundlage könnte die Gesellschaft dem Arzt nicht die genannten Privilegien einräumen, sodass die hauptsächlichste Funktion der Kollektivitätsorientierung in dem Schutz des Patienten vor der Ausnutzung seiner Hilflosigkeit, seiner fachlichen Inkompetenz und seiner emotionalen Probleme sowie der daraus hervorgehenden irrationalen Denk- und Verhaltensweisen liegt. Die Kollektivitätsorientierung wird jedoch von beiden Seiten notwendig erforderlich. Im Wesentlichen geht es hier um die Vertrauensdimension, was meint, dass der Patient nach besten Kräften an der Genese mitarbeiten soll – die Erwartung eines Gesundungswillens. Der Patient soll erkennen und angemessen sich darauf verhalten, dass der Arzt sein Bestes tut und ebenso Belastungen ausgesetzt ist. Und auch gibt es wieder einen Zusammenhang zwischen der Einstellung der Kollektivitätsorientierung und der psychotherapeutischen Behandlung, denn ein wesentliches Merkmal von psychischen Störungen besteht in der Schwäche des Zutrauens auf andere. Der Arzt darf demnach nicht mit der Einstellung der Selbstorientierung dem Patienten entgegentreten, wenn er verhindern will, dass der Patient seine neurotische Sicht der Dinge im Verhalten des Arztes – der nach dem Beispiel das Äußerste für sich herausholen will – bestätigt findet und damit das Problem des abweichenden Verhaltens nicht behebt, sondern festigt und letztlich stärkt.